Die in diesem Kapitel angebotenen Vorschläge in Taten umsetzen zu können hängt von der Fähigkeit ab, das eigene Konzentrationsvermögen so zu steigern, dass wir aus eigener Initiativ unsere Aufmerksamkeit auf Dinge lenken können, die uns in der Regel nicht beschäftigen. Wenn wir von einem Traum aufwachen, zum Beispiel, können wir uns von diesem Traum über den ihm eigenen Handlungsmodus belehren lassen. Zu diesem Zweck halten wir ihn als ganzes Bild festhalten, anstatt seine Bedeutung sezieren zu wollen. Ein Bild so festhalten zu können setzt Aufmerksamkeit voraus; es erfordert, dass wir für eine Zeit unser Interesse unter Ausschluss von allem anderen auf einen einzigen Gegenstand lenken. Ein zweites Beispiel: Etwas beobachten – das innere Bild einer Rose, etwa – bis dahin, dass die hintergründigsten Eigenschaften des Bildes offenkundig werden. Das verlangt, dass andere Gedanken oder Bilder während der Zeit, in der sich konzentriert wird, außen vor gehalten werden.
Alle die bisher beschriebenen Übungen erfordern, dass wir für eine Zeit alles andere ausschließen, alle Sorgen und allen Kummer, alles anderweitige Denken. Die Pflege dieser Übungen führt nach und nach zur Ausbildung der Bilderkenntnis. Als wir bei der Besprechung der Bilderkenntnis angelangten, wurden keine besonderen Übungen angeboten, denn der Weg, auf dem wir zu dieser neuen Form des Erkennens kommen, ist ein indirekter. Wir müssen nämlich die Seelenqualitäten in unserem Bewusstsein zur Entfaltung bringen. Diese Besinnung auf Furcht und Bewusstsein verlangt aber unbedingt, dass etwas über die Aufmerksamkeit an sich gesagt wird.
Welche Rolle spielt die Aufmerksamkeit im Bewusstsein? Die Aufmerksamkeit ist ein Willensakt, eine Handlung, vor etwas anwesend zu sein, das sich wie ein strahlendes Licht ausnimmt. Etwas Aufmerksamkeit braucht man immer, um überhaupt ein Bewusstsein der Dinge zu haben. Die Aufmerksamkeit ist aber präkognitiv, ist vorbewusst. Sie ist eine Macht, die dem Bewusstsein zugrundeliegt: Sie ermöglicht es erst. Ich kann meine Aufmerksamkeit auf etwas lenken; auch ist es möglich, gewahr zu sein, dass wir überhaupt aufmerksam sind. Aber die eigene Aufmerksamkeit zum vollen Bewusstsein bringen können wir nicht. Zumal in obiger Eigenschaft als präkognitiven Willensakt vorerst nicht.
Bei allen bisher beschriebenen Übungen geht es nicht in erster Linie um den Inhalt der gegebenen Bilder, sondern um eine Steigerung der Aufmerksamkeitskraft. Dadurch, dass diese Übungen ausgeführt werden, heben wir die vorbewusste Qualität der Aufmerksamkeit tatsächlich ins Bewusstsein. Da wird sie zu dem, was früher in diesem Buche als das Zeugen-Bewusstsein bezeichnet wurde.[1]
Die Kräfte der Aufmerksamkeit bedürfen deshalb der Steigerung, weil in gegenwärtiger Zeit wir unsere Aufmerksamkeit nicht frei, aus eigenen Seelenkräften heraus schenken, sondern feststellen müssen, dass unsere Aufmerksamkeit gefangengenommen wird. Irgendetwas ist ständig dabei, unsere Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen – Fernsehen, Computer, Unterhaltung, Filme, die Arbeit, die Bedürfnisse und Forderungen anderer Menschen. Die Geschwindigkeit, mit der wir in unserer Aufmerksamkeit immer passiver werden, nimmt rapide zu. Sogar aus der Meditationspraxis ist eine Reihe technischer Gerätschaften hervorgegangen, von gelenkten Meditations-Tonbändern bis hin zu Spezialbrillen mit blinkenden Lichtern, die angeblich so getimt sind, dass sie meditative Zustände herbeiführen. Das Meditieren erfordert aber das Durchhalten eines konstanten Zustandes der vollen Aufmerksamkeit, was ja eine extrem aktive Bewusstseinsart ist.
Das Phänomen der Aufmerksamkeit gibt uns von etwas Kunde, was äußerst wichtig ist im Hinblick auf die Realität der Seele. Wir erschaffen zwar die eigene Seele nicht, aber ohne unsere Aufmerksamkeit muss uns ihre Gegenwart unbewusst bleiben. Ohne die Aufmerksamkeit zerstreut sich die Seele. Die angegebenen und ähnlichen Seelenübungen zielen auf den Aufbau der Aufmerksamkeitskraft hin, damit sie schrittweise kontinuierlich wird. Das uns gegebene Seelenbewusstsein ist in präfabrizierten Formen befangen, die von außen auf uns einwirken. Gehen wir also nicht gezielt die Steigerung unserer eigenen Aufmerksamkeit an, so wird uns die frische Kreativität fehlen, uns immer neu in die Welt hineinzubegeben. Diese präfabrizierten Formen nimmt die Seele allerdings entgegen. Aber wenn sie für das von ihr selbst Erschaffene keine Aufmerksamkeit aufbringt, so wird sie in derjenigen Angst eingehüllt bleiben, die am allertiefsten sitzt: Sie wird sich nämlich vor dem eigenen Untergang fürchten. Diese Angst ist keine andere als das abgrundtiefe existentielle Grauen.
So äußerst aktiv die Aufmerksamkeit als Zustand auch ist, besteht ihre Tätigkeit in reiner Rezeptivität. Wenn ich die volle Aufmerksamkeit auf ein inneres Bild lenke und dann die Aufmerksamkeit auf sie selbst richte, was gibt sich da kund? Die reine Stille, die sich wie ein ewiger Lichtstrahl ausnimmt. Wir könnten sagen, dass die Aufmerksamkeit im Wesentlichen darin besteht, die Handlung innerer Stille auszuführen. Warum also nicht einfach die Stille direkt üben, anstatt dadurch einen solchen Zustand herbeizuführen, dass man auf irgendeinen inneren Inhalt fokussiert? Darum, weil die Stille an und für sich zu dem Zustand des Schlafes führen würde. Die Stille in Gegenwart eines Objekts der Aufmerksamkeit schläfert uns nicht ein, sondern sie steigert das Bewusstsein, versetzt uns in einen Wachzustand, der aber sonst dem Schlaf ähnelt.
Ein weiterer wichtiger Grund, sich auf Bilder zu konzentrieren anstatt die reine Leere zu suchen, ist der, dass die bewusste Aufmerksamkeit uns aktiv empfänglich macht für seelische und geistige Wirklichkeiten. Diese urbildlichen Präsenzen gehören nicht der Sinneswelt an, wohl aber dem Reich des Lichtes, des Tons, der Farbe, des Geruchs. Die irdische Welt und die Seelen- und Geistwelten bilden zusammen eine Welt. Vom „Jenseits“ sind wir überall umgeben, und unsere Verbindung zu ihm bleibt durch hintergründige, Sinnesqualitäten ähnliche Zustände bestehen. Die Sinnes-artigen Qualitäten von Seele und Geist sind viel beweglicher und dynamischer als die Sinnesqualitäten materieller Gegenstände. So kommt es, dass man dadurch den Weg zu ihnen finden kann, dass man die Aufmerksamkeit auf die hintergründigen Qualitäten innerer Bilder lenkt.
Wenn man solche Praktiken wie die Meditation, die aktive Imagination, das Visualisieren oder die hier vorgeschlagenen Arten der Konzentration aufnimmt, entsteht eine Erwartung, dass etwas Spektakuläres – oder wenigstens mäßig Spektakuläres – eintreten wird. Wenn nach einer Weile nichts Derartiges geschieht, nimmt die anfängliche Begeisterung, andere Bewusstseinsmodi zu entwickeln, ab, und man entschließt sich womöglich, die Praktiken abzusetzen. Der ganze Sinn und Zweck der Übungen ist aber, dass man sie regelmäßig ausführt.
Die bedeutungsvollsten Augenblicke für die Entwicklung anderer Bewusstseinsmodi sind diejenigen Momente, nachdem man die Konzentrationsübung beendet hat. Während dieser Momente wirken die Folgen des Zustandes, um den wir uns bemüht haben, auf uns ein. So ist es also wichtig, dass man unmittelbar nach Beenden einer Übung ruhig bleibt und nicht den Konzentrationszustand verlässt, um in die normale Tätigkeit zu treten. Haben wir einmal durch ganz regelmäßiges Ausführen der Übungen eine Intensität der Konzentration erreicht, werden wir eine innere Ruhe fühlen, eine Empfindung, als wäre einem eine Gnade, eine Vitalität im Körper und einen offenen Raum innerer Freiheit zuteil geworden. Die Konzentration wirkt in dieser Weise auf uns ein, und im Lauf der Zeit gehen immer mehr dieser Qualitäten ins fortdauernde alltägliche Leben ein.
Auch wird durch diese Übungen ein Gefühl der Dankbarkeit ausgebildet, sogar dann, wenn nichts Spektakuläres erfolgt ist. Nach jedem Üben Dankbarkeit zu empfinden steigert die Fähigkeit, solche Praktiken fortzusetzen, denn die Dankbarkeit macht die Seele zum Gefäß, erhöht ihre Empfänglichkeit.
Wenn wir vom Sichkonzentrieren auf innere Bilder dramatische Ergebnisse erwarten, lassen wir uns von der Gewohnheit des Nützlichkeitsdenkens führen. Darin birgt sich aber das Gespenst der Angst. Die Angst im Nützlichkeitsdenken funktioniert dadurch, dass sie uns bedrängt, so schnell wie möglich von unseren bloßen Konzentrationshandlungen weg- und zum „richtigen Tun“, zum „etwas Produzieren“, zum Beweisen unseres Selbstwertes voranzukommen. Die Angst versteckt sich aber stets, und wir sehen weiter nichts als das, was uns wie „Leistung“ vorkommt. Das Kriege-Führen zum Beispiel hat scheinbar den Nützlichkeitswert, dass es Frieden herbeiführt, aber die Menschen, die im Verfolg desselben umgekommen sind, werden als bloße Statistiken zur Kenntnis gegeben. Oder: Elektronische Technologien produzieren den Nützlichkeitswert der schnellen Kommunikation, aber wir sind uns der Furcht nicht bewusst, die dadurch aufkommt, dass wir mit einer Geschwindigkeit leben, die zu den Rhythmen unseres Körpers in keinem Verhältnis steht. Die Werte, die durch konzentrierte, dem Leben der Seele hingegebene Handlungen der Aufmerksamkeit in die Welt hereingetragen werden, findet man in dem Bereich der Liebe, der Kunst, der Schönheit. Für das Nützlichkeitsdenken hat es den Anschein, als würden diese nichts „tun“. Diese Werte gleichen aber diejenigen Lebenstätigkeiten aus, die ihre Grenzen überschritten haben, und die Furcht und Angst in die Welt hereinbringen. Wenn wir die Maßstäbe des Nützlichkeitsdenkens auf unsere innere Arbeit anlegen, bringt die Konzentration nur noch mehr Angst in die Welt herein.
Niemand kann die ungeheure Macht oder den ungeheuren Einfluss abstreiten, die der Intellekt in der Welt hat. Durch die Förderung des rationalen, diskriminierenden Intellekts haben wir es zu großen Erkenntnissen der materiellen Dimension der Welt gebracht, und wir haben die Technologien entwickelt, sie zu unseren Zwecken zu beherrschen. Die Geistwelten sind ganz außerhalb der alltäglichen Welt versetzt worden, ins Jenseits. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass es zwischen dieser Welt und dem Jenseits keine Trennung gibt. Die Angst will uns diese Offenbarung verheimlichen, denn durch sie verringert sich die Macht der Angst. Wir erfinden eine Trennung zwischen „diesseits“ und „jenseits“, weil es Dinge gibt, die wir nicht sehen können, und alles, was wir nicht wahrnehmen können, verbannen wir ins große Jenseits. Gerade das ist ja das Jenseits: alles, was wir mit dem gewöhnlichen Bewusstsein nicht wahrnehmen können. Aber nur weil etwas nicht wahrgenommen werden kann, heißt es lange nicht, dass es nicht unmittelbar hier anwesend ist, und zwar überall um uns herum.
[1] Georg Kühlewind, Das Leben der Seele (Hudson, NY: Lindisfarne Press, 1990).