Literatur und einheitliches Wahrnehmen
Es mag den Anschein haben, als wenn literarische Prosa dem Bereich Dichtkunst zuzuordnen wäre. Oder wenigstens ansatzweise dem Bereich der poetischen Phantasie. Aber Gedichte sind zum Gesprochenwerden gedacht, und die literarische Prosa soll gelesen werden. Das macht letztere zu einer Kunstform innerer Art: Die literarische Phantasie soll in uns so wirken, dass sie alle unsere Sinne auf die seelische Ebene hinauferheben. Wenn eine Blume in literarischer Weise beschrieben wird, so treten Duft und Tastempfindung der Blume in der Phantasie des Lesers auf. Nehmen wir an, wir lesen, wie zwei sich Liebende abends in einem Rosengarten küssen. Da riechen wir zwar nicht im wortwörtlichem Sinne die Rosen. Wohl kann aber unsere Einbildungskraft beim Lesen die Sinnesempfindung vergegenwärtigen, die man beim Riechen an einer Rose hat.
In einem Werk der literarischen Fiktion betreten wir eine Welt, in der alle Sinne miteinander auf die Ebene der Imagination erhoben werden. Außerdem geschehen in der imaginären Sinneswelt der Prosafiktion interessante Dinge mit der Zeitlichkeit. Eine Erzählung hat eine zeitliche Abfolge – einen Anfang, eine Mitte und ein Ende – die allerdings nicht immer geradeheraus verläuft. Es kann vorkommen, dass die Geschichte am Ende beginnt; es können Rückblenden vorkommen, die Zeit wird durcheinandergemischt. Die Zeit wird zu einer imaginären Wirklichkeit, welche dennoch als reell empfunden wird. Ein historischer Roman kann Jahrhunderte umspannen, und es ist dem Leser dabei so, als hätte er diese Jahrhunderte durchlebt.
Prosafiktion hat auch eine Handlung. Die Darstellung der Ereignisse in deren erfundenem Raum, in deren vorgetäuschter Zeit führt uns die Seelenschicksale der beteiligten Figuren vor Augen. Wir sehen wie von den geheimnisvollen Mächten des Schicksals die Handlungsmotive und Absichten der Figuren gelenkt werden; wir nehmen wahr, wo die Freiheit möglich ist und wo nicht. Wir sehen, wie die Seele handelt, und besinnen uns nicht bloß auf deren Definition. Alle Literatur fällt unter vier große seelische Gattungen – Epik, Tragik, Komik und Lyrik.[1] Diese seelischen Muster kommen in allen möglichen Formen vor, sind aber stets Variationen dieser vier Welten der Seele. In der Epik wird uns die heroische Bewegung der Seele gezeigt; in der Tragödie wird uns der gefallene Charakter der Menschen gezeigt; in der Komödie wird die Welt erlöst; in der Lyrik dürfen wir eine Vorstellung des Paradieses mitvollziehen.
Die Prosafiktion als zu lesende Kunstform geht über die bloße Unterhaltung weit hinaus. Sie lehrt uns, vielleicht in umfangreicherer Weise als bei jeder anderen Kunstform, wie man lebt. Große literarische Prosa belehrt uns zwar nicht im didaktischen Sinne. Aber es ist schon eine Lernerfahrung an sich, lesend in eine Imagination des Lebens hineingetragen zu werden: Durch sie bildet sich unsere Seele zu einem Organ, das den Prüfungen der Welt gewachsen ist. Sind einmal Geburt, Tod, Liebe, Schicksal, Familie, Hoffnung, Verzweiflung, Konflikt, Gewissen, Erfolg, Versagen an uns vorübergezogen, so sind wir nicht mehr ganz derselbe Mensch, wie davor. Zwar erleben wir alle diese Dinge auch im wirklichen Leben, aber wir schaffen es nicht immer, ihren Ursprung oder die letztendlichen Konsequenzen unserer Handlungen mitzuvollziehen. In der Prosafiktion sehen wir, wohin das Machtstreben führt, wie die Liebe ein Menschenleben auf immer verändert, was die Folgen eines unaufgelösten Konflikts sein können.
Die Lektionen, die uns die literarische Prosa zu erteilen hat, lassen sich nicht im wirklichen Leben als Quelle von Werten, von ethischem Handeln, von Moralität eins zu eins übertragen. Sie beseelen allerdings unsere Empfindsamkeit, sie ergänzen unser Wahrnehmungsvermögen. Daran kann auch die Seele erstarken, kann es zur absoluten Gewissheit bringen, dass die Seele aus dem ungeheuerlichen Unterfangen, Mensch zu sein, gegen die Furcht den Sieg davon tragen kann.
[1] Ich verdanke Louise Cowan, Professorin der Literatur an der University of Dallas, diese Einführung in die literarische Imagination.
Als Nächstes: Das Wahrnehmen und die Lebensprozesse
Es mag den Anschein haben, als wenn literarische Prosa dem Bereich Dichtkunst zuzuordnen wäre. Oder wenigstens ansatzweise dem Bereich der poetischen Phantasie. Aber Gedichte sind zum Gesprochenwerden gedacht, und die literarische Prosa soll gelesen werden. Das macht letztere zu einer Kunstform innerer Art: Die literarische Phantasie soll in uns so wirken, dass sie alle unsere Sinne auf die seelische Ebene hinauferheben. Wenn eine Blume in literarischer Weise beschrieben wird, so treten Duft und Tastempfindung der Blume in der Phantasie des Lesers auf. Nehmen wir an, wir lesen, wie zwei sich Liebende abends in einem Rosengarten küssen. Da riechen wir zwar nicht im wortwörtlichem Sinne die Rosen. Wohl kann aber unsere Einbildungskraft beim Lesen die Sinnesempfindung vergegenwärtigen, die man beim Riechen an einer Rose hat.
In einem Werk der literarischen Fiktion betreten wir eine Welt, in der alle Sinne miteinander auf die Ebene der Imagination erhoben werden. Außerdem geschehen in der imaginären Sinneswelt der Prosafiktion interessante Dinge mit der Zeitlichkeit. Eine Erzählung hat eine zeitliche Abfolge – einen Anfang, eine Mitte und ein Ende – die allerdings nicht immer geradeheraus verläuft. Es kann vorkommen, dass die Geschichte am Ende beginnt; es können Rückblenden vorkommen, die Zeit wird durcheinandergemischt. Die Zeit wird zu einer imaginären Wirklichkeit, welche dennoch als reell empfunden wird. Ein historischer Roman kann Jahrhunderte umspannen, und es ist dem Leser dabei so, als hätte er diese Jahrhunderte durchlebt.
Prosafiktion hat auch eine Handlung. Die Darstellung der Ereignisse in deren erfundenem Raum, in deren vorgetäuschter Zeit führt uns die Seelenschicksale der beteiligten Figuren vor Augen. Wir sehen wie von den geheimnisvollen Mächten des Schicksals die Handlungsmotive und Absichten der Figuren gelenkt werden; wir nehmen wahr, wo die Freiheit möglich ist und wo nicht. Wir sehen, wie die Seele handelt, und besinnen uns nicht bloß auf deren Definition. Alle Literatur fällt unter vier große seelische Gattungen – Epik, Tragik, Komik und Lyrik.[1] Diese seelischen Muster kommen in allen möglichen Formen vor, sind aber stets Variationen dieser vier Welten der Seele. In der Epik wird uns die heroische Bewegung der Seele gezeigt; in der Tragödie wird uns der gefallene Charakter der Menschen gezeigt; in der Komödie wird die Welt erlöst; in der Lyrik dürfen wir eine Vorstellung des Paradieses mitvollziehen.
Die Prosafiktion als zu lesende Kunstform geht über die bloße Unterhaltung weit hinaus. Sie lehrt uns, vielleicht in umfangreicherer Weise als bei jeder anderen Kunstform, wie man lebt. Große literarische Prosa belehrt uns zwar nicht im didaktischen Sinne. Aber es ist schon eine Lernerfahrung an sich, lesend in eine Imagination des Lebens hineingetragen zu werden: Durch sie bildet sich unsere Seele zu einem Organ, das den Prüfungen der Welt gewachsen ist. Sind einmal Geburt, Tod, Liebe, Schicksal, Familie, Hoffnung, Verzweiflung, Konflikt, Gewissen, Erfolg, Versagen an uns vorübergezogen, so sind wir nicht mehr ganz derselbe Mensch, wie davor. Zwar erleben wir alle diese Dinge auch im wirklichen Leben, aber wir schaffen es nicht immer, ihren Ursprung oder die letztendlichen Konsequenzen unserer Handlungen mitzuvollziehen. In der Prosafiktion sehen wir, wohin das Machtstreben führt, wie die Liebe ein Menschenleben auf immer verändert, was die Folgen eines unaufgelösten Konflikts sein können.
Die Lektionen, die uns die literarische Prosa zu erteilen hat, lassen sich nicht im wirklichen Leben als Quelle von Werten, von ethischem Handeln, von Moralität eins zu eins übertragen. Sie beseelen allerdings unsere Empfindsamkeit, sie ergänzen unser Wahrnehmungsvermögen. Daran kann auch die Seele erstarken, kann es zur absoluten Gewissheit bringen, dass die Seele aus dem ungeheuerlichen Unterfangen, Mensch zu sein, gegen die Furcht den Sieg davon tragen kann.
[1] Ich verdanke Louise Cowan, Professorin der Literatur an der University of Dallas, diese Einführung in die literarische Imagination.
Als Nächstes: Das Wahrnehmen und die Lebensprozesse