Emotionelle Liebe
Die sexuelle Begierde birgt einen erheblichen unpersönlichen Anteil in sich. Es kann vorkommen, dass man sich ohne emotionale Verbindung körperlich von jemandem angezogen fühlt. Umgekehrt kann eine emotionale Verbindung bereits vor einer sexuellen Anziehung bestehen und nach dieser weiterbestehen. Emotionelle Liebe ergibt sich nicht wesensgemäß aus der sexuellen Liebe; sie ist autonom. Man sollte sie nicht als eine höhere Form der Liebe ansehen, sondern lediglich als eine andere Form, die neben und manchmal zusammen mit sonstigen Formen der Liebe existieren kann.
Der Zweck der sexuellen Liebe ist ein anderer, als der der emotionellen Liebe. Jene fließt ständig durch den Körper und entzündet dabei die Flammen der Verwandlung, welche wiederum den Körper zu einem Aufnahmegefäß machen. Dieses Gefäß kann nun nicht nur sexuelle Liebe fassen, sondern sämtliche Formen derselben. Die emotionelle Liebe hingegen besteht in einem die Seele durchfließenden Strom, der eben die Seele zum Aufnahmegefäß macht und wahre Phantasie inspiriert, welche wiederum zum heilvollen Umgang mit der Angst unerlässlich ist. Lernen wir die emotionelle Liebe zu fassen, so finden wir den reflexiven Raum, den wir zur Bildung eines bewussten Seelenlebens benötigen. Durch die emotionelle Liebe wird das Seelische zum direkten, unmittelbaren Erleben; der andere Mensch lebt nunmehr in unserer Phantasie.
Die heilige Macht der Liebe wirkt zu gleicher Zeit in zwei Seelen hinein, und zwei unter dem Einfluss der emotionellen Liebe stehende Menschen sagen, sie sind in einander verliebt, somit aneinander gebunden. Die Liebe als Emotion pendelt nicht eigentlich hin und her zwischen der einen Individualität und der anderen; sie umfasst und durchdringt beide Beteiligten gleichzeitig. Sagt die eine beteiligte Person zur anderen „Ich bin in dich verliebt“, so verkündet allein schon die Sprache, dass die Liebe nicht in einer Verbindung zweier getrennter Personen besteht, sondern dass beide im gleichen Kessel zusammensitzen. Dieser Modus der Liebe ist in sich zwar wunderschön; es kann allerdings extrem schmerzlich sein, in dieser Weise umfasst zu werden. Das Wunderschöne gehört zur Liebe; der Schmerz ist aus zwei miteinander verwandten Ursprüngen abzuleiten. Einerseits aus der Unerträglichkeit der Vorstellung, dass diese Schönheit nur vorübergehend sein könnte (was sie ja eigentlich auch nicht ist: Wandelbar ist sie schon; vergänglich aber nicht). Andererseits versuchen wir, diese erschreckende Schönheit dadurch loszuwerden, dass wir die Emotion des Verliebtseins von uns wegdrängen; scheint sie doch, unsere Individualität radikal zu bedrohen. Uns ist, als könnten wir uns selbst völlig verlieren. Dies ist die höchstpersönliche Erfahrung, dass die Liebe viel größer ist, als unsere eigene individuelle Existenz.
Die Angst sucht die emotionelle Liebe in mehrfacher Weise zu belagern. Die Angst vor dem Schmerzpotential der Liebe versucht, sich einzukeilen und so einen Fluchtimpuls auszulösen ausgerechnet vor dem, was wir uns am meisten wünschen: mit einem anderen Menschen zusammen die Liebe zu teilen. Ja die Angst kann so mächtig werden, dass sie uns die Gegenwart einer emotionellen Liebe leugnen lässt. Wenn die Liebe zu uns kommt, gilt es, einen mutigen Sprung in sie hineinzuwagen. Oscar Wild sagt, die zwei größten Schwierigkeiten in der Welt seien, das nicht zu bekommen, was man will, und das zu bekommen, was man will. Dieser dramatische Konflikt ist ein Kennzeichen des Heimgesuchtwerdens von der emotionellen Liebe. Wir befürchten, dass wir eines Morgens aufwachen und die ärgsten Zweifeln über die Wirklichkeit dessen haben, was wir für den anderen Menschen fühlen.
Die emotionelle Liebe ist zwar nicht flüchtig; wohl ist sie aber ständig im Wandel begriffen. Eines Tages ruhig, am nächsten Tag turbulent. Die Liebe kann nicht ewig gleich bleiben. Sie mag völlig verschwunden zu sein scheinen, und dann erscheint sie eines Tages ohne Vorwarnung wie eine warme Brise durch das Fenster wieder – vorausgesetzt das Fenster wurde offengelassen. Die schlimmsten Probleme scheinen dem Versuch zu entstammen, sich – zumal angesichts ihrer anscheinend instabilen Wesensart – an ihr festklammern zu wollen. Wir irren uns, wenn wir erwarten, als Folge der emotionellen Liebe glücklich zu werden. Aus dieser Liebe erwarte man bloß keinen Frieden; vielmehr ist eine große Flexibilität der Seele vonnöten, will man auf dieser turbulenten See stabil bleiben.
Emotionelle Ängste, die sich aus der Vergangenheit einer oder beider der Beteiligten zeigen, können in unseren Gefühlen Verwirrung stiften. Wenn sie schwanken oder ins Wanken geraten, können wir uns sicher sein, dass dies das Werk der Angst ist. Wenn wir für die Augenblicke des Befallenwerdens von der Angst wach sind, werden wir jedes Mal sehen, dass nicht die Emotion selbst es ist, was vom Zweifel befallen wird. Der Zweifel greift vielmehr dort an, wo wir über unsere Emotionen nachdenken. Wir können alles verlieren, wenn wir zulassen, dass unser Denken unserem Fühlen vorauseilt. Die Emotion der Liebe ist Selbstzweck; sie bedeutet nichts außer sie selbst. Insbesondere besagt sie nicht, dass ich dem anderen Menschen auf ewig verbunden sei. Ein solcher Entschluss zur Verbundenheit erfordert eine Handlung aus freier Wahl. Die Angst keilt sich an der Stelle ein, wo suggeriert wird, dass die emotionelle Liebe zwingend ein ewiges Zusammensein nach sich ziehe.
In der emotionellen Liebe fühlen wir zwar ein Verlangen, mit der anderen Person zusammenzufließen, aber solches Zusammensein ist nicht das Anliegen dieser Form der Liebe. Deren Absicht ist, uns über das wahre Wesen unseres Getrenntseins von dem anderen Menschen aufzuklären. Zu diesem Zweck zwingt sie uns dazu, dieses Getrenntsein als wahre innere Erfahrung zu entdecken. Das ist das Paradoxon der emotionellen Liebe; sie bringt uns zusammen, damit wir unser Getrenntsein entdecken. Wahres Getrenntsein ist nicht Einsamkeit, sondern ein Kennzeichen innerer Stärke, ein Kennenlernen unserer wahren Menschlichkeit. Wahres Getrenntsein ist eine Stärkung der Kapazität, sich der Angst zu stellen. Einsam fühlen wir nicht deshalb, weil uns ein Partner fehlt, sondern weil wir uns bei uns selbst nicht zuhause fühlen. Die Leere, die wir dabei erleben, kann kein anderer Mensch ausfüllen, auch wenn wir uns zunächst durch diesen anderen Menschen ergänzt fühlen. Nach einiger Zeit steigert sich die ursprüngliche Leere, und das zwingt uns in der Regel dazu, nach innen zu schauen. Wir können uns nicht in uns selbst zuhause fühlen, wenn wir in uns keinen Innenraum geschaffen haben. Das Verlangen, mit jemandem zusammenzufließen, trifft auf einen heilsamen Widerstand, und auf diesen Widerstand gilt es zu lauschen.
Sowie uns in einer zwischenmenschlichen Beziehung die eigene Individualität aufzugehen beginnt, sucht die Angst die emotionelle Liebe in Verwirrung zu bringen. Und dazu ist sie ohne Weiteres in der Lage. Mit diesem Erwachen zur eigenen Individualität ist die Angst darum bemüht, sich über die Grenze hinwegzusetzen, jenseits derer kein Zusammenfließen mehr möglich ist. Die Angst will, dass wir die unüberbrückbare Kluft vergessen, die zwischen uns und dem anderen Menschen liegt. An dieser Stelle besteht die Gefahr, dass wir uns veräußern, noch bevor wir völlig geformt sind, wie einen Blumenstrauß, der zu Boden fällt und auseinandergestreut wird. Wir suchen einen Weg aus der Isolation heraus, anstatt dass wir einen Weg in die heilige Individualität unserer eigenen Seele hinein und eine liebevolle Achtung gegenüber der Seele des anderen Menschen suchen. Das Einzige, was sich aus diesem Irrtum ergibt, sind Schmerzen und Verwirrung. In dem Maße, in dem die emotionelle Liebe intensiver wird, setzt sich die Angst ein, um die spirituelle Liebe abzuwehren. Denn diese könnte die emotionelle Liebe stützen und vertiefen, und obendrein noch neue Aufgaben und Herausforderungen mit sich bringen. Was durch emotionelle Liebe nicht erreicht werden kann, das lässt sich in der spirituellen Liebe vollbringen. Denn spirituelle Liebe besteht in der vollkommenen Vermischung zweier Geister ohne jeden Identitätsverlust. Die Furcht sucht diese Vermischung verfrüht und in der falschen Sphäre auftreten zu lassen, was unfehlbar bewirken würde, dass die zwei Personen in der Emotion gefangen bleiben und sich niemals im Geiste begegnen.
Die Hitze der emotionellen Liebe steigert häufig die sexuelle Liebe; die zwischen sexueller und emotioneller Liebe in Gang gebrachte Kreislauf-Strömung kann wiederum erstickend sein. Diese Erstickung kann dadurch umgangen werden, dass die emotionelle Liebe das Element der Freundschaft zulässt. Das Zulassen der Freundschaft in einer emotionellen Liebe ist zwar noch keine direkte spirituelle Liebe, aber in deren Richtung führt es.
Wohl gibt es aber eine Form der Liebe, die sich sowohl an der emotionellen als auch an der spirituellen Liebe beteiligt. Die alten Griechen nannten sie Philia. Wenn heutzutage zwei Menschen eine sexuell-emotionale Verbindung eingehen, die sich als problematisch entfaltet, so heißt es häufig beim Beenden dieser Bindung „Lasst uns bloß Freunde sein,“ wobei man bemüht ist, die Gefühle des anderen Menschen zu schonen. Nur verrät dieses Abschiedsritual leider, dass Freundschaft zur sexuell-emotionellen Liebe niemals dazugehört hatte. Die Freundschaft bildet ein unabdingbares Bindeglied zur spirituellen Liebe. Sie ist das Einzige, was die beengende Beschränkung der Liebe auf Geschlechtlichkeit und Emotionalität verhindern kann. Ein weiterer zentral Aspekt der Freundschaft ist, dass sie zur Öffentlichkeit und zum gesellschaftlichen Leben dazugehört. So gehört die Liebe in ihrer Eigenschaft als Freundschaft zur ganzen Welt und wird nicht auf die Sphäre des Privaten beschränkt.
Zwar besteht es das Anliegen der emotionellen Liebe darin, zwei Individualitäten zu umfassen und diese paradoxerweise aus der Leere ihrer Einsamkeit und in die Fülle ihres Separatseins hineinzutreiben; aber wann immer sie mit der Freundschaft gepaart ist, wird sie zur Beschützerin des Separatseins des anderen Menschen. Rilke sagt:
[F]ür die höchste Aufgabe einer Verbindung zweier Menschen [halte ich diese]: dass einer dem andern seine Einsamkeit bewache. Denn wenn das Wesen der Gleichgültigkeit und der Menge darin besteht, keine Einsamkeit anzuerkennen, so ist Liebe und Freundschaft dazu da, fortwährend Gelegenheit zur Einsamkeit zu geben. Und nur das sind die wirklichen Gemeinsamkeiten, die rhythmisch tiefe Vereinsamungen unterbrechen…[1]
Zwei Menschen können der Seele des jeweils anderen nicht dienen, wenn sie unwissentlich miteinander und somit in eigennützigem Verhalten verstrickt sind. Wenn man die Einsamkeit eines anderen Menschen missachtet, wenn man es unterlässt, deren Wächter zu sein, so schadet das nicht nur der Beziehung: Auch die Welt nimmt daran Schaden, da die Liebe, welche das Paar allerdings heimgesucht hat, daran verhindert wird, über diese zwei und in die weitere Welt hinaus zu gelangen.
Zwar ist jeder Modus der Liebe wesensgemäß autonom. Es lässt sich aber keiner von ihnen ohne schädigende Auswirkung umgehen. Zwar bestehen wichtige Verbindungen zwischen den einzelnen Arten der Liebe, aber diese Verbindungen sind nicht hierarchischer Art – es handelt sich nicht darum, sich nach und nach von einem niedrigeren zu einem höheren Zustand der Liebe hinaufzuerheben. Die Vorstellung einer Hierarchie ist eine List der Angst; darin versteckt sie sich, als Macht und Autorität verkleidet, und erfüllt uns mit dem Gedanken, dass etwa die spirituelle Liebe eine höhere Form der Liebe sei als die sexuelle Liebe. Die spirituelle Liebe ist allerdings etwas anderes als die sexuelle Liebe; etwas Höheres ist sie aber nicht. Halten wir sie doch für etwas Höheres, so ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass die sexuelle Liebe unterdrückt wird. Außerdem erfüllt uns das Gefühl, dass wir die höheren Formen der Liebe nicht erlangen werden, ebenfalls mit Angst. Es besteht keinerlei Widerspruch darin, sich der sexuellen Liebe, der emotionellen Liebe und der spirituellen Liebe vollkommen und zu gleicher Zeit hinzugeben. Im Gegenteil: Das zu tun ist der sicherste Weg, die Seele von der Angst zu befreien.
[1] Aus einem Brief Rilkes an Paula Modersohn Becker
Die sexuelle Begierde birgt einen erheblichen unpersönlichen Anteil in sich. Es kann vorkommen, dass man sich ohne emotionale Verbindung körperlich von jemandem angezogen fühlt. Umgekehrt kann eine emotionale Verbindung bereits vor einer sexuellen Anziehung bestehen und nach dieser weiterbestehen. Emotionelle Liebe ergibt sich nicht wesensgemäß aus der sexuellen Liebe; sie ist autonom. Man sollte sie nicht als eine höhere Form der Liebe ansehen, sondern lediglich als eine andere Form, die neben und manchmal zusammen mit sonstigen Formen der Liebe existieren kann.
Der Zweck der sexuellen Liebe ist ein anderer, als der der emotionellen Liebe. Jene fließt ständig durch den Körper und entzündet dabei die Flammen der Verwandlung, welche wiederum den Körper zu einem Aufnahmegefäß machen. Dieses Gefäß kann nun nicht nur sexuelle Liebe fassen, sondern sämtliche Formen derselben. Die emotionelle Liebe hingegen besteht in einem die Seele durchfließenden Strom, der eben die Seele zum Aufnahmegefäß macht und wahre Phantasie inspiriert, welche wiederum zum heilvollen Umgang mit der Angst unerlässlich ist. Lernen wir die emotionelle Liebe zu fassen, so finden wir den reflexiven Raum, den wir zur Bildung eines bewussten Seelenlebens benötigen. Durch die emotionelle Liebe wird das Seelische zum direkten, unmittelbaren Erleben; der andere Mensch lebt nunmehr in unserer Phantasie.
Die heilige Macht der Liebe wirkt zu gleicher Zeit in zwei Seelen hinein, und zwei unter dem Einfluss der emotionellen Liebe stehende Menschen sagen, sie sind in einander verliebt, somit aneinander gebunden. Die Liebe als Emotion pendelt nicht eigentlich hin und her zwischen der einen Individualität und der anderen; sie umfasst und durchdringt beide Beteiligten gleichzeitig. Sagt die eine beteiligte Person zur anderen „Ich bin in dich verliebt“, so verkündet allein schon die Sprache, dass die Liebe nicht in einer Verbindung zweier getrennter Personen besteht, sondern dass beide im gleichen Kessel zusammensitzen. Dieser Modus der Liebe ist in sich zwar wunderschön; es kann allerdings extrem schmerzlich sein, in dieser Weise umfasst zu werden. Das Wunderschöne gehört zur Liebe; der Schmerz ist aus zwei miteinander verwandten Ursprüngen abzuleiten. Einerseits aus der Unerträglichkeit der Vorstellung, dass diese Schönheit nur vorübergehend sein könnte (was sie ja eigentlich auch nicht ist: Wandelbar ist sie schon; vergänglich aber nicht). Andererseits versuchen wir, diese erschreckende Schönheit dadurch loszuwerden, dass wir die Emotion des Verliebtseins von uns wegdrängen; scheint sie doch, unsere Individualität radikal zu bedrohen. Uns ist, als könnten wir uns selbst völlig verlieren. Dies ist die höchstpersönliche Erfahrung, dass die Liebe viel größer ist, als unsere eigene individuelle Existenz.
Die Angst sucht die emotionelle Liebe in mehrfacher Weise zu belagern. Die Angst vor dem Schmerzpotential der Liebe versucht, sich einzukeilen und so einen Fluchtimpuls auszulösen ausgerechnet vor dem, was wir uns am meisten wünschen: mit einem anderen Menschen zusammen die Liebe zu teilen. Ja die Angst kann so mächtig werden, dass sie uns die Gegenwart einer emotionellen Liebe leugnen lässt. Wenn die Liebe zu uns kommt, gilt es, einen mutigen Sprung in sie hineinzuwagen. Oscar Wild sagt, die zwei größten Schwierigkeiten in der Welt seien, das nicht zu bekommen, was man will, und das zu bekommen, was man will. Dieser dramatische Konflikt ist ein Kennzeichen des Heimgesuchtwerdens von der emotionellen Liebe. Wir befürchten, dass wir eines Morgens aufwachen und die ärgsten Zweifeln über die Wirklichkeit dessen haben, was wir für den anderen Menschen fühlen.
Die emotionelle Liebe ist zwar nicht flüchtig; wohl ist sie aber ständig im Wandel begriffen. Eines Tages ruhig, am nächsten Tag turbulent. Die Liebe kann nicht ewig gleich bleiben. Sie mag völlig verschwunden zu sein scheinen, und dann erscheint sie eines Tages ohne Vorwarnung wie eine warme Brise durch das Fenster wieder – vorausgesetzt das Fenster wurde offengelassen. Die schlimmsten Probleme scheinen dem Versuch zu entstammen, sich – zumal angesichts ihrer anscheinend instabilen Wesensart – an ihr festklammern zu wollen. Wir irren uns, wenn wir erwarten, als Folge der emotionellen Liebe glücklich zu werden. Aus dieser Liebe erwarte man bloß keinen Frieden; vielmehr ist eine große Flexibilität der Seele vonnöten, will man auf dieser turbulenten See stabil bleiben.
Emotionelle Ängste, die sich aus der Vergangenheit einer oder beider der Beteiligten zeigen, können in unseren Gefühlen Verwirrung stiften. Wenn sie schwanken oder ins Wanken geraten, können wir uns sicher sein, dass dies das Werk der Angst ist. Wenn wir für die Augenblicke des Befallenwerdens von der Angst wach sind, werden wir jedes Mal sehen, dass nicht die Emotion selbst es ist, was vom Zweifel befallen wird. Der Zweifel greift vielmehr dort an, wo wir über unsere Emotionen nachdenken. Wir können alles verlieren, wenn wir zulassen, dass unser Denken unserem Fühlen vorauseilt. Die Emotion der Liebe ist Selbstzweck; sie bedeutet nichts außer sie selbst. Insbesondere besagt sie nicht, dass ich dem anderen Menschen auf ewig verbunden sei. Ein solcher Entschluss zur Verbundenheit erfordert eine Handlung aus freier Wahl. Die Angst keilt sich an der Stelle ein, wo suggeriert wird, dass die emotionelle Liebe zwingend ein ewiges Zusammensein nach sich ziehe.
In der emotionellen Liebe fühlen wir zwar ein Verlangen, mit der anderen Person zusammenzufließen, aber solches Zusammensein ist nicht das Anliegen dieser Form der Liebe. Deren Absicht ist, uns über das wahre Wesen unseres Getrenntseins von dem anderen Menschen aufzuklären. Zu diesem Zweck zwingt sie uns dazu, dieses Getrenntsein als wahre innere Erfahrung zu entdecken. Das ist das Paradoxon der emotionellen Liebe; sie bringt uns zusammen, damit wir unser Getrenntsein entdecken. Wahres Getrenntsein ist nicht Einsamkeit, sondern ein Kennzeichen innerer Stärke, ein Kennenlernen unserer wahren Menschlichkeit. Wahres Getrenntsein ist eine Stärkung der Kapazität, sich der Angst zu stellen. Einsam fühlen wir nicht deshalb, weil uns ein Partner fehlt, sondern weil wir uns bei uns selbst nicht zuhause fühlen. Die Leere, die wir dabei erleben, kann kein anderer Mensch ausfüllen, auch wenn wir uns zunächst durch diesen anderen Menschen ergänzt fühlen. Nach einiger Zeit steigert sich die ursprüngliche Leere, und das zwingt uns in der Regel dazu, nach innen zu schauen. Wir können uns nicht in uns selbst zuhause fühlen, wenn wir in uns keinen Innenraum geschaffen haben. Das Verlangen, mit jemandem zusammenzufließen, trifft auf einen heilsamen Widerstand, und auf diesen Widerstand gilt es zu lauschen.
Sowie uns in einer zwischenmenschlichen Beziehung die eigene Individualität aufzugehen beginnt, sucht die Angst die emotionelle Liebe in Verwirrung zu bringen. Und dazu ist sie ohne Weiteres in der Lage. Mit diesem Erwachen zur eigenen Individualität ist die Angst darum bemüht, sich über die Grenze hinwegzusetzen, jenseits derer kein Zusammenfließen mehr möglich ist. Die Angst will, dass wir die unüberbrückbare Kluft vergessen, die zwischen uns und dem anderen Menschen liegt. An dieser Stelle besteht die Gefahr, dass wir uns veräußern, noch bevor wir völlig geformt sind, wie einen Blumenstrauß, der zu Boden fällt und auseinandergestreut wird. Wir suchen einen Weg aus der Isolation heraus, anstatt dass wir einen Weg in die heilige Individualität unserer eigenen Seele hinein und eine liebevolle Achtung gegenüber der Seele des anderen Menschen suchen. Das Einzige, was sich aus diesem Irrtum ergibt, sind Schmerzen und Verwirrung. In dem Maße, in dem die emotionelle Liebe intensiver wird, setzt sich die Angst ein, um die spirituelle Liebe abzuwehren. Denn diese könnte die emotionelle Liebe stützen und vertiefen, und obendrein noch neue Aufgaben und Herausforderungen mit sich bringen. Was durch emotionelle Liebe nicht erreicht werden kann, das lässt sich in der spirituellen Liebe vollbringen. Denn spirituelle Liebe besteht in der vollkommenen Vermischung zweier Geister ohne jeden Identitätsverlust. Die Furcht sucht diese Vermischung verfrüht und in der falschen Sphäre auftreten zu lassen, was unfehlbar bewirken würde, dass die zwei Personen in der Emotion gefangen bleiben und sich niemals im Geiste begegnen.
Die Hitze der emotionellen Liebe steigert häufig die sexuelle Liebe; die zwischen sexueller und emotioneller Liebe in Gang gebrachte Kreislauf-Strömung kann wiederum erstickend sein. Diese Erstickung kann dadurch umgangen werden, dass die emotionelle Liebe das Element der Freundschaft zulässt. Das Zulassen der Freundschaft in einer emotionellen Liebe ist zwar noch keine direkte spirituelle Liebe, aber in deren Richtung führt es.
Wohl gibt es aber eine Form der Liebe, die sich sowohl an der emotionellen als auch an der spirituellen Liebe beteiligt. Die alten Griechen nannten sie Philia. Wenn heutzutage zwei Menschen eine sexuell-emotionale Verbindung eingehen, die sich als problematisch entfaltet, so heißt es häufig beim Beenden dieser Bindung „Lasst uns bloß Freunde sein,“ wobei man bemüht ist, die Gefühle des anderen Menschen zu schonen. Nur verrät dieses Abschiedsritual leider, dass Freundschaft zur sexuell-emotionellen Liebe niemals dazugehört hatte. Die Freundschaft bildet ein unabdingbares Bindeglied zur spirituellen Liebe. Sie ist das Einzige, was die beengende Beschränkung der Liebe auf Geschlechtlichkeit und Emotionalität verhindern kann. Ein weiterer zentral Aspekt der Freundschaft ist, dass sie zur Öffentlichkeit und zum gesellschaftlichen Leben dazugehört. So gehört die Liebe in ihrer Eigenschaft als Freundschaft zur ganzen Welt und wird nicht auf die Sphäre des Privaten beschränkt.
Zwar besteht es das Anliegen der emotionellen Liebe darin, zwei Individualitäten zu umfassen und diese paradoxerweise aus der Leere ihrer Einsamkeit und in die Fülle ihres Separatseins hineinzutreiben; aber wann immer sie mit der Freundschaft gepaart ist, wird sie zur Beschützerin des Separatseins des anderen Menschen. Rilke sagt:
[F]ür die höchste Aufgabe einer Verbindung zweier Menschen [halte ich diese]: dass einer dem andern seine Einsamkeit bewache. Denn wenn das Wesen der Gleichgültigkeit und der Menge darin besteht, keine Einsamkeit anzuerkennen, so ist Liebe und Freundschaft dazu da, fortwährend Gelegenheit zur Einsamkeit zu geben. Und nur das sind die wirklichen Gemeinsamkeiten, die rhythmisch tiefe Vereinsamungen unterbrechen…[1]
Zwei Menschen können der Seele des jeweils anderen nicht dienen, wenn sie unwissentlich miteinander und somit in eigennützigem Verhalten verstrickt sind. Wenn man die Einsamkeit eines anderen Menschen missachtet, wenn man es unterlässt, deren Wächter zu sein, so schadet das nicht nur der Beziehung: Auch die Welt nimmt daran Schaden, da die Liebe, welche das Paar allerdings heimgesucht hat, daran verhindert wird, über diese zwei und in die weitere Welt hinaus zu gelangen.
Zwar ist jeder Modus der Liebe wesensgemäß autonom. Es lässt sich aber keiner von ihnen ohne schädigende Auswirkung umgehen. Zwar bestehen wichtige Verbindungen zwischen den einzelnen Arten der Liebe, aber diese Verbindungen sind nicht hierarchischer Art – es handelt sich nicht darum, sich nach und nach von einem niedrigeren zu einem höheren Zustand der Liebe hinaufzuerheben. Die Vorstellung einer Hierarchie ist eine List der Angst; darin versteckt sie sich, als Macht und Autorität verkleidet, und erfüllt uns mit dem Gedanken, dass etwa die spirituelle Liebe eine höhere Form der Liebe sei als die sexuelle Liebe. Die spirituelle Liebe ist allerdings etwas anderes als die sexuelle Liebe; etwas Höheres ist sie aber nicht. Halten wir sie doch für etwas Höheres, so ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass die sexuelle Liebe unterdrückt wird. Außerdem erfüllt uns das Gefühl, dass wir die höheren Formen der Liebe nicht erlangen werden, ebenfalls mit Angst. Es besteht keinerlei Widerspruch darin, sich der sexuellen Liebe, der emotionellen Liebe und der spirituellen Liebe vollkommen und zu gleicher Zeit hinzugeben. Im Gegenteil: Das zu tun ist der sicherste Weg, die Seele von der Angst zu befreien.
[1] Aus einem Brief Rilkes an Paula Modersohn Becker