Zur Förderung einer heilsamen Entwicklung
des Ego-Bewusstseins
Die Angst ist in die Struktur des Egobewusstseins sozusagen schon eingebaut. Will man also Angst-Übergriffe vorbeugen, so braucht man lediglich die Spannweite des Bewusstseins über die Egoität hinaus zu erweitern. Solche Erweiterung kann eine alltägliche Praxis sein, in der wir darauf hinarbeiten, uns stärker am Leben der Seele zu orientieren. Es geht hier nicht darum, das Seelenleben ins gewöhnliche Bewusstsein zu übertragen, sondern darum, das gewöhnliche Bewusstsein ins seelische Bewusstsein hineinzubringen.
Wie kann man das üben? Anstatt zu versuchen, der Seele unsere Aufmerksamkeit zu schenken, müssen wir ermöglichen, dass sie unsere Aufmerksamkeit sich holt. Die bildschaffende Realität der Seele ist eine Fähigkeit der Imagination. Es geht dabei nicht um innere Bilder, die es zu betrachten gilt, sondern um den Vorgang selbst, Bilder zu schaffen, die ständig dabei sind, sich zu bilden und – im selben Augenblick – sich aufzulösen. Der Inhalt eines inneren Bildes ist weiter nichts als die äußere Bekleidung, der Schlussmoment eines Verbildlichungsvorgangs. Wir sollen unsere Aufmerksamkeit also nicht so sehr auf den Bildinhalt lenken, sondern vielmehr auf die Gefühle, auf die Eindrücke, auf die Empfindung der Bewegungen des Verbildlichungsprozesses, auf dessen Rhythmus und dessen dramatisches Handeln.
Nehmen wir an, ich habe einen Traum, in dem ich über einer Stadt fliege; Flügel habe ich dabei keine. Auf einmal merke ich im Traum, dass ich überhaupt fliege, und in diesem Augenblick beginne ich, in die Tiefe zu stürzen. Ein kleiner brauner Hund steht auf der Stelle, wo ich auftreffen werde, und schaut mir neugierig aber zugleich mit erkennendem Blick entgegen, als wenn er diesen fallenden Körper kennen würde. Da hört mein Sturz auf und ich erhebe mich wieder in die Wolken. Das Traumbild steigt mir beim Aufwachen ins Bewusstsein auf. Aus der Perspektive des Egobewusstseins bedeutet der Traum vielleicht, dass ich zu sehr im Geist befangen bin, und dass ich dadurch so zum Handeln veranlasst werde, als hätte ich keinen festen Boden unter den Füßen und so einfach beliebig herumschweben kann; dass aber wenn ich meinen Geist mit dem Tier in mir verbinden kann, er in neuer Weise frei ist. Eine schlaue Auslegung. Nichtsdestotrotz: Alles Unsinn! Denn ich entferne mich dabei von der eigenen Ausdrucksweise der Seele selbst. Hingegen wenn ich mich beim Aufwachen anstrenge, das Traumbild als Ganzes zu halten, so kann ich an der eigenen Ausdrucksweise der Seele näher dranbleiben. Wie alle Bildschaffende Tätigkeit ist das Träumen ebenfalls nicht linear. Schon wenn ich den Traum in die Form einer Erzählung bringe, ist das eine Art Interpretation. Wenn ich aber jede Schicht des Traums gleichzeitig fühlen und empfinden kann, anstatt mit ihm als mit einer mehr oder weniger linearen Erzählung umzugehen, so ernähre, ehre und unterstütze ich nicht nur den Traum, sondern auch die Seele in dem ihr eigenen Handlungsmodus.
Das Leben der Seele hält sich nicht an der Logik des Egos. Wenn wir versuchen, durch gewöhnliche Logik die Seele zu verstehen, anstatt zuzulassen, dass sie uns ihrer eigenen Art gemäß belehrt, so stärken wir die Kräfte des Egos und schwächen die des Seelenlebens. Man muss das Ego aber nicht aufgeben, um die Seele zu Wort kommen zu lassen; ja wenn wir das tun würden, würden wir durch Erlebnisse überwältigt werden, die wir weder verstehen noch behalten können. Wenn hingegen die dem Egobewusstsein innewohnende Angst reduziert wird, dann funktioniert das wahre Wesen des Egos als der geistige Kern unseres Wesens. Anstatt weitere und tiefere Formen des Bewusstseins abzulehnen, umarmt dieses zentrale „Ich“ solche Erfahrungen. Um in der Begrifflichkeit des großen Dichters Samuel Taylor Coleridge zu sagen: Das von Angst freie Ego ist die Nachbildung des unendlichen „Ich Bin“ im endlichen Verstand.
Was bezwecken wir, wenn wir die wesensgemäße Handlungsweise der Seele fühlen lernen? Die Erlangung der Fähigkeit, uns von der Seele verändern zu lassen. Träume sind hierfür ein ausgezeichneter Ausgangspunkt, denn in ihnen bekommen wir die Rudimente einer Logik zu fassen, die anders ist als die Logik des Egobewusstseins. Diese neue „Logik der Simultaneität“ wirkt im Wachleben – in dem Maße, in dem wir uns auf sie einlassen – verändernd auf die Erkenntnis sowie auf das Gedächtnis, das Denken und das Wahrnehmen. Bei dieser Änderung geht es nicht bloß um eine gründlichere Selbsterkenntnis; noch wichtiger: Es geht um eine Steigerung der Fähigkeit, uns der Welt und anderen Menschen zu nähern. Bisher hatte die Angst unser Bewusstsein fest im Griff. Nunmehr löst er sich.
Indem wir das Bollwerk der Angst im Egobewusstsein abbauen, werden wir dazu fähiger, seelische Eigenschaften in der Welt zu entdecken. Im Wachleben ist die Seele die innere Genießerin alles dessen, was sich uns darbietet. Das soll nicht heißen, dass es ihr nur um Befriedigung geht; genießt die Seele doch alles, auch solche Dinge, die für uns als abscheulich gelten. Soll es aber den seelischen Eigenschaften der Welt gelingen, unsere Aufmerksamkeit zu packen, so kommen wir um eine Steigerung unserer Fähigkeit, die Welt als einen Vorgang des Entstehens von Bildern zu empfinden, nicht herum.
Jeden Tag verbringe ich einige Minuten damit, ein inneres Bild von etwas zu machen, was mir an diesem Tag begegnet ist. Wenn ich zum Beispiel nach einem Schneesturm von meinem Haus in den Bergen die Straße hinuntergefahren bin und die schneebedeckten Bäume gesehen habe, die die Straße säumten, so ist das ein allerdings sehr beeindruckender und bewegender Anblick. Sofern aber dieser Eindruck gleich vom nächsten Eindruck verdrängt wurde, ist das noch kein bewusstes Seelenerlebnis. Also nehme ich mir abends fünf Minuten und mache ein inneres Bild von einer Szene, die ich am Tag gesehen habe. Aber ich erinnere mich nicht bloß an das Gesehene. Auch visualisiere ich es nicht bloß mit dem inneren Auge. Bei Letzterem geht es um die – vorwiegend mentale – Tätigkeit, ein vor sich befindliches inneres Bild anzusehen. Worum es bei einem solchen Bildschaffen geht, das ist vielmehr, ein sehr detailliertes, genaues Bild zu machen, dann dieses Bild mein ganzes Wesen so durchsetzen zu lassen, dass ich es nicht mehr vor mir erlebe, sondern dass ich das Bild werde. Worauf es bei dieser Tätigkeit ankommt, das ist, das Bild so zu stabilisieren, dass es nicht gleich verblasst oder sich in etwas anderes verwandelt.
Eine Übung wie diese braucht sich nicht auf das Visuelle zu beschränken. Ich selbst übe solches Bildschaffen mit Musik, oder mit einem von jemandem gesprochenen Satz, oder mit Tastempfindungen, mit Gerüchen, ja mit der vollen Spannweite meiner Sinne. Man kann diese Übung auch mit Gedanken, Gefühlen, Handlungen, ja mit dem ganzen Feld des menschlichen Erlebens machen.
Indem die Seele erstarkt, entwickelt sich ein imaginales Ego-Bewusstsein. Wir müssen nicht das gewöhnliche Bewusstsein auslöschen, um Erfahrungen zu haben, die von der Seele durchdrungen sind; das Ziel ist vielmehr, das Bilderbewusstsein und das gewöhnliche Bewusstsein zusammenzuführen. Da beginnt die Welt nach und nach als fortdauernde Tätigkeit anstatt nur als festgelegte Inhalte in Erscheinung zu treten. Zum Beispiel: Ich schaue jeden Tag zu meinem Fenster auf die Landschaft hinaus. Aufgrund der ständigen Änderung von Licht und Schatten, von den Wolken und der Sonne, dem Nebel und dem Regen, ändern sich auch die Formen der Objekte; auch gruppieren sie sich zu verschiedenen Zeiten in verschiedener Weise. Im einen Moment steht ein Baum im Zentrum, im nächsten Moment gehört er zum Hintergrund. Die Färbung kann von Blau zu Silber zu Indigoblau zu Lila wechseln. Die Welt-als-Bild entsteht ständig in diverser, immer neuer Weise.
Die ganze Welt bietet sich zum Bilderschaffen an. So bietet sich die konstruierte, durch menschliche Genialität gebaute Welt als Bildtätigkeit dar. Ein glatter, gläserner, hoch hinaufragender Wolkenkratzer steht allein an der Ecke, zerbrechlich, isoliert und in sich gekehrt, und ich empfinde Mitleid mit diesem einsamen Gebäude. In dieser Weise präsentieren sich auch Menschen. Wie erstaunlich es ist zum Beispiel, die kräftige Gangart des einen Menschen zu beobachten und mit welch festem Schritt seine Füße den Boden berühren – als wenn im nächsten Moment das gerade eben gesetzte Bein zum Heben zu schwer sein könnte und der Mensch ewig auf dieser Stelle festgefroren bleiben müsste. Wie ist es möglich, mag man sich fragen, dass dieser Mensch sich überhaupt bewegt? Jemand anders scheint durch die Luft zu fliegen und kaum sich die Mühe zu machen, mit jedem Schritt den Boden zu berühren. Oder das Antlitz eines Menschen zu betrachten – das eine Gesicht mit Linien gezeichnet, zerfurcht, faltig, die Sorgen, die Freuden, die Schmerzen eines Lebens offenbarend; ein anderer mit glatter, zarter Haut, die ganzen Lebenserfahrungen durch tiefe, dunkle, nachdenkliche Augen zeigend.
Wenn wir Seele in der Welt finden, ist es nicht darauf zurückzuführen, dass wir sie dorthin projiziert haben. Diese Vorstellung ist eine psychologische Erfindung, die geschaffen wurde durch die scharfe Trennlinie zwischen Egobewusstsein und dem Rest des Seelenlebens, und die das Letztere in „das Unbewusste“ verbannt. Laut einer solchen Psychologie gehören seelische Qualitäten nicht zu der „eigentlichen“ Welt; sie entspringen vielmehr dem Unterbewusstsein und werden auf die Welt lediglich projiziert. Ist aber die Angst einmal aus ihrem Versteck im Egobewusstsein ans Licht gekommen, so wird klar, dass die Trennung zwischen dem Egobewusstsein und den anderen Modi des Seelenlebens von eben dieser Angst vollzogen wird.
Wenn wir daran arbeiten, die Seele mit dem Egobewusstsein zu verbinden, so vertreiben wir die Angst nicht nur aus ihrem Versteck in uns. Eine solche Arbeit wirkt sich nämlich auch auf die in der Welt verbreitete Angst aus. Wird das Leben der Seele Stück für Stück bewusster, so ist es, als würde ein Teil von uns in das hinübergehen, was uns entgegenkommt. Ob das Letztere aus unseren eigenen Seelentiefen oder aus den Raumesweiten kommt, ist ein solches Gefühl des ineinander Übergehens nicht in leibfreien oder mystischen Erfahrungen zu orten. Denn alles, was wir „Seele“ nennen, ist weiter nichts als eine Variation, eine Modifikation der einen oder anderen Art schöpferischer Liebe. Die Angst wird allerdings durch Liebe überwunden. Aber nicht durch eine Liebe, die wir von unserem Ego oder unserer Sentimentalität her eingehen. Liebe handelt als eine Kraft gegen die Angst, aber nur insofern sie ein Impuls auf Beziehung, auf Verbindung, auf Affinität hin ist und der Trennung, der Zerteilung, dem Konflikt und der Gewalt entgegensteht. In dem Maße, in dem wir von der Seele her wach werden, finden wir uns immer mehr in der Welt draußen und immer weniger auf uns selbst bezogen. Anstatt abzuwarten, dass die Liebe zu uns kommt und uns mitreißt, ist es jetzt an uns, einen Beitrag zum Kreislauf der Liebe in der Welt zu leisten – einen maßgeblichen Beitrag zum unschädlich-Machen der drückenden, allgegenwärtigen Angst in der Welt.
des Ego-Bewusstseins
Die Angst ist in die Struktur des Egobewusstseins sozusagen schon eingebaut. Will man also Angst-Übergriffe vorbeugen, so braucht man lediglich die Spannweite des Bewusstseins über die Egoität hinaus zu erweitern. Solche Erweiterung kann eine alltägliche Praxis sein, in der wir darauf hinarbeiten, uns stärker am Leben der Seele zu orientieren. Es geht hier nicht darum, das Seelenleben ins gewöhnliche Bewusstsein zu übertragen, sondern darum, das gewöhnliche Bewusstsein ins seelische Bewusstsein hineinzubringen.
Wie kann man das üben? Anstatt zu versuchen, der Seele unsere Aufmerksamkeit zu schenken, müssen wir ermöglichen, dass sie unsere Aufmerksamkeit sich holt. Die bildschaffende Realität der Seele ist eine Fähigkeit der Imagination. Es geht dabei nicht um innere Bilder, die es zu betrachten gilt, sondern um den Vorgang selbst, Bilder zu schaffen, die ständig dabei sind, sich zu bilden und – im selben Augenblick – sich aufzulösen. Der Inhalt eines inneren Bildes ist weiter nichts als die äußere Bekleidung, der Schlussmoment eines Verbildlichungsvorgangs. Wir sollen unsere Aufmerksamkeit also nicht so sehr auf den Bildinhalt lenken, sondern vielmehr auf die Gefühle, auf die Eindrücke, auf die Empfindung der Bewegungen des Verbildlichungsprozesses, auf dessen Rhythmus und dessen dramatisches Handeln.
Nehmen wir an, ich habe einen Traum, in dem ich über einer Stadt fliege; Flügel habe ich dabei keine. Auf einmal merke ich im Traum, dass ich überhaupt fliege, und in diesem Augenblick beginne ich, in die Tiefe zu stürzen. Ein kleiner brauner Hund steht auf der Stelle, wo ich auftreffen werde, und schaut mir neugierig aber zugleich mit erkennendem Blick entgegen, als wenn er diesen fallenden Körper kennen würde. Da hört mein Sturz auf und ich erhebe mich wieder in die Wolken. Das Traumbild steigt mir beim Aufwachen ins Bewusstsein auf. Aus der Perspektive des Egobewusstseins bedeutet der Traum vielleicht, dass ich zu sehr im Geist befangen bin, und dass ich dadurch so zum Handeln veranlasst werde, als hätte ich keinen festen Boden unter den Füßen und so einfach beliebig herumschweben kann; dass aber wenn ich meinen Geist mit dem Tier in mir verbinden kann, er in neuer Weise frei ist. Eine schlaue Auslegung. Nichtsdestotrotz: Alles Unsinn! Denn ich entferne mich dabei von der eigenen Ausdrucksweise der Seele selbst. Hingegen wenn ich mich beim Aufwachen anstrenge, das Traumbild als Ganzes zu halten, so kann ich an der eigenen Ausdrucksweise der Seele näher dranbleiben. Wie alle Bildschaffende Tätigkeit ist das Träumen ebenfalls nicht linear. Schon wenn ich den Traum in die Form einer Erzählung bringe, ist das eine Art Interpretation. Wenn ich aber jede Schicht des Traums gleichzeitig fühlen und empfinden kann, anstatt mit ihm als mit einer mehr oder weniger linearen Erzählung umzugehen, so ernähre, ehre und unterstütze ich nicht nur den Traum, sondern auch die Seele in dem ihr eigenen Handlungsmodus.
Das Leben der Seele hält sich nicht an der Logik des Egos. Wenn wir versuchen, durch gewöhnliche Logik die Seele zu verstehen, anstatt zuzulassen, dass sie uns ihrer eigenen Art gemäß belehrt, so stärken wir die Kräfte des Egos und schwächen die des Seelenlebens. Man muss das Ego aber nicht aufgeben, um die Seele zu Wort kommen zu lassen; ja wenn wir das tun würden, würden wir durch Erlebnisse überwältigt werden, die wir weder verstehen noch behalten können. Wenn hingegen die dem Egobewusstsein innewohnende Angst reduziert wird, dann funktioniert das wahre Wesen des Egos als der geistige Kern unseres Wesens. Anstatt weitere und tiefere Formen des Bewusstseins abzulehnen, umarmt dieses zentrale „Ich“ solche Erfahrungen. Um in der Begrifflichkeit des großen Dichters Samuel Taylor Coleridge zu sagen: Das von Angst freie Ego ist die Nachbildung des unendlichen „Ich Bin“ im endlichen Verstand.
Was bezwecken wir, wenn wir die wesensgemäße Handlungsweise der Seele fühlen lernen? Die Erlangung der Fähigkeit, uns von der Seele verändern zu lassen. Träume sind hierfür ein ausgezeichneter Ausgangspunkt, denn in ihnen bekommen wir die Rudimente einer Logik zu fassen, die anders ist als die Logik des Egobewusstseins. Diese neue „Logik der Simultaneität“ wirkt im Wachleben – in dem Maße, in dem wir uns auf sie einlassen – verändernd auf die Erkenntnis sowie auf das Gedächtnis, das Denken und das Wahrnehmen. Bei dieser Änderung geht es nicht bloß um eine gründlichere Selbsterkenntnis; noch wichtiger: Es geht um eine Steigerung der Fähigkeit, uns der Welt und anderen Menschen zu nähern. Bisher hatte die Angst unser Bewusstsein fest im Griff. Nunmehr löst er sich.
Indem wir das Bollwerk der Angst im Egobewusstsein abbauen, werden wir dazu fähiger, seelische Eigenschaften in der Welt zu entdecken. Im Wachleben ist die Seele die innere Genießerin alles dessen, was sich uns darbietet. Das soll nicht heißen, dass es ihr nur um Befriedigung geht; genießt die Seele doch alles, auch solche Dinge, die für uns als abscheulich gelten. Soll es aber den seelischen Eigenschaften der Welt gelingen, unsere Aufmerksamkeit zu packen, so kommen wir um eine Steigerung unserer Fähigkeit, die Welt als einen Vorgang des Entstehens von Bildern zu empfinden, nicht herum.
Jeden Tag verbringe ich einige Minuten damit, ein inneres Bild von etwas zu machen, was mir an diesem Tag begegnet ist. Wenn ich zum Beispiel nach einem Schneesturm von meinem Haus in den Bergen die Straße hinuntergefahren bin und die schneebedeckten Bäume gesehen habe, die die Straße säumten, so ist das ein allerdings sehr beeindruckender und bewegender Anblick. Sofern aber dieser Eindruck gleich vom nächsten Eindruck verdrängt wurde, ist das noch kein bewusstes Seelenerlebnis. Also nehme ich mir abends fünf Minuten und mache ein inneres Bild von einer Szene, die ich am Tag gesehen habe. Aber ich erinnere mich nicht bloß an das Gesehene. Auch visualisiere ich es nicht bloß mit dem inneren Auge. Bei Letzterem geht es um die – vorwiegend mentale – Tätigkeit, ein vor sich befindliches inneres Bild anzusehen. Worum es bei einem solchen Bildschaffen geht, das ist vielmehr, ein sehr detailliertes, genaues Bild zu machen, dann dieses Bild mein ganzes Wesen so durchsetzen zu lassen, dass ich es nicht mehr vor mir erlebe, sondern dass ich das Bild werde. Worauf es bei dieser Tätigkeit ankommt, das ist, das Bild so zu stabilisieren, dass es nicht gleich verblasst oder sich in etwas anderes verwandelt.
Eine Übung wie diese braucht sich nicht auf das Visuelle zu beschränken. Ich selbst übe solches Bildschaffen mit Musik, oder mit einem von jemandem gesprochenen Satz, oder mit Tastempfindungen, mit Gerüchen, ja mit der vollen Spannweite meiner Sinne. Man kann diese Übung auch mit Gedanken, Gefühlen, Handlungen, ja mit dem ganzen Feld des menschlichen Erlebens machen.
Indem die Seele erstarkt, entwickelt sich ein imaginales Ego-Bewusstsein. Wir müssen nicht das gewöhnliche Bewusstsein auslöschen, um Erfahrungen zu haben, die von der Seele durchdrungen sind; das Ziel ist vielmehr, das Bilderbewusstsein und das gewöhnliche Bewusstsein zusammenzuführen. Da beginnt die Welt nach und nach als fortdauernde Tätigkeit anstatt nur als festgelegte Inhalte in Erscheinung zu treten. Zum Beispiel: Ich schaue jeden Tag zu meinem Fenster auf die Landschaft hinaus. Aufgrund der ständigen Änderung von Licht und Schatten, von den Wolken und der Sonne, dem Nebel und dem Regen, ändern sich auch die Formen der Objekte; auch gruppieren sie sich zu verschiedenen Zeiten in verschiedener Weise. Im einen Moment steht ein Baum im Zentrum, im nächsten Moment gehört er zum Hintergrund. Die Färbung kann von Blau zu Silber zu Indigoblau zu Lila wechseln. Die Welt-als-Bild entsteht ständig in diverser, immer neuer Weise.
Die ganze Welt bietet sich zum Bilderschaffen an. So bietet sich die konstruierte, durch menschliche Genialität gebaute Welt als Bildtätigkeit dar. Ein glatter, gläserner, hoch hinaufragender Wolkenkratzer steht allein an der Ecke, zerbrechlich, isoliert und in sich gekehrt, und ich empfinde Mitleid mit diesem einsamen Gebäude. In dieser Weise präsentieren sich auch Menschen. Wie erstaunlich es ist zum Beispiel, die kräftige Gangart des einen Menschen zu beobachten und mit welch festem Schritt seine Füße den Boden berühren – als wenn im nächsten Moment das gerade eben gesetzte Bein zum Heben zu schwer sein könnte und der Mensch ewig auf dieser Stelle festgefroren bleiben müsste. Wie ist es möglich, mag man sich fragen, dass dieser Mensch sich überhaupt bewegt? Jemand anders scheint durch die Luft zu fliegen und kaum sich die Mühe zu machen, mit jedem Schritt den Boden zu berühren. Oder das Antlitz eines Menschen zu betrachten – das eine Gesicht mit Linien gezeichnet, zerfurcht, faltig, die Sorgen, die Freuden, die Schmerzen eines Lebens offenbarend; ein anderer mit glatter, zarter Haut, die ganzen Lebenserfahrungen durch tiefe, dunkle, nachdenkliche Augen zeigend.
Wenn wir Seele in der Welt finden, ist es nicht darauf zurückzuführen, dass wir sie dorthin projiziert haben. Diese Vorstellung ist eine psychologische Erfindung, die geschaffen wurde durch die scharfe Trennlinie zwischen Egobewusstsein und dem Rest des Seelenlebens, und die das Letztere in „das Unbewusste“ verbannt. Laut einer solchen Psychologie gehören seelische Qualitäten nicht zu der „eigentlichen“ Welt; sie entspringen vielmehr dem Unterbewusstsein und werden auf die Welt lediglich projiziert. Ist aber die Angst einmal aus ihrem Versteck im Egobewusstsein ans Licht gekommen, so wird klar, dass die Trennung zwischen dem Egobewusstsein und den anderen Modi des Seelenlebens von eben dieser Angst vollzogen wird.
Wenn wir daran arbeiten, die Seele mit dem Egobewusstsein zu verbinden, so vertreiben wir die Angst nicht nur aus ihrem Versteck in uns. Eine solche Arbeit wirkt sich nämlich auch auf die in der Welt verbreitete Angst aus. Wird das Leben der Seele Stück für Stück bewusster, so ist es, als würde ein Teil von uns in das hinübergehen, was uns entgegenkommt. Ob das Letztere aus unseren eigenen Seelentiefen oder aus den Raumesweiten kommt, ist ein solches Gefühl des ineinander Übergehens nicht in leibfreien oder mystischen Erfahrungen zu orten. Denn alles, was wir „Seele“ nennen, ist weiter nichts als eine Variation, eine Modifikation der einen oder anderen Art schöpferischer Liebe. Die Angst wird allerdings durch Liebe überwunden. Aber nicht durch eine Liebe, die wir von unserem Ego oder unserer Sentimentalität her eingehen. Liebe handelt als eine Kraft gegen die Angst, aber nur insofern sie ein Impuls auf Beziehung, auf Verbindung, auf Affinität hin ist und der Trennung, der Zerteilung, dem Konflikt und der Gewalt entgegensteht. In dem Maße, in dem wir von der Seele her wach werden, finden wir uns immer mehr in der Welt draußen und immer weniger auf uns selbst bezogen. Anstatt abzuwarten, dass die Liebe zu uns kommt und uns mitreißt, ist es jetzt an uns, einen Beitrag zum Kreislauf der Liebe in der Welt zu leisten – einen maßgeblichen Beitrag zum unschädlich-Machen der drückenden, allgegenwärtigen Angst in der Welt.