Geschlechtliche Liebe
Platos im Symposium niedergeschriebene Mythe der menschlichen Geschlechtlichkeit stellt den originalen Menschen als ein bequemes Geschöpf dar, das eine runde Form besitzt, und das in der Welt glücklich, sich selbst genug, ohne Bedürfnisse und Ambitionen vor sich her rollte. Zeus sei mit der Trägheit dieser selbstzufriedenen Wesen ungehalten geworden und habe sie mit einem Donnerkeil entzweigespalten. Jede Hälfte sucht noch heute nach ihrer anderen Hälfte, was in unserem Seelenleben als sexuelle Begierde zum Ausdruck komme. Die Liebe zeigt sich in der Menschenwelt zunächst als das drängende Bedürfnis, unseren Leib mit dem eines anderen Menschen zu vereinigen. Dieses Bedürfnis funktioniere wahllos. Wir fühlen uns von diversen Menschen angezogen; das ist weder schlimm noch unmoralisch. Eine solche Anziehung feiert und verkündet das Wunder unseres physischen Daseins, sofern sie im Kontext eines sozialisierten Verhaltens verläuft.
Auf sexuelle Erregung muss nicht zwingend Geschlechtsverkehr folgen. Das Aufwallen einer sexuellen Empfindung rüttelt uns wach. Wir erwachen zu einer Kraft in uns, die zwar auf unseren Körper einwirkt, die aber nicht auf rein physiologische Aspekte zu reduzieren ist. Das, was wir so spüren, ist nicht physiologischen Ursprungs, sondern der Körper bietet lediglich das Medium, durch das es hindurchwirkt.
Nehmen wir an, wir verleugnen oder unterdrücken die Gegenwart einer körperlich sich verkündigenden Liebe, und zwar aus Furcht oder Schuldgefühl, oder weil wir sie als etwas „nur Körperliches“ verstehen. Haben wir da nicht die grundlegendste Äußerungsweise der Liebe verstoßen, die es überhaupt gibt? Die Liebe offenbart sich sinnlich als eine gewaltige Macht, als eine Macht, welche in fundamentalster, stärkster und unmittelbarster Weise Mensch und Mensch verbindet. Diese Verbindung ist viel differenzierter, als die genitale Geschlechtlichkeit. Die vielleicht stärkste Waffe zur Vorbeugung der Furcht ist die Gefühlswärme einer körperlichen Verbindung mit anderen Menschen. Geht uns dieser Verbindungsmodus verloren, so fühlen wir uns isoliert, einsam, allen möglichen Tricks der einen oder der anderen Ausdrucksweise der Furcht ausgeliefert.
Wenn man sich dieser in dem Körper fließenden Liebeskraft leichtfertig oder ungestüm nähert, wenn man sie nicht als heilige Präsenz in dem Körper auffasst, sondern nur als so viele natürliche Triebe, die Befriedigung fordern, ist es nicht so, dass wir uns ebenso, wenngleich in anderer Weise gegen die physische Gegenwart der Liebe gewendet haben? Die belebende Präsenz der Liebe im menschlichen Leib, wo sie als sexuelles Verlangen lebt, ist die Feier ihres Einzugs in die Welt. Dieses Verlangen verlässt uns nicht einmal im Alter. Ihr Rhythmus, ihre Intensität mögen variieren, aber ihre Gegenwart bleibt konstant.
Unsere Gesellschaft hegt eine zweideutige Haltung gegenüber der sinnlichen Liebe, was größten Teils auf die organisierte Religion zurückzuführen ist. Die Religion hat vielfach die körperliche Angst gefördert, indem sie die durch Sex erzeugte Seligkeit als einen Hemmschuh für unsere Hinwendung an das Göttliche verteufelt hat. Die Religion sichert ihre Autorität dadurch, dass sie die physische Welt als von dem Göttlichen vollkommen abgetrennt erklärt. Es ist aber nichts Götzendienerisches, die Sturzflut des Verlangens heilig zu halten; ja gerade darin besteht unsere sinnliche Verbindung mit der göttlichen Welt. Die Unterdrückung unseres geschlechtlichen Wesens unterdrückt die Liebe in der Welt und öffnet uns dem Ansturm der Furcht aller Arten.
Da wir unsere Sexualität sowohl vor uns selbst als auch vor anderen haben verbergen müssen, hat sie sich aus der Mitte unseres Wesens zurückgezogen und ist obdachlos geworden. Die starke Betonung auf Sexuelles in jeder Sphäre des modernen Lebens – in Filmen, in der Werbung, in der Musik und auf den Straßen – ist kein Zeichen einer Stärke der Sexualität, sondern es ist ein Zeichen ihrer Schwäche. Da die Sexualität eine Vetriebene ist, strampelt sie wild herum wie im Todeskampf, wie eine Macht, die völlig das Gleichgewicht verloren hat. Wenige Menschen haben so klar durchschaut, wie sehr wir in der Sexualsphäre aus dem Gleichgewicht gekommen sind, wie der Dichter Rainer Maria Rilke:
Die körperliche Wollust ist ein sinnliches Erlebnis, nicht anders als das reine Schauen oder das reine Gefühl, mit dem eine schöne Frucht die Zunge füllt; sie ist eine große, unendliche Erfahrung, die uns gegeben wird, ein Wissen von der Welt, die Fülle und Glanz alles Wissens. Und nicht, dass wir sie empfangen, ist schlecht; schlecht ist, dass fast alle diese Erfahrung missbrauchen und vergeuden und sie als Reiz an die müden Stellen ihres Lebens setzen und als Zerstreuung statt als Sammlung zu Höhepunkten.[1]
Die Verlagerung der Fülle unseres geschlechtlichen Wesens in die Enge der genitalen Sexualität lenkt nur für Augenblicke von unseren Ängsten ab; aber wenn unser Verlangen uns veranlasst, in die Fülle unseres Seins eintreten, so ist die Nähe des Göttlichen gewährleistet. In dem Maße, in dem wir die volle Anziehungskraft anderer Menschen fühlen, haben wir es nicht mehr nötig, ständig auf der Hut zu sein. Diese Auffassung der Liebe ist aber kein Allheilmittel. Die Flammen des Verlangens sind ganz bestimmt nicht geradezu gemütlich. Aber Rilke erinnert uns daran, dass Sex mehr ist, als ein rein körperlicher Drang, und dass wir ihn ferner nicht abstreifen müssen, um religiösen Angelegenheiten den Vorrang zu gewähren. Volle Kenntnis der Welt sei nicht möglich, wenn die sexuelle Begierde wie etwas Fauliges zur Seite geworfen wird. Ohne die Begierde ist das Wissen voller mentaler und intellektueller Abstraktionen und hat keinen Bezug zum lebendigen Leib der Welt. Wenn der einmal in diesem Sinne degradierte Sex in ungesunder Weise und mit Macht als eine kulturelle Zwangsvorstellung wiederkehrt, so gesellt er sich einem ungesunden Gedankenleben zu. Wir werden Zuschauer der Welt, anstatt Teilnehmer am Herzen der Realität zu sein.
Eine Erkenntnis, die durch Verlangen vollzogen wird, führt stellt eine neue Verbindung her zwischen uns und der Welt: Erkenntnis in ihrer Eigenschaft als heilende Instanz. Dieser intime Form der Erkenntnis erweckt unser Interesse für Verbindungen, für Synthesen, für Ganzheit, für eine produktive Verbindung mit anderen Menschen und der Welt, anstatt für eine analytische. Novalis ist ein weiterer Dichter, der tiefe Überlegungen zu Fragen des sinnlichen Körpers anstellte. In seinen Blüthenstaub-Fragmenten schreibt er:
Alle absolute Empfindung ist religiös.[2]
Der Körper soll Seele, die Seele Körper werden. Der Körper ist das Werkzeug zur Bildung und Modifikation der Welt; wir müssen also unsern Körper zum allfähigen Organ auszubilden suchen. Modifikation unseres Werkzeugs ist Modifikation der Welt.[3]
Es gibt nur einen Tempel in der Welt und das ist der menschliche Körper. Nichts ist heiliger als diese hohe Gestalt. Man berührt den Himmel, wenn man einen Menschenleib betastet.[4]
Wenn man in gesunder Weise die Liebe im Leibe lebt, hat das nichts damit zu tun, ob wir Sex haben oder enthaltsam bleiben. Und doch hat die Religion oft versucht, uns die Freiheit zu entziehen, selbst in rechter Weise mit dieser Gewalt zu ringen, indem sie den Geschlechtsakt als Sünde abgestempelt hat. In dieser Weise ließ die Religion zu, dass die Furcht in das Heiligtum der Geschlechtlichkeit eindringt. Der Geschlechtstrieb ist nichts mehr und nichts weniger als eine göttliche Macht. Ihre Flammen bilden unseren Körper zu einem Organ für die Verwandlung der Welt. Als Individualitäten sind wir dafür verantwortlich, dieser Macht ein Zuhause zu geben und zuzulassen, dass sie uns zu fähigen Menschen macht.
Da die Macht der geschlechtlichen Liebe in jedem menschlichen Körper seine Zelte aufschlägt, ist es die Verantwortung jedes Einzelnen, die Härten der Schule des Lebens durchzumachen hinsichtlich der Art, wie sich diese Gewalt im konkreten Einzelfall ausgestalten will. Hier jagen allgemeine Regeln oder Gesetze den Menschen Furcht ein, ob es diese zum Verklemmtsein oder zur Hemmungslosigkeit aufrufen.
Wie die Liebe konkret dem Körper des einzelnen Menschen innewohnt, das will im Einzelnen gelernt werden. Und das braucht lange Zeit. Die Individuellen Menschen unterscheiden sich ungeheuer, was die Intensität, die Rhythmen und die persönliche Wichtigkeit des Verlangens betrifft. Die richtige Beziehung zu dieser Gewalt zu finden, ist eine rein individuelle Angelegenheit, die einen hohen Grad an Geistesgegenwart und Selbstbeobachtung verlangt. Nicht selten will solche Reflektion inmitten einer Sturzflut der Leidenschaft geübt werden, die dem Anschein nach weiter nichts will, als sich zu verschenken. Besonders für junge Menschen ist Sex eine wunderschöne Schwierigkeit, die sie mit Ungeduld und Hast erfüllt. Wie anders es wäre, wenn sie verstehen würden, dass diese Schwierigkeit die Morgendämmerung der Liebeskraft im Innern ist; wenn sie von der Wichtigkeit eines vorsichtigen Umgangs mit ihr wüssten.
Schon lange bevor wir ganz Mensch sind, kündigt sich Sexuelle Begierde im Körper an. Wir werden zwar in eine menschliche Form hinein geboren, aber es bedarf mitunter der Feuersbrünste des Verlangens, damit ein Innenleben geschmiedet werden kann, durch das wir - schrittweise - in unser Menschsein hineinwachsen können. Die Bedrängnisse der Begierde sind ungezogen, ungestüm, frustrierend und fordernd. Aber es wäre falsch zu meinen, diese Formen des Andringens würden nur nach Entladung streben. Die Begierde lebt als tiefes Reservoir im Körper, um die Liebe in die Welt hineinzubringen. Zügele das Feuer; hüte die Flamme. Lasse sie ihr Werk vollbringen, dies Werk besteht darin, den Körper zu läutern. Somit schafft die Liebe einen inneren Raum, in welchem es möglich wird, das Leben der Seele mit der Herrlichkeit und Vollkommenheit des leiblichen Daseins zusammenzuweben.
[1] https://books.google.de/books?isbn=3458760148
[2] http://gutenberg.spiegel.de/buch/fragmente-i-6618/21
[3] https://books.google.de/books?id=h8ILAAAAIAAJ
[4] https://books.google.de/books?id=_kviAAAAMAAJ
Platos im Symposium niedergeschriebene Mythe der menschlichen Geschlechtlichkeit stellt den originalen Menschen als ein bequemes Geschöpf dar, das eine runde Form besitzt, und das in der Welt glücklich, sich selbst genug, ohne Bedürfnisse und Ambitionen vor sich her rollte. Zeus sei mit der Trägheit dieser selbstzufriedenen Wesen ungehalten geworden und habe sie mit einem Donnerkeil entzweigespalten. Jede Hälfte sucht noch heute nach ihrer anderen Hälfte, was in unserem Seelenleben als sexuelle Begierde zum Ausdruck komme. Die Liebe zeigt sich in der Menschenwelt zunächst als das drängende Bedürfnis, unseren Leib mit dem eines anderen Menschen zu vereinigen. Dieses Bedürfnis funktioniere wahllos. Wir fühlen uns von diversen Menschen angezogen; das ist weder schlimm noch unmoralisch. Eine solche Anziehung feiert und verkündet das Wunder unseres physischen Daseins, sofern sie im Kontext eines sozialisierten Verhaltens verläuft.
Auf sexuelle Erregung muss nicht zwingend Geschlechtsverkehr folgen. Das Aufwallen einer sexuellen Empfindung rüttelt uns wach. Wir erwachen zu einer Kraft in uns, die zwar auf unseren Körper einwirkt, die aber nicht auf rein physiologische Aspekte zu reduzieren ist. Das, was wir so spüren, ist nicht physiologischen Ursprungs, sondern der Körper bietet lediglich das Medium, durch das es hindurchwirkt.
Nehmen wir an, wir verleugnen oder unterdrücken die Gegenwart einer körperlich sich verkündigenden Liebe, und zwar aus Furcht oder Schuldgefühl, oder weil wir sie als etwas „nur Körperliches“ verstehen. Haben wir da nicht die grundlegendste Äußerungsweise der Liebe verstoßen, die es überhaupt gibt? Die Liebe offenbart sich sinnlich als eine gewaltige Macht, als eine Macht, welche in fundamentalster, stärkster und unmittelbarster Weise Mensch und Mensch verbindet. Diese Verbindung ist viel differenzierter, als die genitale Geschlechtlichkeit. Die vielleicht stärkste Waffe zur Vorbeugung der Furcht ist die Gefühlswärme einer körperlichen Verbindung mit anderen Menschen. Geht uns dieser Verbindungsmodus verloren, so fühlen wir uns isoliert, einsam, allen möglichen Tricks der einen oder der anderen Ausdrucksweise der Furcht ausgeliefert.
Wenn man sich dieser in dem Körper fließenden Liebeskraft leichtfertig oder ungestüm nähert, wenn man sie nicht als heilige Präsenz in dem Körper auffasst, sondern nur als so viele natürliche Triebe, die Befriedigung fordern, ist es nicht so, dass wir uns ebenso, wenngleich in anderer Weise gegen die physische Gegenwart der Liebe gewendet haben? Die belebende Präsenz der Liebe im menschlichen Leib, wo sie als sexuelles Verlangen lebt, ist die Feier ihres Einzugs in die Welt. Dieses Verlangen verlässt uns nicht einmal im Alter. Ihr Rhythmus, ihre Intensität mögen variieren, aber ihre Gegenwart bleibt konstant.
Unsere Gesellschaft hegt eine zweideutige Haltung gegenüber der sinnlichen Liebe, was größten Teils auf die organisierte Religion zurückzuführen ist. Die Religion hat vielfach die körperliche Angst gefördert, indem sie die durch Sex erzeugte Seligkeit als einen Hemmschuh für unsere Hinwendung an das Göttliche verteufelt hat. Die Religion sichert ihre Autorität dadurch, dass sie die physische Welt als von dem Göttlichen vollkommen abgetrennt erklärt. Es ist aber nichts Götzendienerisches, die Sturzflut des Verlangens heilig zu halten; ja gerade darin besteht unsere sinnliche Verbindung mit der göttlichen Welt. Die Unterdrückung unseres geschlechtlichen Wesens unterdrückt die Liebe in der Welt und öffnet uns dem Ansturm der Furcht aller Arten.
Da wir unsere Sexualität sowohl vor uns selbst als auch vor anderen haben verbergen müssen, hat sie sich aus der Mitte unseres Wesens zurückgezogen und ist obdachlos geworden. Die starke Betonung auf Sexuelles in jeder Sphäre des modernen Lebens – in Filmen, in der Werbung, in der Musik und auf den Straßen – ist kein Zeichen einer Stärke der Sexualität, sondern es ist ein Zeichen ihrer Schwäche. Da die Sexualität eine Vetriebene ist, strampelt sie wild herum wie im Todeskampf, wie eine Macht, die völlig das Gleichgewicht verloren hat. Wenige Menschen haben so klar durchschaut, wie sehr wir in der Sexualsphäre aus dem Gleichgewicht gekommen sind, wie der Dichter Rainer Maria Rilke:
Die körperliche Wollust ist ein sinnliches Erlebnis, nicht anders als das reine Schauen oder das reine Gefühl, mit dem eine schöne Frucht die Zunge füllt; sie ist eine große, unendliche Erfahrung, die uns gegeben wird, ein Wissen von der Welt, die Fülle und Glanz alles Wissens. Und nicht, dass wir sie empfangen, ist schlecht; schlecht ist, dass fast alle diese Erfahrung missbrauchen und vergeuden und sie als Reiz an die müden Stellen ihres Lebens setzen und als Zerstreuung statt als Sammlung zu Höhepunkten.[1]
Die Verlagerung der Fülle unseres geschlechtlichen Wesens in die Enge der genitalen Sexualität lenkt nur für Augenblicke von unseren Ängsten ab; aber wenn unser Verlangen uns veranlasst, in die Fülle unseres Seins eintreten, so ist die Nähe des Göttlichen gewährleistet. In dem Maße, in dem wir die volle Anziehungskraft anderer Menschen fühlen, haben wir es nicht mehr nötig, ständig auf der Hut zu sein. Diese Auffassung der Liebe ist aber kein Allheilmittel. Die Flammen des Verlangens sind ganz bestimmt nicht geradezu gemütlich. Aber Rilke erinnert uns daran, dass Sex mehr ist, als ein rein körperlicher Drang, und dass wir ihn ferner nicht abstreifen müssen, um religiösen Angelegenheiten den Vorrang zu gewähren. Volle Kenntnis der Welt sei nicht möglich, wenn die sexuelle Begierde wie etwas Fauliges zur Seite geworfen wird. Ohne die Begierde ist das Wissen voller mentaler und intellektueller Abstraktionen und hat keinen Bezug zum lebendigen Leib der Welt. Wenn der einmal in diesem Sinne degradierte Sex in ungesunder Weise und mit Macht als eine kulturelle Zwangsvorstellung wiederkehrt, so gesellt er sich einem ungesunden Gedankenleben zu. Wir werden Zuschauer der Welt, anstatt Teilnehmer am Herzen der Realität zu sein.
Eine Erkenntnis, die durch Verlangen vollzogen wird, führt stellt eine neue Verbindung her zwischen uns und der Welt: Erkenntnis in ihrer Eigenschaft als heilende Instanz. Dieser intime Form der Erkenntnis erweckt unser Interesse für Verbindungen, für Synthesen, für Ganzheit, für eine produktive Verbindung mit anderen Menschen und der Welt, anstatt für eine analytische. Novalis ist ein weiterer Dichter, der tiefe Überlegungen zu Fragen des sinnlichen Körpers anstellte. In seinen Blüthenstaub-Fragmenten schreibt er:
Alle absolute Empfindung ist religiös.[2]
Der Körper soll Seele, die Seele Körper werden. Der Körper ist das Werkzeug zur Bildung und Modifikation der Welt; wir müssen also unsern Körper zum allfähigen Organ auszubilden suchen. Modifikation unseres Werkzeugs ist Modifikation der Welt.[3]
Es gibt nur einen Tempel in der Welt und das ist der menschliche Körper. Nichts ist heiliger als diese hohe Gestalt. Man berührt den Himmel, wenn man einen Menschenleib betastet.[4]
Wenn man in gesunder Weise die Liebe im Leibe lebt, hat das nichts damit zu tun, ob wir Sex haben oder enthaltsam bleiben. Und doch hat die Religion oft versucht, uns die Freiheit zu entziehen, selbst in rechter Weise mit dieser Gewalt zu ringen, indem sie den Geschlechtsakt als Sünde abgestempelt hat. In dieser Weise ließ die Religion zu, dass die Furcht in das Heiligtum der Geschlechtlichkeit eindringt. Der Geschlechtstrieb ist nichts mehr und nichts weniger als eine göttliche Macht. Ihre Flammen bilden unseren Körper zu einem Organ für die Verwandlung der Welt. Als Individualitäten sind wir dafür verantwortlich, dieser Macht ein Zuhause zu geben und zuzulassen, dass sie uns zu fähigen Menschen macht.
Da die Macht der geschlechtlichen Liebe in jedem menschlichen Körper seine Zelte aufschlägt, ist es die Verantwortung jedes Einzelnen, die Härten der Schule des Lebens durchzumachen hinsichtlich der Art, wie sich diese Gewalt im konkreten Einzelfall ausgestalten will. Hier jagen allgemeine Regeln oder Gesetze den Menschen Furcht ein, ob es diese zum Verklemmtsein oder zur Hemmungslosigkeit aufrufen.
Wie die Liebe konkret dem Körper des einzelnen Menschen innewohnt, das will im Einzelnen gelernt werden. Und das braucht lange Zeit. Die Individuellen Menschen unterscheiden sich ungeheuer, was die Intensität, die Rhythmen und die persönliche Wichtigkeit des Verlangens betrifft. Die richtige Beziehung zu dieser Gewalt zu finden, ist eine rein individuelle Angelegenheit, die einen hohen Grad an Geistesgegenwart und Selbstbeobachtung verlangt. Nicht selten will solche Reflektion inmitten einer Sturzflut der Leidenschaft geübt werden, die dem Anschein nach weiter nichts will, als sich zu verschenken. Besonders für junge Menschen ist Sex eine wunderschöne Schwierigkeit, die sie mit Ungeduld und Hast erfüllt. Wie anders es wäre, wenn sie verstehen würden, dass diese Schwierigkeit die Morgendämmerung der Liebeskraft im Innern ist; wenn sie von der Wichtigkeit eines vorsichtigen Umgangs mit ihr wüssten.
Schon lange bevor wir ganz Mensch sind, kündigt sich Sexuelle Begierde im Körper an. Wir werden zwar in eine menschliche Form hinein geboren, aber es bedarf mitunter der Feuersbrünste des Verlangens, damit ein Innenleben geschmiedet werden kann, durch das wir - schrittweise - in unser Menschsein hineinwachsen können. Die Bedrängnisse der Begierde sind ungezogen, ungestüm, frustrierend und fordernd. Aber es wäre falsch zu meinen, diese Formen des Andringens würden nur nach Entladung streben. Die Begierde lebt als tiefes Reservoir im Körper, um die Liebe in die Welt hineinzubringen. Zügele das Feuer; hüte die Flamme. Lasse sie ihr Werk vollbringen, dies Werk besteht darin, den Körper zu läutern. Somit schafft die Liebe einen inneren Raum, in welchem es möglich wird, das Leben der Seele mit der Herrlichkeit und Vollkommenheit des leiblichen Daseins zusammenzuweben.
[1] https://books.google.de/books?isbn=3458760148
[2] http://gutenberg.spiegel.de/buch/fragmente-i-6618/21
[3] https://books.google.de/books?id=h8ILAAAAIAAJ
[4] https://books.google.de/books?id=_kviAAAAMAAJ