Der Doppelgänger [Teil 2]
Der individuelle Doppelgänger
Wir können vor die entsetzlichsten Gräueltaten der Welt hingestellt werden, und dennoch dringt die Tiefe der Tragödie nicht bis zum Kern unserer Seele. Wir können sogar darüber staunen, dass wir so fühllos, so unempfänglich sind. Sind wir da wirklich wir selbst, oder sind wir zum Doppelgänger von uns selbst geworden? Ein Doppelgänger hat keine Seele; er sieht aus und handelt so, wie ein Mensch; er wirkt auf andere so, als wäre er menschlich, aber er ist weiter nichts als eine Art Automat. Wenn wir feststellen, dass wir unempfänglich geworden sind angesichts des Leidens in der Welt und dass wir stattdessen mit unserem eigenen Komfort beschäftigt sind, so kann das mit dem Einfluss der Verdoppelung zu tun haben. Wir können im Fernseher die Ergebnisse eines vernichtenden Erdbebens sehen, das tausende von Menschen getötet hat, und kaum gerührt mit unserem Leben weitermachen. Wir können jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit an den schlimmsten Slums der Stadt vorbeifahren, und das Leiden hinterlässt nur in geringem Maße einen dauerhaften Eindruck. Man muss den Schluss ziehen, dass wir in unseren Seelen den Kontakt zu uns selbst verloren haben.
Auch in heutiger Zeit erscheint der Doppelgänger manchmal als ein äußeres Bild. Wer Hätte nicht einmal das Gefühl erlebt, dass jemand direkt hinter einem steht, oder dass jemand, den wir kennen, in der Nähe ist? Oder es kann vorkommen, dass wir das Gefühl haben, als befänden wir uns wieder einmal an einem uns bekannten Ort, von dem wir aber wissen, dass wir noch nie da gewesen sind – ein so genanntes Deja-vu-Erlebnis. Oder wir hören, wie unser Name gerufen wird, und drehen uns um, ohne irgendwen zu sehen, den wir kennen. Im Jahre 1917 sagte Rudolf Steiner, dass in Zukunft die Kinder sich immer mehr von einem unsichtbaren Gefährten begleitet finden würden, der sie dazu drängt, zerstörerische Dinge zu tun, und es war ihm dabei nicht um phantasierte Spielkameraden zu tun. Der individuelle Doppelgänger kann auftreten, während man unter dem Einfluss von Drogen steht, oder sich in einem Zustand übermäßiger Einsamkeit, Isolierung oder der Unfähigkeit zu lieben befindet. Auch kann er in Träumen als ein Bild von einem selbst erscheinen, das typischerweise widerliche Eigenschaften besitzt – was etwas gründlich anderes ist als das, was Jung den Schatten nannte, und auch Anderes ist, als wenn man sich bloß als eine der Figuren im Traum sieht.
Der Erzähler in de Maupassants Geschichte sagt den Ärzten, dass die Hypnose-Experimente eine Vorbereitung für das In-Erscheinung-Treten des Doppelgängers gewesen seien. In der Tat: in der Hypnose, den Rückführungen und in schamanistischen Reisen wird mit dem individuellen Doppelgänger als zentrale Gestalt gerechnet. Alle diese Erlebnisse sind darauf angewiesen, dass ein Trance-Zustand herbeigeführt wird. Wann immer wir nicht vollbewusst sind, ist das eine Gelegenheit für den Doppelgänger, dazwischenzufahren und sich unser zu bemächtigen. Zum Beispiel: Wenn man eine schamanistische Reise unternimmt, beginnt die Reise in der Regel mit rhythmischem Trommeln. Dann wird man dazu angewiesen, sich zu einer inneren Landschaft hinzubegeben und dort einer bestimmten magischen Figur zu begegnen – einem Tier, einer Fee, einem Elfen, einem Gnomen, einem Heiler. Der- oder diejenige allerdings, der/die sich auf diese Reise begibt, sind nicht wir selbst. Man selbst ist mit herabgedämpftem Bewusstsein im Trancezustand im Zimmer zurückgeblieben. Der Doppelgänger ist es, der für uns die Reise macht.
Ich habe zahlreiche mit schamanischer Arbeit beschäftigte Menschen gefragt, wer auf die Reise geht, und keiner von ihnen gibt eine klare Antwort. Die meisten sagen, es sei ein Teil der Seele. Aber es muss vielmehr etwas sein, was mit dem Ego zu tun hat, denn das Wesen, das die Reise macht, ist eine Widerspiegelung von uns selbst. Der Doppelgänger hat anscheinend die Fähigkeit, zwischen den Welten zu reisen, und vielleicht sogar die Fähigkeit, andere Zeiten zu bereisen. Die gegenwärtige Popularisierung der Hypnose, die Praxis der Rückführung, auch schamanische Praktiken betrachten einen jeden veränderten Bewusstseinszustand als etwas Hilfreiches. Dabei ist bei jeder Bewusstseinsveränderung große Vorsicht geboten, denn wir uns dem ausliefern, was eine Bewusstseinserweiterung zu sein scheint, könnte es eigentlich eine Verdoppelung von uns selbst sein.
Wer jegliche Art von hypnotischer Technik anwendet, riskiert den Geist des hypnotisierten Menschen an sich zu binden. Dieses Ansichbinden ist offensichtlich. Es zeigt sich darin, dass der hypnotisierte Mensch den eigenen Körper und das eigene Bewusstsein an den Hypnotiseur sowie an die jeweiligen Dinge abtritt, die der Hypnotisierte unter der suggestiven Macht des Hypnotiseurs ausführen mag. Wir brauchen nur zu fragen, wer denn diese Dinge ausführt. Der Hypnotiseur suggeriert sie, und es sieht so aus, als würde der Hypnotisierte sie ausführen, aber der Letztere ist nicht eigentlich da. Der individuelle Geist kann an den Doppelgänger gebunden werden. Auch wenn die Menschen einer solchen Herabstimmung ihres Bewusstseins zustimmen, heißt das nicht, dass sie dabei eine freie Handlung vollzogen hätten. Sie haben lediglich eingewilligt, auf ihre Freiheit zu verzichten. Jeder Vorteil, der dabei herausspringen mag, ist dem, was verlorengeht, zweitrangig. Der gebundene Geist wird eine Portion der schöpferischen Fähigkeit verlieren, die er braucht, um die Umstände des alltäglichen Lebens zu bewältigen. Nicht einmal vorübergehende Vorteile überwiegen die Schwere eines verminderten Geistes.
Der Wunsch nach Kräften über der Spannweite des gewöhnlichen Bewusstseins hinaus kann weiter nichts sein, als eine Ablenkung von der Aufgabe, sich der Furcht zu stellen. Ein In-Sich-Gehen mittels dieser inzwischen populär gewordenen Trance-Techniken kann zu einer Form von Flucht werden. Es muss gesagt werden, dass die Popularisierung der Trance-Zustände von der Tiefe der Tradition erheblich abweicht, welche die wahren schamanistischen Praktiken auszeichnet. Wochenend-Schamanismus hat wenig zu tun mit über Jahrhunderte hin als Kultur entwickelter Erkenntnis und Weisheit. In solchen Kulturen ist der Schamanismus eine Berufung, die über viele Jahre hin ausgebildet werden muss, und die stets innerhalb einer bestimmten Gemeinschaft, Kultur, und religiösen Weltsicht existiert.
Es muss auch keine direkte Hypnose sein, was uns dem individuellen Doppelgänger unterwirft. Wenn ich extrem wütend werde, könnte in der Wut ein Augenblick eintreten, wo ich deutlich bemerke, dass ein anderes Bewusstsein die Macht ergriffen hat. Während eines Wutanfalls ist es sogar möglich, zum passiven Zeugen der wütenden Person zu werden, die mir genau ähnelt; diese Person anzusehen und zur Kenntnis zu nehmen, dass ich das nicht bin. Oder ich gehe einkaufen, schaue ins Fenster und sehe etwas sehr Teures, das ich besitzen möchte. Wiederum kann ich dastehen und der Zeuge sein von dem, der nun von dem begehrten Gegenstand vollkommen eingenommen ist, der in den Laden hineingeht, die Kreditkarte herausholt und das kauft, was ich mir nicht leisten kann. Die ganze Werbekampagne für diese Ware, die ich vielleicht im Fernsehen gesehen habe und an die ich mich jetzt nicht erinnere, hat mich in eine Art Trancezustand eingelullt und dadurch dem Doppelgänger die Möglichkeit eröffnet, dazwischenzufahren.
Der Charakter des individuellen Doppelgängers ist mit der Art und Weise unerbittlich verbunden, wie die Furcht in die Welt hereingeholt wird. In seiner Studie über die Nazi-Ärzte, welche die grausamen Versuche an Menschen durchführten, kam Robert J. Lifton zur Schlussfolgerung, dass es wegen der Verdoppelung war, dass diese teuflischen Forscher dazu in die Lage versetzt wurden, solche Gräuel zu begehen.[1] Laut Liftons Forschungsergebnissen besitzt die Verdoppelung erkennbare Eigenschaften. Die Ärzte sahen sich als Humanmediziner, als Ehemänner und als Väter. Zu gleicher Zeit sahen sie sich als freie Ausführende dieser Gräueltaten, die keinerlei Zwang unterstanden. Diese Dualität zeugt uns, dass der Doppelgänger ohne jeden erkennbaren Konflikt neben dem her funktionieren kann, was wir für unser normales Selbst halten.
Lifton führt fünf Merkmale des Verdoppelungsprozesses auf: 1) Ein zweites Selbst bildet sich neben dem gewöhnlichen Selbst. 2) Dieses zweite Selbst entsteht als ein direktes Ergebnis davon, in einem fortdauernden Zustand der Furcht leben zu müssen. 3) Das zweite Selbst verleiht einem solchen Zustand die Kohärenz. Es lässt eine solche Situation wie normal erscheinen. 4) Das zweite Selbst führt inakzeptable und greuliche Taten aus. 5) Das normale Selbst tritt diesem zweiten Selbst sein eigenes Gewissen ab.
Die Dualität des Verdoppelungsvorgangs ist anders als die kognitive Dissoziation, die ich als Betäubung bezeichnet habe. Damit die Nazis den von ihnen begangenen Terror verüben konnten, war keine Betäubung des gesunden, normal funktionierenden Selbst erforderlich. Der Doppelgänger erreichte es, für das ganze Selbst sprechen zu können, ohne dass dieses Selbst den Austausch überhaupt durchschaute. Das, was die Verdoppelung herbeiführte, war die Furcht, innerhalb welcher die Ärzte selbst lebten. Sie lebten tagtäglich unter der Bedrohung, dass sie selbst ausgelöscht würden, falls sie die ihnen erteilten Befehle nicht ausführten. Die Schäden, die sie anderen Menschen zufügten, galten ihnen als Pflicht, als Treue der eigenen Gruppe gegenüber. So empfanden die Ärzte also wegen ihrer ungeheuerlichen Handlungen keinerlei Verantwortung oder Schuld. Ohne es zu durchschauen, hatte sich ihr moralisches Bewusstsein radikal verändert.
Indem Lifton den Vorgang der Verdoppelung beschreibt, entschuldigt er keineswegs die Handlungen der Ärzte, auch behauptet er nicht, dass sie dieselben nicht zu verantworten hätten. Wenn wir uns einmal des Doppelgängers bewusst geworden sind, tut sich für uns geradezu eine neue Dimension der Verantwortlichkeit auf. Wir verantworten nunmehr nicht nur das, was wir tun, sondern auch die Befindlichkeit, den Zustand unseres moralischen Bewusstseins. Die Verdoppelung einer außerordentlichen Instanz des Bösen oder irgendeiner Besessenheit zuzuschreiben, anstatt sie als Teil des alltäglichen Daseins anzuerkennen, lenkt uns von der Arbeit ab, die wir verrichten müssen, um unser Seelenleben aufrechtzuerhalten.
Die von den Ärzten durchmachte Verdoppelung fand im Rahmen einer institutionellen Struktur statt, welche sie förderte und auch forderte. Es gibt Hinweise, denen zufolge Adolf Hitler an okkulten Ritualen teilnahm, die mit tranceartigen Bewusstseinszustanden einhergingen. Hitler war ein untersetzter Mann, aber wenn er vor Menschenmassen trat und diese beschwor, wurde er von etwas ergriffen bzw. fuhr in ihn etwas hinein, wodurch er in die Lage versetzt wurde, eine Veränderung im moralischen Bewusstsein seiner Zuhörer herbeizuführen. Im Lauf der Zeit nahm er immer größere Dosierungen von Drogen ein, um den eigenen Zustand der Verdoppelung aufrechtzuerhalten. Da heraus vermochte er es, die institutionalisierte Struktur der Furcht zu schaffen, als die sich der Nationalsozialismus darstellte. Von dieser Institution sagte Hitler: „Diejenigen, die im Nationalsozialismus weiter nichts als eine politische Bewegung sehen, wissen kaum etwas darüber. Er ist sogar mehr noch, als eine Religion. Er ist der Wille, eine Neuerschaffung der Menschheit herbeizuführen.“
Der einzige Jugendfreund, den Hitler hatte, August Kubizek, war in dem Moment zugegen, als Hitlers Doppelgänger zum ersten Mal in Erscheinung trat. Hitler war zu dieser Zeit siebzehn Jahre alt, und hatte soeben eine Aufführung der Wagneroper Rienzi gesehen. Kubizek sagte:
Es war, als würde ein anderes Wesen aus seinem Körper sprechen und ihn so sehr bewegen als auch mich. Es handelte sich gar nicht um einen Sprechenden, der von den eigenen Worten mitgerissen wurde. Ich hatte vielmehr den Eindruck, dass er selbst dem, was mit elementarer Wucht aus ihm hervorbrach, mit Staunen und Rührung lauschte… es war ein Zustand vollkommener Ekstase und Seligkeit… Er sprach von einer besonderen Mission, mit welcher er eines Tages betraut werden würde.
Wenn wir heute auf den Holocaust zurückblicken, so könnten wir uns in Sicherheit darüber wiegen, dass solange wir diese Tragödie in unserem Kollektivgedächtnis präsent halten, sie nicht wiederholt werden könne. Eine solche Haltung ist völlig naiv. Je mehr sich in der Welt die Furcht verdichtet, umso größer wird die Möglichkeit, dass sich genauso eine Verdoppelung in großem Ausmaß ereignet, ohne dass wir es merken.
[1] Robert Jay Lifton, Ärzte im Dritten Reich, Stuttgart: Klett-Cotta, 1988
Als Nächstes wird Teil III: Institutionelle Doppelgänger veröffentlicht.
Wir können vor die entsetzlichsten Gräueltaten der Welt hingestellt werden, und dennoch dringt die Tiefe der Tragödie nicht bis zum Kern unserer Seele. Wir können sogar darüber staunen, dass wir so fühllos, so unempfänglich sind. Sind wir da wirklich wir selbst, oder sind wir zum Doppelgänger von uns selbst geworden? Ein Doppelgänger hat keine Seele; er sieht aus und handelt so, wie ein Mensch; er wirkt auf andere so, als wäre er menschlich, aber er ist weiter nichts als eine Art Automat. Wenn wir feststellen, dass wir unempfänglich geworden sind angesichts des Leidens in der Welt und dass wir stattdessen mit unserem eigenen Komfort beschäftigt sind, so kann das mit dem Einfluss der Verdoppelung zu tun haben. Wir können im Fernseher die Ergebnisse eines vernichtenden Erdbebens sehen, das tausende von Menschen getötet hat, und kaum gerührt mit unserem Leben weitermachen. Wir können jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit an den schlimmsten Slums der Stadt vorbeifahren, und das Leiden hinterlässt nur in geringem Maße einen dauerhaften Eindruck. Man muss den Schluss ziehen, dass wir in unseren Seelen den Kontakt zu uns selbst verloren haben.
Auch in heutiger Zeit erscheint der Doppelgänger manchmal als ein äußeres Bild. Wer Hätte nicht einmal das Gefühl erlebt, dass jemand direkt hinter einem steht, oder dass jemand, den wir kennen, in der Nähe ist? Oder es kann vorkommen, dass wir das Gefühl haben, als befänden wir uns wieder einmal an einem uns bekannten Ort, von dem wir aber wissen, dass wir noch nie da gewesen sind – ein so genanntes Deja-vu-Erlebnis. Oder wir hören, wie unser Name gerufen wird, und drehen uns um, ohne irgendwen zu sehen, den wir kennen. Im Jahre 1917 sagte Rudolf Steiner, dass in Zukunft die Kinder sich immer mehr von einem unsichtbaren Gefährten begleitet finden würden, der sie dazu drängt, zerstörerische Dinge zu tun, und es war ihm dabei nicht um phantasierte Spielkameraden zu tun. Der individuelle Doppelgänger kann auftreten, während man unter dem Einfluss von Drogen steht, oder sich in einem Zustand übermäßiger Einsamkeit, Isolierung oder der Unfähigkeit zu lieben befindet. Auch kann er in Träumen als ein Bild von einem selbst erscheinen, das typischerweise widerliche Eigenschaften besitzt – was etwas gründlich anderes ist als das, was Jung den Schatten nannte, und auch Anderes ist, als wenn man sich bloß als eine der Figuren im Traum sieht.
Der Erzähler in de Maupassants Geschichte sagt den Ärzten, dass die Hypnose-Experimente eine Vorbereitung für das In-Erscheinung-Treten des Doppelgängers gewesen seien. In der Tat: in der Hypnose, den Rückführungen und in schamanistischen Reisen wird mit dem individuellen Doppelgänger als zentrale Gestalt gerechnet. Alle diese Erlebnisse sind darauf angewiesen, dass ein Trance-Zustand herbeigeführt wird. Wann immer wir nicht vollbewusst sind, ist das eine Gelegenheit für den Doppelgänger, dazwischenzufahren und sich unser zu bemächtigen. Zum Beispiel: Wenn man eine schamanistische Reise unternimmt, beginnt die Reise in der Regel mit rhythmischem Trommeln. Dann wird man dazu angewiesen, sich zu einer inneren Landschaft hinzubegeben und dort einer bestimmten magischen Figur zu begegnen – einem Tier, einer Fee, einem Elfen, einem Gnomen, einem Heiler. Der- oder diejenige allerdings, der/die sich auf diese Reise begibt, sind nicht wir selbst. Man selbst ist mit herabgedämpftem Bewusstsein im Trancezustand im Zimmer zurückgeblieben. Der Doppelgänger ist es, der für uns die Reise macht.
Ich habe zahlreiche mit schamanischer Arbeit beschäftigte Menschen gefragt, wer auf die Reise geht, und keiner von ihnen gibt eine klare Antwort. Die meisten sagen, es sei ein Teil der Seele. Aber es muss vielmehr etwas sein, was mit dem Ego zu tun hat, denn das Wesen, das die Reise macht, ist eine Widerspiegelung von uns selbst. Der Doppelgänger hat anscheinend die Fähigkeit, zwischen den Welten zu reisen, und vielleicht sogar die Fähigkeit, andere Zeiten zu bereisen. Die gegenwärtige Popularisierung der Hypnose, die Praxis der Rückführung, auch schamanische Praktiken betrachten einen jeden veränderten Bewusstseinszustand als etwas Hilfreiches. Dabei ist bei jeder Bewusstseinsveränderung große Vorsicht geboten, denn wir uns dem ausliefern, was eine Bewusstseinserweiterung zu sein scheint, könnte es eigentlich eine Verdoppelung von uns selbst sein.
Wer jegliche Art von hypnotischer Technik anwendet, riskiert den Geist des hypnotisierten Menschen an sich zu binden. Dieses Ansichbinden ist offensichtlich. Es zeigt sich darin, dass der hypnotisierte Mensch den eigenen Körper und das eigene Bewusstsein an den Hypnotiseur sowie an die jeweiligen Dinge abtritt, die der Hypnotisierte unter der suggestiven Macht des Hypnotiseurs ausführen mag. Wir brauchen nur zu fragen, wer denn diese Dinge ausführt. Der Hypnotiseur suggeriert sie, und es sieht so aus, als würde der Hypnotisierte sie ausführen, aber der Letztere ist nicht eigentlich da. Der individuelle Geist kann an den Doppelgänger gebunden werden. Auch wenn die Menschen einer solchen Herabstimmung ihres Bewusstseins zustimmen, heißt das nicht, dass sie dabei eine freie Handlung vollzogen hätten. Sie haben lediglich eingewilligt, auf ihre Freiheit zu verzichten. Jeder Vorteil, der dabei herausspringen mag, ist dem, was verlorengeht, zweitrangig. Der gebundene Geist wird eine Portion der schöpferischen Fähigkeit verlieren, die er braucht, um die Umstände des alltäglichen Lebens zu bewältigen. Nicht einmal vorübergehende Vorteile überwiegen die Schwere eines verminderten Geistes.
Der Wunsch nach Kräften über der Spannweite des gewöhnlichen Bewusstseins hinaus kann weiter nichts sein, als eine Ablenkung von der Aufgabe, sich der Furcht zu stellen. Ein In-Sich-Gehen mittels dieser inzwischen populär gewordenen Trance-Techniken kann zu einer Form von Flucht werden. Es muss gesagt werden, dass die Popularisierung der Trance-Zustände von der Tiefe der Tradition erheblich abweicht, welche die wahren schamanistischen Praktiken auszeichnet. Wochenend-Schamanismus hat wenig zu tun mit über Jahrhunderte hin als Kultur entwickelter Erkenntnis und Weisheit. In solchen Kulturen ist der Schamanismus eine Berufung, die über viele Jahre hin ausgebildet werden muss, und die stets innerhalb einer bestimmten Gemeinschaft, Kultur, und religiösen Weltsicht existiert.
Es muss auch keine direkte Hypnose sein, was uns dem individuellen Doppelgänger unterwirft. Wenn ich extrem wütend werde, könnte in der Wut ein Augenblick eintreten, wo ich deutlich bemerke, dass ein anderes Bewusstsein die Macht ergriffen hat. Während eines Wutanfalls ist es sogar möglich, zum passiven Zeugen der wütenden Person zu werden, die mir genau ähnelt; diese Person anzusehen und zur Kenntnis zu nehmen, dass ich das nicht bin. Oder ich gehe einkaufen, schaue ins Fenster und sehe etwas sehr Teures, das ich besitzen möchte. Wiederum kann ich dastehen und der Zeuge sein von dem, der nun von dem begehrten Gegenstand vollkommen eingenommen ist, der in den Laden hineingeht, die Kreditkarte herausholt und das kauft, was ich mir nicht leisten kann. Die ganze Werbekampagne für diese Ware, die ich vielleicht im Fernsehen gesehen habe und an die ich mich jetzt nicht erinnere, hat mich in eine Art Trancezustand eingelullt und dadurch dem Doppelgänger die Möglichkeit eröffnet, dazwischenzufahren.
Der Charakter des individuellen Doppelgängers ist mit der Art und Weise unerbittlich verbunden, wie die Furcht in die Welt hereingeholt wird. In seiner Studie über die Nazi-Ärzte, welche die grausamen Versuche an Menschen durchführten, kam Robert J. Lifton zur Schlussfolgerung, dass es wegen der Verdoppelung war, dass diese teuflischen Forscher dazu in die Lage versetzt wurden, solche Gräuel zu begehen.[1] Laut Liftons Forschungsergebnissen besitzt die Verdoppelung erkennbare Eigenschaften. Die Ärzte sahen sich als Humanmediziner, als Ehemänner und als Väter. Zu gleicher Zeit sahen sie sich als freie Ausführende dieser Gräueltaten, die keinerlei Zwang unterstanden. Diese Dualität zeugt uns, dass der Doppelgänger ohne jeden erkennbaren Konflikt neben dem her funktionieren kann, was wir für unser normales Selbst halten.
Lifton führt fünf Merkmale des Verdoppelungsprozesses auf: 1) Ein zweites Selbst bildet sich neben dem gewöhnlichen Selbst. 2) Dieses zweite Selbst entsteht als ein direktes Ergebnis davon, in einem fortdauernden Zustand der Furcht leben zu müssen. 3) Das zweite Selbst verleiht einem solchen Zustand die Kohärenz. Es lässt eine solche Situation wie normal erscheinen. 4) Das zweite Selbst führt inakzeptable und greuliche Taten aus. 5) Das normale Selbst tritt diesem zweiten Selbst sein eigenes Gewissen ab.
Die Dualität des Verdoppelungsvorgangs ist anders als die kognitive Dissoziation, die ich als Betäubung bezeichnet habe. Damit die Nazis den von ihnen begangenen Terror verüben konnten, war keine Betäubung des gesunden, normal funktionierenden Selbst erforderlich. Der Doppelgänger erreichte es, für das ganze Selbst sprechen zu können, ohne dass dieses Selbst den Austausch überhaupt durchschaute. Das, was die Verdoppelung herbeiführte, war die Furcht, innerhalb welcher die Ärzte selbst lebten. Sie lebten tagtäglich unter der Bedrohung, dass sie selbst ausgelöscht würden, falls sie die ihnen erteilten Befehle nicht ausführten. Die Schäden, die sie anderen Menschen zufügten, galten ihnen als Pflicht, als Treue der eigenen Gruppe gegenüber. So empfanden die Ärzte also wegen ihrer ungeheuerlichen Handlungen keinerlei Verantwortung oder Schuld. Ohne es zu durchschauen, hatte sich ihr moralisches Bewusstsein radikal verändert.
Indem Lifton den Vorgang der Verdoppelung beschreibt, entschuldigt er keineswegs die Handlungen der Ärzte, auch behauptet er nicht, dass sie dieselben nicht zu verantworten hätten. Wenn wir uns einmal des Doppelgängers bewusst geworden sind, tut sich für uns geradezu eine neue Dimension der Verantwortlichkeit auf. Wir verantworten nunmehr nicht nur das, was wir tun, sondern auch die Befindlichkeit, den Zustand unseres moralischen Bewusstseins. Die Verdoppelung einer außerordentlichen Instanz des Bösen oder irgendeiner Besessenheit zuzuschreiben, anstatt sie als Teil des alltäglichen Daseins anzuerkennen, lenkt uns von der Arbeit ab, die wir verrichten müssen, um unser Seelenleben aufrechtzuerhalten.
Die von den Ärzten durchmachte Verdoppelung fand im Rahmen einer institutionellen Struktur statt, welche sie förderte und auch forderte. Es gibt Hinweise, denen zufolge Adolf Hitler an okkulten Ritualen teilnahm, die mit tranceartigen Bewusstseinszustanden einhergingen. Hitler war ein untersetzter Mann, aber wenn er vor Menschenmassen trat und diese beschwor, wurde er von etwas ergriffen bzw. fuhr in ihn etwas hinein, wodurch er in die Lage versetzt wurde, eine Veränderung im moralischen Bewusstsein seiner Zuhörer herbeizuführen. Im Lauf der Zeit nahm er immer größere Dosierungen von Drogen ein, um den eigenen Zustand der Verdoppelung aufrechtzuerhalten. Da heraus vermochte er es, die institutionalisierte Struktur der Furcht zu schaffen, als die sich der Nationalsozialismus darstellte. Von dieser Institution sagte Hitler: „Diejenigen, die im Nationalsozialismus weiter nichts als eine politische Bewegung sehen, wissen kaum etwas darüber. Er ist sogar mehr noch, als eine Religion. Er ist der Wille, eine Neuerschaffung der Menschheit herbeizuführen.“
Der einzige Jugendfreund, den Hitler hatte, August Kubizek, war in dem Moment zugegen, als Hitlers Doppelgänger zum ersten Mal in Erscheinung trat. Hitler war zu dieser Zeit siebzehn Jahre alt, und hatte soeben eine Aufführung der Wagneroper Rienzi gesehen. Kubizek sagte:
Es war, als würde ein anderes Wesen aus seinem Körper sprechen und ihn so sehr bewegen als auch mich. Es handelte sich gar nicht um einen Sprechenden, der von den eigenen Worten mitgerissen wurde. Ich hatte vielmehr den Eindruck, dass er selbst dem, was mit elementarer Wucht aus ihm hervorbrach, mit Staunen und Rührung lauschte… es war ein Zustand vollkommener Ekstase und Seligkeit… Er sprach von einer besonderen Mission, mit welcher er eines Tages betraut werden würde.
Wenn wir heute auf den Holocaust zurückblicken, so könnten wir uns in Sicherheit darüber wiegen, dass solange wir diese Tragödie in unserem Kollektivgedächtnis präsent halten, sie nicht wiederholt werden könne. Eine solche Haltung ist völlig naiv. Je mehr sich in der Welt die Furcht verdichtet, umso größer wird die Möglichkeit, dass sich genauso eine Verdoppelung in großem Ausmaß ereignet, ohne dass wir es merken.
[1] Robert Jay Lifton, Ärzte im Dritten Reich, Stuttgart: Klett-Cotta, 1988
Als Nächstes wird Teil III: Institutionelle Doppelgänger veröffentlicht.