Spirituelle Liebe
Die Angst gibt sich von je her große Mühe, unser Verständnis der Beziehung zwischen Geist und Mensch zu verwirren. Wir sehen die Welt durch unsere Augen, hören sie durch unsere Ohren, betasten sie; wir nehmen sie überhaupt dadurch wahr, dass alle Sinne sich ergänzen. Aber es steckt mehr in dem, was uns umgibt, als das, was man auf Anhieb sehen, hören, betasten kann. Von den wahrnehmbaren Eigenschaften wie etwa Hell und Dunkel, Klang oder räumlicher Tiefe abgesehen, sind wir auch von anderen, nicht sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften betroffen, wie zum Beispiel Gefühlswärme oder -kälte, unserem Vorstellungsleben, unserem Denken und Wollen. Diese Eigenschaften sind nicht sinnlich wahrnehmbar. Das Organ, durch welches wir solche Eigenschaften erleben, sowohl in anderen Menschen als auch in uns selbst, ist die Seele.
Die um uns herum befindlichen Gegenstände und Qualitäten – das uns umgebende Leben – sind nicht voneinander abgetrennt, sondern miteinander verwoben. Das Licht verwebt sich in die Dunkelheit hinein, um uns die Farben zu geben; die Wolken und der Himmel verweben sich mit der Erde; das Leben der Tiere ist mit der Landschaft vollkommen verwoben, innerhalb welcher es sich abspielt; verschiedene Seelenqualitäten wie etwa das Schaffen innerer Bilder, das Fühlen oder das Denken verweben sich miteinander. Dieses Sich-Verweben ist ontologisch dem Erscheinen jeglicher einzelner Eigenschaft vorangestellt; dieses Sich-Verweben ist es allein, was die Gestalt und den Kontext der einzelnen Eigenschaften erst bewirkt. Was den Menschen betrifft, gibt es außerdem noch die Eigenschaft der Individualität, die rein anhand der Sinneserfahrung und der Seele nicht erklärbar ist. Nicht durch die Sinneserfahrung, sondern durch unseren Geist erhalten wir Kunde von der wahren Individualität eines anderen Menschen. Jeder Mensch ist unvergleichbar – beispiellos, unerreicht, ohne seinesgleichen. Diese definierende Qualität ist nur dann zu erkennen, wenn unser Geist den Geist des anderen Menschen erfasst.
Die spirituelle Liebe kann man als eine Liebe beschreiben, die sich an den absolut wirklichen und zugleich gänzlich unsichtbaren Aspekten des Seins orientiert. Sie ist es, was uns ermöglicht, die aller-innerlichsten, geheimnisvollen Aspekte eines anderen Menschen zu lieben. Die spirituelle Liebe geht über die physische Attraktivität und sogar über Qualitäten der Seele hinaus; sie sucht alles, was diesen Menschen vollkommen einzigartig macht und ihn vor allen anderen Menschen heraushebt, die je gelebt haben oder jemals leben werden.
Sich der spirituellen Liebe bewusst zu werden erfordert Selbsterkenntnis. Der Ausdruck Selbsterkenntnis bedeutet nicht genau das, was es zu bedeuten scheint. Dieser uralte, ehrwürdige Begriff ist uns durch die Griechen überliefert und ist schriftlich festgehalten im Tempel des Apollon zu Delphi: „Erkenne dich selbst“. Diese Inschrift wurde zwar als „Suche die Selbsterkenntnis“ übersetzt, aber das Wort selbst ist mit „Geist“ gleichbedeutend. Unseren Geist können wir nicht eigentlich erkennen; wohl aber können wir die Fähigkeit ausbilden, durch den Geist zu erkennen, und diese Fähigkeit ist etwas anderes als intellektuelles Wissen. Die Selbsterkenntnis, die zur spirituellen Liebe nötig ist, ist ein Erkennen durch die Fähigkeiten des Geistes. Wer so erkennt, der aktiviert und verwirklicht den eigenen Geist; der vermag, rein dadurch zu erkennen, dass er direkt anwesend ist.
Bei der Erkenntnis durch den Geist und der Erkenntnis durch die spirituelle Liebe handelt es sich um eine und dieselbe Tätigkeit. Einen Unterschied zwischen Geist-Erkenntnis und spiritueller Liebe kann es nicht geben, denn das ist es, was der Geist tut: lieben. Das Wesen des Geistes ist das Wesen der Liebe. Egal also, was wir sonst noch unternehmen mögen: Letzten Endes kann man nur durch spirituelle Liebe den Ängsten adäquat begegnen und ihnen Einhalt gebieten.
Um einem anderen Menschen gegenüber spirituelle Liebe erleben zu können, muss man in den Bereichen der sexuellen und der emotionellen Liebe erst ein Mindestmaß an Reife besitzen. Dadurch, dass wir gelernt haben, die Sexualliebe weder zu unterdrücken noch sie willkürlich zum eigenen Vergnügen zu verschwenden, müssen wir erst zu einem körperlich angemessenen Gefäß der Liebe geworden sein. Auch müssen wir im seelischen Leben bis zu einem gewissen Grad gereift sein, indem wir die Fähigkeit erworben haben, die Liebe als Emotion zu umfangen und in dieser Weise zuzulassen, dass sie zur Bildnerin an unserem Innenleben wird. Solange wir nicht um die verschiedenen Formen der Liebe erkennend gerungen haben; solange wir nicht gefühlt haben, wie alle Formen der Liebe autonom und dennoch mit einander verwoben sind, solange wird die Angst zwischen den Lücken den Einlass finden. Ich kann zum Beispiel befürchten, dass der sexuellen Liebe eine emotionelle Komponente fehlt, oder dass die emotionelle Liebe mit der sexuellen Begierde nicht zusammenzubringen sei. Die sexuelle Liebe scheint zur spirituellen Liebe keine Beziehung zu haben. Es kann vorkommen, dass ich mich auf einen einzigen Modus der Liebe beschränke, weil ich Angst davor habe, dass wenn ich die anderen Arten der Liebe erkunden will, ich diesen einen Modus verlieren könnte. Willst du aber die Seele von der überwältigenden Angst freihalten, so musst du allen Formen der Liebe den Vortritt lassen können.
Die spirituelle Liebe hilft uns, uns den Mysterien des anderen Menschen zu öffnen. Sie will weiter nichts, als sich dem anderen Menschen so zu nähern, dass dessen Geist immer heller und heller hervorleuchtet. Novalis sagt: „Unser Geist ist Bindeglied zum vollkommen Unvergleichbaren.“ Durch unsere eigene Unvergleichbarkeit ist es, dass wir die Unvergleichbarkeit des anderen Menschen und unsere gemeinsame Einzigartigkeit wahrnehmen. In einem weiteren Aphorismus sagt Novalis „Ich bin du“.
„Ich bin du“ bedeutet nicht, dass ich mich selbst in dir finde; das wäre eine schreckliche Verzerrung von „du“ als anderer Mensch. Wenn ich mich selbst in dir fände und du dich entschiedest, mich zu verlassen, so verlöre ich allen Sinn für mich selbst als Mensch. Diese Abhängigkeit ist anders, als emotionale oder physische Abhängigkeit. In der emotionalen Abhängigkeit verlasse ich mich auf einen anderen Menschen, um Emotionalität und den Anschein eines seelischen Lebens zu erfahren. In der physischen Abhängigkeit bin ich von sexueller Erfahrung mit einem anderen Menschen abhängig, um mein eigenes sexuelles Sein zu erleben. Eine weit gravierendere Schwierigkeit entsteht, wenn ich keinen Sinn für das eigene spirituelle Dasein habe und mich dabei auf den Geist eines anderen Menschen verlasse: Ist der andere Mensch nicht mehr Teil meines Lebens, so bin ich recht eigentlich tot.
In der spirituellen Liebe lebt das Wohl des anderen Menschen in jedem Gedanken, der mir kommt, egal ob der Gedanke mit diesem Menschen direkt etwas zu tun hat oder nicht. Der geistige Ausdruck für diese Eigenschaft ist Intention. Dieser geistige Ausdruck birgt eine weit subtilere Bedeutung in sich als nur die, etwas zu beabsichtigen. Er trägt die Bedeutung, dass etwas, was man in seinen Gedanken birgt, derart echt geworden ist, dass es im wortwörtlichen Sinne anwesend ist – nicht als mir gegenüberstehend, sondern überall in mir. In der spirituellen Liebe ist das, was dergestalt echt wird, die Geist-Qualität des anderen Menschen. Diese ist es, was man in der Intention erlebt, sich rein am Wohl des anderen Menschen zu orientieren.
Der Mittelpunkt einer gelebten spirituellen Liebe im alltäglichen Leben sind die Gedanken über den anderen Menschen, die wir in uns tragen. Solche Gedanken sind anders als die, die dann entstehen, wenn wir jemanden vermissen, oder wenn wir uns an unsere gemeinsame Vergangenheit erinnern, oder wenn wir an etwas denken, was jemand gerade in diesem Moment tut. In der spirituellen Liebe denken wir nicht zwingend an den anderen Menschen; vielmehr ist der andere Mensch – zumal als Geist und ohne, dass er es überhaupt weiß – mit meiner Existenz so vollkommen verwoben, dass er in jedem Augenblick in einer Weise bei mir ist, die meine eigene individuelle Freiheit erhöht, anstatt sie zu hindern. Ich ordne diese Eigenschaft dem Bereich des Denkens zu, da im gewöhnlichen Leben es das Denken ist, welches in dem Leben des Geistes zum Ausdruck kommt. Das bedeutet nicht, dass der Inhalt des von uns Gedachten zwingend spiritueller Art wäre. Schon die Macht des Denkens an und für sich ist spiritueller Art; und mit der spirituellen Liebe wohnt der andere Mensch dieser Macht inne.
Wenn ich jemanden, den ich Liebe, anrufe und sage, dass ich an ihn denke, so hat diese Art des Denkens ein emotionales Anliegen – sie vergegenwärtigt mir jemanden, der abwesend ist. Das ist fein und gut; kann es doch meine Verbindung zur Emotion aufrechterhalten. Eine spirituelle Liebe ist es aber nicht. In der spirituellen Liebe bin ich jeden Augenblick mit dem Wohl des Geistes des anderen Menschen beschäftigt; dieses Wohl denkt in mir sich selbst, es durchsetzt meine Existenz ganz, und lässt mich dabei vollkommen frei. Diese Art der Liebe ernährt sowohl die Seele als auch den Geist des anderen Menschen. Dieser Mensch wird mehr von dem, der er eigentlich ist, und nicht mehr von dem, was ich von ihm möchte.
Die spirituelle Liebe besitzt nicht die rhythmische Periodizität, von der sowohl die sexuelle als auch die emotionelle Liebe gekennzeichnet sind. Sie tritt nicht in Wogen auf; sie ist stets gegenwärtig, sie spiegelt sich in die Emotionen und in den Körper zurück und verleiht dem Leben neue Farbe, neue Leuchtkraft. Solche Widerspiegelung kann auch Verwirrung stiften. Denn die sexuelle und die emotionelle Liebe werden von der spirituellen Liebe nicht vermindert, sondern erhöht. Und so kann es vorkommen, dass wir die spirituelle Liebe mit der sexuellen oder der emotionellen Liebe verwechseln. Vom Geist werden wir ständig ernährt, sei es über unsere Umwelt oder über unsere Beziehungen zu anderen Menschen. Insofern aber, als wir uns dieses Vorgangs nicht bewusst sind, kann es passieren, dass wir uns ausschließlich an sexuelle oder emotionelle Liebe binden und nicht erkennen, auf welche Form der Liebe diese Erhöhung eigentlich zurückzuführen ist.
Eine Besinnung auf die folgende Betrachtung von Novalis kann uns dem Wesen der spirituellen Erkenntnis und der spirituellen Liebe näherbringen:
Was man liebt, findet man überall, und sieht überall Ähnlichkeiten. Je größer die Liebe, desto weiter und mannichfaltiger diese ähnliche Welt. Meine Geliebte ist die Abbreviatur des Universums, das Universum die Elongatur meiner Geliebten. Dem Freunde der Wissenschaften bieten sie alle, Blumen und Souvenirs, für seine Geliebte.[1]
Wen die spirituelle Liebe berührt, dessen ganze Anwesenheit in der Welt ändert sich. Warum bringen wir der/dem Geliebten Geschenke dar? Als Liebesbezeigung wohl; aber sofern wir bei der Wahl eines Geschenks überhaupt Sorgfalt aufwenden, kommt es zu mehr als eine Äußerung von Gefühlswärme. Wir suchen nicht bloß etwas, was ihr gefallen und sie deshalb schmeicheln könnte, sondern wir suchen genau das Richtige; ein Geschenk nämlich, das zum Ausdruck bringt, was wir in dem Tiefsten des geliebten Menschen sehen. Wer bloß abgegriffene Klischees schenkt, bringt nur die eigene selbstbezogene Emotion zum Ausdruck.
Wenn wir Blumen bringen, so müssen es genau die richtigen Blumen sein. Wenn wir ein Gedicht schreiben, so muss es die Welt als Vergleich zur Geliebten verbildlichen. Und so ändern sich dann über das Darbringen solcher sinnerfüllten Geschenke hinaus auch die Dinge, die wir jeden Tag tun. Es ändert sich die Art, wie wir morgens aufstehen, wie wir an unsere Arbeit herangehen, wir das sehen, was in der Welt geschieht. Wir entdecken vielleicht, dass wir phantasievoller denken können. Dadurch werden unsere Gedanken nicht etwa verzerrt. Im Gegenteil: Je phantasievoller wir denken, umso wahrer sind die Bilder, die wir von der Welt erhalten. Kein Aspekt der Welt kann wirklich gesehen werden, wenn er nicht durch die Augen der Liebe gesehen wird. Nur durch die Liebe ist die Welt eigentlich zu erkennen.
Wir können sicher sein, dass unsere Liebe für einen anderen Menschen an die Ebene des Geistigen gerührt hat, wenn unser Interesse für die Welt akuter, lebhafter, phantasievoller wird. So finden wir zum Beispiel, dass unsere gewohnte Art, Dinge zu tun, uns nicht mehr befriedigt; wir empfinden einen Mangel oder eine Leere dabei. Wir stellen vielleicht fest, dass unsere Arbeit uns unzufrieden lässt, sofern sie keine spirituelle Bedeutung hat. Beziehungen ohne geistige Tiefe fallen wahrscheinlich weg. Frivol verbrachte Freizeit kommt uns albern vor. Das lässt uns womöglich glauben, dass in unserem Leben sich etwas ändern muss. Fruchtbarer wäre es aber zu empfinden, dass eine Änderung bereits stattgefunden hat, und uns dazu anzuschicken, durch andere Augen das zu sehen, was wir tun. Andernfalls erschöpfen wir uns in der Fortsetzung dieser gleichen Richtung immer mehr, ohne uns aber vorstellen zu können, was wir sonst machen sollten.
Eine solche neue Art zu sehen können wir dadurch herbeiführen, dass wir die tiefe Bedeutung anerkennen, welche die Liebe für uns hat. Es kann durchaus geschehen, dass wir sie einfach stillschweigend voraussetzen, besonders dann, wenn die „romantische“ Phase, das Verliebtsein, vorüber ist. Das Ende dieser Phase ist aber eigentlich der Anfang von etwas weit Größerem: von einer Einweihung in die spirituelle Liebe.
Im Gegensatz zu dem Zusammenfließen zweier Menschen, das bei der emotionalen Liebe häufig vorkommt und welches sich zerstörerisch auswirken kann, fühlt man das Zusammenfließen zweier Geister in der spirituellen Liebe als die Qualität der Inspiration. Dante war durch die Schönheit der Beatrice inspiriert. Die Geister dieser zwei Menschen kamen zusammen, ohne dass sich für sie Schäden ergeben hätten. In ähnlicher Weise wurde Novalis durch Sophie von Kühn inspiriert, der er begegnet war, als sie erst dreizehn Jahre alt war. Sie starb einige Jahre später, aber das ganze Werk Novalis‘ von dort an wurde durch sie inspiriert. Ihr Geist war stets um ihn – in seiner Dichtung, in seinen Romanen, sogar in seiner praktischen Tätigkeit als Bergwerksingenieur. Bei Novalis sehen wir eindeutig, dass diese Ehe zweier Geister mit dem Tode nicht zu Ende geht. Novalis gab sich große Mühe, diese geistige Verbindung gegenwärtig und bewusst zu erhalten.
Eine solche Bemühung ist ein kraftvolles Mittel, der Anwesenheit der Angst und Furcht in der Welt zu entgegnen. Jeder von uns kann das nach seiner eigenen Art tun. Kümmere ich mich um das geistige Schicksal derer, die ich liebe? Wie kann ich ihnen in spiritueller Weise helfen? Stehe ich zu der vollen Wirklichkeit meiner Geliebten? Setze ich mich für diese Wirklichkeit ein? In welcher Weise können wir zusammenarbeiten, um von der Wirklichkeit der Liebe in der Welt Zeugnis abzulegen? Die Antworten auf solche Fragen zu leben wirkt der Präsenz der Angst in der Welt weit effektiver entgegen, als alle äußerlichen Maßnahmen, die wir ergreifen mögen.
Jede Art der Liebe bringt Schwierigkeiten mit sich. Sie schmerzt, brennt, sorgt für Irritation, Unbehagen, hält uns nachts wach, lenkt uns tagsüber ab, und sogar dann, wenn sie uns inspiriert, tut sie dies mit einer solchen Intensität, dass wir uns an einer Macht gefesselt finden, die uns nicht loslassen wird. Sie scheint alles in unserer Seele Befindliche als Brennstoff zu verwenden, und sie intensiviert die kleine Flamme des Geistes bis dahin, dass das Feuer unkontrollierbar scheint. Unser kleines Ego, unsere Persönlichkeit kann der Feuersbrunst kaum standhalten, und uns ist, als würden wir wahnsinnig. Wir können sogar zerstört werden, wenn deren mächtige Gegenwart unbestätigt bleibt. Es kann uns unbewusst bleiben, dass wir die Flammen der Läuterung und Reinigung durchmachen, welche unentbehrlich sind, um Liebe in die Welt hereinzubringen.
Viele der heutigen Beratungs-, Therapie- und Selbsthilfe-Praktiken tun so, als wäre etwas mit uns nicht in Ordnung, wenn wir die Liebe nicht handhaben können. Aber wer kann das schon? Die Therapie ist einer Kontrolle der Intensität der Flamme nicht gewachsen; stattdessen versucht sie, uns darin zu beraten, wie wir das Feuer löschen können. Solche Therapien raten uns dazu, mit unserem Partner auszukommen, herauszufinden, was die Männer beziehungsweise was die Frauen brauchen; es wird endlos darüber geredet, der Egoismus gestärkt, sich darauf konzentriert, wie man im Sex Befriedigung findet, wie man die Zwanghaftigkeit vermeidet. Die Bemühung, in der Liebe Erfolg zu finden, gängelt nicht nur die Liebe; sie führt zur banalen Konventionalität.
Alle Versuche, die Liebe zur Anpassung an die Regeln zu zwingen, ob es sich um psychologische, um religiöse, oder um soziale Regen handelt, bezwecken die Zügelung der Liebe zu unseren eigenen Zwecken. Unser Ego versucht, die Liebe gefangen zu nehmen. Wir wollen sie für uns selbst haben, damit wir uns wohl fühlen, die angenehme Empfindung statt der Realität erleben, und mit uns selbst zufrieden sind, anstatt sie in ihrer eigenen geheimnisvollen Weise wirken zu lassen, um die Welt zu verwandeln.
Der Mensch ist ein Werkzeug der Liebe, und sie selbst muss nach eigenem Gutdünken dieses Werkzeug bilden. Daher kommt es, dass der Mensch sich immer auf ihre Seite schlagen muss, egal was er ihretwegen durchzustehen hat. Der Zweck eines solchen Läuterungsprozesses ist, den Eintritt der Liebe in die weitere Welt zu ermöglichen. Indem wir so die Sache der Liebe voranbringen, machen wir bedeutende, von Freude, Trauer, Schmerz und Entzücken begleitete Verwandlungen durch. Es kann vorkommen, dass wir den einen oder den anderen Teilaspekt dieses Läuterungsprozesses mit dessen Endziel verwechseln. Wir mögen nämlich denken, dass der höchste Sinn und Zweck der Liebe in der Welt der ist, dass zwei Menschen sich lieben; das macht einen der bedeutenden Aspekte des Läuterungsprozesses schon aus, aber nicht dessen letztendlichen Zweck. Wenn die Liebe zwischen Menschen fließt, so kann sie auch in die Welt hineinfließen. Wenn aber der Fluss der Liebe auf das beschränkt ist, was zwischen zwei Menschen sich ereignen kann, so haben wir – auch dann, wenn es sich um deren höchsten, edelsten Ausdruck handeln sollte – unwissentlich die Liebe gefesselt.
[1] https://books.google.de/books?isbn=3843029067
Als Nächstes der fünfte Teil von K. VII: 'Schöpferische Liebe'
Die Angst gibt sich von je her große Mühe, unser Verständnis der Beziehung zwischen Geist und Mensch zu verwirren. Wir sehen die Welt durch unsere Augen, hören sie durch unsere Ohren, betasten sie; wir nehmen sie überhaupt dadurch wahr, dass alle Sinne sich ergänzen. Aber es steckt mehr in dem, was uns umgibt, als das, was man auf Anhieb sehen, hören, betasten kann. Von den wahrnehmbaren Eigenschaften wie etwa Hell und Dunkel, Klang oder räumlicher Tiefe abgesehen, sind wir auch von anderen, nicht sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften betroffen, wie zum Beispiel Gefühlswärme oder -kälte, unserem Vorstellungsleben, unserem Denken und Wollen. Diese Eigenschaften sind nicht sinnlich wahrnehmbar. Das Organ, durch welches wir solche Eigenschaften erleben, sowohl in anderen Menschen als auch in uns selbst, ist die Seele.
Die um uns herum befindlichen Gegenstände und Qualitäten – das uns umgebende Leben – sind nicht voneinander abgetrennt, sondern miteinander verwoben. Das Licht verwebt sich in die Dunkelheit hinein, um uns die Farben zu geben; die Wolken und der Himmel verweben sich mit der Erde; das Leben der Tiere ist mit der Landschaft vollkommen verwoben, innerhalb welcher es sich abspielt; verschiedene Seelenqualitäten wie etwa das Schaffen innerer Bilder, das Fühlen oder das Denken verweben sich miteinander. Dieses Sich-Verweben ist ontologisch dem Erscheinen jeglicher einzelner Eigenschaft vorangestellt; dieses Sich-Verweben ist es allein, was die Gestalt und den Kontext der einzelnen Eigenschaften erst bewirkt. Was den Menschen betrifft, gibt es außerdem noch die Eigenschaft der Individualität, die rein anhand der Sinneserfahrung und der Seele nicht erklärbar ist. Nicht durch die Sinneserfahrung, sondern durch unseren Geist erhalten wir Kunde von der wahren Individualität eines anderen Menschen. Jeder Mensch ist unvergleichbar – beispiellos, unerreicht, ohne seinesgleichen. Diese definierende Qualität ist nur dann zu erkennen, wenn unser Geist den Geist des anderen Menschen erfasst.
Die spirituelle Liebe kann man als eine Liebe beschreiben, die sich an den absolut wirklichen und zugleich gänzlich unsichtbaren Aspekten des Seins orientiert. Sie ist es, was uns ermöglicht, die aller-innerlichsten, geheimnisvollen Aspekte eines anderen Menschen zu lieben. Die spirituelle Liebe geht über die physische Attraktivität und sogar über Qualitäten der Seele hinaus; sie sucht alles, was diesen Menschen vollkommen einzigartig macht und ihn vor allen anderen Menschen heraushebt, die je gelebt haben oder jemals leben werden.
Sich der spirituellen Liebe bewusst zu werden erfordert Selbsterkenntnis. Der Ausdruck Selbsterkenntnis bedeutet nicht genau das, was es zu bedeuten scheint. Dieser uralte, ehrwürdige Begriff ist uns durch die Griechen überliefert und ist schriftlich festgehalten im Tempel des Apollon zu Delphi: „Erkenne dich selbst“. Diese Inschrift wurde zwar als „Suche die Selbsterkenntnis“ übersetzt, aber das Wort selbst ist mit „Geist“ gleichbedeutend. Unseren Geist können wir nicht eigentlich erkennen; wohl aber können wir die Fähigkeit ausbilden, durch den Geist zu erkennen, und diese Fähigkeit ist etwas anderes als intellektuelles Wissen. Die Selbsterkenntnis, die zur spirituellen Liebe nötig ist, ist ein Erkennen durch die Fähigkeiten des Geistes. Wer so erkennt, der aktiviert und verwirklicht den eigenen Geist; der vermag, rein dadurch zu erkennen, dass er direkt anwesend ist.
Bei der Erkenntnis durch den Geist und der Erkenntnis durch die spirituelle Liebe handelt es sich um eine und dieselbe Tätigkeit. Einen Unterschied zwischen Geist-Erkenntnis und spiritueller Liebe kann es nicht geben, denn das ist es, was der Geist tut: lieben. Das Wesen des Geistes ist das Wesen der Liebe. Egal also, was wir sonst noch unternehmen mögen: Letzten Endes kann man nur durch spirituelle Liebe den Ängsten adäquat begegnen und ihnen Einhalt gebieten.
Um einem anderen Menschen gegenüber spirituelle Liebe erleben zu können, muss man in den Bereichen der sexuellen und der emotionellen Liebe erst ein Mindestmaß an Reife besitzen. Dadurch, dass wir gelernt haben, die Sexualliebe weder zu unterdrücken noch sie willkürlich zum eigenen Vergnügen zu verschwenden, müssen wir erst zu einem körperlich angemessenen Gefäß der Liebe geworden sein. Auch müssen wir im seelischen Leben bis zu einem gewissen Grad gereift sein, indem wir die Fähigkeit erworben haben, die Liebe als Emotion zu umfangen und in dieser Weise zuzulassen, dass sie zur Bildnerin an unserem Innenleben wird. Solange wir nicht um die verschiedenen Formen der Liebe erkennend gerungen haben; solange wir nicht gefühlt haben, wie alle Formen der Liebe autonom und dennoch mit einander verwoben sind, solange wird die Angst zwischen den Lücken den Einlass finden. Ich kann zum Beispiel befürchten, dass der sexuellen Liebe eine emotionelle Komponente fehlt, oder dass die emotionelle Liebe mit der sexuellen Begierde nicht zusammenzubringen sei. Die sexuelle Liebe scheint zur spirituellen Liebe keine Beziehung zu haben. Es kann vorkommen, dass ich mich auf einen einzigen Modus der Liebe beschränke, weil ich Angst davor habe, dass wenn ich die anderen Arten der Liebe erkunden will, ich diesen einen Modus verlieren könnte. Willst du aber die Seele von der überwältigenden Angst freihalten, so musst du allen Formen der Liebe den Vortritt lassen können.
Die spirituelle Liebe hilft uns, uns den Mysterien des anderen Menschen zu öffnen. Sie will weiter nichts, als sich dem anderen Menschen so zu nähern, dass dessen Geist immer heller und heller hervorleuchtet. Novalis sagt: „Unser Geist ist Bindeglied zum vollkommen Unvergleichbaren.“ Durch unsere eigene Unvergleichbarkeit ist es, dass wir die Unvergleichbarkeit des anderen Menschen und unsere gemeinsame Einzigartigkeit wahrnehmen. In einem weiteren Aphorismus sagt Novalis „Ich bin du“.
„Ich bin du“ bedeutet nicht, dass ich mich selbst in dir finde; das wäre eine schreckliche Verzerrung von „du“ als anderer Mensch. Wenn ich mich selbst in dir fände und du dich entschiedest, mich zu verlassen, so verlöre ich allen Sinn für mich selbst als Mensch. Diese Abhängigkeit ist anders, als emotionale oder physische Abhängigkeit. In der emotionalen Abhängigkeit verlasse ich mich auf einen anderen Menschen, um Emotionalität und den Anschein eines seelischen Lebens zu erfahren. In der physischen Abhängigkeit bin ich von sexueller Erfahrung mit einem anderen Menschen abhängig, um mein eigenes sexuelles Sein zu erleben. Eine weit gravierendere Schwierigkeit entsteht, wenn ich keinen Sinn für das eigene spirituelle Dasein habe und mich dabei auf den Geist eines anderen Menschen verlasse: Ist der andere Mensch nicht mehr Teil meines Lebens, so bin ich recht eigentlich tot.
In der spirituellen Liebe lebt das Wohl des anderen Menschen in jedem Gedanken, der mir kommt, egal ob der Gedanke mit diesem Menschen direkt etwas zu tun hat oder nicht. Der geistige Ausdruck für diese Eigenschaft ist Intention. Dieser geistige Ausdruck birgt eine weit subtilere Bedeutung in sich als nur die, etwas zu beabsichtigen. Er trägt die Bedeutung, dass etwas, was man in seinen Gedanken birgt, derart echt geworden ist, dass es im wortwörtlichen Sinne anwesend ist – nicht als mir gegenüberstehend, sondern überall in mir. In der spirituellen Liebe ist das, was dergestalt echt wird, die Geist-Qualität des anderen Menschen. Diese ist es, was man in der Intention erlebt, sich rein am Wohl des anderen Menschen zu orientieren.
Der Mittelpunkt einer gelebten spirituellen Liebe im alltäglichen Leben sind die Gedanken über den anderen Menschen, die wir in uns tragen. Solche Gedanken sind anders als die, die dann entstehen, wenn wir jemanden vermissen, oder wenn wir uns an unsere gemeinsame Vergangenheit erinnern, oder wenn wir an etwas denken, was jemand gerade in diesem Moment tut. In der spirituellen Liebe denken wir nicht zwingend an den anderen Menschen; vielmehr ist der andere Mensch – zumal als Geist und ohne, dass er es überhaupt weiß – mit meiner Existenz so vollkommen verwoben, dass er in jedem Augenblick in einer Weise bei mir ist, die meine eigene individuelle Freiheit erhöht, anstatt sie zu hindern. Ich ordne diese Eigenschaft dem Bereich des Denkens zu, da im gewöhnlichen Leben es das Denken ist, welches in dem Leben des Geistes zum Ausdruck kommt. Das bedeutet nicht, dass der Inhalt des von uns Gedachten zwingend spiritueller Art wäre. Schon die Macht des Denkens an und für sich ist spiritueller Art; und mit der spirituellen Liebe wohnt der andere Mensch dieser Macht inne.
Wenn ich jemanden, den ich Liebe, anrufe und sage, dass ich an ihn denke, so hat diese Art des Denkens ein emotionales Anliegen – sie vergegenwärtigt mir jemanden, der abwesend ist. Das ist fein und gut; kann es doch meine Verbindung zur Emotion aufrechterhalten. Eine spirituelle Liebe ist es aber nicht. In der spirituellen Liebe bin ich jeden Augenblick mit dem Wohl des Geistes des anderen Menschen beschäftigt; dieses Wohl denkt in mir sich selbst, es durchsetzt meine Existenz ganz, und lässt mich dabei vollkommen frei. Diese Art der Liebe ernährt sowohl die Seele als auch den Geist des anderen Menschen. Dieser Mensch wird mehr von dem, der er eigentlich ist, und nicht mehr von dem, was ich von ihm möchte.
Die spirituelle Liebe besitzt nicht die rhythmische Periodizität, von der sowohl die sexuelle als auch die emotionelle Liebe gekennzeichnet sind. Sie tritt nicht in Wogen auf; sie ist stets gegenwärtig, sie spiegelt sich in die Emotionen und in den Körper zurück und verleiht dem Leben neue Farbe, neue Leuchtkraft. Solche Widerspiegelung kann auch Verwirrung stiften. Denn die sexuelle und die emotionelle Liebe werden von der spirituellen Liebe nicht vermindert, sondern erhöht. Und so kann es vorkommen, dass wir die spirituelle Liebe mit der sexuellen oder der emotionellen Liebe verwechseln. Vom Geist werden wir ständig ernährt, sei es über unsere Umwelt oder über unsere Beziehungen zu anderen Menschen. Insofern aber, als wir uns dieses Vorgangs nicht bewusst sind, kann es passieren, dass wir uns ausschließlich an sexuelle oder emotionelle Liebe binden und nicht erkennen, auf welche Form der Liebe diese Erhöhung eigentlich zurückzuführen ist.
Eine Besinnung auf die folgende Betrachtung von Novalis kann uns dem Wesen der spirituellen Erkenntnis und der spirituellen Liebe näherbringen:
Was man liebt, findet man überall, und sieht überall Ähnlichkeiten. Je größer die Liebe, desto weiter und mannichfaltiger diese ähnliche Welt. Meine Geliebte ist die Abbreviatur des Universums, das Universum die Elongatur meiner Geliebten. Dem Freunde der Wissenschaften bieten sie alle, Blumen und Souvenirs, für seine Geliebte.[1]
Wen die spirituelle Liebe berührt, dessen ganze Anwesenheit in der Welt ändert sich. Warum bringen wir der/dem Geliebten Geschenke dar? Als Liebesbezeigung wohl; aber sofern wir bei der Wahl eines Geschenks überhaupt Sorgfalt aufwenden, kommt es zu mehr als eine Äußerung von Gefühlswärme. Wir suchen nicht bloß etwas, was ihr gefallen und sie deshalb schmeicheln könnte, sondern wir suchen genau das Richtige; ein Geschenk nämlich, das zum Ausdruck bringt, was wir in dem Tiefsten des geliebten Menschen sehen. Wer bloß abgegriffene Klischees schenkt, bringt nur die eigene selbstbezogene Emotion zum Ausdruck.
Wenn wir Blumen bringen, so müssen es genau die richtigen Blumen sein. Wenn wir ein Gedicht schreiben, so muss es die Welt als Vergleich zur Geliebten verbildlichen. Und so ändern sich dann über das Darbringen solcher sinnerfüllten Geschenke hinaus auch die Dinge, die wir jeden Tag tun. Es ändert sich die Art, wie wir morgens aufstehen, wie wir an unsere Arbeit herangehen, wir das sehen, was in der Welt geschieht. Wir entdecken vielleicht, dass wir phantasievoller denken können. Dadurch werden unsere Gedanken nicht etwa verzerrt. Im Gegenteil: Je phantasievoller wir denken, umso wahrer sind die Bilder, die wir von der Welt erhalten. Kein Aspekt der Welt kann wirklich gesehen werden, wenn er nicht durch die Augen der Liebe gesehen wird. Nur durch die Liebe ist die Welt eigentlich zu erkennen.
Wir können sicher sein, dass unsere Liebe für einen anderen Menschen an die Ebene des Geistigen gerührt hat, wenn unser Interesse für die Welt akuter, lebhafter, phantasievoller wird. So finden wir zum Beispiel, dass unsere gewohnte Art, Dinge zu tun, uns nicht mehr befriedigt; wir empfinden einen Mangel oder eine Leere dabei. Wir stellen vielleicht fest, dass unsere Arbeit uns unzufrieden lässt, sofern sie keine spirituelle Bedeutung hat. Beziehungen ohne geistige Tiefe fallen wahrscheinlich weg. Frivol verbrachte Freizeit kommt uns albern vor. Das lässt uns womöglich glauben, dass in unserem Leben sich etwas ändern muss. Fruchtbarer wäre es aber zu empfinden, dass eine Änderung bereits stattgefunden hat, und uns dazu anzuschicken, durch andere Augen das zu sehen, was wir tun. Andernfalls erschöpfen wir uns in der Fortsetzung dieser gleichen Richtung immer mehr, ohne uns aber vorstellen zu können, was wir sonst machen sollten.
Eine solche neue Art zu sehen können wir dadurch herbeiführen, dass wir die tiefe Bedeutung anerkennen, welche die Liebe für uns hat. Es kann durchaus geschehen, dass wir sie einfach stillschweigend voraussetzen, besonders dann, wenn die „romantische“ Phase, das Verliebtsein, vorüber ist. Das Ende dieser Phase ist aber eigentlich der Anfang von etwas weit Größerem: von einer Einweihung in die spirituelle Liebe.
Im Gegensatz zu dem Zusammenfließen zweier Menschen, das bei der emotionalen Liebe häufig vorkommt und welches sich zerstörerisch auswirken kann, fühlt man das Zusammenfließen zweier Geister in der spirituellen Liebe als die Qualität der Inspiration. Dante war durch die Schönheit der Beatrice inspiriert. Die Geister dieser zwei Menschen kamen zusammen, ohne dass sich für sie Schäden ergeben hätten. In ähnlicher Weise wurde Novalis durch Sophie von Kühn inspiriert, der er begegnet war, als sie erst dreizehn Jahre alt war. Sie starb einige Jahre später, aber das ganze Werk Novalis‘ von dort an wurde durch sie inspiriert. Ihr Geist war stets um ihn – in seiner Dichtung, in seinen Romanen, sogar in seiner praktischen Tätigkeit als Bergwerksingenieur. Bei Novalis sehen wir eindeutig, dass diese Ehe zweier Geister mit dem Tode nicht zu Ende geht. Novalis gab sich große Mühe, diese geistige Verbindung gegenwärtig und bewusst zu erhalten.
Eine solche Bemühung ist ein kraftvolles Mittel, der Anwesenheit der Angst und Furcht in der Welt zu entgegnen. Jeder von uns kann das nach seiner eigenen Art tun. Kümmere ich mich um das geistige Schicksal derer, die ich liebe? Wie kann ich ihnen in spiritueller Weise helfen? Stehe ich zu der vollen Wirklichkeit meiner Geliebten? Setze ich mich für diese Wirklichkeit ein? In welcher Weise können wir zusammenarbeiten, um von der Wirklichkeit der Liebe in der Welt Zeugnis abzulegen? Die Antworten auf solche Fragen zu leben wirkt der Präsenz der Angst in der Welt weit effektiver entgegen, als alle äußerlichen Maßnahmen, die wir ergreifen mögen.
Jede Art der Liebe bringt Schwierigkeiten mit sich. Sie schmerzt, brennt, sorgt für Irritation, Unbehagen, hält uns nachts wach, lenkt uns tagsüber ab, und sogar dann, wenn sie uns inspiriert, tut sie dies mit einer solchen Intensität, dass wir uns an einer Macht gefesselt finden, die uns nicht loslassen wird. Sie scheint alles in unserer Seele Befindliche als Brennstoff zu verwenden, und sie intensiviert die kleine Flamme des Geistes bis dahin, dass das Feuer unkontrollierbar scheint. Unser kleines Ego, unsere Persönlichkeit kann der Feuersbrunst kaum standhalten, und uns ist, als würden wir wahnsinnig. Wir können sogar zerstört werden, wenn deren mächtige Gegenwart unbestätigt bleibt. Es kann uns unbewusst bleiben, dass wir die Flammen der Läuterung und Reinigung durchmachen, welche unentbehrlich sind, um Liebe in die Welt hereinzubringen.
Viele der heutigen Beratungs-, Therapie- und Selbsthilfe-Praktiken tun so, als wäre etwas mit uns nicht in Ordnung, wenn wir die Liebe nicht handhaben können. Aber wer kann das schon? Die Therapie ist einer Kontrolle der Intensität der Flamme nicht gewachsen; stattdessen versucht sie, uns darin zu beraten, wie wir das Feuer löschen können. Solche Therapien raten uns dazu, mit unserem Partner auszukommen, herauszufinden, was die Männer beziehungsweise was die Frauen brauchen; es wird endlos darüber geredet, der Egoismus gestärkt, sich darauf konzentriert, wie man im Sex Befriedigung findet, wie man die Zwanghaftigkeit vermeidet. Die Bemühung, in der Liebe Erfolg zu finden, gängelt nicht nur die Liebe; sie führt zur banalen Konventionalität.
Alle Versuche, die Liebe zur Anpassung an die Regeln zu zwingen, ob es sich um psychologische, um religiöse, oder um soziale Regen handelt, bezwecken die Zügelung der Liebe zu unseren eigenen Zwecken. Unser Ego versucht, die Liebe gefangen zu nehmen. Wir wollen sie für uns selbst haben, damit wir uns wohl fühlen, die angenehme Empfindung statt der Realität erleben, und mit uns selbst zufrieden sind, anstatt sie in ihrer eigenen geheimnisvollen Weise wirken zu lassen, um die Welt zu verwandeln.
Der Mensch ist ein Werkzeug der Liebe, und sie selbst muss nach eigenem Gutdünken dieses Werkzeug bilden. Daher kommt es, dass der Mensch sich immer auf ihre Seite schlagen muss, egal was er ihretwegen durchzustehen hat. Der Zweck eines solchen Läuterungsprozesses ist, den Eintritt der Liebe in die weitere Welt zu ermöglichen. Indem wir so die Sache der Liebe voranbringen, machen wir bedeutende, von Freude, Trauer, Schmerz und Entzücken begleitete Verwandlungen durch. Es kann vorkommen, dass wir den einen oder den anderen Teilaspekt dieses Läuterungsprozesses mit dessen Endziel verwechseln. Wir mögen nämlich denken, dass der höchste Sinn und Zweck der Liebe in der Welt der ist, dass zwei Menschen sich lieben; das macht einen der bedeutenden Aspekte des Läuterungsprozesses schon aus, aber nicht dessen letztendlichen Zweck. Wenn die Liebe zwischen Menschen fließt, so kann sie auch in die Welt hineinfließen. Wenn aber der Fluss der Liebe auf das beschränkt ist, was zwischen zwei Menschen sich ereignen kann, so haben wir – auch dann, wenn es sich um deren höchsten, edelsten Ausdruck handeln sollte – unwissentlich die Liebe gefesselt.
[1] https://books.google.de/books?isbn=3843029067
Als Nächstes der fünfte Teil von K. VII: 'Schöpferische Liebe'