Kapitel VIII. Künstlerisch Leben
Wir haben gezeigt, wie das alles den Weg zu der Liebe öffnet: die Stärkung unserer Seelenkompetenzen; das Bewusstwerden der Furcht als Weltmacht; ein von der Herzgegend her geführtes Leben; die Beschützung unseres Bewusstseins vor den Attacken der Verdoppelung; die Pflege einer bildhaften Erkenntnisweise. Die Frage muss man aber auch stellen: Woran erkenne ich, dass solche Maßnahmen fruchtbar werden? Fruchtbar werden sie, wann immer ich meine Vorstellung, meine Phantasie ein wenig verschiebe. Diese Verschiebung beginnt dann, wenn unsere Begegnungen mit der Furcht beziehungsweise mit der Angst aufhören uns zu belasten und zu einem Weg werden, die Welt zu heiligen. Die Angst, die Furcht entweiht, profaniert, verflucht die Welt und sucht letztendlich, sie zu zerstören. Sich in bewusster Weise der Furcht und der Angst zu nähern regt uns dazu an, durch unsere Phantasie und unsere Vorstellungskraft etwas Schönes zu erschaffen. Daher sollten wir die Furcht bzw. die Angst nicht zu zerstören, sondern sie zu neutralisieren suchen.
Zwar kann die Liebe eine neue Welt schaffen und die Macht der Angst und der Furcht so gut wie aufheben; aber das kann sie nur indirekt tun: nämlich über die Schönheit, welche durch die Liebe inspiriert wird. Die Schönheit – hier wollen wir sie definieren als die Tat, künstlerisch zu leben – ist die in der Welt sichtbar gemachte Liebe. Wir können die Fähigkeit erwerben, sowohl durch unser Verhalten als auch durch unsere Gesinnung die Macht der Seele und die Macht des Geistes zur Offenbarung zu bringen. Ein Leben, das diese Offenbarung nicht nur in der Welt, sondern auch um der Welt willen bewirkt, ist ein künstlerisch geführtes Leben.
Durch Liebe zur Schönheit
Die Verschiebung in unserem Phantasieleben – vom Kämpfen gegen die Furcht zum hereinführen der Liebe in die Welt – kommt nicht davon her, dass wir in der Welt weniger Furcht oder Angst wahrnehmen. Sie kommt vielmehr davon her, dass wir mehr Schönheit wahrnehmen. Die Hässlichkeit ist der Überwurf, mit dem die Furcht und die Angst die Welt bedecken. Wenn wir also deren Präsenz entgegenwirken wollen, so müssen wir mit der Schönheit eine Verbindung eingehen. Wenn wir uns durch die Furcht, durch die Angst hindurcharbeiten und bis hin zur zentralen Bedeutung der Liebe kommen, kommen wir so selbstverständlich zur Schönheit, wie auf die Nacht die Morgendämmerung folgt.
Die Schönheit ist ein weitläufiger Begriff. Deshalb müssen wir, wenn wir uns mit ihr beschäftigen wollen, über ihre Auswirkungen nachdenken, anstatt ihr Wesen definieren zu wollen. Sie funktioniert zu allererst als eine Frage, als ein Wachrufen der Phantasie, durch die man die Tiefen des Seelenlebens verstehen kann. Haben wir einmal die Flut der Ängste ausgeräumt, die uns so sehr auf das Hässliche beschränkt, so werden wir einen neuen Raum innerhalb des Herzens finden. Dieser Herzensraum schwingt mit der Frage zusammen: Warum bin ich hier? Solange wir in Panik leben, können wir die Frage nicht hören. Wenn wir aber vorsichtig lauschen, so können wir das Stellen der Frage erfühlen, und zwar mit der Kontinuität unseres Herzschlags. In dieser Frage urständet überhaupt die Möglichkeit eines künstlerischen Lebens.
Wie sollen wir diese Schlüsselfrage beantworten? Das Leben bedeutet so viel für einen jeden von uns. Wer könnte das abstreiten? Nun, es gibt durchaus Menschen, die das tun würden. Die Lebensumstände, in denen sie stecken, könnten sie so etwas aussprechen lassen. Das ist die Furcht, die durch sie hindurch spricht. Wenn die Furcht das Leben der Seele dominiert, empfinden die Menschen keine Lebenslust mehr. Man räume diese Furcht auch nur ein wenig weg, so kehrt die Lebensfreude wieder zurück.
Soll die Antwort etwa so heißen: „Wir sind hier, um unser Glück zu suchen“? Vergebliche Mühe. Unser Glück wird stets flüchtig sein, insbesondere dann, wenn es an materiellen Wünschen und Begierden gebunden ist. Vielleicht glauben wir, wir wären hier, um uns auf das Leben im Jenseits vorzubereiten. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass wir jetzt Erdenwesen sind, und dass unser Leben hier einen Sinn haben muss. Vielleicht sind wir hier, weil die Erde uns braucht. Wenn wir von dem ausgehen, was unseren Sinnen begegnet, wenn wir davor anwesend sein können, so können wir die Erde als sakralen Ort erleben. Wenn wir in dieser Richtung die Schönheit suchen und vor allem Ehrfurcht haben, was uns umgibt, so beginnt die Liebe, ihren größeren Sinn und Zweck und auch ihre Erfüllung zu finden.
Es bedarf unserer Phantasie, wenn wir einsehen sollen, dass alles, was wir tun, die Schönheit erhöhen soll, die uns umgibt. Alle Ureinwohner der Welt verbringen ihr Leben auf der Erde mit dieser Art Ehrfurcht vor der Natur. In solchen Kulturen gilt die Erde nicht als eine Ansammlung beseelter und unbeseelter Wesen, sondern es gelten alle Gegenstände als mit einer eigenen Seele und einem eigenen Geist, mit einer eigenen Persönlichkeit begabt. Eine solche Auffassung ist nicht rückständig, sondern sie ergibt sich naturgemäß aus der Handlung, die Liebe in die Welt hinein freizusetzen. Die Art und Weise aber, wie wir selber mit der Schönheit verbinden, hängt von uns ab. So sehr wir auch andere Kulturen bewundern mögen: Deren Bemühungen können wir nicht eins zu eins reproduzieren.
Den Pfad zur Schönheit hin findet man in den Anstrengungen, die man aufwendet, sich handelnd mit dem um sich herum existierenden Heiligen zu verbinden. Aus dieser Perspektive ist die Schönheit eine aktive Präsenz – ist etwas, zu dem wir berufen werden – und kein passives Objekt, das darauf wartet, von uns gewertschätzt zu werden. Da das Wort Schönheit kann nicht auf eine einzige Bedeutung reduziert werden, daher sollten wir so anfangen, dass wir ein wenig Raum für den Ansatz schaffen, mit dem wir uns an sie herantreten. Unser Hauptanliegen ist weder die Kunst noch die Ästhetik noch die Schönheit der Naturwelt. Und dennoch können wir über eine künstlerische Lebensweise Entscheidendes dadurch lernen, dass wir einen allen Arten der Schönheit gemeinsamen Aspekt beschreiben.
Lasst uns mit der Schönheit der natürlichen Welt beginnen – die Schönheit eines Sonnenuntergangs, eines Regenbogens, eines in gelber Blütenpracht stehenden Ackers, eines durch den Wald rennenden Rehs, die Majestät eines schneebedeckten Berggipfels. Wenn etwas schön aussieht, liegt das daran, dass es mit dem Ganzen zusammengehört. Die Naturwelt funktioniert als ein Ganzes, indem jeder einzelne Gegenstand seinen eigenen Platz darin hat. Den Acker voller gelber Blumen sieht man im Kontext einer Landschaft; diese Landschaft wiederum existiert im Verhältnis zu anderen Landschaften; und der blaue Himmel ober drüber endet nicht bei den Grenzen des Ackers. Wenn man auf den Acker hinausgeht, einige Blumen abschneidet, und aus ihnen einen Strauß macht, den man zuhause auf den Tisch stellt, so gehören sie nach wie vor zu dem Regen, der auf sie gefallen ist, zum Boden, der sie genährt hat, und zu den Insekten, die sich von ihrem Pollen ernährt haben. Die Schönheit ist nichts an und für sich selbst Daseiendes, sondern sie leitet sich von diesen größeren Beziehungen ab. Wenn wir mit Ehrfurcht auf einen Löwen im Zoo blicken, so ist dies nur eine schattenhafte Spiegelung der Schönheit des Löwen in seiner natürlichen Umgebung. Wir erkennen das zwar kaum, doch ist es so.
Sowohl der Blumenstrauß in der Vase als auch der Löwe im Zoo sind aus ihrem lebenden Zusammenhang entnommen worden. Deren Schönheit verschwindet nur deshalb nicht ganz, weil sie noch hier in der Welt sind und zu dem Ganzen gehören, innerhalb dessen sie sich nach wie vor befinden. Diese Schönheit können sie allerdings verlieren, wenn wir nicht an sie so herantreten, dass wir auch ihren Kontext ehren. Wir wertschätzen die Blumen, indem wir sie in einer Handlung ästhetischer Phantasie anordnen. Eine solche Anordnung kann deren Schönheit steigern oder sie aber auch vermindern, sofern sie (die Anordnung) willkürlich getroffen ist.
In der gleichen Weise sind auch Menschen ein Teil des Ganzen. Wir existieren in einem Zusammenhang, in dem absolut alles enthalten ist. Wir funktionieren zwar als Individualitäten, sind aber keineswegs isoliert. Wir sind mit anderen Menschen, mit der Welt, mit dem weiteren Universum untrennbar verstrickt. Sogar unsere Leiber existieren nur als ein Netzwerk von Beziehungen; der Leib ist der Ort, von dem aus sich die Welt für uns öffnet. Wir stehen zur Luft, zum Pflanzen- sowie zum Tierleben, zu anderen Menschen, zur Sonne und dem Mond und den Sternen in Beziehung.
Unser Individualitäts-Empfinden ersteht ganz natürlich mit dem Entstehen des Ichbewusstseins zusammen. Nur dann, wenn die Angst eintritt mit dem Anliegen, unsere Gefühle des Abgetrenntseins zu verhärten und zu kristallisieren, beginnt diese Individualität sich wie Isoliertheit anzufühlen. Wenn wir uns vorstellen, dass wir weiter nichts als ein komplexes, auf die Weltbühne aufgepfropftes Objekt wären, verlieren wir ausgerechnet die Verbindungen, die das Leben der Seele aufrechterhalten. So möglich es ist, den Menschen rein logisch in solcher Isoliertheit zu konzipieren, so unfruchtbar ist es, in solcher Weise in der Welt zu leben.
Wir verlassen uns zu jeder Zeit auf ein Empfinden des Ganzen. Der Sinngehalt dieses Satzes zum Beispiel lässt sich nicht aus der Bedeutung jedes einzelnen, isolierten Wortes ableiten. Erst indem die Wörter in ihrer Beziehung zu einander gelesen werden, tritt der Sinngehalt des Satzes in Erscheinung. So ist also jedes einzelne Wort für seine jeweilige Bedeutung auf den ganzen Satz angewiesen. In gleicher Weise sind wir beim Aufwachen jeden Morgen auch dann Teil einer ganzheitlichen Welt, wenn wir die Bedeutung dieser Welt nur durch den Zusammenhang ihrer mannigfaltigen Teile spüren. Indem wir die Bedeutung der Ganzheit entdecken, wird wiederum das Ganze ein Aspekt unserer Wahrnehmung der Teile. Dieses imaginativen Bewusstsein der Teil-Ganzheit-Wahrnehmung ist der Schlüssel zum Erleben der Schönheit.
Kunst ist etwas anderes als die Schönheit der Naturwelt. Ein Kunstwerk existiert ganz für sich. Manche werden behaupten, ein Kunstwerk existiere nur innerhalb des Kontextes aller anderen Kunstwerke so, wie die Blume auf dem Acker in ihrer Beziehung zu allen anderen Lebewesen der Naturwelt. Dem ist nicht so. Ein Gemälde etwa ist eine komplette, einzigartige Welt für sich. Jeder wahre Maler weiß das. Ein Maler kann nicht die Teile eines Gemäldes in Isolierung malen – er muss mit dem ganzen Bild im Sinne malen. Einem Anfänger fällt dies schwer, weil es einen andersartigen Bewusstseinsmodus verlangt. Der Maler macht zwar einen Pinselstrich nach dem anderen, aber das endgültige Gemälde besteht aus mehr als die Anhäufung dieser Teile. Ein wahrer Maler weiß, wann er einen verkehrten Pinselstrich gemacht hat; er erkennt, wenn er da hineinverfallen ist, bloß einen Baum zu malen, anstatt eine Landschaft. Außerdem: In der Naturwelt existiert die Ganzheit bereits, aber in einem Kunstwerk muss sie erst geschaffen werden.
Die Vorstellung, dass Ganzheit oder Schönheit nur in einer transzendenten Welt existiert, steht zum tatsachlichen Schaffensmodus des Künstlers in Widerspruch. Bei der Kunst geht es nicht darum, die imaginative Welt zur Wirklichkeit zu machen. Der Künstler nimmt das, was wirklich ist, und verleiht ihm eine imaginative Form. In der Kunst wird nicht die imaginative Welt wirklich gemacht; es wird vielmehr das Wirkliche in die Sphäre des Imaginativen erhoben.[1] Ein künstlerisches Bild, das von dessen sinnenfälliger Darstellung separat wäre, gibt es nicht.
Die Kunst existiert nicht zum bloßen Vergnügen, und in dem Moment, in dem sie das zu tun versucht, verfällt sie in die Dekadenz. Durch Kunst erleben wir eine spirituelle Lust durch die Anwesenheit von etwas vollkommen Sinnlichem. Ein solches künstlerisches Phänomen hat eine befriedigende Wirkung, weil es sowohl ein sinnenfälliger Gegenstand als auch eine bildhafte Darbietung von seelischen und geistigen Eigenschaften ist. die Schönheit im Kunstwerk ist stets etwas Reelles und Direktes. Kunst weist nicht bloß auf Schönheit hin; weil sie sinnlich ist, ist sie vielmehr eine direkte Verbindung zur Welt der Seele.
Die meisten Theorien des künstlerischen Schaffens verwechseln den Impuls der Kunst mit dem der Religion. Die Herangehensweise solcher Theorien an das künstlerische Schaffen ist so, wie wenn es in der Offenbarung urständen würde, ob von oben aus den Himmeln oder von innen aus den Tiefen der Seele. Wäre das so, so könnte ein Kunstwerk niemals etwas Befriedigendes sein, da zwischen der Offenbarung und deren Ausdruck eine ungeheure Kluft existiert. Genauso, wie wenn wir eine Einsicht haben und versuchen, dieselbe mit Wörtern zu vermitteln und dabei die Unzulänglichkeit unserer Wörter empfinden, in derselben Weise wird die Vorstellung, aus der geistigen Welt eine Inspiration auf die Erde herunter zu bringen, immer zu Gefühlen künstlerischer Unzulänglichkeit führen.
Wir könnten uns die Religion und die Kunst als zwei Strömungen vorstellen, die in entgegengesetzte Richtung wirken. Religion fußt auf geistige Offenbarungen, die zu Texten und Ritualien kodiert werden. Die Kunst, wenigstens so, wie sie in unserer Zeit existiert, fußt auf menschlichen Bemühungen, unsere Sinneserfahrung in die Geisteswelten zu erheben. Rudolf Steiner spricht von einem „umgekehrten Kultus“. Damit meint er im Grunde genommen, dass es Aufgabe des Künstlers ist, aus sinnenfälligen Stoffen Spirituelles zu erschaffen, während die Aufgabe der Religion die ist, die Seelen- in die Geistreiche zum sinnlichen Ausdruck zu bringen.
Unsere Aufgabe, uns selbst ganz zu machen, gleicht eher dem künstlerischen Modell des Schaffens, als dem religiösen Modell. Das Interesse der meisten Menschen an einer Seelenarbeit entstammt einem religiösen Bedürfnis, da solche Menschen die organisierte Religion als Weg zur Pflege der eigenen individuellen Seele aufgegeben haben. Die Arbeit C. G. Jungs zum Beispiel entwuchs seinen Schwierigkeiten mit der Religion, die ihn dazu führten, für die Psyche eine spirituelle Grundlage herzustellen. Junge meinte, dass man, anstatt Predigten zu hören, den eigenen Träumen lauschen und daran arbeiten sollte, die inneren Götter zu erkennen, die durch Urbilder offenbar werden.
Ich könnte mir denken – so sehr kontrovers es auch herüberkommen mag –, dass die Psychologie Jungs bisher weder einen besonders starken Beitrag zum Hereinbringen der Schönheit in die Welt geleistet hat, noch dass sie in Zukunft einen solchen leisten wird. Zwar hat die Psychologie das Potential, die religiöse Empfindsamkeit zu erneuern, aber sie hat so gut wie keine Auswirkung darauf, in der Welt Schönheit zu erschaffen. Eine Jung’sche Architektur, dramatische Kunst, Dichtung, Musik oder sonstige, seiner Arbeit entstammende künstlerische Form gibt es nicht. Mit seiner Studie über Alchemie kam er dem Verstehen einer weltorientierten Seelenarbeit zwar sehr nahe; aber auch hier verfehlte er das Ziel, da er nicht sehen konnte, dass die Alchemie eine Kunst ist, die es mit wirklichen, sinnenfälligen Stoffen und mit deren Verwandlung durch menschliches Einwirken zu tun hat. Er legte keinen Wert darauf, was die Alchemisten tatsächlich taten, sondern betrachtete lediglich ihre psychische Beschaffenheit.
Es geht mir nicht darum, Jung – geschweige denn die Tiefenpsychologie überhaupt – abzutun. Seine Beobachtungsgabe war eine hoch entwickelte, und wir sollen ihm eher für seine Wissenschaftlichkeit und seine Beharrlichkeit, durch Beobachtung zu erkennen, dankbar sein, als für seine mystischen Neigungen. Dieser Aspekt Jungs ist für jede wahre Seelenarbeit vorbildlich. Die richtige Herangehensweise an die Frage, wie wir uns zu ganzen Menschen machen, hängt ganz von der Fähigkeit sorgfältig zu Beobachten ab.
[1] Michael Howard, ed., Art as Spiritual Activity: Rudolf Steiner’s Contribution to the Visual Arts (Hudson, NY: Anthroposophic Press, 1998).
Nächster Teil von K. VIII: "Ein Weg zum künstlerischen Leben"
Wir haben gezeigt, wie das alles den Weg zu der Liebe öffnet: die Stärkung unserer Seelenkompetenzen; das Bewusstwerden der Furcht als Weltmacht; ein von der Herzgegend her geführtes Leben; die Beschützung unseres Bewusstseins vor den Attacken der Verdoppelung; die Pflege einer bildhaften Erkenntnisweise. Die Frage muss man aber auch stellen: Woran erkenne ich, dass solche Maßnahmen fruchtbar werden? Fruchtbar werden sie, wann immer ich meine Vorstellung, meine Phantasie ein wenig verschiebe. Diese Verschiebung beginnt dann, wenn unsere Begegnungen mit der Furcht beziehungsweise mit der Angst aufhören uns zu belasten und zu einem Weg werden, die Welt zu heiligen. Die Angst, die Furcht entweiht, profaniert, verflucht die Welt und sucht letztendlich, sie zu zerstören. Sich in bewusster Weise der Furcht und der Angst zu nähern regt uns dazu an, durch unsere Phantasie und unsere Vorstellungskraft etwas Schönes zu erschaffen. Daher sollten wir die Furcht bzw. die Angst nicht zu zerstören, sondern sie zu neutralisieren suchen.
Zwar kann die Liebe eine neue Welt schaffen und die Macht der Angst und der Furcht so gut wie aufheben; aber das kann sie nur indirekt tun: nämlich über die Schönheit, welche durch die Liebe inspiriert wird. Die Schönheit – hier wollen wir sie definieren als die Tat, künstlerisch zu leben – ist die in der Welt sichtbar gemachte Liebe. Wir können die Fähigkeit erwerben, sowohl durch unser Verhalten als auch durch unsere Gesinnung die Macht der Seele und die Macht des Geistes zur Offenbarung zu bringen. Ein Leben, das diese Offenbarung nicht nur in der Welt, sondern auch um der Welt willen bewirkt, ist ein künstlerisch geführtes Leben.
Durch Liebe zur Schönheit
Die Verschiebung in unserem Phantasieleben – vom Kämpfen gegen die Furcht zum hereinführen der Liebe in die Welt – kommt nicht davon her, dass wir in der Welt weniger Furcht oder Angst wahrnehmen. Sie kommt vielmehr davon her, dass wir mehr Schönheit wahrnehmen. Die Hässlichkeit ist der Überwurf, mit dem die Furcht und die Angst die Welt bedecken. Wenn wir also deren Präsenz entgegenwirken wollen, so müssen wir mit der Schönheit eine Verbindung eingehen. Wenn wir uns durch die Furcht, durch die Angst hindurcharbeiten und bis hin zur zentralen Bedeutung der Liebe kommen, kommen wir so selbstverständlich zur Schönheit, wie auf die Nacht die Morgendämmerung folgt.
Die Schönheit ist ein weitläufiger Begriff. Deshalb müssen wir, wenn wir uns mit ihr beschäftigen wollen, über ihre Auswirkungen nachdenken, anstatt ihr Wesen definieren zu wollen. Sie funktioniert zu allererst als eine Frage, als ein Wachrufen der Phantasie, durch die man die Tiefen des Seelenlebens verstehen kann. Haben wir einmal die Flut der Ängste ausgeräumt, die uns so sehr auf das Hässliche beschränkt, so werden wir einen neuen Raum innerhalb des Herzens finden. Dieser Herzensraum schwingt mit der Frage zusammen: Warum bin ich hier? Solange wir in Panik leben, können wir die Frage nicht hören. Wenn wir aber vorsichtig lauschen, so können wir das Stellen der Frage erfühlen, und zwar mit der Kontinuität unseres Herzschlags. In dieser Frage urständet überhaupt die Möglichkeit eines künstlerischen Lebens.
Wie sollen wir diese Schlüsselfrage beantworten? Das Leben bedeutet so viel für einen jeden von uns. Wer könnte das abstreiten? Nun, es gibt durchaus Menschen, die das tun würden. Die Lebensumstände, in denen sie stecken, könnten sie so etwas aussprechen lassen. Das ist die Furcht, die durch sie hindurch spricht. Wenn die Furcht das Leben der Seele dominiert, empfinden die Menschen keine Lebenslust mehr. Man räume diese Furcht auch nur ein wenig weg, so kehrt die Lebensfreude wieder zurück.
Soll die Antwort etwa so heißen: „Wir sind hier, um unser Glück zu suchen“? Vergebliche Mühe. Unser Glück wird stets flüchtig sein, insbesondere dann, wenn es an materiellen Wünschen und Begierden gebunden ist. Vielleicht glauben wir, wir wären hier, um uns auf das Leben im Jenseits vorzubereiten. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass wir jetzt Erdenwesen sind, und dass unser Leben hier einen Sinn haben muss. Vielleicht sind wir hier, weil die Erde uns braucht. Wenn wir von dem ausgehen, was unseren Sinnen begegnet, wenn wir davor anwesend sein können, so können wir die Erde als sakralen Ort erleben. Wenn wir in dieser Richtung die Schönheit suchen und vor allem Ehrfurcht haben, was uns umgibt, so beginnt die Liebe, ihren größeren Sinn und Zweck und auch ihre Erfüllung zu finden.
Es bedarf unserer Phantasie, wenn wir einsehen sollen, dass alles, was wir tun, die Schönheit erhöhen soll, die uns umgibt. Alle Ureinwohner der Welt verbringen ihr Leben auf der Erde mit dieser Art Ehrfurcht vor der Natur. In solchen Kulturen gilt die Erde nicht als eine Ansammlung beseelter und unbeseelter Wesen, sondern es gelten alle Gegenstände als mit einer eigenen Seele und einem eigenen Geist, mit einer eigenen Persönlichkeit begabt. Eine solche Auffassung ist nicht rückständig, sondern sie ergibt sich naturgemäß aus der Handlung, die Liebe in die Welt hinein freizusetzen. Die Art und Weise aber, wie wir selber mit der Schönheit verbinden, hängt von uns ab. So sehr wir auch andere Kulturen bewundern mögen: Deren Bemühungen können wir nicht eins zu eins reproduzieren.
Den Pfad zur Schönheit hin findet man in den Anstrengungen, die man aufwendet, sich handelnd mit dem um sich herum existierenden Heiligen zu verbinden. Aus dieser Perspektive ist die Schönheit eine aktive Präsenz – ist etwas, zu dem wir berufen werden – und kein passives Objekt, das darauf wartet, von uns gewertschätzt zu werden. Da das Wort Schönheit kann nicht auf eine einzige Bedeutung reduziert werden, daher sollten wir so anfangen, dass wir ein wenig Raum für den Ansatz schaffen, mit dem wir uns an sie herantreten. Unser Hauptanliegen ist weder die Kunst noch die Ästhetik noch die Schönheit der Naturwelt. Und dennoch können wir über eine künstlerische Lebensweise Entscheidendes dadurch lernen, dass wir einen allen Arten der Schönheit gemeinsamen Aspekt beschreiben.
Lasst uns mit der Schönheit der natürlichen Welt beginnen – die Schönheit eines Sonnenuntergangs, eines Regenbogens, eines in gelber Blütenpracht stehenden Ackers, eines durch den Wald rennenden Rehs, die Majestät eines schneebedeckten Berggipfels. Wenn etwas schön aussieht, liegt das daran, dass es mit dem Ganzen zusammengehört. Die Naturwelt funktioniert als ein Ganzes, indem jeder einzelne Gegenstand seinen eigenen Platz darin hat. Den Acker voller gelber Blumen sieht man im Kontext einer Landschaft; diese Landschaft wiederum existiert im Verhältnis zu anderen Landschaften; und der blaue Himmel ober drüber endet nicht bei den Grenzen des Ackers. Wenn man auf den Acker hinausgeht, einige Blumen abschneidet, und aus ihnen einen Strauß macht, den man zuhause auf den Tisch stellt, so gehören sie nach wie vor zu dem Regen, der auf sie gefallen ist, zum Boden, der sie genährt hat, und zu den Insekten, die sich von ihrem Pollen ernährt haben. Die Schönheit ist nichts an und für sich selbst Daseiendes, sondern sie leitet sich von diesen größeren Beziehungen ab. Wenn wir mit Ehrfurcht auf einen Löwen im Zoo blicken, so ist dies nur eine schattenhafte Spiegelung der Schönheit des Löwen in seiner natürlichen Umgebung. Wir erkennen das zwar kaum, doch ist es so.
Sowohl der Blumenstrauß in der Vase als auch der Löwe im Zoo sind aus ihrem lebenden Zusammenhang entnommen worden. Deren Schönheit verschwindet nur deshalb nicht ganz, weil sie noch hier in der Welt sind und zu dem Ganzen gehören, innerhalb dessen sie sich nach wie vor befinden. Diese Schönheit können sie allerdings verlieren, wenn wir nicht an sie so herantreten, dass wir auch ihren Kontext ehren. Wir wertschätzen die Blumen, indem wir sie in einer Handlung ästhetischer Phantasie anordnen. Eine solche Anordnung kann deren Schönheit steigern oder sie aber auch vermindern, sofern sie (die Anordnung) willkürlich getroffen ist.
In der gleichen Weise sind auch Menschen ein Teil des Ganzen. Wir existieren in einem Zusammenhang, in dem absolut alles enthalten ist. Wir funktionieren zwar als Individualitäten, sind aber keineswegs isoliert. Wir sind mit anderen Menschen, mit der Welt, mit dem weiteren Universum untrennbar verstrickt. Sogar unsere Leiber existieren nur als ein Netzwerk von Beziehungen; der Leib ist der Ort, von dem aus sich die Welt für uns öffnet. Wir stehen zur Luft, zum Pflanzen- sowie zum Tierleben, zu anderen Menschen, zur Sonne und dem Mond und den Sternen in Beziehung.
Unser Individualitäts-Empfinden ersteht ganz natürlich mit dem Entstehen des Ichbewusstseins zusammen. Nur dann, wenn die Angst eintritt mit dem Anliegen, unsere Gefühle des Abgetrenntseins zu verhärten und zu kristallisieren, beginnt diese Individualität sich wie Isoliertheit anzufühlen. Wenn wir uns vorstellen, dass wir weiter nichts als ein komplexes, auf die Weltbühne aufgepfropftes Objekt wären, verlieren wir ausgerechnet die Verbindungen, die das Leben der Seele aufrechterhalten. So möglich es ist, den Menschen rein logisch in solcher Isoliertheit zu konzipieren, so unfruchtbar ist es, in solcher Weise in der Welt zu leben.
Wir verlassen uns zu jeder Zeit auf ein Empfinden des Ganzen. Der Sinngehalt dieses Satzes zum Beispiel lässt sich nicht aus der Bedeutung jedes einzelnen, isolierten Wortes ableiten. Erst indem die Wörter in ihrer Beziehung zu einander gelesen werden, tritt der Sinngehalt des Satzes in Erscheinung. So ist also jedes einzelne Wort für seine jeweilige Bedeutung auf den ganzen Satz angewiesen. In gleicher Weise sind wir beim Aufwachen jeden Morgen auch dann Teil einer ganzheitlichen Welt, wenn wir die Bedeutung dieser Welt nur durch den Zusammenhang ihrer mannigfaltigen Teile spüren. Indem wir die Bedeutung der Ganzheit entdecken, wird wiederum das Ganze ein Aspekt unserer Wahrnehmung der Teile. Dieses imaginativen Bewusstsein der Teil-Ganzheit-Wahrnehmung ist der Schlüssel zum Erleben der Schönheit.
Kunst ist etwas anderes als die Schönheit der Naturwelt. Ein Kunstwerk existiert ganz für sich. Manche werden behaupten, ein Kunstwerk existiere nur innerhalb des Kontextes aller anderen Kunstwerke so, wie die Blume auf dem Acker in ihrer Beziehung zu allen anderen Lebewesen der Naturwelt. Dem ist nicht so. Ein Gemälde etwa ist eine komplette, einzigartige Welt für sich. Jeder wahre Maler weiß das. Ein Maler kann nicht die Teile eines Gemäldes in Isolierung malen – er muss mit dem ganzen Bild im Sinne malen. Einem Anfänger fällt dies schwer, weil es einen andersartigen Bewusstseinsmodus verlangt. Der Maler macht zwar einen Pinselstrich nach dem anderen, aber das endgültige Gemälde besteht aus mehr als die Anhäufung dieser Teile. Ein wahrer Maler weiß, wann er einen verkehrten Pinselstrich gemacht hat; er erkennt, wenn er da hineinverfallen ist, bloß einen Baum zu malen, anstatt eine Landschaft. Außerdem: In der Naturwelt existiert die Ganzheit bereits, aber in einem Kunstwerk muss sie erst geschaffen werden.
Die Vorstellung, dass Ganzheit oder Schönheit nur in einer transzendenten Welt existiert, steht zum tatsachlichen Schaffensmodus des Künstlers in Widerspruch. Bei der Kunst geht es nicht darum, die imaginative Welt zur Wirklichkeit zu machen. Der Künstler nimmt das, was wirklich ist, und verleiht ihm eine imaginative Form. In der Kunst wird nicht die imaginative Welt wirklich gemacht; es wird vielmehr das Wirkliche in die Sphäre des Imaginativen erhoben.[1] Ein künstlerisches Bild, das von dessen sinnenfälliger Darstellung separat wäre, gibt es nicht.
Die Kunst existiert nicht zum bloßen Vergnügen, und in dem Moment, in dem sie das zu tun versucht, verfällt sie in die Dekadenz. Durch Kunst erleben wir eine spirituelle Lust durch die Anwesenheit von etwas vollkommen Sinnlichem. Ein solches künstlerisches Phänomen hat eine befriedigende Wirkung, weil es sowohl ein sinnenfälliger Gegenstand als auch eine bildhafte Darbietung von seelischen und geistigen Eigenschaften ist. die Schönheit im Kunstwerk ist stets etwas Reelles und Direktes. Kunst weist nicht bloß auf Schönheit hin; weil sie sinnlich ist, ist sie vielmehr eine direkte Verbindung zur Welt der Seele.
Die meisten Theorien des künstlerischen Schaffens verwechseln den Impuls der Kunst mit dem der Religion. Die Herangehensweise solcher Theorien an das künstlerische Schaffen ist so, wie wenn es in der Offenbarung urständen würde, ob von oben aus den Himmeln oder von innen aus den Tiefen der Seele. Wäre das so, so könnte ein Kunstwerk niemals etwas Befriedigendes sein, da zwischen der Offenbarung und deren Ausdruck eine ungeheure Kluft existiert. Genauso, wie wenn wir eine Einsicht haben und versuchen, dieselbe mit Wörtern zu vermitteln und dabei die Unzulänglichkeit unserer Wörter empfinden, in derselben Weise wird die Vorstellung, aus der geistigen Welt eine Inspiration auf die Erde herunter zu bringen, immer zu Gefühlen künstlerischer Unzulänglichkeit führen.
Wir könnten uns die Religion und die Kunst als zwei Strömungen vorstellen, die in entgegengesetzte Richtung wirken. Religion fußt auf geistige Offenbarungen, die zu Texten und Ritualien kodiert werden. Die Kunst, wenigstens so, wie sie in unserer Zeit existiert, fußt auf menschlichen Bemühungen, unsere Sinneserfahrung in die Geisteswelten zu erheben. Rudolf Steiner spricht von einem „umgekehrten Kultus“. Damit meint er im Grunde genommen, dass es Aufgabe des Künstlers ist, aus sinnenfälligen Stoffen Spirituelles zu erschaffen, während die Aufgabe der Religion die ist, die Seelen- in die Geistreiche zum sinnlichen Ausdruck zu bringen.
Unsere Aufgabe, uns selbst ganz zu machen, gleicht eher dem künstlerischen Modell des Schaffens, als dem religiösen Modell. Das Interesse der meisten Menschen an einer Seelenarbeit entstammt einem religiösen Bedürfnis, da solche Menschen die organisierte Religion als Weg zur Pflege der eigenen individuellen Seele aufgegeben haben. Die Arbeit C. G. Jungs zum Beispiel entwuchs seinen Schwierigkeiten mit der Religion, die ihn dazu führten, für die Psyche eine spirituelle Grundlage herzustellen. Junge meinte, dass man, anstatt Predigten zu hören, den eigenen Träumen lauschen und daran arbeiten sollte, die inneren Götter zu erkennen, die durch Urbilder offenbar werden.
Ich könnte mir denken – so sehr kontrovers es auch herüberkommen mag –, dass die Psychologie Jungs bisher weder einen besonders starken Beitrag zum Hereinbringen der Schönheit in die Welt geleistet hat, noch dass sie in Zukunft einen solchen leisten wird. Zwar hat die Psychologie das Potential, die religiöse Empfindsamkeit zu erneuern, aber sie hat so gut wie keine Auswirkung darauf, in der Welt Schönheit zu erschaffen. Eine Jung’sche Architektur, dramatische Kunst, Dichtung, Musik oder sonstige, seiner Arbeit entstammende künstlerische Form gibt es nicht. Mit seiner Studie über Alchemie kam er dem Verstehen einer weltorientierten Seelenarbeit zwar sehr nahe; aber auch hier verfehlte er das Ziel, da er nicht sehen konnte, dass die Alchemie eine Kunst ist, die es mit wirklichen, sinnenfälligen Stoffen und mit deren Verwandlung durch menschliches Einwirken zu tun hat. Er legte keinen Wert darauf, was die Alchemisten tatsächlich taten, sondern betrachtete lediglich ihre psychische Beschaffenheit.
Es geht mir nicht darum, Jung – geschweige denn die Tiefenpsychologie überhaupt – abzutun. Seine Beobachtungsgabe war eine hoch entwickelte, und wir sollen ihm eher für seine Wissenschaftlichkeit und seine Beharrlichkeit, durch Beobachtung zu erkennen, dankbar sein, als für seine mystischen Neigungen. Dieser Aspekt Jungs ist für jede wahre Seelenarbeit vorbildlich. Die richtige Herangehensweise an die Frage, wie wir uns zu ganzen Menschen machen, hängt ganz von der Fähigkeit sorgfältig zu Beobachten ab.
[1] Michael Howard, ed., Art as Spiritual Activity: Rudolf Steiner’s Contribution to the Visual Arts (Hudson, NY: Anthroposophic Press, 1998).
Nächster Teil von K. VIII: "Ein Weg zum künstlerischen Leben"