Immerwährende Ängste mit neuem Stachel: Geld, Beziehungen, Leiden und Tod
Wenn uns Furcht eingejagt wird, so besteht ein Großteil dieser Furcht in der Erwartung irgendeines uns unbekannten Ereignisses. Diese Erwartungshaltung stammt nicht vom Denken daran, dass uns etwas unmittelbar bevorsteht; in einer von akuter Furcht getriebenen Verfassung sind wir unter Umständen zu klarem Denken nicht einmal in der Lage. Die Erwartungshaltung erleben wir vielmehr direkt im Körper. Befinden wir uns mitten in einer erschreckenden Begebenheit, so ist es die körperliche Vorwegnahme dessen, was als Nächstes eintreten mag, was den Schrecken aufrechterhält. Die körperliche Empfindung des Terrors lässt außer der gesteigerten Intensität der Panik keine weiteren Vorstellungen von dem zu, was geschehen könnte.
Furcht verengt das Seelenleben, indem sie die Aussicht auf eine offene Zukunft verdrängt. Das Anliegen der bisher beschriebenen Vorstellungsübungen ist die Wiederherstellung der Fähigkeit, für sich eine Zukunft innerlich auszumalen. Die Hauptcharakteristik dieser Übungen ist ihre bewusste bildschaffende Tätigkeit. Das bewusste Erzeugen solcher Bilder wirkt ausgleichend auf die Ängste aus, von denen sämtliche Sektoren des Lebens befallen sind.
Dieser Weg des Erschaffens einer Offenheit für die Zukunft unterscheidet sich erheblich von Praktiken, die dem sich-Abwenden von Problemen dienen, die die Welt als wunderschön vorstellen und die die Güte des Universums bejahen. Dieser Weg möchte vielmehr zum klaren Verstehen des Wesens unserer Ängste anregen, und er möchte, dass wir das Schaffen von Bildern üben. Und zwar üben wir gerade nicht so, als gäbe es solche Furcht nicht. Diese Übungen im Bilderschaffen stellen sicher, dass unser Innenleben nicht von unseren Befürchtungen ausgeschaltet wird; sie verlangen und fördern zugleich eine aktive, bewusste Anstrengung.
Viele der Befürchtungen, die uns gegenwärtig zusetzen, haben mit den schnellen, ja drastischen Veränderungen in unseren Lebenszusammenhängen zu tun. Wir wollen uns mit drei solchen drastisch sich verändernden Zusammenhängen befassen, und zwar mit
Bemüht man sich um einen seelischen Umgang mit diesen Erfahrungsbereichen, so werden ungeheure Ängste hervorgerufen.
Ängste um Geld herum
Betty S. Flowers, Schriftstellerin und Sozialtheoretikerin, hat über die spezifisch mythischen Themen in Amerika geschrieben sowie auch darüber, wie diese Themen in einer Phase drastischer Überholung begriffen sind.[1] Sie behauptet, dass es bis vor kurzer Zeit drei Mythen gegeben hat, durch die Amerika gelenkt wurde. Unter „Mythos“ versteht sie die Bild-Kontexte, anhand derer das menschliche Leben definiert wird, die Begriffe, die unserem Dasein einen Sinn verleihen und unsere Handlungsmuster in der Welt bestimmen.
Der erste von Betty Flowers identifizierte Mythos ist der heroische Mythos des „rugged Individualism“ (= krasser Individualismus): Man stammt aus bescheidenem Ursprung; ganz aus eigenen Kräften bringt man es zu etwas im Leben; stellt sich dem Unbekannten; erbringt Opfer; steigt auf; gibt schließlich etwas an die Allgemeinheit zurück. Mit diesem Mythos war es mit dem Ende des Vietnam-Kriegs aus, denn als die heldenhaften Krieger heimkehrten, erhielten sie keine Anerkennung und kein Willkommen, die ihnen vermittelt hätte, dass ihr Leiden und ihre Opfer für die gesamte Gesellschaft von tiefer Bedeutung sind. Man versuchte, mit Operation Desert Storm diesen Mythos wiederzubeleben, aber die Amerikaner haben nicht so ganz daran geglaubt, da hinter dem Golfkrieg eine starke wirtschaftliche Motivation steckte.
Der zweite Mythos, von dem Flowers sagte, dass er uns als Gemeinschaft erst zusammengebracht habe, ist der Mythos von Amerika als „das gelobte Land“, als „das Licht der Nationen“. Außer der Christian Coalition of America getraut sich heute kaum jemand mehr, der eine öffentliche Führungsrolle bekleidet, die Sprache dieses Mythos zu verwenden. Müssten sie doch befürchten, eine große Spannweite der religiösen Vielfalt dieses Landes zu kränken. Als vor Jahren Präsident Clinton versuchte, durch die Rede vom „Schließen eines Bundes“ (eine im Wesentlichen religiöse Art des Redens) die amerikanische Bevölkerung hinter sich zu bekommen, wurde er nicht gehört. Die Republikaner aber verwendeten eine andere Metapher, die eines „Vertrags mit Amerika“. Diese juristisch, geschäftlich klingende Metapher hatte dadurch Kraft, dass sie auf eine anders geartete Veränderung unseres Vorstellungslebens hinwies.
Die dritte Geschichte, die keine Geltung mehr hat, ist der Mythos der Demokratie. Der Mythos der Demokratie besagt, dass jedermann die gleiche Chance und eine gleichwertige Stimme habe, dass es für alle Freiheit und Gerechtigkeit gebe. Inzwischen sind wir dabei, in schmerzhafter Weise zu erkennen, wie die Chancen, die man im Leben hat, durch den eigenen sozioökonomischen Status bestimmt werden; wie die Gerechtigkeit davon abhängt, ob man das Geld hat, um teure Anwälte zu bezahlen. Das gemeinsame Wohl ist durch das Eigeninteresse ersetzt worden.
Der vorherrschende Mythos, innerhalb dessen wir alle jetzt leben, ist ein ökonomischer Mythos. Das, was wir tun, die Art, wie wir leben und das, was wir wertschätzen wird größtenteils durch Geldwert bestimmt. Zwar hatte das Geld von je her eine ungeheure Macht, aber jetzt setzt es alle anderen Werte in den Schatten. Die Furcht um das Geld herum hat nicht nur mit dem Überleben zu tun, sondern auch mit dem Identitätsverlust, der eintritt, sofern man an diesen Mythos nicht glaubt. Wie alle auf einer polarisierenden Illusion basierenden Mythen besteht die Schwierigkeit des Wirtschaftsmythos darin, dass er die Seele außen vor lässt. Das Gewebe dieser Art, die Welt zu organisieren – es ist ein äußerst abstraktes Gewebe –, wird aus Statistiken, Umfragen, der Größe des Bruttonationalprodukts, aus der Inflationsrate, aus Produktionswachstum und sonstigen an der globalen Wirtschaft vorgenommenen Messungen zusammengesetzt. Dieses Gewebe enthält nichts, auf das sich die Seele beziehen kann, nichts, was auf einen Realitätsmodus in der äußeren Welt schließen lässt, nichts, was aus heiligen Bildern ersteht. Und in der Tat: Die Furcht, die sich hinter all dieser hohlen statistischen Rhetorik verbirgt, ist die Furcht, ohne eine geheiligte Sichtweise der Welt zu leben. Wirtschaftslehre kann, zumal in ihrem wortwörtlichen Sinne als „Pflege des Haushalts“, eine durchaus heilige Angelegenheit sein. Nicht auf die Wirtschaftswissenschaft an sich ist die Furcht zurückzuführen, sondern auf diejenige Art der Wirtschaft, die von der Fetischisierung des materiellen Wohlstands abhängt. Dennoch müssen wir die Frage stellen: Woher haben solche hohlen, statistischen Werte ihre große Macht?
Das Märchen der modernen Ökonomie vermag nicht, die Menschen als eine ganzheitliche Gemeinschaft zusammenzuhalten, und so beginnt die Welt, in die Eigentümer und die Enteigneten auseinanderzufallen. Die Grundlage der Furcht gibt stets die Trennung ab; und im Falle des Wirtschaftswesens findet solche Trennung zwischen den sozioökonomisch Ermächtigten und denen, die das eben nicht sind.
Die wirtschaftsbezogene Furcht hat auch mit der Art zu tun, wie die Menschen am Arbeitsplatz behandelt werden. Die Großunternehmens-Kultur behandelt den Einzelmenschen wie eine Geschäftseinheit. Diese Haltung zählt auf die Furcht, und fast alle Arbeit – ob man in einer Großfirma arbeitet oder nicht – ist von ihr befallen. Hier die Beschreibung einer Entlassungswelle in einer großen Firma:
Die Entlassungen wurden in quasi juristisch-effizienter und zugleich demütigender Weise durchgeführt. Es wurden zwei Sicherheitsbedienstete angestellt, um sicherzustellen, dass die Firma die Situation ja im Griff behält. In den Sitzungen, in denen den Menschen mit sofortiger Wirkung gekündigt wurde, las der Vizepräsident von einem im Voraus verfassten Kündigungsschreiben vor, und zwar für jeden Angestellten die gleiche Aussage. Als Nächstes wurde der Angestellte zu seinem Arbeitsplatz zurückgeleitet, wo ihm nur wenig Zeit gewährt wurde, seine Sachen zusammenzupacken. Dann wurde er zum Ausgang geleitet. Das alles wurde vor der übrigen Belegschaft durchgeführt.[2]
Dieses Bild zeigt die Art, wie die Furcht zu einem unvermeidbaren Teil der Kultur von Großunternehmen gemacht wird. Die so beschriebenen Entlassungen waren offensichtlich fein abgestimmt worden, um den zurückbleibenden Angestellten Angst zu machen. Wenn der Einzelmensch in dieser Weise von der Großfirma behandelt wird, hat die Seele keinen Platz im alltäglichen Betrieb. Die Arbeit wird auf die Banalität reduziert, die Wirtschaftsmaschinerie effizient am Laufen zu erhalten. Unsere persönlichen Begabungen und Fähigkeiten werden dazu benutzt, das in der Welt zu erfüllen (in der Regel größere Profite), was jemand anderes will. Auf die Kreativität unseres Geistes und die Tiefen der individuellen Seele müssen wir häufig verzichten, und das führt dazu, dass wir in einer Stimmung der Furcht arbeiten. Kreativität und Individualität beeinträchtigten ja die Effizienz und die Produktivität, obwohl auf lange Sicht diese Eigenschaften zu einem nachhaltigen, rentablen Geschäft maßgeblich beitragen. Um heutzutage im Geschäftsleben überleben zu können gilt es aber, kurzfristige Gewinne zu erzielen. Oft erhalten wir dafür, dass wir unsere Identität vergessen, weiter nichts als ein Gehalt. Ein erster, kleiner Schritt – etwas, was jeder tun kann, um zu sicherzustellen, dass er nicht um der Arbeit Willen seine eigene Seele veräußert – ist, jeden Tag eine Übung auszuführen, die auch in einer Arbeitsumgebung, die die Seele nur wenig ernährt, die Kräfte der eigenen Seele aufbaut.
Übung: Stelle dir eine Szene vor, die für deine Arbeit typisch ist. Du kannst zum Beispiel das Schreiben am Computer verbildlichen, oder das Unterrichten, oder das Erstellen eines juristischen Dokuments – je nachdem, worin deine Arbeit von Tag zu Tag besteht. Hast du einmal dieses innere Bild in stabiler Weise vor dir, löse es in eine Lichtkugel auf. Lasse als Nächstes die Lichtkugel sich als Gestalt neu bilden – als Gestalt eines Mannes oder einer Frau etwa, oder als irgendeine andere Gestalt, wie ein Troll oder ein Engel oder ein anderes Wesen. Richte als Nächstes die folgende Frage an diese Gestalt: „Was ist deine Arbeit in der Welt?“ Mache dir keine Gedanken darüber, ob du gerade frei etwas erfindest. Lass es einfach geschehen. Was sagt dir die Gestalt? Nachdem das Gespräch zu Ende ist, bedanke dich bei der Gestalt und lasse sie sich wieder in eine Lichtkugel auflösen; dann lasse das Licht sich wieder ins Bild deiner Arbeit zurückverwandeln. Dann öffne deine Augen. Diese Übung, in regelmäßigen Abständen ausgeführt, kann zu bemerkenswerten Ergebnissen führen. Du magst zum Beispiel feststellen, dass, obwohl dir deine Arbeit tagein, tagaus immer gleich vorkommt, die seelischen beziehungsweise geistigen Dimensionen dessen, was du tust, sich häufig verändern. Wer auf solche Veränderungen aufmerksam ist, für den erhält die Arbeit neues Leben. Es kann auch vorkommen, dass du die Entdeckung machst, dass das, von dem du meintest, dass du es tust, etwas gründlich Anderes ist, als das, was deine Seele und dein Geist tun.
Früher einmal war es so, dass wenn auf Klassenunterschiede basierte wirtschaftsbezogene Ängste das ganze Kulturleben dominierten, die Sachlage für eine blutige Revolution reif war. Das Anliegen einer Übung dieser Art ist die Herbeiführung einer inneren Revolution, deren Ziel der Erhalt der Seele ist. Die Gefahr, die das behandelt-Werden mit brutaler Anonymität in sich birgt, ist die, dass man vergisst, dass man mehr als eine bloße Funktion ist. Können wir aber trotz der schlimmen Umstände, die von dem Wirtschaftsmythos vorgeschrieben werden, eine innere Lebhaftigkeit der Seele und des Geistes aufrechterhalten, so bleibt uns die Möglichkeit erhalten, einen Mythos selber zu erschaffen, der rein ist und die Menschen liebevoll umfasst. Die vielen Male, die ich diese Übung mit Gruppen von Menschen ausgeführt habe, haben mir bewiesen, dass ein neuer Mythos tatsächlich im Entstehen ist, bei dem es um das selbstlose Dienen anderer Menschen geht. Die Berichte derer, die diese Übung gemacht haben, legt hiervon Zeugnis ab. Ein solcher Mensch, der als Drehbuchautor für eine populäre Kinder-Fernsehsendung arbeitete, stellte sich eine Szene vor, in der er an seinem Schreibtisch saß und ein Drehbuch schrieb. Als sich seine Arbeit in eine innere Gestalt verwandelte, sah er einen Engel, der ihm mitteilte, dass seine Aufgabe darin besteht, den Herzensmut in die Welt zu bringen. Dieser Schriftsteller war erstaunt und ein wenig überwältigt. Er sah das, was er seit Jahren machte, nunmehr in einem völlig neuen Licht. Eine andere Frau hielt ihre Arbeit dafür: den ganzen Tag Telefonate entgegenzunehmen. Als diese Arbeit zu einer inneren Gestalt wurde, sah sie eine großmütterliche Figur, die Menschen zu einem Festmahl einlädt, sowie eine Gruppe von Menschen, die am Tisch sitzen und köstlich speisen. Wer diese Übung ausführt, erlebt in der Regel Bilder, die mit dem Dienen zu tun haben. Anscheinend fühlt sich die Seele dann von der Furcht am freisten, wenn sie eine Vorstellung davon macht, wie sie für andere Menschen etwas tut. Die Seele empfindet den Ruf der echten Bedürfnisse anderer Menschen.
Es mag befremdlich wirken, dass man ausgerechnet durch Stärkung der Phantasie versucht, solchen überwältigenden Wirtschaftsängsten beizukommen. Sinn und Zweck der Übung ist es aber nicht, das Problem des Geldes und dessen Macht zu lösen. Es geht dabei um weiter nichts als die Bewahrung der Seele vor dem Verloren- und dem Vergessenwerden angesichts der Angst um das Geld herum. Wenn wir es schaffen, die Verbindung zwischen unserer Seele und unserer Arbeit zu erhalten, so wird die neu erschaffene Vorstellung unseres Arbeitslebens sehr viel beitragen zur Überwindung finanzieller Furcht.
Furchtgeladene Beziehungen
Beziehungen jeglicher Art sind heute von Besorgnis schwer belastet. Der Lehrer darf kein Kind berühren – nicht einmal in der reinsten, unschuldigsten Weise – aus Furcht vor Vorwürfen wegen sexuellen Missbrauchs. Bei der Arbeit muss man auf der Hut sein und ständig darauf achten, dass das, was man sagt, nicht als Belästigung interpretiert wird. Ein intimes Verhältnis kann zu gewalttätiger co-abhängiger Misshandlung werden. Ehen haben eine weniger als fünfzigprozentige Überlebenschance. Der Freund von heute wird zum erbitterten Feind morgen. Der Ehemann wendet sich gegen die Ehefrau, das Kind wendet sich gegen den Elternteil, der Elternteil wendet sich gegen das Kind.
Die Illusion, mit der wir leben, ist die, dass Beziehungen immer ein sicherer Hafen seien. Eine Beziehung empfindet man als eine Art Gefäß, als ein Behältnis, in dem wir ohne etwas vortäuschen zu müssen das sein können, was wir sind; als ein Ort, an dem wir uns verstanden und geschätzt fühlen, egal was andere denken mögen; als eine heilige Region, wo wir gestärkt werden können, uns der Härte der großen Welt stellen zu können. Wenn diese Eigenschaften nicht in der Beziehung gefunden werden, so gilt das Gefäß als defekt. Ganze Therapien wurden ersonnen, um aus Beziehungen das zu machen, von dem wir meinen, dass sie es sein sollten. Die Spannweite ist groß: Alle Gefühle durchsprechen; daran arbeiten, den radikalen Unterschied zwischen Mann und Frau zu verstehen; uns des inneren Bildes bewusst werden, das wir vom anderen Menschen in uns tragen. Nur wenige Therapien konzentrieren sich darauf, Menschen zur Einsicht zu verhelfen, dass Beziehungen an sich belastet sind und immer problematischer werden, und welch ein Wunder es ist, dass wir uns überhaupt auf sie einlassen.
Beziehungen bergen ihre Ängste in sich: die Möglichkeit des Verrats, der Untreue, des Missbrauchs, der Gleichgültigkeit, der Vernachlässigung, des Hasses, des sich-Ärgerns, der Rache, der Konkurrenz, der Erniedrigung, der Ausgelassenheit. Und doch setzen wir hohe, ja allzu hohe Erwartungen auf unsere besonderen Verbindungen mit anderen Menschen. Wir verlassen uns für unser Selbstwertgefühl auf diese Bindungen, ohne zu durchschauen, dass wir andere Menschen zu unseren eigenen Zwecken – was diese auch sein mögen – benutzen: ob in der Welt voranzukommen; unsere Lust zu befriedigen; unsere Angst vor der Einsamkeit zu vermindern; ein Gefühl der Sicherheit haben. Sogar der Akt des Gebens ist von dem belastet, was uns aus solchem Geben zuteilwird. So zynisch diese Sichtweise auch herüberkommen mag: Von ihr aus kann man eine „angstfreie“ Auffassungsweise hinsichtlich der Beziehungen erkunden. Die in dieser Sichtweise hervortretende Ehrlichkeit legt die intensive Furcht bloß, welche im Herzen der Beziehungen liegt: Wir fürchten uns nämlich davor, dass wir dass unsere „Liebefähigkeit“ nur darauf aus ist, für Taten der Liebe belohnt zu werden.
Die Annahme, dass es so etwas wie eine vollkommene Beziehung überhaupt gibt, ist falsch; folglich auch die Annahme, dass wenn wir eine vollkommene Beziehung nur erreichen könnten, wir wenigstens an dieser einen Stelle der Welt Frieden und Glückseligkeit finden würden. Stattdessen wollen wir damit beginnen, dass wir uns der offenbaren Tatsache des modernen Lebens stellen: Beziehungen werden immer schwieriger. Wir sollten uns fragen, wieso wir sie überhaupt eingehen. Anders formuliert: Worum geht es überhaupt, wenn wir einen anderen Menschen lieben? Wenn wir uns mit dieser Frage beschäftigen, erkennen wir, dass allein schon die Erwartung, angstfreie Beziehungen zu haben, der Angst den Zutritt zu unseren Verbindungen mit anderen Menschen erst ermöglicht. Denn diese Erwartung ist eine Illusion. Sie ist die illusorische Vorstellung des anderen Menschen als seelisch unversehrt und im Besitz einer idealen Vergangenheit; die Vorstellung dass, wenn wir nur die richtige Beziehung einmal geknüpft haben, wir von Trauma unberührt bleiben und alle unsere Probleme verschwinden werden. Diese Illusion ist die Öffnung, über die uns die Furcht erfasst und uns zu einer Verhaltensweise zwingt, die sicherstellen soll, dass wir von anderen Menschen das bekommen, was wir brauchen; die ferner zulässt, dass wir das spirituelle Grundelement der Beziehungspflege aus dem Auge verlieren welches darin besteht, dass wir Beziehungen nicht um unseretwillen knüpfen, sondern um dem anderen Menschen zu helfen. Wir können eine Verwandlung der soeben erwähnten Erwartungshaltung durch eine bestimmte Vorstellung in Gang bringen. Wir stellen uns nämlich vor, wir befänden uns in einer Beziehung mit jemandem, in der wir genau so sind, wie wir sind, und zwar mit allem, was wir hineinzubringen haben. Wie geht das wohl? Erstens indem wir eben nicht erwarten, dass die Beziehung unsere Vergangenheit heilen solle. Und zweitens indem wir uns Mühe geben, herauszufinden, wie wir aus dem eigenen Verwundetsein heraus lieben können.
Der Film Mary Reilly handelt von der Hausangestellten des Dr. Jekyll, also der Gestalt aus der Robert Louis Stevenson-Novelle „Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde“. Ein Großteil des Films besteht in Rückblenden, die das furchtbare Leben darstellen, welches Mary Reilly als Kind hatte. In den Rückblenden verhält sich der Vater schrecklich ihr gegenüber. Er trinkt, schlägt sie und wirft sie in eine enge, finstere Kammer zusammen mit einer in einem Sack befindlichen Ratte. Als dann die Ratte sich aus dem Sack herausbeißt, wird Mary von ihr zerbissen. Die Mutter von Mary ist sich der grausamen Behandlung halb bewusst, aber erst nachdem sie von der Ratte schwer verletzt wird, nimmt sie die Tochter und verlässt ihren Mann. Diese Geschichte erzählt Mary dem Dr. Jekyll, als er sie wegen der tiefen Narben ausfragt, die sie an ihren Armen und ihrem Hals trägt.
Mary lernt Dr. Jekyll lieben, aber es handelt sich um eine Liebe, die sich nicht in romantischer Weise ausdrückt. Jekyll ist gut zu ihr und erfährt im Lauf der Handlung immer mehr über sie. Als er sie fragt, ob sie ihren Vater hasst, verneint sie. Beim Begräbnis von Marys Mutter erscheint der Vater nach jahrelangem Fernbleiben einmal wieder und versucht, Mary wieder an sich zu binden. Sie vermag es, dieser zerstörerischen Anliegen auszuweichen, ohne ihn für das zu hassen, was er ihr angetan hatte.
Nach und nach kommt Mary darauf, dass Dr. Jekyll kein anderer ist, als der infame Mr. Hyde. Obwohl sie weiß, dass dieser viele Frauen grausam und blutig ermordet hat, legt sie ein erstaunliches Mitleid für Hyde an den Tag. Auch nach Mary gelüstet Hyde mit derselben nicht zu sättigenden Wollust, aus der heraus er andere Frauen gefoltert und getötet hat, und obwohl Mary sich vor ihm fürchtet, lässt sie sich von dieser Furcht nicht überwältigen. Ihre Liebe zu ihm zeigt sich darin, dass sie sich weigert, sich von ihm abzuwenden oder vor ihm zu fliehen. Diese Liebe ist so mächtig, dass sie ihn auf die Möglichkeit seiner eigenen Erlösung hoffen lässt.
Die Stimmung des Films ist es, was einen Großteil der Handlung trägt. Es tritt nichts Sentimentales ein, weder in der Beziehung zwischen Mary und ihrem Vater, noch in der Beziehung zwischen Mary und Jekyll/Hyde. Es entfaltet sich zwar eine Liebe, die aber keine konventionell-romantische Liebe ist. Spirituelle Liebe ist wohl eine bessere Bezeichnung, denn Mary geht es um die Seele Hydes. Den Film kennzeichnet zwar die Stimmung einer emotionalen Zurückhaltung; aber als ein Zurückhalten oder eine Unterdrückung der Emotion lässt sich die Eigenschaft dieser Stimmung nicht adäquat beschreiben; die Empfindung ist eher die einer Teilhabe an Emotionen, die aber nicht von letzteren getragen wird. Verlangen herrscht allerdings vor, ebenso Sympathie und Furcht. Der einzige aber, der hasst, ist Hyde, dessen Hass sich gänzlich gegen Hyde selbst richtet.
Es spielt sich in diesem Film mehr ab, als bloß eine weitere Ausführung einer Gruselgeschichte. Mit dieser Geschichte sehen wir eine neue Art, sich Beziehungen vorzustellen. Man nehme als Erstes zur Kenntnis, dass es Marys schwierige Kindheitserfahrungen mit ihrem Vater sind, was es ihr möglich macht, inmitten von Furcht zu lieben. Viele psychologische Ansätze gehen davon aus, dass Menschen mit Beziehungen im Erwachsenenlben sich deshalb schwer tun, weil sie in der Kindheit Ängste ausgestanden haben. In Mary Reilly liegt ein Bild vor, das diese Prämisse auf den Kopf stellt.
Ein wesentlicher Aspekt dieses Films ist die Stellung Marys als Dienerin. Das ist weit mehr als eine ergiebige Filmrolle; drückt es doch eine urbildliche Realität aus. Mary fristet ihr Dasein nämlich innerhalb des Dienens als Urbild. Ihre Arbeit ist mehr als ein bloßer Job. Sie repräsentiert ein Seinsmodus für ihre Seele; ja dieser Film handelt weitgehend vom selbstlosen Dienen. Das Bild deutet darauf hin, dass wenn wir uns von dieser Realität leiten lassen, die schlimmen Umstände unserer Vergangenheit uns nicht länger zurückhalten und stattdessen zu einem Gewinn für unsere zukünftigen Begegnungen werden. Dieses Bild eines selbstlosen Dienens muss man richtig verstehen. Die Grundlage eines solchen Dienens ist die gründliche Selbsterkenntnis, die Mary durch lange Jahre des Leidens erlangt haben muss. Wenn wir versuchen würden, ohne diese Grundlage anderen Menschen zu dienen, so ginge uns unsere Menschlichkeit ab. Wir werden nur das, was der andere will, dass wir seien. Dienen muss in jedem Fall ein freies Geschenk sein; um von sich selbst frei zu schenken, muss man erst wissen, wer man überhaupt ist.
Der Dienst, dem Mary sich hingibt, geht über das bloße Dienen ihres Herrn, des Gutsbesitzers, hinaus. In einer Szene sieht sie in den Hinterhof hinaus und bemerkt, dass es keine Pflanzen gibt. Sie bietet an, Blumen und Kräuter zu pflanzen und steht jeden morgen früh auf, um an der Verschönerung der Umgebung zu arbeiten, und zwar ohne Aussicht, dafür entlöhnt zu werden. Zu Beginn des Films sieht man, wie Mary die Kopfsteinpflaster vor dem Hauseingang wäscht. Sie steht nicht bloß im Dienst des Dr. Jekyll; ihr ganzes Leben besteht im Dienen. Ihr Dienst hat nicht die idealistische Note, die man einem Missionar oder einer Krankenschwester oder einem Arzt zuschreibt; auch hat er nicht den Idealismus einer romantischen Liebe. Mary dient nicht aus Idealismus, sondern weil Dienen das ist, womit ihr Lebensschicksal sie beschert hat.
Zwischenmenschliche Beziehungen sind im Wandel begriffen; ein neuer Sinn und Zweck des Lebens will in Erscheinung treten, der damit zu tun hat, dass man anderen Menschen dient. Herkömmliche Beziehungen, bei denen man anderen etwas gibt und dafür viel zurückbekommen muss, werden altmodisch. Wir glauben, die Schwierigkeiten, die wir in Beziehungen haben, seien darauf zurückzuführen, dass wir uns nicht in rechter Art auf sie einlassen. Leider wird durch eine solche Denkweise ein Daseinsmodus in ein technisches Problem verwandelt. Technik und Beziehungspflege haben wenig miteinander zu tun; es kommt vielmehr darauf an, dass wir wissen, wem wir dienen, und in welcher Sache. Heißt dienen, den Menschen, den wir lieben, von vorne bis hinten zu bedienen? Nein. Es heißt nicht, den Wünschen des anderen Menschen zu dienen, sondern dessen Seele. Der Umstand, dass Mary tief in die Seele des Dr. Jekyll hineinblickt, wird in diesem Film offenbar. Und die Seele des Dr. Jekyll ist Mr. Hyde. Nichts mehr und nichts weniger. Einen anderen Menschen zu lieben bedeutet, dessen finsterste Aspekte zu lieben, nicht bloß die Qualitäten, die am ansprechendsten sind.
Wenn die Befriedigung des eigenen Selbst zum Hauptfokus einer Beziehung wird, so läuft man Gefahr, sich in Mr. Hyde zu verwandeln. Und wenn Selbstbefriedigung mit romantischen Idealen, Sentimentalität oder religiöser Ideologie verbunden ist, werden diese falschen Vorwände zum perfekten Versteck für Wut, Hass, Gewalt und Furcht, die auf kurz oder lang ausbrechen.
Die Psychologie lehrt, dass es schlecht sei, in einer Beziehung dem anderen Menschen zu dienen. Man spricht da von der Co-Abhängigkeit und sagt, es gelte, sich zu allererst um sich selbst zu kümmern. Nach heutigen Maßstäben würde Mary ganz bestimmt als psychisch krank gelten. Der Unterschied zwischen Marys Zustand und einer psychischen Erkrankung ist, dass Mary auch dann weiß, was sie tut, wenn es sich bei ihr um kein intellektuelles Wissen handelt. Bei ihr geht es vielmehr um ein Herzenswissen. Sie fühlt sich zwar von Dr. Jekyll angezogen; aber ihre Liebe gilt Mr. Hyde. Wer ist Hyde in Wirklichkeit? Er ist die Seele des Dr. Jekyll.
Wenn ich mit jemandem therapeutisch arbeiten würde, worin würde in diesem Fall das Wesen des Helfens bestehen? Dessen Seele zu lieben und sie ohne Urteilen anzublicken, damit er rückhaltlos Liebe erfahren kann. Ich müsste die finstersten Regionen, die hässlichsten Orte, die schrecklichsten Dimensionen der Seele dieses Menschen betreten, und zwar ohne das geringste Urteilen oder Zögern. Eine solche Empathie kommt einer Erlösungstat gleich. Was hätte ich davon? Nichts Persönliches – und wenn für mich doch etwas Persönliches drin, so würde sich der therapeutische Prozess zurückstauen. Ich verwende das Beispiel der Therapie, da ich glaube, dass sie für die letzten hundert Jahre das Prüfgelände abgibt für eine neue Art, sich Beziehungen vorzustellen. Es ist jetzt an der Zeit, dass diese Konzeption den Eingang in die weitere Welt findet.
Oben wird der therapeutische Prozess mit dem einen Wort Empathie gekennzeichnet. Dieses Wort beschreibt allerdings einen mit klar definierten Phasen versehenen Prozess, eine Tätigkeit, die man üben kann.[3] Der erste Aspekt dieser Tätigkeit besteht darin, mit Vorsatz und in einer Haltung der Offenheit unsere Aufmerksamkeit auf einen anderen Menschen zu richten. Wir erweitern einen Teil unseres Wesens über die üblichen Grenzen, entfachen Interesse für das Dasein und das Schicksal des anderen Menschen – aber nicht aus Neugierde, Abenteuer, Kritiksucht, Selbstinteresse oder Machtstreben. Diese Fähigkeit, unsere Aufmerksamkeit empathisch zu lenken, müssen wir in uns selbst finden und klar herausstellen. Sie fühlt sich wie ein offener Raum an. Diesen Raum müssen wir aber selber finden dadurch, dass wir uns zuerst unserer Wünsche Bewusst werden, und sie dann loslassen. Beim Orten dieser Fähigkeit geht es um einen bewussten Vorgang. Sie sitzt aber nicht im Vordergrund des Bewusstseins, da dieser voller Sorgen um sich selbst ist. Es muss als Erstes ein bewusstes Ausräumen dieser Interessen stattfinden, ein Aufgeben der eigenen landläufigen mentalen Prozesse; dann eine Bewegung in eine innere seelische Region der Ruhe. In diesem Ausräumen erfährt man ein Stillen des Geistes, ein Sichöffnen der Gegenwart des anderen Menschen, das von Neugierde oder In-Frage-Stellen ungetrübt ist. Sucht man diese Region, so wird man sie finden; es ist so, wie wenn ein Zustand der Klarheit einrasten würde. Sie ist dadurch zu finden, dass man sich von dem wegwendet, was man von dem anderen Menschen meint, und zu gleicher Zeit sich einer direkten Wahrnehmung dieses Menschen zuwendet.
Der zweite Aspekt dieser Tätigkeit besteht im Verweilen für kurze Zeit innerhalb der inneren Qualitäten des anderen Menschen. Eine solche Erfahrung ist mehr gefühlsartig, aber sie besteht nicht darin, dass man fragt „Was für Gefühle habe ich über diesen Menschen?“ Sie ist eher eine Stimmung, eine Färbung, ein Meer von Eindrücken, in dem man rein empfangend sich aufhält, ohne jede Sorge darum, ob man sich an die Erfahrung erinnern wird. Hier lässt man alle vorgefassten Vorstellungen über den anderen Menschen fallen. Man bemüht sich – so wie ein Kind, bevor es sich über die Welt Begriffe bildet – die inneren Eigenschaften des anderen Menschen zu fühlen. Dabei empfindet man kein Bedürfnis zu wissen, welche diese Eigenschaften sind: Deren unmittelbare Eindrücke und innere Qualitäten sind offen. In diesem Prozess verlieren wir aber für keinen Augenblick unseren Selbstsinn. Bei dieser Übung handelt es sich nicht um ein Zusammenfließen mit dem anderen Menschen.
Die dritte Phase besteht in der Rückkehr zu dem Teil von uns selbst, den wir in der Begegnung mit dem anderen Menschen verlassen hatten. Es bleibt ein Echo von dem übrig, was wir erfahren hatten, während wir innerhalb des anderen Menschen verweilten; diese Resonanz lebt nun als Seelenbild in uns weiter. Ein solches inneres Bild kann man durch Kontemplation nach und nach verstehen lernen. Die ersten zwei Aspekte treten oft recht schnell, ja im Augenblick ein. Der dritte Aspekt kann Sekunden, Stunden, Tage, sogar ein ganzes Leben auf sich warten lassen. Das Bilden eines wahren Verständnisses hinsichtlich eines anderen Menschen entwickelt sich nicht als intellektuelle Einsicht, sondern eher als eine innere Offenbarung. Wir finden zunächst keine Sprache, um das auszudrücken, was uns begegnet ist. Worte kommen deshalb nur langsam, weil wir unsere eigenen Begriffe auf die Erfahrung nicht anwenden können, sondern müssen zulassen, dass die Bild-Erfahrung sich ausspricht. Dieses innere Bild selbst lehrt uns die Sprache, durch die es am besten auszudrücken ist.
Die Übung dient zur Entfaltung der bewussten Fähigkeit, mit dem Seelenleben anderer kommunizierend in ein Verhältnis zu treten. Solche Tätigkeit befreit die Seele von der Furcht, denn anstatt dass wir den anderen Menschen zur Beruhigung unserer eigenen Ängste instrumentalisieren (was ja in Beziehungen so häufig vorkommt), ruft sie uns aus uns selbst heraus, um vor dem anderen Menschen anwesend zu sein.
Das Vermögen zur Empathie ist eine neue Form der Bildung: Es bildet in uns die Kunst aus, bewusst mit anderen Menschen eine Beziehung einzugehen. Der oben beschriebene Vorgang mag einem vielleicht befremdlich und entschieden unbehaglich vorkommen. Warum können wir nicht einfach unseren Sympathien folgen, auf der Grundlage dieser Sympathien Verbindungen knüpfen, und die Schwierigkeiten durcharbeiten, indem sie aufkommen? Und wenn es so ist, dass die Schwierigkeiten nicht durchgearbeitet werden können, entweder die Bindung auflösen oder einen Experten aufsuchen, der uns zeigen kann, wie wir uns zum Erfolg der Beziehung zu verhalten haben? Leider halten uns alle die psychologischen Tricks zur Beziehungspflege nur dazu an, die Kniffe des Spiels zu erlernen – was zwar vorübergehend zu Befriedigung führen kann, was aber am Ende die finsteren Eigenschaften des anderen Menschen sowie der eigenen Seele einsam und isoliert zurücklässt. Wenn wir uns von den wahren inneren Qualitäten des anderen Menschen fernhalten und uns von den eigenen Seelenfähigkeiten obendrein trennen, so kann die Furcht umso tiefer in das Leben der Beziehungen eintreten und sich zudem in cleveren psychologischen Techniken versteckt halten. In dem Maße, als wir nicht alle Aspekte des anderen Menschen lieben können, in eben dem Maße sind wir außerstande, alle Aspekte von uns selbst zu lieben, insbesondere die Finsternis in der eigenen Seele.
Furcht vor dem Leiden und dem Tod
Wir gewöhnen uns immer mehr daran, Berichte über Nahtodes-Erfahrungen zu hören. Uns allen ist das Bild des Tunnels mit den Wörtern „gehe dem Licht entgegen“ vertraut; ebenso vertraut sind uns Berichte über Begegnungen mit Familienmitgliedern, die die Schwelle übertreten haben, oder Begegnungen mit Engelwesen, auch mit Christus. Für viele Menschen gilt der Tod heute nicht als ein Endpunkt, sondern als Übergang von der einen Daseinsform in eine andere. Die meisten Menschen haben solche Geschichten am Rande ihres Bewusstseins. Nicht zuletzt als Gesamtkultur begegnen wir der Furcht vor dem Tode in noch vollerer und schöpferischer Weise als je zuvor. Die Phasen des Umgangs mit dem Tode sind inzwischen so gut bekannt, dass die meisten von uns sie auswendig aufsagen können, und die weite Verbreitung der Bücher zum Thema Tod und Sterben signalisiert die Entwicklung einer gesunden Psychologie des Todes sowie des Eintritts einer spirituellen Phantasie in die allgemeinen Kultur hinein. Vor dem Tod selbst fürchten wir uns wohl nicht mehr so sehr, als vor dem, was ihm vorausgehen mag.
Es scheint so, als würden wir uns mehr vor dem Schmerz und dem Leid um den Tod herum fürchten, als vor dem Tod selbst: Die Furcht trägt nicht mehr die Maske des Todes, sondern die des Leidens. Diese zwei liegen allerdings nicht sehr weit auseinander, und es kann sein, dass diese Änderung weiter nichts ist als ein teuflischer Betrug von Seiten der Furcht. Haben wir ein für alle Mal bis in die eigene Leiblichkeit hinein begriffen, dass wir sterben; haben wir einmal diesen alles durchdringenden, unverkennbaren Schrecken erlebt, so haben wir die Furcht besiegt. Auch wenn wir einmal eingesehen haben, dass der Tod kein Schlusspunkt ist, ist die Furcht in ähnlicher Weise besiegt. Deshalb tritt die Furcht vor dem Tod etwas zurück, aber sie hat noch immer einen Angriffspunkt: ihr Stachel befällt uns in anderer Weise. Sie tritt in unser Vorstellungsleben als die Möglichkeit schrecklicher Schmerzen und verharrenden Leidens ein.
Die Furcht vor dem Tod hat niemals mit dem Gefühl zu tun gehabt, dass er mit Schmerzen einhergehen würde. Womit der Tod uns stichelt, das ist Furcht davor, dass unser ganzes Leben – alles, was wir getan, gefühlt, gedacht haben – im Endeffekt bedeutungslos sein könnte. So machen solche Menschen, die keine innere Gewissheit über den Grund des Daseins oder über das, was nach dem Tode mit ihnen geschehen wird, ein schreckliches Grauen vor dem Tode durch. So findet die Furcht den Zugang zum Phänomen des Todes. Erst wenn der Mensch es versäumt, sich tiefgehend mit der Frage des eigenen Lebens zu beschäftigen, kann die Todesangst die Furcht vor Schmerz und Leid übersteigen.
Es kann also zwar durchaus sein, dass wir auf den Tod gefasst sind. Aber auf seelischer Ebene sind wir auf körperlichen Schmerz und körperliches Leiden schlicht nicht vorbereitet. Wer im Leben das nicht pflegt: ein wahrhaft erfühlendes Erleben der Schönheit der Welt, welches sowohl mit staunender Ehrfurcht als auch mit Schmerz einhergeht; wer das nicht pflegt, dessen Fähigkeit, mit der Gefühlsintensität des Leidens zurechtzukommen, bleibt nur schwach. Mit anderen Worten: Der Schmerz des Leidens ist deshalb von so großer Bedeutung, weil das Wunder des Fühlens nicht kultiviert wurde. Die Furcht vor dem Leiden ist größtenteils Ausdruck einer verborgeneren Furcht: davor nämlich, dass wir, die wir für den Großteil unseres Lebens ein wirkliches Fühlen verdrängt haben, am Ende ein solches Fühlen doch durchmachen werden. Besonders dann, wenn es über lange Zeit vernachlässigt wurde, kann es vorkommen, dass ein solches Fühlen in sehr kurzer, gedrängter Zeit erlebt wird. Der Preis dieser Vernachlässigung ist allerdings hoch. Wenn erst zum Ende des Lebens das Fühlen durchbricht, so fehlt ihm der Kontext der Schönheit, und es kann vielfach nur als Qual erlebt werden.
Auch wenn man sich im Lauf des Lebens um sein Gefühlsleben kümmert, gewährleistet das natürlich nicht, dass am Ende seines Lebens Schmerz und Leid ausbleiben werden. Sie sind aber nicht so mächtig, als dass sie die Seele und den Geist lähmen könnten, sodass für sie nur ein finsterer Abgrund übrigbleibt. Das bringt uns auf einen wichtigen Unterschied zwischen zwei Arten der Furcht. Es gibt die Furcht, die sich als Schrecken präsentiert. Dieser schneidet uns nicht nur von unserem Seelenleben ab, sondern auch von einer vitalen, lebendigen Verbindung mit anderen Menschen sowie mit der Welt als Ganzes. Dann gibt es die Art von Furcht, die uns ob unserer eigenen Unzulänglichkeiten in einen Zustand staunender Ehrfurcht versetzt. Die erste Art ist eine heillose, die zweite eine heilige Furcht. Die Arbeit, die Seele von der Furcht zu befreien, sucht das heillose Schrecken umzuwandeln und sich der heiligen Furcht, einer staunenden Ehrfurcht zuzuwenden. In wieweit uns diese Umwandlung und diese Zuwendung gelungen sind, wird uns womöglich erst dann deutlich, wenn wir vor unserem irdischen Ende stehen. Aber die Art, wie wir uns das Leiden vorstellen, kann uns ein wenig Aufschluss darüber geben. Enthält unsere Vorstellung des Leidens die Note eines unheilverkündenden Verderbens, oder leuchtet im Kern dieser Finsternis vielleicht ein unauslöschliches Licht?
Die moderne Medizin geht mit dem Schmerz wie mit einem technischen Problem um. Der Großteil der Ärzte heute sind der Ansicht, dass man den Schmerz, hauptsächlich durch Medikamente, handhaben kann. Andere sind der Ansicht, dass es Schmerzen gibt, über die man keine Handhabe hat, und bieten – unter dem wohlwollenden Namen „Beihilfe zur Selbsttötung“ – den Tod als Heilmittel. Keine dieser Sichtweisen sieht irgendeinen Wert im Leiden an sich, und beide Auffassungen des Todes sind insofern einseitig, als dass sie den Tod auf das Reich des Physischen beschränken. Für diejenigen, die eine solche Perspektive haben, wird das intensive Fühlen unerträglich, weil bei derselben der Geist leicht zu brechen ist; und wer mit dieser Auffassung Schmerzleidende pflegt, hat die eigene unmittelbare Auffassung des Schmerzes verloren und leugnet die Wirklichkeit des Geistes. Er weiß nicht, was er tut, und verfügt über lauter technische Hilfsleistungen, ob Morphium oder Sterbehilfe.
Das mit Schmerzen einhergehende Leiden versetzt einen in einen Zustand der Isolierung von anderen Menschen und der Umwelt. Übrig bleibt nur die eine Realität: das Leiden. In dieser Realität ist der Patient vollkommen alleine. Die Einsamkeit, die man dabei erleidet, erscheint oft unüberbrückbar, und es mag wohl den Anschein haben, als könnte man dem Patienten nicht anders beistehen, als indem man auf der seelischen Ebene unsensibel wird. Das heutige Medizinstudium ist eine Disziplin, durch die der Arzt im Beisein von Schmerzleidenden von den eigenen Gefühlen abgeschnürt wird: er sieht sich mit einer Realität konfrontiert, über die er keine Kontrolle hat, und konzentriert sich ausschließlich auf die praktischen Aspekte des Machbaren. Wie viele Mediziner sitzen mit einem Schmerzen leidenden Patienten, trauern mit ihm, geben Ausfufe des Kummers und der Qual von sich, fühlen dessen Leiden so, als wäre es das eigene? Das Seelenleben des Patienten ist in dieser Weise verlassen. Wohl mag der Krankenhauskaplan kommen und den Trost des Geistes anbieten, aber er wird vermutlich Abstand halten und sich in gütigen und sanften Worten sicher einhüllen, um am eigentlichen Leiden nicht teilnehmen zu müssen. Geliebte Personen trauern und weinen wohl, aber sie tun dies gewöhnlich als Ausdruck des eigenen Schmerzes, anstatt mit dem Schmerzen Leidenden zusammen.
In dieser Weise im Leid ganz alleingelassen zu sein: Halbbewusst stellen wir uns das als unser eigenes Los vor, und das ist es, was in uns eine Furcht auslöst, die täglich in uns lebt, die wir aber kaum gewahr sind. Das ursprüngliche Anliegen der Hospizbewegung bestand nicht so sehr darin, Patienten dabei behilflich zu sein, mit Schmerz zurechtzukommen, als darin, sich diesen isolierenden Umständen des Leidens zuzuwenden. Zwar gibt es viele Hospizarbeiter, die eine bemerkenswerte Fähigkeit haben, in intimer Weise mit dem Leiden und dem Sterben in Beziehung zu treten. Als jemand, der einer Reihe Mitarbeitersitzungen der Hospizbewegung beigewohnt hat, weiß ich aber, dass nicht diese seelische, sondern die medizinisch/technische Haltung den dominierenden Stellenwert bekommen hat. Viele Hospizarbeiter vermögen aus eigener Kraft einfach nicht, mit dem Sterbenden eine Intimität aufrechtzuerhalten, und nehmen Abstand. Mitarbeitersitzungen werden zu medizinischen Berichten, in denen die Schmerztherapie das Gespräch beherrscht, Abstand gewonnen wird, und niemand die richtige Sprache finden kann oder will, die der Gruppe als Ganzes dazu verhelfen kann, bei dem Leiden dabei zu sein.
Eine wunderbare urbildliche Erzählung davon, wie man mit einem Schmerzen Leidenden echt mitleiden kann, findet sich im altgriechischen Drama Philoktetes. Dieser war mit Agamemnon und Menelaus unterwegs nach Troja. Sie stiegen auf der winzigen Insel Chryse an Land, um den dortigen Göttern Opfer darzubringen. Während Philoktetes zum Schrein hinaufging, wurde er von einer Natter gebissen. Die Wunde begann zu eitern, färbte sich schwarz und wurde bald zu einem rasenden, blutenden Geschwür. Mit der Zeit zogen der Eiter und die Verwesung Maden in die Wunde an, was die Luft mit einem Gestank füllte, den keiner aushalten konnte. Die Gefährten des Philoktetes, von dessen Anblick und Geruch angewidert, setzten ihn auf der unbevölkerten Insel Lemnos aus. Auf der Insel gab es gar kein Leben – keine Bäume, keine Pflanzen, keine Tiere –, sondern nur trockene Erde und Felsklippen. Ohne den Bogen und die Pfeile, die Herakles ihm gegeben hatte, hatte Philoktetes nicht überlebt. Der Halbgott hatte den Bogen von Apollon selbst erhalten und Philoktetes gegeben, als dieser in Lebensnot war. Der Bogen, als Göttergabe, verfehlte niemals sein Ziel. Herzlich wenige Vögel überflogen die Insel Lemnos, aber Philoktetes verfehlte nie einen Schuss, uns so vermochte er, wenngleich nur knapp, zu überleben.
Zehn Jahre lang litt Philoktetes auf der Insel allein. Sein madiger Fuß heilte nicht, und nur einen erlegten Vogel hatte er gelegentlich zu Essen. Voller Verbitterung, Wut und Einsamkeit schrieb Philoktetes sowohl die Menschheit als auch die Götter ab. Dann nahte sich eines Tages ein Schiff. Odysseus und der Jüngling Neoptolemus, Sohn des Achilles, betraten den Strand. Sie waren gekommen, um Philoktetes zurückzuholen, denn ein Orakel hatte prophezeit, dass Troja erst mit dessen Hilfe erobert werden könne. Der Plan war gewesen, ihn mit List dazuzubringen, mit ihnen nach Troja zurückzufahren. Indem aber Neoptolemus mit Philoktetes sprach, gab er seine List schnell auf. Er bewunderte den Mut dieses leidenden Menschen und anstatt zu versuchen, ihn zu manipulieren, wartete er mit Philoktetes, lauschte dem, was er zu erzählen hatte, umsorgte ihn, weinte mit ihm. Odysseus hielt sich auf Distanz und sah aus einiger Entfernung zu. Endlich trat er aber hinzu und drohte, Philoktetes mit Gewalt mitzunehmen. Dieser nahm den Bogen und war im Begriff, Odysseus zu erschießen. Plötzlich erschien aber Herakles in einer Vision und sagte Philoktetes, dass er nach Troja fahren müsse. Dort werde er seine Gesundheit wiedererhalten und Ruhm erlangen.
Inmitten unserer alltäglichen Aufgaben kann es vorkommen, dass wir plötzlich ernstlich erkranken und schnell ins Krankenhaus müssen, ähnlich wie Philoktetes mitten im Ausführen seiner Pflichten verwundet und zur Insel Lemnos gebracht wurde. Der Name Philoktetes bedeutet „Liebe zum Eigentum“, und auf der Insel sah er sich ohne alles außer Pfeil und Bogen. Jeder von uns, wenn wir schwer erkranken, wird genauso plötzlich um alles das gebracht, was uns eine Empfindung dafür vermittelt, wer beziehungsweise was wir sind. Alles, was wir besitzen, wird uns entzogen. Vielleicht erhalten wir Besuch, der das Anliegen hat, uns sein Mitleid auszudrücken, uns zu fragen, wie wir uns heute fühlen, über alles zu reden, was zuhause vor sich geht, wie sehr wir vermisst werden, wie die Menschen bei der Arbeit es kaum abwarten können, bis wir wieder zurückkommen.
Wenn wir Glück haben, lenkt der Besuch in seinem Unbehagen nicht die Aufmerksamkeit von der intensiven Realität unseres Leidens auf andere Gesprächsthemen ab. Wenigstens einen Menschen gibt es, so hoffen wir, der klagen, trauern, in unserem Leiden mit uns aufjammern, ja uns sogar helfen kann, uns noch tiefer da hineinzubegeben.
Die Vision darf allerdings nicht wortwörtlich aufgefasst werden, in der Herakles erscheint und Philoktetes dazu nötigt, zur Menschengemeinschaft zurückzukehren, in der er genesen und Ehre erhalten wird. Dieses Bild will zum Ausdruck bringen, dass Philoktetes nur deshalb zur Gemeinschaft zurückkehren kann, weil jemand seinen Schmerz und sein Leiden mit ihm geteilt hat. Wenn man sprechen, weinen, verzweifeln darf, ohne den Anforderungen anderer genügen zu müssen, dann bildet sich eine Gemeinschaft des Leidens; die Isolierung wird durchbrochen, und die Furcht kann nicht mehr die Oberhand gewinnen.
Wäre der Schmerz weiter nichts als eine physische Realität, so wäre es dessen Linderung zu jedem Preis vielleicht gerechtfertigt. Im Schmerz bringt sich die Seele aber selbst zum Ausdruck, während umgekehrt das übermäßige Abstumpfen des Schmerzes die Seele verdunkelt und den Zugang zum Geist verhindert. Schmerz hat mit den Nervenprozesse des Körpers zu tun. Im normalen Leben und bei guter Gesundheit funktionieren die Nervenprozesse in reibungslosem Verhältnis zu den Lebensprozessen, und wir fühlen eine Vitalität in den Organen des Körpers – also in den Lungen, der Lieber, der Milz, dem Magen und so weiter. Auch die seelischen Prozesse spiegeln sich in den leiblichen Organen und sind also mit den Lebensprozessen intim verwandt. Die Beziehung zwischen den Lebensprozessen und den Seelenprozessen wird in der gegenwärtigen Physiologie und Psychologie zwar nicht anerkannt, aber in früheren Zeiten war sie wohl bekannt. In der Alchimie zum Beispiel, sowie auch in früheren Formen der Medizin, stellte man sich eine deutliche Beziehung zwischen den Planeten und bestimmten Leibesorganen vor. Der Renaissance-Philosoph Marsilio Ficino setzte die Planeten mit dem Seelenleben in direkte Verbindung.[4]
Normalerweise besteht eine wunderbare Balance und Harmonie zwischen den Nervenprozessen und den Lebensprozessen, die aber in Krankheitszuständen gestört wird. Liegt eine Fehlfunktion der Organe vor, so werden die Nervenprozesse durch die Lebensprozesse stark gereizt, was als Schmerz erlebt wird. Das ist aber eine technische Erklärung dafür, dass das Seelenleben ohne die Vermittlung durch Bilder ins Bewusstsein platzt. Diese Auffassung des Schmerzes entstammt der Arbeit Rudolf Steiners[5] und der Forschung in der anthroposophischen Medizin.[6]
Eine solche Auffassung legt nahe, dass die Art, wie wir unseren Schmerz ertragen, mit der Art der Seelenarbeit, die wir während unseres Lebens getan haben, sehr stark zusammenhängt. Auch legt sie nahe, dass es ebenso wichtig sein kann, sich auf seelischer Ebene mit Menschen einzulassen, die Schmerzen leiden (indem man sich mit ihnen grämt, mit ihnen trauert, mit ihnen weint), wie technische Maßnahmen anzuwenden, um Schmerzen zu beseitigen. Nimmt man auf der Seelenebene daran teil, so befreit das den Leidenden von der Verpflichtung, den unterschwelligen Anforderungen derer zu genügen, die ihn umgeben. Eine solche aktive Teilnahme lässt ferner zu, sich die Seele Dinge zum Ausdruck bringt, die womöglich seit Jahren vernachlässigt werden: die Sorge, die Reue, die ungelebten Hoffnungen, Träume und Wünsche, die unaufgelösten Konflikte und Missverständnisse, und am allerwichtigsten alle die Ängste, die dann intensiviert werden, wenn sie mit unser Sterblichkeit konfrontiert werden.
Wir können nur insofern den Leidenden dienen, als dass wir es im eigenen Leben vermocht haben, unsere Furcht zu verwandeln. Solche Bemühungen der Seele bereiten uns ferner auf das schmerzvolle Leiden, das uns womöglich selbst treffen wird. Vielleicht werden wir lernen, in rechter Weise mit technischen Lösungsansätzen im Umgang mit Schmerz zu arbeiten; vielleicht werden wir wahrzunehmen lernen, wann eine medikamentöse Behandlung zu weit geht, indem sie die subtilen Aspekte des Mysteriums vom Schmerz auslöscht. An dieser Stelle soll ganz bestimmt nicht das Abschaffen schmerzlindernder Mittel nahegelegt werden. Vielmehr wird nahezulegen versucht, wie wichtig es ist, die Seele in ihrem Verhältnis zu den Schmerzen mit zu berücksichtigen, anstatt diesen Faktor außen vor zu lassen. Wenn wir damit rechnen dürfen, dass andere Menschen auf der seelischen Ebene uns begleiten, so kann ein beträchtlicher Anteil der Furcht überwunden werden, die den Schmerz umschwebt.
Anmerkungen
[1] Betty S. Flowers, The Economic Myth (Austin: Center für Communications, University of Texas, 1993).
[2] Der Mensch, der diese Beschreibung verfasste, bat darum, nicht genannt zu werden.
[3] Baruch Urieli, Übungswege zur Erfahrung des Ätherischen: Empathie, Nachbild und neue Sozialethik, Verlag am Goetheanum, 1995
[4] Siehe zum Beispiel Thomas Moore, The Planets Within (Lewisburg, PA: Bicknell University Press, 1982).
[5] Siehe zum Beispiel Rudolf Steiner, Vom Menschenrätsel, GA 20.
[6] Um über eine Behandlung des Hintergrunds und der Entwicklung dieser Methode zu lesen siehe Dennis Klocek, Seeking Spirit Vision (Fair Oaks, CA: Rudolf Steiner College Press, 1998).
Furcht verengt das Seelenleben, indem sie die Aussicht auf eine offene Zukunft verdrängt. Das Anliegen der bisher beschriebenen Vorstellungsübungen ist die Wiederherstellung der Fähigkeit, für sich eine Zukunft innerlich auszumalen. Die Hauptcharakteristik dieser Übungen ist ihre bewusste bildschaffende Tätigkeit. Das bewusste Erzeugen solcher Bilder wirkt ausgleichend auf die Ängste aus, von denen sämtliche Sektoren des Lebens befallen sind.
Dieser Weg des Erschaffens einer Offenheit für die Zukunft unterscheidet sich erheblich von Praktiken, die dem sich-Abwenden von Problemen dienen, die die Welt als wunderschön vorstellen und die die Güte des Universums bejahen. Dieser Weg möchte vielmehr zum klaren Verstehen des Wesens unserer Ängste anregen, und er möchte, dass wir das Schaffen von Bildern üben. Und zwar üben wir gerade nicht so, als gäbe es solche Furcht nicht. Diese Übungen im Bilderschaffen stellen sicher, dass unser Innenleben nicht von unseren Befürchtungen ausgeschaltet wird; sie verlangen und fördern zugleich eine aktive, bewusste Anstrengung.
Viele der Befürchtungen, die uns gegenwärtig zusetzen, haben mit den schnellen, ja drastischen Veränderungen in unseren Lebenszusammenhängen zu tun. Wir wollen uns mit drei solchen drastisch sich verändernden Zusammenhängen befassen, und zwar mit
- der Bedeutung des Geldes und des Wirtschaftslebens;
- den Grundannahmen beziehungsweise den Grundvoraussetzungen hinsichtlich der Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen jeglicher Art;
- der Bedeutung/dem Sinn von Leiden und Tod.
Bemüht man sich um einen seelischen Umgang mit diesen Erfahrungsbereichen, so werden ungeheure Ängste hervorgerufen.
Ängste um Geld herum
Betty S. Flowers, Schriftstellerin und Sozialtheoretikerin, hat über die spezifisch mythischen Themen in Amerika geschrieben sowie auch darüber, wie diese Themen in einer Phase drastischer Überholung begriffen sind.[1] Sie behauptet, dass es bis vor kurzer Zeit drei Mythen gegeben hat, durch die Amerika gelenkt wurde. Unter „Mythos“ versteht sie die Bild-Kontexte, anhand derer das menschliche Leben definiert wird, die Begriffe, die unserem Dasein einen Sinn verleihen und unsere Handlungsmuster in der Welt bestimmen.
Der erste von Betty Flowers identifizierte Mythos ist der heroische Mythos des „rugged Individualism“ (= krasser Individualismus): Man stammt aus bescheidenem Ursprung; ganz aus eigenen Kräften bringt man es zu etwas im Leben; stellt sich dem Unbekannten; erbringt Opfer; steigt auf; gibt schließlich etwas an die Allgemeinheit zurück. Mit diesem Mythos war es mit dem Ende des Vietnam-Kriegs aus, denn als die heldenhaften Krieger heimkehrten, erhielten sie keine Anerkennung und kein Willkommen, die ihnen vermittelt hätte, dass ihr Leiden und ihre Opfer für die gesamte Gesellschaft von tiefer Bedeutung sind. Man versuchte, mit Operation Desert Storm diesen Mythos wiederzubeleben, aber die Amerikaner haben nicht so ganz daran geglaubt, da hinter dem Golfkrieg eine starke wirtschaftliche Motivation steckte.
Der zweite Mythos, von dem Flowers sagte, dass er uns als Gemeinschaft erst zusammengebracht habe, ist der Mythos von Amerika als „das gelobte Land“, als „das Licht der Nationen“. Außer der Christian Coalition of America getraut sich heute kaum jemand mehr, der eine öffentliche Führungsrolle bekleidet, die Sprache dieses Mythos zu verwenden. Müssten sie doch befürchten, eine große Spannweite der religiösen Vielfalt dieses Landes zu kränken. Als vor Jahren Präsident Clinton versuchte, durch die Rede vom „Schließen eines Bundes“ (eine im Wesentlichen religiöse Art des Redens) die amerikanische Bevölkerung hinter sich zu bekommen, wurde er nicht gehört. Die Republikaner aber verwendeten eine andere Metapher, die eines „Vertrags mit Amerika“. Diese juristisch, geschäftlich klingende Metapher hatte dadurch Kraft, dass sie auf eine anders geartete Veränderung unseres Vorstellungslebens hinwies.
Die dritte Geschichte, die keine Geltung mehr hat, ist der Mythos der Demokratie. Der Mythos der Demokratie besagt, dass jedermann die gleiche Chance und eine gleichwertige Stimme habe, dass es für alle Freiheit und Gerechtigkeit gebe. Inzwischen sind wir dabei, in schmerzhafter Weise zu erkennen, wie die Chancen, die man im Leben hat, durch den eigenen sozioökonomischen Status bestimmt werden; wie die Gerechtigkeit davon abhängt, ob man das Geld hat, um teure Anwälte zu bezahlen. Das gemeinsame Wohl ist durch das Eigeninteresse ersetzt worden.
Der vorherrschende Mythos, innerhalb dessen wir alle jetzt leben, ist ein ökonomischer Mythos. Das, was wir tun, die Art, wie wir leben und das, was wir wertschätzen wird größtenteils durch Geldwert bestimmt. Zwar hatte das Geld von je her eine ungeheure Macht, aber jetzt setzt es alle anderen Werte in den Schatten. Die Furcht um das Geld herum hat nicht nur mit dem Überleben zu tun, sondern auch mit dem Identitätsverlust, der eintritt, sofern man an diesen Mythos nicht glaubt. Wie alle auf einer polarisierenden Illusion basierenden Mythen besteht die Schwierigkeit des Wirtschaftsmythos darin, dass er die Seele außen vor lässt. Das Gewebe dieser Art, die Welt zu organisieren – es ist ein äußerst abstraktes Gewebe –, wird aus Statistiken, Umfragen, der Größe des Bruttonationalprodukts, aus der Inflationsrate, aus Produktionswachstum und sonstigen an der globalen Wirtschaft vorgenommenen Messungen zusammengesetzt. Dieses Gewebe enthält nichts, auf das sich die Seele beziehen kann, nichts, was auf einen Realitätsmodus in der äußeren Welt schließen lässt, nichts, was aus heiligen Bildern ersteht. Und in der Tat: Die Furcht, die sich hinter all dieser hohlen statistischen Rhetorik verbirgt, ist die Furcht, ohne eine geheiligte Sichtweise der Welt zu leben. Wirtschaftslehre kann, zumal in ihrem wortwörtlichen Sinne als „Pflege des Haushalts“, eine durchaus heilige Angelegenheit sein. Nicht auf die Wirtschaftswissenschaft an sich ist die Furcht zurückzuführen, sondern auf diejenige Art der Wirtschaft, die von der Fetischisierung des materiellen Wohlstands abhängt. Dennoch müssen wir die Frage stellen: Woher haben solche hohlen, statistischen Werte ihre große Macht?
Das Märchen der modernen Ökonomie vermag nicht, die Menschen als eine ganzheitliche Gemeinschaft zusammenzuhalten, und so beginnt die Welt, in die Eigentümer und die Enteigneten auseinanderzufallen. Die Grundlage der Furcht gibt stets die Trennung ab; und im Falle des Wirtschaftswesens findet solche Trennung zwischen den sozioökonomisch Ermächtigten und denen, die das eben nicht sind.
Die wirtschaftsbezogene Furcht hat auch mit der Art zu tun, wie die Menschen am Arbeitsplatz behandelt werden. Die Großunternehmens-Kultur behandelt den Einzelmenschen wie eine Geschäftseinheit. Diese Haltung zählt auf die Furcht, und fast alle Arbeit – ob man in einer Großfirma arbeitet oder nicht – ist von ihr befallen. Hier die Beschreibung einer Entlassungswelle in einer großen Firma:
Die Entlassungen wurden in quasi juristisch-effizienter und zugleich demütigender Weise durchgeführt. Es wurden zwei Sicherheitsbedienstete angestellt, um sicherzustellen, dass die Firma die Situation ja im Griff behält. In den Sitzungen, in denen den Menschen mit sofortiger Wirkung gekündigt wurde, las der Vizepräsident von einem im Voraus verfassten Kündigungsschreiben vor, und zwar für jeden Angestellten die gleiche Aussage. Als Nächstes wurde der Angestellte zu seinem Arbeitsplatz zurückgeleitet, wo ihm nur wenig Zeit gewährt wurde, seine Sachen zusammenzupacken. Dann wurde er zum Ausgang geleitet. Das alles wurde vor der übrigen Belegschaft durchgeführt.[2]
Dieses Bild zeigt die Art, wie die Furcht zu einem unvermeidbaren Teil der Kultur von Großunternehmen gemacht wird. Die so beschriebenen Entlassungen waren offensichtlich fein abgestimmt worden, um den zurückbleibenden Angestellten Angst zu machen. Wenn der Einzelmensch in dieser Weise von der Großfirma behandelt wird, hat die Seele keinen Platz im alltäglichen Betrieb. Die Arbeit wird auf die Banalität reduziert, die Wirtschaftsmaschinerie effizient am Laufen zu erhalten. Unsere persönlichen Begabungen und Fähigkeiten werden dazu benutzt, das in der Welt zu erfüllen (in der Regel größere Profite), was jemand anderes will. Auf die Kreativität unseres Geistes und die Tiefen der individuellen Seele müssen wir häufig verzichten, und das führt dazu, dass wir in einer Stimmung der Furcht arbeiten. Kreativität und Individualität beeinträchtigten ja die Effizienz und die Produktivität, obwohl auf lange Sicht diese Eigenschaften zu einem nachhaltigen, rentablen Geschäft maßgeblich beitragen. Um heutzutage im Geschäftsleben überleben zu können gilt es aber, kurzfristige Gewinne zu erzielen. Oft erhalten wir dafür, dass wir unsere Identität vergessen, weiter nichts als ein Gehalt. Ein erster, kleiner Schritt – etwas, was jeder tun kann, um zu sicherzustellen, dass er nicht um der Arbeit Willen seine eigene Seele veräußert – ist, jeden Tag eine Übung auszuführen, die auch in einer Arbeitsumgebung, die die Seele nur wenig ernährt, die Kräfte der eigenen Seele aufbaut.
Übung: Stelle dir eine Szene vor, die für deine Arbeit typisch ist. Du kannst zum Beispiel das Schreiben am Computer verbildlichen, oder das Unterrichten, oder das Erstellen eines juristischen Dokuments – je nachdem, worin deine Arbeit von Tag zu Tag besteht. Hast du einmal dieses innere Bild in stabiler Weise vor dir, löse es in eine Lichtkugel auf. Lasse als Nächstes die Lichtkugel sich als Gestalt neu bilden – als Gestalt eines Mannes oder einer Frau etwa, oder als irgendeine andere Gestalt, wie ein Troll oder ein Engel oder ein anderes Wesen. Richte als Nächstes die folgende Frage an diese Gestalt: „Was ist deine Arbeit in der Welt?“ Mache dir keine Gedanken darüber, ob du gerade frei etwas erfindest. Lass es einfach geschehen. Was sagt dir die Gestalt? Nachdem das Gespräch zu Ende ist, bedanke dich bei der Gestalt und lasse sie sich wieder in eine Lichtkugel auflösen; dann lasse das Licht sich wieder ins Bild deiner Arbeit zurückverwandeln. Dann öffne deine Augen. Diese Übung, in regelmäßigen Abständen ausgeführt, kann zu bemerkenswerten Ergebnissen führen. Du magst zum Beispiel feststellen, dass, obwohl dir deine Arbeit tagein, tagaus immer gleich vorkommt, die seelischen beziehungsweise geistigen Dimensionen dessen, was du tust, sich häufig verändern. Wer auf solche Veränderungen aufmerksam ist, für den erhält die Arbeit neues Leben. Es kann auch vorkommen, dass du die Entdeckung machst, dass das, von dem du meintest, dass du es tust, etwas gründlich Anderes ist, als das, was deine Seele und dein Geist tun.
Früher einmal war es so, dass wenn auf Klassenunterschiede basierte wirtschaftsbezogene Ängste das ganze Kulturleben dominierten, die Sachlage für eine blutige Revolution reif war. Das Anliegen einer Übung dieser Art ist die Herbeiführung einer inneren Revolution, deren Ziel der Erhalt der Seele ist. Die Gefahr, die das behandelt-Werden mit brutaler Anonymität in sich birgt, ist die, dass man vergisst, dass man mehr als eine bloße Funktion ist. Können wir aber trotz der schlimmen Umstände, die von dem Wirtschaftsmythos vorgeschrieben werden, eine innere Lebhaftigkeit der Seele und des Geistes aufrechterhalten, so bleibt uns die Möglichkeit erhalten, einen Mythos selber zu erschaffen, der rein ist und die Menschen liebevoll umfasst. Die vielen Male, die ich diese Übung mit Gruppen von Menschen ausgeführt habe, haben mir bewiesen, dass ein neuer Mythos tatsächlich im Entstehen ist, bei dem es um das selbstlose Dienen anderer Menschen geht. Die Berichte derer, die diese Übung gemacht haben, legt hiervon Zeugnis ab. Ein solcher Mensch, der als Drehbuchautor für eine populäre Kinder-Fernsehsendung arbeitete, stellte sich eine Szene vor, in der er an seinem Schreibtisch saß und ein Drehbuch schrieb. Als sich seine Arbeit in eine innere Gestalt verwandelte, sah er einen Engel, der ihm mitteilte, dass seine Aufgabe darin besteht, den Herzensmut in die Welt zu bringen. Dieser Schriftsteller war erstaunt und ein wenig überwältigt. Er sah das, was er seit Jahren machte, nunmehr in einem völlig neuen Licht. Eine andere Frau hielt ihre Arbeit dafür: den ganzen Tag Telefonate entgegenzunehmen. Als diese Arbeit zu einer inneren Gestalt wurde, sah sie eine großmütterliche Figur, die Menschen zu einem Festmahl einlädt, sowie eine Gruppe von Menschen, die am Tisch sitzen und köstlich speisen. Wer diese Übung ausführt, erlebt in der Regel Bilder, die mit dem Dienen zu tun haben. Anscheinend fühlt sich die Seele dann von der Furcht am freisten, wenn sie eine Vorstellung davon macht, wie sie für andere Menschen etwas tut. Die Seele empfindet den Ruf der echten Bedürfnisse anderer Menschen.
Es mag befremdlich wirken, dass man ausgerechnet durch Stärkung der Phantasie versucht, solchen überwältigenden Wirtschaftsängsten beizukommen. Sinn und Zweck der Übung ist es aber nicht, das Problem des Geldes und dessen Macht zu lösen. Es geht dabei um weiter nichts als die Bewahrung der Seele vor dem Verloren- und dem Vergessenwerden angesichts der Angst um das Geld herum. Wenn wir es schaffen, die Verbindung zwischen unserer Seele und unserer Arbeit zu erhalten, so wird die neu erschaffene Vorstellung unseres Arbeitslebens sehr viel beitragen zur Überwindung finanzieller Furcht.
Furchtgeladene Beziehungen
Beziehungen jeglicher Art sind heute von Besorgnis schwer belastet. Der Lehrer darf kein Kind berühren – nicht einmal in der reinsten, unschuldigsten Weise – aus Furcht vor Vorwürfen wegen sexuellen Missbrauchs. Bei der Arbeit muss man auf der Hut sein und ständig darauf achten, dass das, was man sagt, nicht als Belästigung interpretiert wird. Ein intimes Verhältnis kann zu gewalttätiger co-abhängiger Misshandlung werden. Ehen haben eine weniger als fünfzigprozentige Überlebenschance. Der Freund von heute wird zum erbitterten Feind morgen. Der Ehemann wendet sich gegen die Ehefrau, das Kind wendet sich gegen den Elternteil, der Elternteil wendet sich gegen das Kind.
Die Illusion, mit der wir leben, ist die, dass Beziehungen immer ein sicherer Hafen seien. Eine Beziehung empfindet man als eine Art Gefäß, als ein Behältnis, in dem wir ohne etwas vortäuschen zu müssen das sein können, was wir sind; als ein Ort, an dem wir uns verstanden und geschätzt fühlen, egal was andere denken mögen; als eine heilige Region, wo wir gestärkt werden können, uns der Härte der großen Welt stellen zu können. Wenn diese Eigenschaften nicht in der Beziehung gefunden werden, so gilt das Gefäß als defekt. Ganze Therapien wurden ersonnen, um aus Beziehungen das zu machen, von dem wir meinen, dass sie es sein sollten. Die Spannweite ist groß: Alle Gefühle durchsprechen; daran arbeiten, den radikalen Unterschied zwischen Mann und Frau zu verstehen; uns des inneren Bildes bewusst werden, das wir vom anderen Menschen in uns tragen. Nur wenige Therapien konzentrieren sich darauf, Menschen zur Einsicht zu verhelfen, dass Beziehungen an sich belastet sind und immer problematischer werden, und welch ein Wunder es ist, dass wir uns überhaupt auf sie einlassen.
Beziehungen bergen ihre Ängste in sich: die Möglichkeit des Verrats, der Untreue, des Missbrauchs, der Gleichgültigkeit, der Vernachlässigung, des Hasses, des sich-Ärgerns, der Rache, der Konkurrenz, der Erniedrigung, der Ausgelassenheit. Und doch setzen wir hohe, ja allzu hohe Erwartungen auf unsere besonderen Verbindungen mit anderen Menschen. Wir verlassen uns für unser Selbstwertgefühl auf diese Bindungen, ohne zu durchschauen, dass wir andere Menschen zu unseren eigenen Zwecken – was diese auch sein mögen – benutzen: ob in der Welt voranzukommen; unsere Lust zu befriedigen; unsere Angst vor der Einsamkeit zu vermindern; ein Gefühl der Sicherheit haben. Sogar der Akt des Gebens ist von dem belastet, was uns aus solchem Geben zuteilwird. So zynisch diese Sichtweise auch herüberkommen mag: Von ihr aus kann man eine „angstfreie“ Auffassungsweise hinsichtlich der Beziehungen erkunden. Die in dieser Sichtweise hervortretende Ehrlichkeit legt die intensive Furcht bloß, welche im Herzen der Beziehungen liegt: Wir fürchten uns nämlich davor, dass wir dass unsere „Liebefähigkeit“ nur darauf aus ist, für Taten der Liebe belohnt zu werden.
Die Annahme, dass es so etwas wie eine vollkommene Beziehung überhaupt gibt, ist falsch; folglich auch die Annahme, dass wenn wir eine vollkommene Beziehung nur erreichen könnten, wir wenigstens an dieser einen Stelle der Welt Frieden und Glückseligkeit finden würden. Stattdessen wollen wir damit beginnen, dass wir uns der offenbaren Tatsache des modernen Lebens stellen: Beziehungen werden immer schwieriger. Wir sollten uns fragen, wieso wir sie überhaupt eingehen. Anders formuliert: Worum geht es überhaupt, wenn wir einen anderen Menschen lieben? Wenn wir uns mit dieser Frage beschäftigen, erkennen wir, dass allein schon die Erwartung, angstfreie Beziehungen zu haben, der Angst den Zutritt zu unseren Verbindungen mit anderen Menschen erst ermöglicht. Denn diese Erwartung ist eine Illusion. Sie ist die illusorische Vorstellung des anderen Menschen als seelisch unversehrt und im Besitz einer idealen Vergangenheit; die Vorstellung dass, wenn wir nur die richtige Beziehung einmal geknüpft haben, wir von Trauma unberührt bleiben und alle unsere Probleme verschwinden werden. Diese Illusion ist die Öffnung, über die uns die Furcht erfasst und uns zu einer Verhaltensweise zwingt, die sicherstellen soll, dass wir von anderen Menschen das bekommen, was wir brauchen; die ferner zulässt, dass wir das spirituelle Grundelement der Beziehungspflege aus dem Auge verlieren welches darin besteht, dass wir Beziehungen nicht um unseretwillen knüpfen, sondern um dem anderen Menschen zu helfen. Wir können eine Verwandlung der soeben erwähnten Erwartungshaltung durch eine bestimmte Vorstellung in Gang bringen. Wir stellen uns nämlich vor, wir befänden uns in einer Beziehung mit jemandem, in der wir genau so sind, wie wir sind, und zwar mit allem, was wir hineinzubringen haben. Wie geht das wohl? Erstens indem wir eben nicht erwarten, dass die Beziehung unsere Vergangenheit heilen solle. Und zweitens indem wir uns Mühe geben, herauszufinden, wie wir aus dem eigenen Verwundetsein heraus lieben können.
Der Film Mary Reilly handelt von der Hausangestellten des Dr. Jekyll, also der Gestalt aus der Robert Louis Stevenson-Novelle „Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde“. Ein Großteil des Films besteht in Rückblenden, die das furchtbare Leben darstellen, welches Mary Reilly als Kind hatte. In den Rückblenden verhält sich der Vater schrecklich ihr gegenüber. Er trinkt, schlägt sie und wirft sie in eine enge, finstere Kammer zusammen mit einer in einem Sack befindlichen Ratte. Als dann die Ratte sich aus dem Sack herausbeißt, wird Mary von ihr zerbissen. Die Mutter von Mary ist sich der grausamen Behandlung halb bewusst, aber erst nachdem sie von der Ratte schwer verletzt wird, nimmt sie die Tochter und verlässt ihren Mann. Diese Geschichte erzählt Mary dem Dr. Jekyll, als er sie wegen der tiefen Narben ausfragt, die sie an ihren Armen und ihrem Hals trägt.
Mary lernt Dr. Jekyll lieben, aber es handelt sich um eine Liebe, die sich nicht in romantischer Weise ausdrückt. Jekyll ist gut zu ihr und erfährt im Lauf der Handlung immer mehr über sie. Als er sie fragt, ob sie ihren Vater hasst, verneint sie. Beim Begräbnis von Marys Mutter erscheint der Vater nach jahrelangem Fernbleiben einmal wieder und versucht, Mary wieder an sich zu binden. Sie vermag es, dieser zerstörerischen Anliegen auszuweichen, ohne ihn für das zu hassen, was er ihr angetan hatte.
Nach und nach kommt Mary darauf, dass Dr. Jekyll kein anderer ist, als der infame Mr. Hyde. Obwohl sie weiß, dass dieser viele Frauen grausam und blutig ermordet hat, legt sie ein erstaunliches Mitleid für Hyde an den Tag. Auch nach Mary gelüstet Hyde mit derselben nicht zu sättigenden Wollust, aus der heraus er andere Frauen gefoltert und getötet hat, und obwohl Mary sich vor ihm fürchtet, lässt sie sich von dieser Furcht nicht überwältigen. Ihre Liebe zu ihm zeigt sich darin, dass sie sich weigert, sich von ihm abzuwenden oder vor ihm zu fliehen. Diese Liebe ist so mächtig, dass sie ihn auf die Möglichkeit seiner eigenen Erlösung hoffen lässt.
Die Stimmung des Films ist es, was einen Großteil der Handlung trägt. Es tritt nichts Sentimentales ein, weder in der Beziehung zwischen Mary und ihrem Vater, noch in der Beziehung zwischen Mary und Jekyll/Hyde. Es entfaltet sich zwar eine Liebe, die aber keine konventionell-romantische Liebe ist. Spirituelle Liebe ist wohl eine bessere Bezeichnung, denn Mary geht es um die Seele Hydes. Den Film kennzeichnet zwar die Stimmung einer emotionalen Zurückhaltung; aber als ein Zurückhalten oder eine Unterdrückung der Emotion lässt sich die Eigenschaft dieser Stimmung nicht adäquat beschreiben; die Empfindung ist eher die einer Teilhabe an Emotionen, die aber nicht von letzteren getragen wird. Verlangen herrscht allerdings vor, ebenso Sympathie und Furcht. Der einzige aber, der hasst, ist Hyde, dessen Hass sich gänzlich gegen Hyde selbst richtet.
Es spielt sich in diesem Film mehr ab, als bloß eine weitere Ausführung einer Gruselgeschichte. Mit dieser Geschichte sehen wir eine neue Art, sich Beziehungen vorzustellen. Man nehme als Erstes zur Kenntnis, dass es Marys schwierige Kindheitserfahrungen mit ihrem Vater sind, was es ihr möglich macht, inmitten von Furcht zu lieben. Viele psychologische Ansätze gehen davon aus, dass Menschen mit Beziehungen im Erwachsenenlben sich deshalb schwer tun, weil sie in der Kindheit Ängste ausgestanden haben. In Mary Reilly liegt ein Bild vor, das diese Prämisse auf den Kopf stellt.
Ein wesentlicher Aspekt dieses Films ist die Stellung Marys als Dienerin. Das ist weit mehr als eine ergiebige Filmrolle; drückt es doch eine urbildliche Realität aus. Mary fristet ihr Dasein nämlich innerhalb des Dienens als Urbild. Ihre Arbeit ist mehr als ein bloßer Job. Sie repräsentiert ein Seinsmodus für ihre Seele; ja dieser Film handelt weitgehend vom selbstlosen Dienen. Das Bild deutet darauf hin, dass wenn wir uns von dieser Realität leiten lassen, die schlimmen Umstände unserer Vergangenheit uns nicht länger zurückhalten und stattdessen zu einem Gewinn für unsere zukünftigen Begegnungen werden. Dieses Bild eines selbstlosen Dienens muss man richtig verstehen. Die Grundlage eines solchen Dienens ist die gründliche Selbsterkenntnis, die Mary durch lange Jahre des Leidens erlangt haben muss. Wenn wir versuchen würden, ohne diese Grundlage anderen Menschen zu dienen, so ginge uns unsere Menschlichkeit ab. Wir werden nur das, was der andere will, dass wir seien. Dienen muss in jedem Fall ein freies Geschenk sein; um von sich selbst frei zu schenken, muss man erst wissen, wer man überhaupt ist.
Der Dienst, dem Mary sich hingibt, geht über das bloße Dienen ihres Herrn, des Gutsbesitzers, hinaus. In einer Szene sieht sie in den Hinterhof hinaus und bemerkt, dass es keine Pflanzen gibt. Sie bietet an, Blumen und Kräuter zu pflanzen und steht jeden morgen früh auf, um an der Verschönerung der Umgebung zu arbeiten, und zwar ohne Aussicht, dafür entlöhnt zu werden. Zu Beginn des Films sieht man, wie Mary die Kopfsteinpflaster vor dem Hauseingang wäscht. Sie steht nicht bloß im Dienst des Dr. Jekyll; ihr ganzes Leben besteht im Dienen. Ihr Dienst hat nicht die idealistische Note, die man einem Missionar oder einer Krankenschwester oder einem Arzt zuschreibt; auch hat er nicht den Idealismus einer romantischen Liebe. Mary dient nicht aus Idealismus, sondern weil Dienen das ist, womit ihr Lebensschicksal sie beschert hat.
Zwischenmenschliche Beziehungen sind im Wandel begriffen; ein neuer Sinn und Zweck des Lebens will in Erscheinung treten, der damit zu tun hat, dass man anderen Menschen dient. Herkömmliche Beziehungen, bei denen man anderen etwas gibt und dafür viel zurückbekommen muss, werden altmodisch. Wir glauben, die Schwierigkeiten, die wir in Beziehungen haben, seien darauf zurückzuführen, dass wir uns nicht in rechter Art auf sie einlassen. Leider wird durch eine solche Denkweise ein Daseinsmodus in ein technisches Problem verwandelt. Technik und Beziehungspflege haben wenig miteinander zu tun; es kommt vielmehr darauf an, dass wir wissen, wem wir dienen, und in welcher Sache. Heißt dienen, den Menschen, den wir lieben, von vorne bis hinten zu bedienen? Nein. Es heißt nicht, den Wünschen des anderen Menschen zu dienen, sondern dessen Seele. Der Umstand, dass Mary tief in die Seele des Dr. Jekyll hineinblickt, wird in diesem Film offenbar. Und die Seele des Dr. Jekyll ist Mr. Hyde. Nichts mehr und nichts weniger. Einen anderen Menschen zu lieben bedeutet, dessen finsterste Aspekte zu lieben, nicht bloß die Qualitäten, die am ansprechendsten sind.
Wenn die Befriedigung des eigenen Selbst zum Hauptfokus einer Beziehung wird, so läuft man Gefahr, sich in Mr. Hyde zu verwandeln. Und wenn Selbstbefriedigung mit romantischen Idealen, Sentimentalität oder religiöser Ideologie verbunden ist, werden diese falschen Vorwände zum perfekten Versteck für Wut, Hass, Gewalt und Furcht, die auf kurz oder lang ausbrechen.
Die Psychologie lehrt, dass es schlecht sei, in einer Beziehung dem anderen Menschen zu dienen. Man spricht da von der Co-Abhängigkeit und sagt, es gelte, sich zu allererst um sich selbst zu kümmern. Nach heutigen Maßstäben würde Mary ganz bestimmt als psychisch krank gelten. Der Unterschied zwischen Marys Zustand und einer psychischen Erkrankung ist, dass Mary auch dann weiß, was sie tut, wenn es sich bei ihr um kein intellektuelles Wissen handelt. Bei ihr geht es vielmehr um ein Herzenswissen. Sie fühlt sich zwar von Dr. Jekyll angezogen; aber ihre Liebe gilt Mr. Hyde. Wer ist Hyde in Wirklichkeit? Er ist die Seele des Dr. Jekyll.
Wenn ich mit jemandem therapeutisch arbeiten würde, worin würde in diesem Fall das Wesen des Helfens bestehen? Dessen Seele zu lieben und sie ohne Urteilen anzublicken, damit er rückhaltlos Liebe erfahren kann. Ich müsste die finstersten Regionen, die hässlichsten Orte, die schrecklichsten Dimensionen der Seele dieses Menschen betreten, und zwar ohne das geringste Urteilen oder Zögern. Eine solche Empathie kommt einer Erlösungstat gleich. Was hätte ich davon? Nichts Persönliches – und wenn für mich doch etwas Persönliches drin, so würde sich der therapeutische Prozess zurückstauen. Ich verwende das Beispiel der Therapie, da ich glaube, dass sie für die letzten hundert Jahre das Prüfgelände abgibt für eine neue Art, sich Beziehungen vorzustellen. Es ist jetzt an der Zeit, dass diese Konzeption den Eingang in die weitere Welt findet.
Oben wird der therapeutische Prozess mit dem einen Wort Empathie gekennzeichnet. Dieses Wort beschreibt allerdings einen mit klar definierten Phasen versehenen Prozess, eine Tätigkeit, die man üben kann.[3] Der erste Aspekt dieser Tätigkeit besteht darin, mit Vorsatz und in einer Haltung der Offenheit unsere Aufmerksamkeit auf einen anderen Menschen zu richten. Wir erweitern einen Teil unseres Wesens über die üblichen Grenzen, entfachen Interesse für das Dasein und das Schicksal des anderen Menschen – aber nicht aus Neugierde, Abenteuer, Kritiksucht, Selbstinteresse oder Machtstreben. Diese Fähigkeit, unsere Aufmerksamkeit empathisch zu lenken, müssen wir in uns selbst finden und klar herausstellen. Sie fühlt sich wie ein offener Raum an. Diesen Raum müssen wir aber selber finden dadurch, dass wir uns zuerst unserer Wünsche Bewusst werden, und sie dann loslassen. Beim Orten dieser Fähigkeit geht es um einen bewussten Vorgang. Sie sitzt aber nicht im Vordergrund des Bewusstseins, da dieser voller Sorgen um sich selbst ist. Es muss als Erstes ein bewusstes Ausräumen dieser Interessen stattfinden, ein Aufgeben der eigenen landläufigen mentalen Prozesse; dann eine Bewegung in eine innere seelische Region der Ruhe. In diesem Ausräumen erfährt man ein Stillen des Geistes, ein Sichöffnen der Gegenwart des anderen Menschen, das von Neugierde oder In-Frage-Stellen ungetrübt ist. Sucht man diese Region, so wird man sie finden; es ist so, wie wenn ein Zustand der Klarheit einrasten würde. Sie ist dadurch zu finden, dass man sich von dem wegwendet, was man von dem anderen Menschen meint, und zu gleicher Zeit sich einer direkten Wahrnehmung dieses Menschen zuwendet.
Der zweite Aspekt dieser Tätigkeit besteht im Verweilen für kurze Zeit innerhalb der inneren Qualitäten des anderen Menschen. Eine solche Erfahrung ist mehr gefühlsartig, aber sie besteht nicht darin, dass man fragt „Was für Gefühle habe ich über diesen Menschen?“ Sie ist eher eine Stimmung, eine Färbung, ein Meer von Eindrücken, in dem man rein empfangend sich aufhält, ohne jede Sorge darum, ob man sich an die Erfahrung erinnern wird. Hier lässt man alle vorgefassten Vorstellungen über den anderen Menschen fallen. Man bemüht sich – so wie ein Kind, bevor es sich über die Welt Begriffe bildet – die inneren Eigenschaften des anderen Menschen zu fühlen. Dabei empfindet man kein Bedürfnis zu wissen, welche diese Eigenschaften sind: Deren unmittelbare Eindrücke und innere Qualitäten sind offen. In diesem Prozess verlieren wir aber für keinen Augenblick unseren Selbstsinn. Bei dieser Übung handelt es sich nicht um ein Zusammenfließen mit dem anderen Menschen.
Die dritte Phase besteht in der Rückkehr zu dem Teil von uns selbst, den wir in der Begegnung mit dem anderen Menschen verlassen hatten. Es bleibt ein Echo von dem übrig, was wir erfahren hatten, während wir innerhalb des anderen Menschen verweilten; diese Resonanz lebt nun als Seelenbild in uns weiter. Ein solches inneres Bild kann man durch Kontemplation nach und nach verstehen lernen. Die ersten zwei Aspekte treten oft recht schnell, ja im Augenblick ein. Der dritte Aspekt kann Sekunden, Stunden, Tage, sogar ein ganzes Leben auf sich warten lassen. Das Bilden eines wahren Verständnisses hinsichtlich eines anderen Menschen entwickelt sich nicht als intellektuelle Einsicht, sondern eher als eine innere Offenbarung. Wir finden zunächst keine Sprache, um das auszudrücken, was uns begegnet ist. Worte kommen deshalb nur langsam, weil wir unsere eigenen Begriffe auf die Erfahrung nicht anwenden können, sondern müssen zulassen, dass die Bild-Erfahrung sich ausspricht. Dieses innere Bild selbst lehrt uns die Sprache, durch die es am besten auszudrücken ist.
Die Übung dient zur Entfaltung der bewussten Fähigkeit, mit dem Seelenleben anderer kommunizierend in ein Verhältnis zu treten. Solche Tätigkeit befreit die Seele von der Furcht, denn anstatt dass wir den anderen Menschen zur Beruhigung unserer eigenen Ängste instrumentalisieren (was ja in Beziehungen so häufig vorkommt), ruft sie uns aus uns selbst heraus, um vor dem anderen Menschen anwesend zu sein.
Das Vermögen zur Empathie ist eine neue Form der Bildung: Es bildet in uns die Kunst aus, bewusst mit anderen Menschen eine Beziehung einzugehen. Der oben beschriebene Vorgang mag einem vielleicht befremdlich und entschieden unbehaglich vorkommen. Warum können wir nicht einfach unseren Sympathien folgen, auf der Grundlage dieser Sympathien Verbindungen knüpfen, und die Schwierigkeiten durcharbeiten, indem sie aufkommen? Und wenn es so ist, dass die Schwierigkeiten nicht durchgearbeitet werden können, entweder die Bindung auflösen oder einen Experten aufsuchen, der uns zeigen kann, wie wir uns zum Erfolg der Beziehung zu verhalten haben? Leider halten uns alle die psychologischen Tricks zur Beziehungspflege nur dazu an, die Kniffe des Spiels zu erlernen – was zwar vorübergehend zu Befriedigung führen kann, was aber am Ende die finsteren Eigenschaften des anderen Menschen sowie der eigenen Seele einsam und isoliert zurücklässt. Wenn wir uns von den wahren inneren Qualitäten des anderen Menschen fernhalten und uns von den eigenen Seelenfähigkeiten obendrein trennen, so kann die Furcht umso tiefer in das Leben der Beziehungen eintreten und sich zudem in cleveren psychologischen Techniken versteckt halten. In dem Maße, als wir nicht alle Aspekte des anderen Menschen lieben können, in eben dem Maße sind wir außerstande, alle Aspekte von uns selbst zu lieben, insbesondere die Finsternis in der eigenen Seele.
Furcht vor dem Leiden und dem Tod
Wir gewöhnen uns immer mehr daran, Berichte über Nahtodes-Erfahrungen zu hören. Uns allen ist das Bild des Tunnels mit den Wörtern „gehe dem Licht entgegen“ vertraut; ebenso vertraut sind uns Berichte über Begegnungen mit Familienmitgliedern, die die Schwelle übertreten haben, oder Begegnungen mit Engelwesen, auch mit Christus. Für viele Menschen gilt der Tod heute nicht als ein Endpunkt, sondern als Übergang von der einen Daseinsform in eine andere. Die meisten Menschen haben solche Geschichten am Rande ihres Bewusstseins. Nicht zuletzt als Gesamtkultur begegnen wir der Furcht vor dem Tode in noch vollerer und schöpferischer Weise als je zuvor. Die Phasen des Umgangs mit dem Tode sind inzwischen so gut bekannt, dass die meisten von uns sie auswendig aufsagen können, und die weite Verbreitung der Bücher zum Thema Tod und Sterben signalisiert die Entwicklung einer gesunden Psychologie des Todes sowie des Eintritts einer spirituellen Phantasie in die allgemeinen Kultur hinein. Vor dem Tod selbst fürchten wir uns wohl nicht mehr so sehr, als vor dem, was ihm vorausgehen mag.
Es scheint so, als würden wir uns mehr vor dem Schmerz und dem Leid um den Tod herum fürchten, als vor dem Tod selbst: Die Furcht trägt nicht mehr die Maske des Todes, sondern die des Leidens. Diese zwei liegen allerdings nicht sehr weit auseinander, und es kann sein, dass diese Änderung weiter nichts ist als ein teuflischer Betrug von Seiten der Furcht. Haben wir ein für alle Mal bis in die eigene Leiblichkeit hinein begriffen, dass wir sterben; haben wir einmal diesen alles durchdringenden, unverkennbaren Schrecken erlebt, so haben wir die Furcht besiegt. Auch wenn wir einmal eingesehen haben, dass der Tod kein Schlusspunkt ist, ist die Furcht in ähnlicher Weise besiegt. Deshalb tritt die Furcht vor dem Tod etwas zurück, aber sie hat noch immer einen Angriffspunkt: ihr Stachel befällt uns in anderer Weise. Sie tritt in unser Vorstellungsleben als die Möglichkeit schrecklicher Schmerzen und verharrenden Leidens ein.
Die Furcht vor dem Tod hat niemals mit dem Gefühl zu tun gehabt, dass er mit Schmerzen einhergehen würde. Womit der Tod uns stichelt, das ist Furcht davor, dass unser ganzes Leben – alles, was wir getan, gefühlt, gedacht haben – im Endeffekt bedeutungslos sein könnte. So machen solche Menschen, die keine innere Gewissheit über den Grund des Daseins oder über das, was nach dem Tode mit ihnen geschehen wird, ein schreckliches Grauen vor dem Tode durch. So findet die Furcht den Zugang zum Phänomen des Todes. Erst wenn der Mensch es versäumt, sich tiefgehend mit der Frage des eigenen Lebens zu beschäftigen, kann die Todesangst die Furcht vor Schmerz und Leid übersteigen.
Es kann also zwar durchaus sein, dass wir auf den Tod gefasst sind. Aber auf seelischer Ebene sind wir auf körperlichen Schmerz und körperliches Leiden schlicht nicht vorbereitet. Wer im Leben das nicht pflegt: ein wahrhaft erfühlendes Erleben der Schönheit der Welt, welches sowohl mit staunender Ehrfurcht als auch mit Schmerz einhergeht; wer das nicht pflegt, dessen Fähigkeit, mit der Gefühlsintensität des Leidens zurechtzukommen, bleibt nur schwach. Mit anderen Worten: Der Schmerz des Leidens ist deshalb von so großer Bedeutung, weil das Wunder des Fühlens nicht kultiviert wurde. Die Furcht vor dem Leiden ist größtenteils Ausdruck einer verborgeneren Furcht: davor nämlich, dass wir, die wir für den Großteil unseres Lebens ein wirkliches Fühlen verdrängt haben, am Ende ein solches Fühlen doch durchmachen werden. Besonders dann, wenn es über lange Zeit vernachlässigt wurde, kann es vorkommen, dass ein solches Fühlen in sehr kurzer, gedrängter Zeit erlebt wird. Der Preis dieser Vernachlässigung ist allerdings hoch. Wenn erst zum Ende des Lebens das Fühlen durchbricht, so fehlt ihm der Kontext der Schönheit, und es kann vielfach nur als Qual erlebt werden.
Auch wenn man sich im Lauf des Lebens um sein Gefühlsleben kümmert, gewährleistet das natürlich nicht, dass am Ende seines Lebens Schmerz und Leid ausbleiben werden. Sie sind aber nicht so mächtig, als dass sie die Seele und den Geist lähmen könnten, sodass für sie nur ein finsterer Abgrund übrigbleibt. Das bringt uns auf einen wichtigen Unterschied zwischen zwei Arten der Furcht. Es gibt die Furcht, die sich als Schrecken präsentiert. Dieser schneidet uns nicht nur von unserem Seelenleben ab, sondern auch von einer vitalen, lebendigen Verbindung mit anderen Menschen sowie mit der Welt als Ganzes. Dann gibt es die Art von Furcht, die uns ob unserer eigenen Unzulänglichkeiten in einen Zustand staunender Ehrfurcht versetzt. Die erste Art ist eine heillose, die zweite eine heilige Furcht. Die Arbeit, die Seele von der Furcht zu befreien, sucht das heillose Schrecken umzuwandeln und sich der heiligen Furcht, einer staunenden Ehrfurcht zuzuwenden. In wieweit uns diese Umwandlung und diese Zuwendung gelungen sind, wird uns womöglich erst dann deutlich, wenn wir vor unserem irdischen Ende stehen. Aber die Art, wie wir uns das Leiden vorstellen, kann uns ein wenig Aufschluss darüber geben. Enthält unsere Vorstellung des Leidens die Note eines unheilverkündenden Verderbens, oder leuchtet im Kern dieser Finsternis vielleicht ein unauslöschliches Licht?
Die moderne Medizin geht mit dem Schmerz wie mit einem technischen Problem um. Der Großteil der Ärzte heute sind der Ansicht, dass man den Schmerz, hauptsächlich durch Medikamente, handhaben kann. Andere sind der Ansicht, dass es Schmerzen gibt, über die man keine Handhabe hat, und bieten – unter dem wohlwollenden Namen „Beihilfe zur Selbsttötung“ – den Tod als Heilmittel. Keine dieser Sichtweisen sieht irgendeinen Wert im Leiden an sich, und beide Auffassungen des Todes sind insofern einseitig, als dass sie den Tod auf das Reich des Physischen beschränken. Für diejenigen, die eine solche Perspektive haben, wird das intensive Fühlen unerträglich, weil bei derselben der Geist leicht zu brechen ist; und wer mit dieser Auffassung Schmerzleidende pflegt, hat die eigene unmittelbare Auffassung des Schmerzes verloren und leugnet die Wirklichkeit des Geistes. Er weiß nicht, was er tut, und verfügt über lauter technische Hilfsleistungen, ob Morphium oder Sterbehilfe.
Das mit Schmerzen einhergehende Leiden versetzt einen in einen Zustand der Isolierung von anderen Menschen und der Umwelt. Übrig bleibt nur die eine Realität: das Leiden. In dieser Realität ist der Patient vollkommen alleine. Die Einsamkeit, die man dabei erleidet, erscheint oft unüberbrückbar, und es mag wohl den Anschein haben, als könnte man dem Patienten nicht anders beistehen, als indem man auf der seelischen Ebene unsensibel wird. Das heutige Medizinstudium ist eine Disziplin, durch die der Arzt im Beisein von Schmerzleidenden von den eigenen Gefühlen abgeschnürt wird: er sieht sich mit einer Realität konfrontiert, über die er keine Kontrolle hat, und konzentriert sich ausschließlich auf die praktischen Aspekte des Machbaren. Wie viele Mediziner sitzen mit einem Schmerzen leidenden Patienten, trauern mit ihm, geben Ausfufe des Kummers und der Qual von sich, fühlen dessen Leiden so, als wäre es das eigene? Das Seelenleben des Patienten ist in dieser Weise verlassen. Wohl mag der Krankenhauskaplan kommen und den Trost des Geistes anbieten, aber er wird vermutlich Abstand halten und sich in gütigen und sanften Worten sicher einhüllen, um am eigentlichen Leiden nicht teilnehmen zu müssen. Geliebte Personen trauern und weinen wohl, aber sie tun dies gewöhnlich als Ausdruck des eigenen Schmerzes, anstatt mit dem Schmerzen Leidenden zusammen.
In dieser Weise im Leid ganz alleingelassen zu sein: Halbbewusst stellen wir uns das als unser eigenes Los vor, und das ist es, was in uns eine Furcht auslöst, die täglich in uns lebt, die wir aber kaum gewahr sind. Das ursprüngliche Anliegen der Hospizbewegung bestand nicht so sehr darin, Patienten dabei behilflich zu sein, mit Schmerz zurechtzukommen, als darin, sich diesen isolierenden Umständen des Leidens zuzuwenden. Zwar gibt es viele Hospizarbeiter, die eine bemerkenswerte Fähigkeit haben, in intimer Weise mit dem Leiden und dem Sterben in Beziehung zu treten. Als jemand, der einer Reihe Mitarbeitersitzungen der Hospizbewegung beigewohnt hat, weiß ich aber, dass nicht diese seelische, sondern die medizinisch/technische Haltung den dominierenden Stellenwert bekommen hat. Viele Hospizarbeiter vermögen aus eigener Kraft einfach nicht, mit dem Sterbenden eine Intimität aufrechtzuerhalten, und nehmen Abstand. Mitarbeitersitzungen werden zu medizinischen Berichten, in denen die Schmerztherapie das Gespräch beherrscht, Abstand gewonnen wird, und niemand die richtige Sprache finden kann oder will, die der Gruppe als Ganzes dazu verhelfen kann, bei dem Leiden dabei zu sein.
Eine wunderbare urbildliche Erzählung davon, wie man mit einem Schmerzen Leidenden echt mitleiden kann, findet sich im altgriechischen Drama Philoktetes. Dieser war mit Agamemnon und Menelaus unterwegs nach Troja. Sie stiegen auf der winzigen Insel Chryse an Land, um den dortigen Göttern Opfer darzubringen. Während Philoktetes zum Schrein hinaufging, wurde er von einer Natter gebissen. Die Wunde begann zu eitern, färbte sich schwarz und wurde bald zu einem rasenden, blutenden Geschwür. Mit der Zeit zogen der Eiter und die Verwesung Maden in die Wunde an, was die Luft mit einem Gestank füllte, den keiner aushalten konnte. Die Gefährten des Philoktetes, von dessen Anblick und Geruch angewidert, setzten ihn auf der unbevölkerten Insel Lemnos aus. Auf der Insel gab es gar kein Leben – keine Bäume, keine Pflanzen, keine Tiere –, sondern nur trockene Erde und Felsklippen. Ohne den Bogen und die Pfeile, die Herakles ihm gegeben hatte, hatte Philoktetes nicht überlebt. Der Halbgott hatte den Bogen von Apollon selbst erhalten und Philoktetes gegeben, als dieser in Lebensnot war. Der Bogen, als Göttergabe, verfehlte niemals sein Ziel. Herzlich wenige Vögel überflogen die Insel Lemnos, aber Philoktetes verfehlte nie einen Schuss, uns so vermochte er, wenngleich nur knapp, zu überleben.
Zehn Jahre lang litt Philoktetes auf der Insel allein. Sein madiger Fuß heilte nicht, und nur einen erlegten Vogel hatte er gelegentlich zu Essen. Voller Verbitterung, Wut und Einsamkeit schrieb Philoktetes sowohl die Menschheit als auch die Götter ab. Dann nahte sich eines Tages ein Schiff. Odysseus und der Jüngling Neoptolemus, Sohn des Achilles, betraten den Strand. Sie waren gekommen, um Philoktetes zurückzuholen, denn ein Orakel hatte prophezeit, dass Troja erst mit dessen Hilfe erobert werden könne. Der Plan war gewesen, ihn mit List dazuzubringen, mit ihnen nach Troja zurückzufahren. Indem aber Neoptolemus mit Philoktetes sprach, gab er seine List schnell auf. Er bewunderte den Mut dieses leidenden Menschen und anstatt zu versuchen, ihn zu manipulieren, wartete er mit Philoktetes, lauschte dem, was er zu erzählen hatte, umsorgte ihn, weinte mit ihm. Odysseus hielt sich auf Distanz und sah aus einiger Entfernung zu. Endlich trat er aber hinzu und drohte, Philoktetes mit Gewalt mitzunehmen. Dieser nahm den Bogen und war im Begriff, Odysseus zu erschießen. Plötzlich erschien aber Herakles in einer Vision und sagte Philoktetes, dass er nach Troja fahren müsse. Dort werde er seine Gesundheit wiedererhalten und Ruhm erlangen.
Inmitten unserer alltäglichen Aufgaben kann es vorkommen, dass wir plötzlich ernstlich erkranken und schnell ins Krankenhaus müssen, ähnlich wie Philoktetes mitten im Ausführen seiner Pflichten verwundet und zur Insel Lemnos gebracht wurde. Der Name Philoktetes bedeutet „Liebe zum Eigentum“, und auf der Insel sah er sich ohne alles außer Pfeil und Bogen. Jeder von uns, wenn wir schwer erkranken, wird genauso plötzlich um alles das gebracht, was uns eine Empfindung dafür vermittelt, wer beziehungsweise was wir sind. Alles, was wir besitzen, wird uns entzogen. Vielleicht erhalten wir Besuch, der das Anliegen hat, uns sein Mitleid auszudrücken, uns zu fragen, wie wir uns heute fühlen, über alles zu reden, was zuhause vor sich geht, wie sehr wir vermisst werden, wie die Menschen bei der Arbeit es kaum abwarten können, bis wir wieder zurückkommen.
Wenn wir Glück haben, lenkt der Besuch in seinem Unbehagen nicht die Aufmerksamkeit von der intensiven Realität unseres Leidens auf andere Gesprächsthemen ab. Wenigstens einen Menschen gibt es, so hoffen wir, der klagen, trauern, in unserem Leiden mit uns aufjammern, ja uns sogar helfen kann, uns noch tiefer da hineinzubegeben.
Die Vision darf allerdings nicht wortwörtlich aufgefasst werden, in der Herakles erscheint und Philoktetes dazu nötigt, zur Menschengemeinschaft zurückzukehren, in der er genesen und Ehre erhalten wird. Dieses Bild will zum Ausdruck bringen, dass Philoktetes nur deshalb zur Gemeinschaft zurückkehren kann, weil jemand seinen Schmerz und sein Leiden mit ihm geteilt hat. Wenn man sprechen, weinen, verzweifeln darf, ohne den Anforderungen anderer genügen zu müssen, dann bildet sich eine Gemeinschaft des Leidens; die Isolierung wird durchbrochen, und die Furcht kann nicht mehr die Oberhand gewinnen.
Wäre der Schmerz weiter nichts als eine physische Realität, so wäre es dessen Linderung zu jedem Preis vielleicht gerechtfertigt. Im Schmerz bringt sich die Seele aber selbst zum Ausdruck, während umgekehrt das übermäßige Abstumpfen des Schmerzes die Seele verdunkelt und den Zugang zum Geist verhindert. Schmerz hat mit den Nervenprozesse des Körpers zu tun. Im normalen Leben und bei guter Gesundheit funktionieren die Nervenprozesse in reibungslosem Verhältnis zu den Lebensprozessen, und wir fühlen eine Vitalität in den Organen des Körpers – also in den Lungen, der Lieber, der Milz, dem Magen und so weiter. Auch die seelischen Prozesse spiegeln sich in den leiblichen Organen und sind also mit den Lebensprozessen intim verwandt. Die Beziehung zwischen den Lebensprozessen und den Seelenprozessen wird in der gegenwärtigen Physiologie und Psychologie zwar nicht anerkannt, aber in früheren Zeiten war sie wohl bekannt. In der Alchimie zum Beispiel, sowie auch in früheren Formen der Medizin, stellte man sich eine deutliche Beziehung zwischen den Planeten und bestimmten Leibesorganen vor. Der Renaissance-Philosoph Marsilio Ficino setzte die Planeten mit dem Seelenleben in direkte Verbindung.[4]
Normalerweise besteht eine wunderbare Balance und Harmonie zwischen den Nervenprozessen und den Lebensprozessen, die aber in Krankheitszuständen gestört wird. Liegt eine Fehlfunktion der Organe vor, so werden die Nervenprozesse durch die Lebensprozesse stark gereizt, was als Schmerz erlebt wird. Das ist aber eine technische Erklärung dafür, dass das Seelenleben ohne die Vermittlung durch Bilder ins Bewusstsein platzt. Diese Auffassung des Schmerzes entstammt der Arbeit Rudolf Steiners[5] und der Forschung in der anthroposophischen Medizin.[6]
Eine solche Auffassung legt nahe, dass die Art, wie wir unseren Schmerz ertragen, mit der Art der Seelenarbeit, die wir während unseres Lebens getan haben, sehr stark zusammenhängt. Auch legt sie nahe, dass es ebenso wichtig sein kann, sich auf seelischer Ebene mit Menschen einzulassen, die Schmerzen leiden (indem man sich mit ihnen grämt, mit ihnen trauert, mit ihnen weint), wie technische Maßnahmen anzuwenden, um Schmerzen zu beseitigen. Nimmt man auf der Seelenebene daran teil, so befreit das den Leidenden von der Verpflichtung, den unterschwelligen Anforderungen derer zu genügen, die ihn umgeben. Eine solche aktive Teilnahme lässt ferner zu, sich die Seele Dinge zum Ausdruck bringt, die womöglich seit Jahren vernachlässigt werden: die Sorge, die Reue, die ungelebten Hoffnungen, Träume und Wünsche, die unaufgelösten Konflikte und Missverständnisse, und am allerwichtigsten alle die Ängste, die dann intensiviert werden, wenn sie mit unser Sterblichkeit konfrontiert werden.
Wir können nur insofern den Leidenden dienen, als dass wir es im eigenen Leben vermocht haben, unsere Furcht zu verwandeln. Solche Bemühungen der Seele bereiten uns ferner auf das schmerzvolle Leiden, das uns womöglich selbst treffen wird. Vielleicht werden wir lernen, in rechter Weise mit technischen Lösungsansätzen im Umgang mit Schmerz zu arbeiten; vielleicht werden wir wahrzunehmen lernen, wann eine medikamentöse Behandlung zu weit geht, indem sie die subtilen Aspekte des Mysteriums vom Schmerz auslöscht. An dieser Stelle soll ganz bestimmt nicht das Abschaffen schmerzlindernder Mittel nahegelegt werden. Vielmehr wird nahezulegen versucht, wie wichtig es ist, die Seele in ihrem Verhältnis zu den Schmerzen mit zu berücksichtigen, anstatt diesen Faktor außen vor zu lassen. Wenn wir damit rechnen dürfen, dass andere Menschen auf der seelischen Ebene uns begleiten, so kann ein beträchtlicher Anteil der Furcht überwunden werden, die den Schmerz umschwebt.
Anmerkungen
[1] Betty S. Flowers, The Economic Myth (Austin: Center für Communications, University of Texas, 1993).
[2] Der Mensch, der diese Beschreibung verfasste, bat darum, nicht genannt zu werden.
[3] Baruch Urieli, Übungswege zur Erfahrung des Ätherischen: Empathie, Nachbild und neue Sozialethik, Verlag am Goetheanum, 1995
[4] Siehe zum Beispiel Thomas Moore, The Planets Within (Lewisburg, PA: Bicknell University Press, 1982).
[5] Siehe zum Beispiel Rudolf Steiner, Vom Menschenrätsel, GA 20.
[6] Um über eine Behandlung des Hintergrunds und der Entwicklung dieser Methode zu lesen siehe Dennis Klocek, Seeking Spirit Vision (Fair Oaks, CA: Rudolf Steiner College Press, 1998).