Letzter Teil des 6. Kapitels
Wie man sich des Doppelgängers bewusst wird
Die Arbeit, sich der Zeiten bewusst zu werden, in denen wir nicht ganz wir selbst sind, kann eine beängstigende Aufgabe sein. Wenn es Zeiten gibt, in denen wir uns nicht so benehmen, wie wir selbst sind, so meinen wir, es müsse mit uns psychologisch etwas nicht in Ordnung sein. Wir glauben ferner, dass solche Probleme durch Therapie oder einen Drogeneingriff wieder zu heilen wären. Das Problem der Verdoppelung ist aber kein bloßes Problem der individuellen Psychologie, sondern ein Problem, das daher stammt, dass man in einer Kultur der Furcht lebt.
Der erste Schritt zum Wachwerden für die Möglichkeit der Verdoppelung besteht darin, vor alledem auf der Hut zu sein, was unser Bewusstsein vermindert. Leider werden die Dinge, die das Bewusstsein vermindern, oft als etwas angepriesen, was genau das Gegenteil tun soll. Neben der Hypnose und den schon erwähnten schamanischen Praktiken gibt es viele Bewegungen, die eine Erweiterung des Bewusstseins anbieten, es aber recht eigentlich verringern. Das neurolinguistische Programmieren, Motivationstechniken, die das Gehen über glühenden Kohlen ermöglichen, EST, transzendentale Meditation, Meditations-CDs und viele New Age-Praktiken sind alle mit großer Vorsicht zu genießen. Sogar manche Psychotherapien können einen Menschen der Macht der Suggestion unterwerfen – darauf scheinen Vorkommnisse von False-Memory-Syndrom hinzuweisen. Der Umstand, dass diese Praktiken hilfreich zu sein beabsichtigen, ändert nichts daran, dass sie dazu aufrufen, den zartesten und kostbarsten Teil von uns selbst an andere Menschen auszuliefern, oftmals an Menschen, die von dem keine Ahnung haben, womit sie es zu tun haben.
Im alltäglichen Leben ist es möglich, die Handlungsweise des Doppelgängers aus dem Augenwinkel zu erblicken. Augenblicke, in denen uns bewusst wird, dass unser Bewusstsein der Raub des Fernsehens, der Computer, der Werbung, des Journalismus oder des politischen Jargons geworden sind – solche lichten Augenblicke können dem Doppelgänger vor der Haustür Einhalt gebieten. In dieser Domäne wird die Erkenntnis allwichtig. Aber es kann sich hier um keine gewöhnliche Erkenntnis handeln. Das Herz lässt sich vom Doppelgänger nicht befallen. So wird also die Ausbildung der seelischen Kapazitäten des Herzens zum zentralen Schutzmittel. Das intuitive Wahrnehmen lässt sich nicht betrügen. Durch andere Menschen kann uns diese Fähigkeit nicht geschenkt werden; es gilt, sie rein aus der inneren Freiheit und aus dem fortwährenden Erforschen des eigenen Bewusstseins heraus zu entwickeln. Ein Bewusstseinsaspekt bietet einen besonders wertvollen Schutz vor dem unwissentlichen Verlieren unseres Selbstsinns: das Gewissen. Das Gewissen ist der größte Beschützer vor Doppelgängern aller Art.
Das Gewissen wird herkömmlich als innere Stimme aufgefasst, die uns warnt, wenn wir im Begriff sind, uns auf einen falschen Pfad lenken zu lassen. Der Begriff des Gewissens muss aber neu überdacht werden – zumal im Lichte der Macht, die die Furcht in der Welt an sich gerissen hat, und auch im Lichte des Ausmaßes, in dem das Phänomen der Verdoppelung in das Wachleben eingedrungen ist. Wir können das Gewissen überhaupt erst dann erleben, wenn wir das Bewusstsein als ein Ereignis des ganzen Leibes erkennen. Und zwar so: Wann immer wir – mit der Furcht zusammen – von der Gelegenheit konfrontiert werden, der Furcht auszuweichen, indem wir uns etwas unterwerfen, was „wir selbst“ zu sein nur scheint aber nicht ist, so müsste sich unser Leib ob dieser Möglichkeit geradezu winden, dass wir etwas sein könnten, was nicht ganz Mensch ist. In dieser Weise müssten wir diese Gefahr bis ins Leibliche hinein empfinden.
Ein erster Schritt zum Erwachen des Gewissens kann darin bestehen, dass wir am Ende des Tages auf den Verlauf unserer Handlungen an diesem Tag zurückblicken. Wichtig dabei ist nicht nur, dass wir darüber nachdenken, was wir getan haben, sondern dass wir auch das Sichentfalten der Ereignisse und unserer Begegnungen mit anderen Menschen an diesem Tag als Bild in uns hervorrufen. Wir können noch weitergehen und uns die Auswirkungen unserer Handlungen auf das Leben anderer Menschen vorstellen, indem wir uns davon ein inneres Bild zu machen versuchen, was anderen Menschen als Ergebnis unserer Handlungen konkret zustößt. Uns selbst richten sollen wir nicht, sondern wir sollen nur unvoreingenommen unsere eigenen Handlungen beobachten. Ein solches Üben kann uns dazu verhelfen, die innere Stimme des Gewissens wiederherzustellen. Aber das genügt nicht. Je abgestumpfter unser Körper ist, umso schwerer wird es, auch dann unsere Handlungen zu verändern, wenn wir uns deren Auswirkungen in der Welt bewusster werden. Wir müssen uns auch vornehmen, auf eine innere, leibliche Wachheit hin zu arbeiten.
Unser Körper wird dann zu erwachen beginnen, wenn wir das, was wir sehen – die Pflanzen, die Berge, die Tiere, die Häuser, andere Menschen –, nicht bloß in seiner physischen Form betrachten, sondern indem wir beobachten, wie alles das, was uns umgibt, zusammengewoben ist. Wir können unsere Aufmerksamkeit auf das dynamische Zusammenspiel der Dinge der Welt lenken, anstatt direkt auf die Dinge selbst zu blicken. Siehe dir das Sichüberlagern der Wolken an, oder die aufsteigenden Nebel, oder die Art, wie das Licht durchbricht, oder wie in kaltem Wetter die Landschaft sich zusammenzieht und in warmem Wetter sich weitet, wie Konturen sich bilden und wieder verschwinden – siehe dir das alles an. Wenn du das zu einer übenden Fertigkeit ausbildest, wirst du wahrnehmen, wie in dir ganz bestimmte Gefühle erstehen: eine Traurigkeit, die in paradoxer Weise mit Freude zusammengesetzt ist. Wer kennt diese Gefühlseigenschaft beim Betrachten der roten Glut eines Sonnenuntergangs nicht – die von Augenblick zu Augenblick sich ändernde Färbung der Wolken, die jetzt golden leuchten, dann in Orange-Töne, darauf in Schattierungen von Lila übergehen, und allmählich zu Grau verblassen? Nicht nur Ehrfurcht empfinden wir vor einer solchen Schönheit, sondern auch ein Bisschen Traurigkeit.
Indem wir für die Rhythmen der Welt erwachen, werden wir für das empfindlich, was hinter diesen Offenbarungen als etwas Planvolles steckt, als etwas, was alles das verbindet, was entsteht und vergeht. Die Illusion, dass wir an uns selbst gebunden wären, dass wir in unserem Körper, vielleicht sogar in unserem Kopf gefangen seien, beginnt sich aufzulösen. Auch wir sind Teil des größeren Weltprozesses, indem wir geboren werden und versterben, und zwar nicht nur am Anfang und am Ende unseres Lebens sondern als ein beständiger Vorgang, der von Moment zu Moment fortschreitet. Uns selbst als Teil dieses fortlaufenden Weltenrhythmus zu empfinden kann dazu beitragen, dass wir unsere Eitelkeit abstreifen.
Da heraus, dass wir uns in die subtilen Gewebe der Weltprozesse hineintauchen, von denen wir ein Teil sind, entsteht ein neuer Sinn für das Gewissen. Kein Mensch, der in solcher Weise mit der Naturwelt Zeit verbracht hat, geht aus dieser Erfahrung ohne tief über die Bedeutung des eignen Lebens zu staunen, ohne das zu prüfen, was er gerade tut und etwa sich darüber Gedanken zu machen, wie weit er sich von dem entfernt hat, worauf es wirklich ankommt. Der starke Impuls, den wir oftmals empfinden, dem Alltag zu entfliehen, zu verreisen, in der Wildnis Zeit zu verbringen, überkommt uns nicht lediglich als eine von uns vorgestellte Befreiung vom Stress des alltäglichen Lebens, sondern auch als ein gesundes Warnsignal, dass wir auf bestem Wege sind, uns selbst zu verlieren. Die Seele hält uns dazu an, das wieder zurückzugewinnen, was wir dabei sind, zu verlieren.
Der Dichter Novalis nähert sich in seinem Romanfragment Heinrich von Ofterdingen der Frage des Gewissens in neuartiger Weise.[1] In dem diesbezüglichen Romanpassus findet ein Gespräch statt zwischen dem Protagonisten Heinrich und dem Pilger Sylvester:
»Wann wird es doch«, sagte Heinrich, »gar keiner Schrecken, keiner Schmerzen, keiner Not und keines Übels mehr im Weltall bedürfen?«
»Wenn es nur Eine Kraft gibt – die Kraft des Gewissens – Wenn die Natur züchtig und sittlich geworden ist. Es gibt nur Eine Ursache des Übels – die allgemeine Schwäche, und diese Schwäche ist nichts, als geringe sittliche Empfänglichkeit, und Mangel an Reiz der Freiheit.«
»Macht mir doch die Natur des Gewissens begreiflich.«
»Wenn ich das könnte, so wär ich Gott, denn indem man das Gewissen begreift, entsteht es.“
Indem Sylvester sagt, dass aus dem Kosmos alle Furcht dann gebannt werden wird, wenn die Natur keusch und moralisch wird, schließt er die Menschen in die Rhythmen der Natur mit ein. Zwar sehen wir es vielleicht nicht, aber unsere Handlungen, wenn sie unter dem Einfluss des Doppelgängers stehen, schaden nicht nur uns selbst und anderen, sondern sie vermindern auch das Leben der Natur. Kommt uns die Welt nicht ein klein wenig erstarrter vor, wenn wir aus Wut, Hass, Neid oder Furcht gehandelt haben? Das Gefühl, als wären wir von der Traurigkeit berührt worden, wann immer wir die Rhythmen der Natur erleben, ist ein Weg zum Erkennen, wie sehr wir uns von dem Ganzen entfernt haben. Unsere moralische Empfänglichkeit schwächelt umso mehr, je mehr wir uns von den Rhythmen der Welt abtrennen. Sylvester äußert ein interessantes Aperçu – dass sich nämlich auch die Schwäche aus einem Mangel an Interesse für die Freiheit ergibt. Die Freiheit heißt in der Regel, von externen Zwängen frei zu sein, frei zu sein, etwas zu tun. Diese gewohnte Auffassung des Wortes hat aber mit dem Wesen der menschlichen Freiheit nichts zu tun, welches darin besteht, dass wir alle genau der Mensch sind, der wir sind, und zwar nicht nur in äußerlicher Weise, sondern sowohl in unserer Seele wie auch in unserem Geist.
Nicht nur durch unseren Leib in seiner Teilhabe an den Weltenrhythmen erwacht das Gewissen, sondern auch aus einem inneren Gespür für die Konsequenzen unserer Taten. Dieses Reich des Fühlens ist anders, als landläufige Schuldgefühle. Schuldgefühle entstammen moralischen Grundsätzen, die uns durch andere Menschen eingeimpft wurden – durch unsere Eltern, unsere Schulbildung, unsere Religion. Verhalten wir uns dem Sittenkodex nicht konform, der uns eingepflanzt worden ist, so erleben wir Schuldgefühle. Die ethischen Situationen aber, mit denen wir aktuell zu tun bekommen, sind weit komplizierter geworden, als unsere veraltete Moral bewältigen kann, und an Schuldgefühlen können wir uns nicht mehr wirksam orientieren. Ferner sind wir uns viel bewusster geworden, wie die Moral zu Zwecken eingesetzt wird, die nicht im eigentlichen Sinne moralisch gemeint sind. Millionenfach wurden Menschen genötigt, weil so genannte moralische Autoritäten ihre Macht dazu missbraucht haben, in von ihnen abhängigen Menschen Schuldgefühle hervorzurufen. Ein neues, ein inneres Feld des moralischen Fühlens muss erstehen: ein im Herzen zentriertes Gefühl dafür, ob man selbst zu der dynamischen Ordnung der Kräfte dazugehört, die die Welt zusammenweben, oder ob man von dieser Ordnung abweicht.
Werde ich für die Rhythmen der Naturwelt leiblich empfindlich, so bin ich dazu in der Lage, es ganz deutlich zu spüren, wenn ich nicht mit den seelischen und geistigen Qualitäten im Leben Konform gehe. In einem solchen Moment weiß ich zwar vielleicht nicht, worauf dieses Gefühl der Disharmonie zurückzuführen ist; dennoch veranlasst es mich zum Nachdenken. Es kann passieren, dass ich mich in solchem Augenblick an spezifische Handlungen erinnere, die die Anwesenheit des Doppelgängers zu verkündigen schienen. Ich erinnere mich etwa daran, dass ich meine Partnerin angeschrien habe, und verstehe das jetzt nicht bloß als einen Moment des Ungehaltenseins, sondern ich stelle fest, dass es nicht ganz ich selbst war, der ungehalten wurde. Das befreit mich allerdings nicht von der Verantwortung für meine Tat – meinem Doppelgänger kann ich sie nicht andrehen. Im Gegenteil: Meine Verantwortung nimmt zu, denn ich empfinde noch akuter, wie wichtig es ist, vor dem, was ich gerade tue, anwesend und wach zu sein und nicht bloß impulsiv zu handeln. Mit dieser Steigerung des Bewusstseins schmiede ich eine neue Auffassung davon, einen neuen Sinn dafür, was das Gewissen ist.
Man mag meinen, der Versuch, eine neue Auffassung des Gewissens dadurch zu erwecken, dass man eine körperliche Präsenz vor den Weltenrhythmen entwickelt, würde uns direkt in den Kessel der Furcht hineinstürzen. Ist doch auch – wie oben beschrieben – die Naturwelt von der Furcht durchsetzt. Und in der Tat: Wir nähern uns einer Zeit, in der die natürlichen Rhythmen der Welt dermaßen gestört sein werden, dass dieser Weg zum Erwecken des Bewusstseins nicht mehr gangbar sein wird. Es gibt noch Sonnenauf- und -untergang, noch bilden sich und lösen sich Wolken auf, die Pflanzen wachsen noch, und Tiere laufen noch frei herum. Aber es besteht kein Zweifel daran, dass die Furcht auch noch anwesend ist. Das bedeutet, dass, um das Gewissen in der beschriebenen Weise zu erwecken, es nicht mehr genügt, lediglich die Eigenschaften der Naturwelt zu genießen. Es gilt, ein mehr gegenseitiges Verhältnis mit den Rhythmen der natürlichen Welt zur Entwicklung zu bringen. Es geht nicht mehr an, dass wir uns des eigenen Genusses, der eigenen Erfrischung, der eigenen Erholung wegen der Natur zuwenden. Unsere Teilhabe an der Natur muss zu einer Praktik werden, welche sich daran orientiert, uns in ein rechtes Verhältnis zu unserem Leib hineinzuversetzen. Unter diesen Umständen können wir durch das von unserer Zeit so benötigte moralische Bewusstsein uns zu erden suchen. Dann wird die Furcht nicht die Oberhand gewinnen können.
[1] Rudolf Steiner, GA 110: Geistige Hierarchien und ihre Widerspiegelung in der physischen Welt: Tierkreis, Planeten, Kosmos.
Demnächst wird eine kostenlose pdf-Datei des ganzen sechsten Kapitels von "Die Befreiung der Seele von der Furcht" zum Herunterladen geben.
In etwa zwei Wochen beginnt die Veröffentlichung von Kapitel VII: "Liebe vertreibt die Furcht".
Wie man sich des Doppelgängers bewusst wird
Die Arbeit, sich der Zeiten bewusst zu werden, in denen wir nicht ganz wir selbst sind, kann eine beängstigende Aufgabe sein. Wenn es Zeiten gibt, in denen wir uns nicht so benehmen, wie wir selbst sind, so meinen wir, es müsse mit uns psychologisch etwas nicht in Ordnung sein. Wir glauben ferner, dass solche Probleme durch Therapie oder einen Drogeneingriff wieder zu heilen wären. Das Problem der Verdoppelung ist aber kein bloßes Problem der individuellen Psychologie, sondern ein Problem, das daher stammt, dass man in einer Kultur der Furcht lebt.
Der erste Schritt zum Wachwerden für die Möglichkeit der Verdoppelung besteht darin, vor alledem auf der Hut zu sein, was unser Bewusstsein vermindert. Leider werden die Dinge, die das Bewusstsein vermindern, oft als etwas angepriesen, was genau das Gegenteil tun soll. Neben der Hypnose und den schon erwähnten schamanischen Praktiken gibt es viele Bewegungen, die eine Erweiterung des Bewusstseins anbieten, es aber recht eigentlich verringern. Das neurolinguistische Programmieren, Motivationstechniken, die das Gehen über glühenden Kohlen ermöglichen, EST, transzendentale Meditation, Meditations-CDs und viele New Age-Praktiken sind alle mit großer Vorsicht zu genießen. Sogar manche Psychotherapien können einen Menschen der Macht der Suggestion unterwerfen – darauf scheinen Vorkommnisse von False-Memory-Syndrom hinzuweisen. Der Umstand, dass diese Praktiken hilfreich zu sein beabsichtigen, ändert nichts daran, dass sie dazu aufrufen, den zartesten und kostbarsten Teil von uns selbst an andere Menschen auszuliefern, oftmals an Menschen, die von dem keine Ahnung haben, womit sie es zu tun haben.
Im alltäglichen Leben ist es möglich, die Handlungsweise des Doppelgängers aus dem Augenwinkel zu erblicken. Augenblicke, in denen uns bewusst wird, dass unser Bewusstsein der Raub des Fernsehens, der Computer, der Werbung, des Journalismus oder des politischen Jargons geworden sind – solche lichten Augenblicke können dem Doppelgänger vor der Haustür Einhalt gebieten. In dieser Domäne wird die Erkenntnis allwichtig. Aber es kann sich hier um keine gewöhnliche Erkenntnis handeln. Das Herz lässt sich vom Doppelgänger nicht befallen. So wird also die Ausbildung der seelischen Kapazitäten des Herzens zum zentralen Schutzmittel. Das intuitive Wahrnehmen lässt sich nicht betrügen. Durch andere Menschen kann uns diese Fähigkeit nicht geschenkt werden; es gilt, sie rein aus der inneren Freiheit und aus dem fortwährenden Erforschen des eigenen Bewusstseins heraus zu entwickeln. Ein Bewusstseinsaspekt bietet einen besonders wertvollen Schutz vor dem unwissentlichen Verlieren unseres Selbstsinns: das Gewissen. Das Gewissen ist der größte Beschützer vor Doppelgängern aller Art.
Das Gewissen wird herkömmlich als innere Stimme aufgefasst, die uns warnt, wenn wir im Begriff sind, uns auf einen falschen Pfad lenken zu lassen. Der Begriff des Gewissens muss aber neu überdacht werden – zumal im Lichte der Macht, die die Furcht in der Welt an sich gerissen hat, und auch im Lichte des Ausmaßes, in dem das Phänomen der Verdoppelung in das Wachleben eingedrungen ist. Wir können das Gewissen überhaupt erst dann erleben, wenn wir das Bewusstsein als ein Ereignis des ganzen Leibes erkennen. Und zwar so: Wann immer wir – mit der Furcht zusammen – von der Gelegenheit konfrontiert werden, der Furcht auszuweichen, indem wir uns etwas unterwerfen, was „wir selbst“ zu sein nur scheint aber nicht ist, so müsste sich unser Leib ob dieser Möglichkeit geradezu winden, dass wir etwas sein könnten, was nicht ganz Mensch ist. In dieser Weise müssten wir diese Gefahr bis ins Leibliche hinein empfinden.
Ein erster Schritt zum Erwachen des Gewissens kann darin bestehen, dass wir am Ende des Tages auf den Verlauf unserer Handlungen an diesem Tag zurückblicken. Wichtig dabei ist nicht nur, dass wir darüber nachdenken, was wir getan haben, sondern dass wir auch das Sichentfalten der Ereignisse und unserer Begegnungen mit anderen Menschen an diesem Tag als Bild in uns hervorrufen. Wir können noch weitergehen und uns die Auswirkungen unserer Handlungen auf das Leben anderer Menschen vorstellen, indem wir uns davon ein inneres Bild zu machen versuchen, was anderen Menschen als Ergebnis unserer Handlungen konkret zustößt. Uns selbst richten sollen wir nicht, sondern wir sollen nur unvoreingenommen unsere eigenen Handlungen beobachten. Ein solches Üben kann uns dazu verhelfen, die innere Stimme des Gewissens wiederherzustellen. Aber das genügt nicht. Je abgestumpfter unser Körper ist, umso schwerer wird es, auch dann unsere Handlungen zu verändern, wenn wir uns deren Auswirkungen in der Welt bewusster werden. Wir müssen uns auch vornehmen, auf eine innere, leibliche Wachheit hin zu arbeiten.
Unser Körper wird dann zu erwachen beginnen, wenn wir das, was wir sehen – die Pflanzen, die Berge, die Tiere, die Häuser, andere Menschen –, nicht bloß in seiner physischen Form betrachten, sondern indem wir beobachten, wie alles das, was uns umgibt, zusammengewoben ist. Wir können unsere Aufmerksamkeit auf das dynamische Zusammenspiel der Dinge der Welt lenken, anstatt direkt auf die Dinge selbst zu blicken. Siehe dir das Sichüberlagern der Wolken an, oder die aufsteigenden Nebel, oder die Art, wie das Licht durchbricht, oder wie in kaltem Wetter die Landschaft sich zusammenzieht und in warmem Wetter sich weitet, wie Konturen sich bilden und wieder verschwinden – siehe dir das alles an. Wenn du das zu einer übenden Fertigkeit ausbildest, wirst du wahrnehmen, wie in dir ganz bestimmte Gefühle erstehen: eine Traurigkeit, die in paradoxer Weise mit Freude zusammengesetzt ist. Wer kennt diese Gefühlseigenschaft beim Betrachten der roten Glut eines Sonnenuntergangs nicht – die von Augenblick zu Augenblick sich ändernde Färbung der Wolken, die jetzt golden leuchten, dann in Orange-Töne, darauf in Schattierungen von Lila übergehen, und allmählich zu Grau verblassen? Nicht nur Ehrfurcht empfinden wir vor einer solchen Schönheit, sondern auch ein Bisschen Traurigkeit.
Indem wir für die Rhythmen der Welt erwachen, werden wir für das empfindlich, was hinter diesen Offenbarungen als etwas Planvolles steckt, als etwas, was alles das verbindet, was entsteht und vergeht. Die Illusion, dass wir an uns selbst gebunden wären, dass wir in unserem Körper, vielleicht sogar in unserem Kopf gefangen seien, beginnt sich aufzulösen. Auch wir sind Teil des größeren Weltprozesses, indem wir geboren werden und versterben, und zwar nicht nur am Anfang und am Ende unseres Lebens sondern als ein beständiger Vorgang, der von Moment zu Moment fortschreitet. Uns selbst als Teil dieses fortlaufenden Weltenrhythmus zu empfinden kann dazu beitragen, dass wir unsere Eitelkeit abstreifen.
Da heraus, dass wir uns in die subtilen Gewebe der Weltprozesse hineintauchen, von denen wir ein Teil sind, entsteht ein neuer Sinn für das Gewissen. Kein Mensch, der in solcher Weise mit der Naturwelt Zeit verbracht hat, geht aus dieser Erfahrung ohne tief über die Bedeutung des eignen Lebens zu staunen, ohne das zu prüfen, was er gerade tut und etwa sich darüber Gedanken zu machen, wie weit er sich von dem entfernt hat, worauf es wirklich ankommt. Der starke Impuls, den wir oftmals empfinden, dem Alltag zu entfliehen, zu verreisen, in der Wildnis Zeit zu verbringen, überkommt uns nicht lediglich als eine von uns vorgestellte Befreiung vom Stress des alltäglichen Lebens, sondern auch als ein gesundes Warnsignal, dass wir auf bestem Wege sind, uns selbst zu verlieren. Die Seele hält uns dazu an, das wieder zurückzugewinnen, was wir dabei sind, zu verlieren.
Der Dichter Novalis nähert sich in seinem Romanfragment Heinrich von Ofterdingen der Frage des Gewissens in neuartiger Weise.[1] In dem diesbezüglichen Romanpassus findet ein Gespräch statt zwischen dem Protagonisten Heinrich und dem Pilger Sylvester:
»Wann wird es doch«, sagte Heinrich, »gar keiner Schrecken, keiner Schmerzen, keiner Not und keines Übels mehr im Weltall bedürfen?«
»Wenn es nur Eine Kraft gibt – die Kraft des Gewissens – Wenn die Natur züchtig und sittlich geworden ist. Es gibt nur Eine Ursache des Übels – die allgemeine Schwäche, und diese Schwäche ist nichts, als geringe sittliche Empfänglichkeit, und Mangel an Reiz der Freiheit.«
»Macht mir doch die Natur des Gewissens begreiflich.«
»Wenn ich das könnte, so wär ich Gott, denn indem man das Gewissen begreift, entsteht es.“
Indem Sylvester sagt, dass aus dem Kosmos alle Furcht dann gebannt werden wird, wenn die Natur keusch und moralisch wird, schließt er die Menschen in die Rhythmen der Natur mit ein. Zwar sehen wir es vielleicht nicht, aber unsere Handlungen, wenn sie unter dem Einfluss des Doppelgängers stehen, schaden nicht nur uns selbst und anderen, sondern sie vermindern auch das Leben der Natur. Kommt uns die Welt nicht ein klein wenig erstarrter vor, wenn wir aus Wut, Hass, Neid oder Furcht gehandelt haben? Das Gefühl, als wären wir von der Traurigkeit berührt worden, wann immer wir die Rhythmen der Natur erleben, ist ein Weg zum Erkennen, wie sehr wir uns von dem Ganzen entfernt haben. Unsere moralische Empfänglichkeit schwächelt umso mehr, je mehr wir uns von den Rhythmen der Welt abtrennen. Sylvester äußert ein interessantes Aperçu – dass sich nämlich auch die Schwäche aus einem Mangel an Interesse für die Freiheit ergibt. Die Freiheit heißt in der Regel, von externen Zwängen frei zu sein, frei zu sein, etwas zu tun. Diese gewohnte Auffassung des Wortes hat aber mit dem Wesen der menschlichen Freiheit nichts zu tun, welches darin besteht, dass wir alle genau der Mensch sind, der wir sind, und zwar nicht nur in äußerlicher Weise, sondern sowohl in unserer Seele wie auch in unserem Geist.
Nicht nur durch unseren Leib in seiner Teilhabe an den Weltenrhythmen erwacht das Gewissen, sondern auch aus einem inneren Gespür für die Konsequenzen unserer Taten. Dieses Reich des Fühlens ist anders, als landläufige Schuldgefühle. Schuldgefühle entstammen moralischen Grundsätzen, die uns durch andere Menschen eingeimpft wurden – durch unsere Eltern, unsere Schulbildung, unsere Religion. Verhalten wir uns dem Sittenkodex nicht konform, der uns eingepflanzt worden ist, so erleben wir Schuldgefühle. Die ethischen Situationen aber, mit denen wir aktuell zu tun bekommen, sind weit komplizierter geworden, als unsere veraltete Moral bewältigen kann, und an Schuldgefühlen können wir uns nicht mehr wirksam orientieren. Ferner sind wir uns viel bewusster geworden, wie die Moral zu Zwecken eingesetzt wird, die nicht im eigentlichen Sinne moralisch gemeint sind. Millionenfach wurden Menschen genötigt, weil so genannte moralische Autoritäten ihre Macht dazu missbraucht haben, in von ihnen abhängigen Menschen Schuldgefühle hervorzurufen. Ein neues, ein inneres Feld des moralischen Fühlens muss erstehen: ein im Herzen zentriertes Gefühl dafür, ob man selbst zu der dynamischen Ordnung der Kräfte dazugehört, die die Welt zusammenweben, oder ob man von dieser Ordnung abweicht.
Werde ich für die Rhythmen der Naturwelt leiblich empfindlich, so bin ich dazu in der Lage, es ganz deutlich zu spüren, wenn ich nicht mit den seelischen und geistigen Qualitäten im Leben Konform gehe. In einem solchen Moment weiß ich zwar vielleicht nicht, worauf dieses Gefühl der Disharmonie zurückzuführen ist; dennoch veranlasst es mich zum Nachdenken. Es kann passieren, dass ich mich in solchem Augenblick an spezifische Handlungen erinnere, die die Anwesenheit des Doppelgängers zu verkündigen schienen. Ich erinnere mich etwa daran, dass ich meine Partnerin angeschrien habe, und verstehe das jetzt nicht bloß als einen Moment des Ungehaltenseins, sondern ich stelle fest, dass es nicht ganz ich selbst war, der ungehalten wurde. Das befreit mich allerdings nicht von der Verantwortung für meine Tat – meinem Doppelgänger kann ich sie nicht andrehen. Im Gegenteil: Meine Verantwortung nimmt zu, denn ich empfinde noch akuter, wie wichtig es ist, vor dem, was ich gerade tue, anwesend und wach zu sein und nicht bloß impulsiv zu handeln. Mit dieser Steigerung des Bewusstseins schmiede ich eine neue Auffassung davon, einen neuen Sinn dafür, was das Gewissen ist.
Man mag meinen, der Versuch, eine neue Auffassung des Gewissens dadurch zu erwecken, dass man eine körperliche Präsenz vor den Weltenrhythmen entwickelt, würde uns direkt in den Kessel der Furcht hineinstürzen. Ist doch auch – wie oben beschrieben – die Naturwelt von der Furcht durchsetzt. Und in der Tat: Wir nähern uns einer Zeit, in der die natürlichen Rhythmen der Welt dermaßen gestört sein werden, dass dieser Weg zum Erwecken des Bewusstseins nicht mehr gangbar sein wird. Es gibt noch Sonnenauf- und -untergang, noch bilden sich und lösen sich Wolken auf, die Pflanzen wachsen noch, und Tiere laufen noch frei herum. Aber es besteht kein Zweifel daran, dass die Furcht auch noch anwesend ist. Das bedeutet, dass, um das Gewissen in der beschriebenen Weise zu erwecken, es nicht mehr genügt, lediglich die Eigenschaften der Naturwelt zu genießen. Es gilt, ein mehr gegenseitiges Verhältnis mit den Rhythmen der natürlichen Welt zur Entwicklung zu bringen. Es geht nicht mehr an, dass wir uns des eigenen Genusses, der eigenen Erfrischung, der eigenen Erholung wegen der Natur zuwenden. Unsere Teilhabe an der Natur muss zu einer Praktik werden, welche sich daran orientiert, uns in ein rechtes Verhältnis zu unserem Leib hineinzuversetzen. Unter diesen Umständen können wir durch das von unserer Zeit so benötigte moralische Bewusstsein uns zu erden suchen. Dann wird die Furcht nicht die Oberhand gewinnen können.
[1] Rudolf Steiner, GA 110: Geistige Hierarchien und ihre Widerspiegelung in der physischen Welt: Tierkreis, Planeten, Kosmos.
Demnächst wird eine kostenlose pdf-Datei des ganzen sechsten Kapitels von "Die Befreiung der Seele von der Furcht" zum Herunterladen geben.
In etwa zwei Wochen beginnt die Veröffentlichung von Kapitel VII: "Liebe vertreibt die Furcht".