Der Doppelgänger [Teil 1]
Wie kommt es, dass wir die Furcht nicht weit mächtiger und weit kontinuierlicher erleben, als dies ohnehin schon der Fall ist? Haben wir uns so sehr an sie gewöhnt, dass sie uns nicht eigentlich stört, außer wenn sie mit einer Intensität auftritt, die wir nicht ignorieren können? Sind wir wirklich derart betäubt? Die Betäubung hinsichtlich unserer Ängste stammt nicht davon her, dass wir sie unterdrücken, sondern von etwas viel ernsthafterem: Wir befinden uns in einer existentiellen Situation, in der wir zu jeder Zeit zu ihren Komplizen werden können, und zwar ohne dass wir es überhaupt bemerken. Wann immer eine solche Komplizenschaft – unwissend – eingegangen wird, wird die Wesenheit eines Menschen durch etwas ausgewechselt, was zwar ein menschliches Aussehen und eine menschliche Handlungsweise besitzt, was aber kein Mensch ist.
Wir sind nicht immer wir selbst. Das ist eine wohlbekannte Tatsache, und das Studium und die Behandlung von Menschen, die es schwer haben, sie selbst zu sein, ist ein anerkanntes Feld der therapeutischen Psychologie:
Etwa zeitgleich mit der Tiefenpsychologie Freuds und Jungs tritt eine Reihe von Schriftstellern auf, die Erzählungen recht merkwürdiger Erlebnisse erfinden – Geschichten von Charakteren, die nicht "sie selbst" waren, die neben sich standen, die in Zustände verfielen, die noch erschreckender sind, als eine so genannte psychische Erkrankung. Diese Geschichten handeln von Individualitäten, die sich von einer Art Gespenst konfrontiert fanden, einem Phantom von sich selbst in der äußeren Welt: dem Phänomen des Doppelgängers. Recht häufig kommt in der Literatur des mittleren bis späten 19. Jahrhunderts der Doppelgänger vor: von Oscar Wilde, Guy de Maupassant, E.T.A. Hoffmann, Dostoevski und Mary Shelley, um nur einige wenige aufzuzählen. Solche Beisiele des Doppelgängers in der Literatur werden von dem Psychoanalitiker und Zeitgenossen Freuds Otto Rank untersucht, in dessen Werk Der Doppelgänger. Eine psychoanalytische Studie.[1] Es ist einmal so, dass in literarischen Werken und in Filmen dieses Phänomen weit besser dargestellt ist, als in der Psychologie. Das Genre scheint verblasst zu haben und mit ihm auch unser Verständnis davon, wie die Furcht unser Menschsein usurpieren kann. Übriggeblieben sind uns nur landläufige psychologische Kategorien, welche den Verlust der menschlichen Authentizität auf psychologische Schwierigkeiten zurückführen.
So vielfältig die Gestalten auch sind, die der Doppelgänger annehmen kann: In der Regel enthält er Aspekte des eigenen Selbstbildes, wobei ihm dennoch ein eigener Wille zugeschrieben wird. Guy de Maupassants Erzählung „Der Horla“ etwa stellt einen gespenstartigen Doppelgänger dar, dem es aber um mehr als das Einjagen eines nur kurzzeitigen Schreckens zu tun ist.[2] Er laugt die Lebenskraft selbst aus der Hauptfigur der Erzählung (die nicht benannt wird). Die Erscheinung des Doppelgängers ereignet sich ganz plötzlich:
Beginnend im Herbst vergangenen Jahres wurde ich plötzlich von eigenartigen, unerklärlichen Anfällen des Unbehagens heimgesucht. Das war zunächst eine Art nervöser Ängstlichkeit, die mich ganze Nächte wach hielt. Ich befand mich hierbei in einem Zustand solcher Spannung dass auch das leiseste Geräusch mich aufschrecken ließ. Ich wurde übellaunig. Ich geriet ohne Grund in Zorn. Ich ließ einen Arzt kommen. Der verschrieb Kaliumbromid und Duschen.
Der Erzähler berichtet einer Versammlung von Ärzten und Wissenschaftlern die vielen geheimnisvollen Dinge, die ihm zugestoßen sind: Eine auf seinem Nachttisch gestellte Wasserkaraffe, die vor dem Schlafengehen gefüllt worden war, fand er am anderen Morgen immer leer vor (nach einiger Zeit denkt er sich eine Probe aus, um sicherzustellen, dass es nicht er selbst ist, der während der Nacht das Wasser austrinkt). Er beschreibt, wie er eines Tages eine Rose sieht, die wie von unsichtbarer Hand vom Strauch abgebrochen und in die Luft gehoben wird, wie wenn jemand sie sich an die Nase halten würde. Er berichtet davon, wie er, als er eines Tages in seinem Zimmer beim Lesen war, eine Präsenz spürte, als würde ihm jemand über die Schulter sehen und wie, als er sich umdrehte, der auf der anderen Seite des Zimmers befindliche Spiegel sein Bild nicht widerspiegelte; wie aber nach einem Moment sein Spiegelbild wieder in Erscheinung trat, als hätte sich etwas, was zwischen ihm und dem Spiegel gestanden hatte, wieder aus dem Weg bewegt.
Am Ende seines Berichts an die Ärzte und Forscher erklärt der Erzähler, für wen er diese unsichtbaren Prasenz wohl halte dürfe:
So sehen Sie also, meine Herren, eine Wesenheit. Eine neue Wesenheit, die zweifelsohne sich so vermehren wird, wie auch wir es getan haben, ist soeben auf der Erde erschienen… Was ist das? Meine Herren, es handelt sich um die Wesenheit, die nach dem Menschen kommen soll und auf deren Ankunft die Erde wartet! Diese Wesenheit ist gekommen, um uns zu entthronen, uns zu unterwerfen, uns zu zähmen, womöglich um sich in derselben Weise von uns zu ernähren, wie wir uns von Vieh und Schweinen ernähren. Wir hatten immer eine böse Vorahnung von ihr, seit Jahrhunderten graut uns vor ihr, seit Jahrhunderten verkündigen wir ihr Kommen. … Und in allem, was Sie selbst, meine Herren, seit Jahren tun, in dem, was Sie Hypnose, Suggestion, tierischen Magnetismus nennen, verkündigen sie ihn seit Jahren. … Ich sage Ihnen, er ist gekommen. Er streift – zurückhaltend, wie es wohl auch die ersten Menschen waren – auf der Erde umher, weiß noch nicht das volle Ausmaß seiner Stärke und seiner Kraft. Bald genug – ja allzubald – wird er es wissen.
Die Erscheinung des Doppelgängers in der Weltliteratur zur gleichen Zeit als das entstehen der Tiefenpsychologie ist ein Indiz dafür, dass die Künstler und Psychologen zwar aus verschiedenen Blickwinkeln, aber ein ähnliches Phänomen behandelten. Beide Gruppen beschäftigten sich damit, wie wir unser Selbstempfinden verlieren. Die Psychologen bestimmten, dass der Ursprung aller solchen Phänomene innerhalb der individuellen Psyche liege, und zwar als Ergebnis der persönlichen Lebensgeschichte. Otto Rank etwa reduziert ausdrücklich die künstlerische Darstellung des Doppelgängers auf persönliche Schwierigkeiten von Seiten des jeweiligen Schriftstellers. Er beschreibt de Maupassant als Produkt einer hysterischen Mutter, der außerdem noch eine Anlage zur Psychose gehabt habe, eine Behauptung, die wiederum dadurch unterstützt wird, dass de Maupassants jüngerer Bruder unter einer hysterischen Lähmung litt. Andere Schriftsteller, die den Doppelgänger darstellen, werden von Rank in ähnlicher Weise diagnostiziert. Er führt den Ursprung der Erzählungen des E. T. A. Hoffmann ebenfalls auf eine hysterische Mutter zurück. Die eigenartigen Doppelgänger-Geschichten des E. A. Poe, etwa William Wilson, schreibt er Poes Alkoholgenuss zu. Dostoewskis Faszination mit dem Doppelgänger erklärt er anhand von dessen Epilepsieerkrankung. Die Psychologie fasste das Problem des Doppelgängers als ein bloßes Symptom psychischer Störungen zusammen. Es wurde zu einem Anzeichen der Psychose, der Paranoia, oder aber zu einem Hinweis auf exzessive egozentrische Tendenzen. Der Doppelgänger wurde auf eine halluzinatorische Erfahrung reduziert und nicht als eine kulturelle Wirklichkeit erkannt.
Angesichts der Tatsache, dass in vielen Fällen die Erscheinung des Doppelgängers in der Literatur dem Leben des Schriftstellers parallel verläuft, ist Ranks Erklärung nachvollziehbar. Ein solches Vorkommnis berichtet Goethe in seiner Autobiographie Dichtung und Wahrheit:
[D]a überfiel mich eine der sonderbarsten Ahndungen. Ich sah nämlich, nicht mit den Augen des Leibes, sondern des Geistes, mich mir selbst, denselben Weg, zu Pferde wieder entgegen kommen, und zwar in einem Kleide, wie ich es nie getragen: es war hechtgrau mit etwas Gold. Sobald ich mich aus diesem Traum aufschüttelte, war die Gestalt ganz hinweg. Sonderbar ist es jedoch, daß ich nach acht Jahren, in dem Kleide, das mir geträumt hatte, und das ich nicht aus Wahl, sondern aus Zufall gerade trug, mich auf demselben Wege fand, um Friedriken noch einmal zu besuchen.
Der Doppelgänger erscheint oft als jemand, der genau so aussieht, wie man selbst. Aber die Erfahrung hat so manche Variationen. In de Maupassants Erzählung offenbart sich die Präsenz nicht ganz in dieser Form. Er trinkt allerdings das Wasser, das dem Ich-Erzähler gehört, und es hat den Anschein, als würde er die Bücher des Ich-Erzählers lesen, während er über dessen Schulter schaut und alles das tut, was auch der Ich-Erzähler tut. In den meisten dieser Geschichten aus dem 19. Jahrhundert gibt sich der Doppelgänger als eine externe Erscheinung. Goethes Bericht enthält insofern eine überraschende Wendung, als dass er die Gestalt des Doppelgängers zwar nicht physisch wahrnimmt, wohl aber wie wenn er physisch gewesen wäre und mit dem inneren Auge. In der Beschreibung Goethes findet sich dieser auf derselben Straße, die er früher geritten ist, und auch so gekleidet, wie die Erscheinung acht Jahre zuvor. Die psychische Erscheinung des Doppelgängers scheint immer ein tatsächliches physisches Ergebnis nach sich zu ziehen. Seine Erkenntnis, dass der Doppelgänger durch das geistige und nicht durch das physische Auge erscheint, zeugt davon, dass Goethe viel wacher war als andere, die solche Erlebnisse hatten. Sein Beobachtungsvermögen war tiefgreifender, was vermutlich seiner Arbeit nicht nur als Dichter, sondern auch als wissenschaftlicher Forscher zu verdanken war. Wer keine solchen Fähigkeiten besitzt, dem unterläuft leicht eine Verwechslung zwischen Bild und Wahrnehmungswirklichkeit. Dieses Detail ist aus dem Grund wichtig, weil es zeigt, wie völlige Wachheit erforderlich ist, sofern man feststellen will, wann der Doppelgänger seinen Einfluss auf uns ausübt.
Um das Phänomen des Doppelgängers erforschen zu können, müssen wir uns vom Vorurteil psychologischer Erklärungen befreien. Rank, zum Beispiel, verstand den Doppelgänger als eine Manifestation des Narzissmus. Wann immer das Ego von der Auflösung bedroht ist, ob durch den nahenden Tod oder durch den Verlust der Liebe, sucht es sich dadurch zu retten, dass es ein externes Bild von sich schafft. Das ist die typische psychologische Erklärung des Doppelgängers.
Ich betrachte die Künstler, die den Doppelgänger zum ersten Mal darstellten, lieber als Prophete denn als psychologisch dement. Ganz bestimmt haben Dostoewski, Goethe, Hoffmann, Poe, Stevenson, Shelley, Wilde, Stoker und Baudelaire Tieferes und Bedeutenderes zum Ausdruck gebracht, als ihre eigenen Probleme mit Mutti. Das, was diese Künstler in prophetischer Weise fantasierten, war eine intuitive Wahrnehmung in Form von Bildern – Bilder nicht von deren eigener, mutmaßlich geistesgestörter Psyche, sondern Bilder der Zukunft, welche die Richtung darstellen, in der die Menschheit unterwegs ist. Wenn der Ich-Erzähler in der Erzählung von de Maupassant berichtet, dass etwas kommt, um die Menschheit einzuholen, so bietet er auch ein Bild davon. Ganz am Ende seiner Erzählung sagt er, dass er intuitiv fühlt, wie die Ankunft des Doppelgängers etwas mit einem Brasilianischen Schiff zu tun habe, das er im Hafen ankommen sah, als er einmal von seinem Haus hinausspähte (das Haus blickt auf die Seine hinaus). Er spekuliert darüber, dass das auf dem Schiff ankommende gespenstische Wesen einen Bezug zu einem Fluch habe, von dem eine ganze Gegend in Brasil verwüstet worden sei, und zitiert einen Bericht, den er in der Zeitung gelesen habe:
Eine Art Wahnsinns-Epidemie scheint seit einiger Zeit im Staate Sao Paulo gewütet zu haben. Die Bewohner mehrerer Dörfer sind geflüchtet, haben ihre Äcker und Häuser aufgegeben, da, wie sie behaupten, sie von unsichtbaren Vampiren verfolgt und gefressen worden seien, die von ihrem Atem zehrten, während sie schliefen, und die weiter nichts tranken, als Wasser und Milch.
Der Erzähler suggeriert, dass das Gespenst zu dem Schiff hingefunden habe, überlässt es aber dem Leser, dies mit der erbarmungslosen Zerstörung der brasilianischen Landschaft in Verbindung bringen. Das Schiff sei mit einer Fracht geladen gewesen, die den Bodenschätzen entnommen worden sei, welche den brasilianischen Dörfen umlagen, und de Maupassant malt das Bild eines ausbeuterischen Kommerzialismus, ein Bild von Ländern, die verwüstet worden seien, um die materiellen Bedürfnisse der Welt zu befriedigen. Es ist, wie wenn das Fällen der Bäume, das Ausgraben der Mineralien keinen Versteck mehr für diese eigenartige Wesenheit übrig gelassen hätte.
Das Bild, das von dieser leidenden Wesenheit dargeboten wird – eine Welt, die den materialistischen Begierden und der Technik vollkommen ausgeliefert ist – ist nun in unserem Hafen angekommen. In dieser Welt sehen wir unsere Umgebung nicht mehr als Ganzes, sondern wir sehen nur uns selbst, und zwar nur ein ungeheuer reduziertes Bild von uns selbst. Wir sehen unseren materialistischen Geiz und fühlen uns vom Jenseits abgetrennt. Nur: Diese Trennung ist von uns selbst vollzogen worden. Indem wir uns nun die Welt vorstellen, ist sie nicht mehr die Fülle der Seelenwelt zusammen mit der irdischen Welt, nicht mehr die große Vereinigung des Sichtbaren mit dem Unsichtbaren, sondern sie ist eine Doppelwelt.
Diese Teilung in zwei Welten erhält sich durch die Anwesenheit der Furcht aufrecht. Wir würden den Schmerz ob des Verlustes der Daseinsfülle noch viel deutlicher und klarer empfinden, gäbe es nicht die Furcht und deren Beauftragten, den Doppelgänger, durch welchen sie uns das vergessen lässt, was wir verloren haben. Psychologische Deutungen der oben geschilderten Art reduzieren allerdings den Doppelgänger auf ein Problem des Narzissmus. Die literarischen Autoren waren aber nicht in Egoismus verstrickt. Vielmehr nahmen sie den Doppelgänger – eine eifrige, lüsterne, hochmütige, neidische, egoistische Macht – in der Welt wahr; als eine autonome Kraft, die in ihrem Streben nach Weltbeherrschung oftmals unsere menschliche Form annimmt.
Anstatt zu versuchen, die Gewalt zu bestimmen, die hinter dem Doppelgänger steckt (das würde uns auf das Feld der Theologie bringen), ist es vielleicht nützlicher, wenn wir uns dranmachen, ihre Funktionsweise und ihre diversen Erscheinungsformen zu beschreiben. Die vom Doppelgänger angewandten Methoden, um uns unsere Menschlichkeit vergessen zu lassen, wurden in vorangehenden Kapiteln behandelt: die Manifestationen der Furcht in der Welt vervielfachen sich, lassen den Leib zusammenzucken, treten mit Macht in unser Bewusstsein ein, und wir funktionieren dann als etwas, was nicht wir selbst ist. Die oben erwähnten Schriftsteller haben sich den Doppelgänger als äußere Figur vorgestellt; aber inzwischen ist er in unser eigenstes Wesen eingetreten. Dort besteht seine Funktionsweise darin, uns mittels der überwältigenden Gegenwart der Furcht in einem Dauerzustand der Betäubung zu erhalten. So kommt es, dass die Ängste in der Welt weitgehend ungehemmt zunehmen dürfen.
[1] Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Leipzig 1925; Nachdruck: Turia & Kant, Wien 1993, ISBN 3-85132-062-X..
[2] Text bei http://gutenberg.spiegel.de/buch/der-horla-2518/1
Wir sind nicht immer wir selbst. Das ist eine wohlbekannte Tatsache, und das Studium und die Behandlung von Menschen, die es schwer haben, sie selbst zu sein, ist ein anerkanntes Feld der therapeutischen Psychologie:
- Freud stellte im Menschen psychische Abwehrmechanismen fest, die als Verteidigung gegen innere Aspekte eines Menschen dienen sollen, die diesem als inakzeptabel gelten. Freuds Theorie gemäß bildet der Mensch dann eine Art Alter Ego, wenn das, was unter der Bewusstseinsoberfläche liegt, nicht geduldet werden darf.
- C. G. Jung behauptete, dass wir von der Fülle unseres Selbstes abgespalten werden, wenn wir von der inneren, spontanen, bildschaffenden Tätigkeit der Seele getrennt werden. Laut Jung bleiben die uns widerwärtigen Aspekte von uns selbst in uns vergraben und bilden eine andere Seite unserer Persönlichkeit: den Schatten.
Etwa zeitgleich mit der Tiefenpsychologie Freuds und Jungs tritt eine Reihe von Schriftstellern auf, die Erzählungen recht merkwürdiger Erlebnisse erfinden – Geschichten von Charakteren, die nicht "sie selbst" waren, die neben sich standen, die in Zustände verfielen, die noch erschreckender sind, als eine so genannte psychische Erkrankung. Diese Geschichten handeln von Individualitäten, die sich von einer Art Gespenst konfrontiert fanden, einem Phantom von sich selbst in der äußeren Welt: dem Phänomen des Doppelgängers. Recht häufig kommt in der Literatur des mittleren bis späten 19. Jahrhunderts der Doppelgänger vor: von Oscar Wilde, Guy de Maupassant, E.T.A. Hoffmann, Dostoevski und Mary Shelley, um nur einige wenige aufzuzählen. Solche Beisiele des Doppelgängers in der Literatur werden von dem Psychoanalitiker und Zeitgenossen Freuds Otto Rank untersucht, in dessen Werk Der Doppelgänger. Eine psychoanalytische Studie.[1] Es ist einmal so, dass in literarischen Werken und in Filmen dieses Phänomen weit besser dargestellt ist, als in der Psychologie. Das Genre scheint verblasst zu haben und mit ihm auch unser Verständnis davon, wie die Furcht unser Menschsein usurpieren kann. Übriggeblieben sind uns nur landläufige psychologische Kategorien, welche den Verlust der menschlichen Authentizität auf psychologische Schwierigkeiten zurückführen.
So vielfältig die Gestalten auch sind, die der Doppelgänger annehmen kann: In der Regel enthält er Aspekte des eigenen Selbstbildes, wobei ihm dennoch ein eigener Wille zugeschrieben wird. Guy de Maupassants Erzählung „Der Horla“ etwa stellt einen gespenstartigen Doppelgänger dar, dem es aber um mehr als das Einjagen eines nur kurzzeitigen Schreckens zu tun ist.[2] Er laugt die Lebenskraft selbst aus der Hauptfigur der Erzählung (die nicht benannt wird). Die Erscheinung des Doppelgängers ereignet sich ganz plötzlich:
Beginnend im Herbst vergangenen Jahres wurde ich plötzlich von eigenartigen, unerklärlichen Anfällen des Unbehagens heimgesucht. Das war zunächst eine Art nervöser Ängstlichkeit, die mich ganze Nächte wach hielt. Ich befand mich hierbei in einem Zustand solcher Spannung dass auch das leiseste Geräusch mich aufschrecken ließ. Ich wurde übellaunig. Ich geriet ohne Grund in Zorn. Ich ließ einen Arzt kommen. Der verschrieb Kaliumbromid und Duschen.
Der Erzähler berichtet einer Versammlung von Ärzten und Wissenschaftlern die vielen geheimnisvollen Dinge, die ihm zugestoßen sind: Eine auf seinem Nachttisch gestellte Wasserkaraffe, die vor dem Schlafengehen gefüllt worden war, fand er am anderen Morgen immer leer vor (nach einiger Zeit denkt er sich eine Probe aus, um sicherzustellen, dass es nicht er selbst ist, der während der Nacht das Wasser austrinkt). Er beschreibt, wie er eines Tages eine Rose sieht, die wie von unsichtbarer Hand vom Strauch abgebrochen und in die Luft gehoben wird, wie wenn jemand sie sich an die Nase halten würde. Er berichtet davon, wie er, als er eines Tages in seinem Zimmer beim Lesen war, eine Präsenz spürte, als würde ihm jemand über die Schulter sehen und wie, als er sich umdrehte, der auf der anderen Seite des Zimmers befindliche Spiegel sein Bild nicht widerspiegelte; wie aber nach einem Moment sein Spiegelbild wieder in Erscheinung trat, als hätte sich etwas, was zwischen ihm und dem Spiegel gestanden hatte, wieder aus dem Weg bewegt.
Am Ende seines Berichts an die Ärzte und Forscher erklärt der Erzähler, für wen er diese unsichtbaren Prasenz wohl halte dürfe:
So sehen Sie also, meine Herren, eine Wesenheit. Eine neue Wesenheit, die zweifelsohne sich so vermehren wird, wie auch wir es getan haben, ist soeben auf der Erde erschienen… Was ist das? Meine Herren, es handelt sich um die Wesenheit, die nach dem Menschen kommen soll und auf deren Ankunft die Erde wartet! Diese Wesenheit ist gekommen, um uns zu entthronen, uns zu unterwerfen, uns zu zähmen, womöglich um sich in derselben Weise von uns zu ernähren, wie wir uns von Vieh und Schweinen ernähren. Wir hatten immer eine böse Vorahnung von ihr, seit Jahrhunderten graut uns vor ihr, seit Jahrhunderten verkündigen wir ihr Kommen. … Und in allem, was Sie selbst, meine Herren, seit Jahren tun, in dem, was Sie Hypnose, Suggestion, tierischen Magnetismus nennen, verkündigen sie ihn seit Jahren. … Ich sage Ihnen, er ist gekommen. Er streift – zurückhaltend, wie es wohl auch die ersten Menschen waren – auf der Erde umher, weiß noch nicht das volle Ausmaß seiner Stärke und seiner Kraft. Bald genug – ja allzubald – wird er es wissen.
Die Erscheinung des Doppelgängers in der Weltliteratur zur gleichen Zeit als das entstehen der Tiefenpsychologie ist ein Indiz dafür, dass die Künstler und Psychologen zwar aus verschiedenen Blickwinkeln, aber ein ähnliches Phänomen behandelten. Beide Gruppen beschäftigten sich damit, wie wir unser Selbstempfinden verlieren. Die Psychologen bestimmten, dass der Ursprung aller solchen Phänomene innerhalb der individuellen Psyche liege, und zwar als Ergebnis der persönlichen Lebensgeschichte. Otto Rank etwa reduziert ausdrücklich die künstlerische Darstellung des Doppelgängers auf persönliche Schwierigkeiten von Seiten des jeweiligen Schriftstellers. Er beschreibt de Maupassant als Produkt einer hysterischen Mutter, der außerdem noch eine Anlage zur Psychose gehabt habe, eine Behauptung, die wiederum dadurch unterstützt wird, dass de Maupassants jüngerer Bruder unter einer hysterischen Lähmung litt. Andere Schriftsteller, die den Doppelgänger darstellen, werden von Rank in ähnlicher Weise diagnostiziert. Er führt den Ursprung der Erzählungen des E. T. A. Hoffmann ebenfalls auf eine hysterische Mutter zurück. Die eigenartigen Doppelgänger-Geschichten des E. A. Poe, etwa William Wilson, schreibt er Poes Alkoholgenuss zu. Dostoewskis Faszination mit dem Doppelgänger erklärt er anhand von dessen Epilepsieerkrankung. Die Psychologie fasste das Problem des Doppelgängers als ein bloßes Symptom psychischer Störungen zusammen. Es wurde zu einem Anzeichen der Psychose, der Paranoia, oder aber zu einem Hinweis auf exzessive egozentrische Tendenzen. Der Doppelgänger wurde auf eine halluzinatorische Erfahrung reduziert und nicht als eine kulturelle Wirklichkeit erkannt.
Angesichts der Tatsache, dass in vielen Fällen die Erscheinung des Doppelgängers in der Literatur dem Leben des Schriftstellers parallel verläuft, ist Ranks Erklärung nachvollziehbar. Ein solches Vorkommnis berichtet Goethe in seiner Autobiographie Dichtung und Wahrheit:
[D]a überfiel mich eine der sonderbarsten Ahndungen. Ich sah nämlich, nicht mit den Augen des Leibes, sondern des Geistes, mich mir selbst, denselben Weg, zu Pferde wieder entgegen kommen, und zwar in einem Kleide, wie ich es nie getragen: es war hechtgrau mit etwas Gold. Sobald ich mich aus diesem Traum aufschüttelte, war die Gestalt ganz hinweg. Sonderbar ist es jedoch, daß ich nach acht Jahren, in dem Kleide, das mir geträumt hatte, und das ich nicht aus Wahl, sondern aus Zufall gerade trug, mich auf demselben Wege fand, um Friedriken noch einmal zu besuchen.
Der Doppelgänger erscheint oft als jemand, der genau so aussieht, wie man selbst. Aber die Erfahrung hat so manche Variationen. In de Maupassants Erzählung offenbart sich die Präsenz nicht ganz in dieser Form. Er trinkt allerdings das Wasser, das dem Ich-Erzähler gehört, und es hat den Anschein, als würde er die Bücher des Ich-Erzählers lesen, während er über dessen Schulter schaut und alles das tut, was auch der Ich-Erzähler tut. In den meisten dieser Geschichten aus dem 19. Jahrhundert gibt sich der Doppelgänger als eine externe Erscheinung. Goethes Bericht enthält insofern eine überraschende Wendung, als dass er die Gestalt des Doppelgängers zwar nicht physisch wahrnimmt, wohl aber wie wenn er physisch gewesen wäre und mit dem inneren Auge. In der Beschreibung Goethes findet sich dieser auf derselben Straße, die er früher geritten ist, und auch so gekleidet, wie die Erscheinung acht Jahre zuvor. Die psychische Erscheinung des Doppelgängers scheint immer ein tatsächliches physisches Ergebnis nach sich zu ziehen. Seine Erkenntnis, dass der Doppelgänger durch das geistige und nicht durch das physische Auge erscheint, zeugt davon, dass Goethe viel wacher war als andere, die solche Erlebnisse hatten. Sein Beobachtungsvermögen war tiefgreifender, was vermutlich seiner Arbeit nicht nur als Dichter, sondern auch als wissenschaftlicher Forscher zu verdanken war. Wer keine solchen Fähigkeiten besitzt, dem unterläuft leicht eine Verwechslung zwischen Bild und Wahrnehmungswirklichkeit. Dieses Detail ist aus dem Grund wichtig, weil es zeigt, wie völlige Wachheit erforderlich ist, sofern man feststellen will, wann der Doppelgänger seinen Einfluss auf uns ausübt.
Um das Phänomen des Doppelgängers erforschen zu können, müssen wir uns vom Vorurteil psychologischer Erklärungen befreien. Rank, zum Beispiel, verstand den Doppelgänger als eine Manifestation des Narzissmus. Wann immer das Ego von der Auflösung bedroht ist, ob durch den nahenden Tod oder durch den Verlust der Liebe, sucht es sich dadurch zu retten, dass es ein externes Bild von sich schafft. Das ist die typische psychologische Erklärung des Doppelgängers.
Ich betrachte die Künstler, die den Doppelgänger zum ersten Mal darstellten, lieber als Prophete denn als psychologisch dement. Ganz bestimmt haben Dostoewski, Goethe, Hoffmann, Poe, Stevenson, Shelley, Wilde, Stoker und Baudelaire Tieferes und Bedeutenderes zum Ausdruck gebracht, als ihre eigenen Probleme mit Mutti. Das, was diese Künstler in prophetischer Weise fantasierten, war eine intuitive Wahrnehmung in Form von Bildern – Bilder nicht von deren eigener, mutmaßlich geistesgestörter Psyche, sondern Bilder der Zukunft, welche die Richtung darstellen, in der die Menschheit unterwegs ist. Wenn der Ich-Erzähler in der Erzählung von de Maupassant berichtet, dass etwas kommt, um die Menschheit einzuholen, so bietet er auch ein Bild davon. Ganz am Ende seiner Erzählung sagt er, dass er intuitiv fühlt, wie die Ankunft des Doppelgängers etwas mit einem Brasilianischen Schiff zu tun habe, das er im Hafen ankommen sah, als er einmal von seinem Haus hinausspähte (das Haus blickt auf die Seine hinaus). Er spekuliert darüber, dass das auf dem Schiff ankommende gespenstische Wesen einen Bezug zu einem Fluch habe, von dem eine ganze Gegend in Brasil verwüstet worden sei, und zitiert einen Bericht, den er in der Zeitung gelesen habe:
Eine Art Wahnsinns-Epidemie scheint seit einiger Zeit im Staate Sao Paulo gewütet zu haben. Die Bewohner mehrerer Dörfer sind geflüchtet, haben ihre Äcker und Häuser aufgegeben, da, wie sie behaupten, sie von unsichtbaren Vampiren verfolgt und gefressen worden seien, die von ihrem Atem zehrten, während sie schliefen, und die weiter nichts tranken, als Wasser und Milch.
Der Erzähler suggeriert, dass das Gespenst zu dem Schiff hingefunden habe, überlässt es aber dem Leser, dies mit der erbarmungslosen Zerstörung der brasilianischen Landschaft in Verbindung bringen. Das Schiff sei mit einer Fracht geladen gewesen, die den Bodenschätzen entnommen worden sei, welche den brasilianischen Dörfen umlagen, und de Maupassant malt das Bild eines ausbeuterischen Kommerzialismus, ein Bild von Ländern, die verwüstet worden seien, um die materiellen Bedürfnisse der Welt zu befriedigen. Es ist, wie wenn das Fällen der Bäume, das Ausgraben der Mineralien keinen Versteck mehr für diese eigenartige Wesenheit übrig gelassen hätte.
Das Bild, das von dieser leidenden Wesenheit dargeboten wird – eine Welt, die den materialistischen Begierden und der Technik vollkommen ausgeliefert ist – ist nun in unserem Hafen angekommen. In dieser Welt sehen wir unsere Umgebung nicht mehr als Ganzes, sondern wir sehen nur uns selbst, und zwar nur ein ungeheuer reduziertes Bild von uns selbst. Wir sehen unseren materialistischen Geiz und fühlen uns vom Jenseits abgetrennt. Nur: Diese Trennung ist von uns selbst vollzogen worden. Indem wir uns nun die Welt vorstellen, ist sie nicht mehr die Fülle der Seelenwelt zusammen mit der irdischen Welt, nicht mehr die große Vereinigung des Sichtbaren mit dem Unsichtbaren, sondern sie ist eine Doppelwelt.
Diese Teilung in zwei Welten erhält sich durch die Anwesenheit der Furcht aufrecht. Wir würden den Schmerz ob des Verlustes der Daseinsfülle noch viel deutlicher und klarer empfinden, gäbe es nicht die Furcht und deren Beauftragten, den Doppelgänger, durch welchen sie uns das vergessen lässt, was wir verloren haben. Psychologische Deutungen der oben geschilderten Art reduzieren allerdings den Doppelgänger auf ein Problem des Narzissmus. Die literarischen Autoren waren aber nicht in Egoismus verstrickt. Vielmehr nahmen sie den Doppelgänger – eine eifrige, lüsterne, hochmütige, neidische, egoistische Macht – in der Welt wahr; als eine autonome Kraft, die in ihrem Streben nach Weltbeherrschung oftmals unsere menschliche Form annimmt.
Anstatt zu versuchen, die Gewalt zu bestimmen, die hinter dem Doppelgänger steckt (das würde uns auf das Feld der Theologie bringen), ist es vielleicht nützlicher, wenn wir uns dranmachen, ihre Funktionsweise und ihre diversen Erscheinungsformen zu beschreiben. Die vom Doppelgänger angewandten Methoden, um uns unsere Menschlichkeit vergessen zu lassen, wurden in vorangehenden Kapiteln behandelt: die Manifestationen der Furcht in der Welt vervielfachen sich, lassen den Leib zusammenzucken, treten mit Macht in unser Bewusstsein ein, und wir funktionieren dann als etwas, was nicht wir selbst ist. Die oben erwähnten Schriftsteller haben sich den Doppelgänger als äußere Figur vorgestellt; aber inzwischen ist er in unser eigenstes Wesen eingetreten. Dort besteht seine Funktionsweise darin, uns mittels der überwältigenden Gegenwart der Furcht in einem Dauerzustand der Betäubung zu erhalten. So kommt es, dass die Ängste in der Welt weitgehend ungehemmt zunehmen dürfen.
[1] Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Leipzig 1925; Nachdruck: Turia & Kant, Wien 1993, ISBN 3-85132-062-X..
[2] Text bei http://gutenberg.spiegel.de/buch/der-horla-2518/1