Schöpferische Liebe
Wenn die Liebe darauf beschränkt wäre, nur zwischen Menschen zu fließen, so könnte sie die Vorstöße der Angst auf den vielen oben erwähnten Gebieten nicht aufhalten. Auch in die Welt hinein muss die Liebe fließen, ja sie muss Teil der Substanz der Welt selbst werden. Derjenige Modus der Liebe mit der Macht, sowohl den Menschen wie auch die Welt umzuwandeln, ist die schöpferische Liebe. Wollen wir einen Einblick in diese Art der Liebe gewinnen, so müssen wir erst an dem Feuer der Liebe so sehr gelitten haben, dass wir die Gestaltung unseres Körpers zu ihrem Werkzeug zulassen wollen. Wir müssen das Heranbranden der sexuellen Liebe fühlen können, ohne sie weder „sanieren“ noch sie in willkürlicher Weise gebrauchen zu wollen. Letzteres soll nicht heißen, dass wir Zölibat werden müssen. Das Kennzeichen davon, die Flammen der sexuellen Liebe läuternd überstanden zu haben, ist ein Freude-Gefühl im Körper; Freude daran, ein empfindendes Wesen überhaupt zu sein. Freude an der Gegenwart aller Dinge der irdischen Welt.
Zweitens müssen wir hinlänglich die Flammen der Liebe durchlitten haben, wie diese in der Seele brennen. Fühlen wir unser Getrenntsein von denen, die wir lieben? Fühlen wir, wie dieses Getrenntsein durch die uns Liebenden beschützt und überwacht wird? Fühlen wir uns trotz dieses Getrenntseins miteinander vereinigt? Fühlen wir innere Freude an und Erstaunen vor der nie enden wollenden Seelentiefe? Fühlen wir uns dazu berufen, die Seelentiefe jener zu beschützen und zu bewachen, die wir lieben? Kennen wir überhaupt das Reich der Seele und haben es nicht mehr nötig, jemanden um eine Definition von „Seele“ zu bitten? Ferner: Durchflammt das Feuer der Liebe nicht nur unseren Körper und unsere Seele, sondern verwandelt es auch unser Denken so gründlich, dass ihre schöpferische Macht in uns ein phantasievolles Denken und Wahrnehmen inspiriert? Wann immer die diversen Arten der Liebe durch uns hindurchwirken und uns verwandeln, wird es möglich, einen Blick auch auf die schöpferische Liebe zu erhaschen.
Schöpferische Liebe wirkt in merkwürdiger, ja in eigener Weise. Zu ihrer Wesensart lässt sich kaum etwas sagen; wir können sie nur durch ihre Wirkungen erkennen. Die schöpferische Liebe wirkt in vollkommen qualitativer Art und Weise; alle andere Liebe übrigens auch, aber mit den anderen Modi kann es wenigstens einen Bezugspunkt geben, der uns auf etwas Substantielles hinweist – wie etwa das Gefühl einer starken oder aber nicht so starken Liebe, einer intensiven oder weniger intensiven Liebe. Bei der schöpferischen Liebe erzeugt auch die kleinste in die Welt hinein freigesetzte Handlung der Liebe die gleichen Ergebnisse, wie die größte. Die Liebe existiert nicht als Quantität, und so gelten bei ihr streng genommen die Kriterien „groß“ und „klein“ gar nicht. Allerdings beschreiben Groß und Klein auch Qualitäten. Wenn ich die Straße entlanglaufe und einen Augenblick anhalte, um mich mit einem Bekannten zu unterhalten, und im Verfolg unseres kleinen Gesprächs – im Bruchteil einer Sekunde – das innere Licht dieses Menschen in seinem Antlitz offenbar wird, so strömt die Liebe durch uns hindurch und ich erkenne den Geist dieses Menschen. Aber bei dieser kleinen Handlung der Liebe wird nicht nur erkannt, sondern in diesem Augenblick wird auch Liebe in die Welt hinein freigesetzt. Man stelle sich nun die alltägliche Arbeit eines Menschen wie zum Beispiel der Mutter Theresa vor. Ihre Fürsorge für die Leidenden gilt eindeutig als große Handlung der Liebe. Können wir aber sagen, dass eine kleine Handlung der Liebe in der Welt weniger bewirkt, als eine große Handlung der Liebe? Diese Frage erscheint zunächst lächerlich; steht doch wohl außer Frage, dass die große Handlung mehr ausrichtet.
Die in die Welt kommende schöpferische Liebe ist aber nicht als Ausdruck eines Ergebnisses zu messen. Deren Anliegen ist weiter nichts, als in die Welt hineinzuströmen; sie unterliegt keinerlei Urteil unsererseits darüber, was sie bewirken oder nicht bewirken darf. In den zwei oben angeführten Beispielen strömt die Liebe in die Welt. Die einen sind dazu berufen, in der einen Weise zu lieben, die anderen in anderer Weise. Zwar ist es für dein eigenes Menschsein unerlässlich, davon Kenntnis zu erlangen, in welcher Weise du zum Lieben berufen bist und dem die Treue zu halten; die eine Weise darf aber nicht als wichtiger denn die andere gelten. Wir mögen sagen, dass die durch Mutter Theresa hindurchfließende Liebe viel mehr Menschen beeinflusst, als die kleine Begegnung an der Straßenecke. Eine solche Bewertung lässt aber lediglich der Furcht den freien Zutritt; sie erzeugt in uns das Gefühl, dass es nur große Seelen wie Mutter Theresa sind, die wichtige Handlungen der Liebe vollziehen. Wir können das volle Ausmaß des Liebens schlicht nicht wissen; nicht einmal Mutter Theresa konnte das. Das gesellschaftliche Ergebnis dessen, was sie tat, mag allerdings sichtbarer sein, aber die Liebe ist nicht von unmittelbar sichtbaren sozialen Ergebnissen abhängig. Die schöpferische Liebe begibt sich jenseits derer, durch die sie wirken mag, in die Welt hinaus. Und solange eine Handlung der Liebe um Selbstlosigkeit bemüht ist, so lange wird die Liebe freigesetzt, um in der Welt zu handeln.
Eine weitere Wahrheit bezüglich der schöpferischen Liebe: Je stärker die Intensität der Liebe, umso größer die Zunahme der Liebe in der Welt. Als Werkzeuge der Liebe ist es uns zwar möglich, die Intensität der Liebe wachsen oder abnehmen zu lassen, aber nur in indirekter Weise, durch einen Fokus der Aufmerksamkeit. Nicht die Liebe selbst, sondern nur unsere Aufmerksamkeit können wir fokussieren. Wenn unsere Aufmerksamkeit am stärksten ist – das heißt, wenn unsere Wahrnehmung gänzlich auf das gerichtet ist, was sich vor uns befindet; unser Körper ist entspannt, uns beschäftigt kein fremder Gedanke, keine weitere Emotion – so steigert sich die Liebe. Wenn unsere Aufmerksamkeit diffus ist, so zerstreut sich die Liebe wegen der Unzulänglichkeit des Werkzeugs. Wenn wir sagen, jemand liebt in intensiver Weise, so ist von der Qualität nicht seiner Liebe, sondern von der Qualität seiner Aufmerksamkeit die Rede.
Haben wir einmal ein wirkliches Gespür für die Autonomie der Liebe gewonnen, haben wir einmal erkannt, dass sie nicht aus unseren Kräften entsteht, so können wir unsere Sorge von der illusorischen Frage weglenken, ob ich denn genügend richtig oder stark liebe, und auf das Werkzeug hinlenken, durch welches die Liebe in die Welt kommt. Die Frage ist nicht „Was kann ich tun, um besser oder voller zu lieben?“, sondern „Was kann ich tun, um ein rechtes Gefäß zu sein, durch das die Liebe in die Welt hineingelangt?“ Die Kardinalpraktik besteht im ständigen Arbeiten daran, wahrhaftig anwesend zu sein. Diese Handlung der Aufmerksamkeit erfordert, dass wir uns aus uns selbst hinausbegeben und uns völlig auf das Herz und die Tiefe dessen einlassen, auf welches wir unsere Aufmerksamkeit richten. Wir müssen hochempfänglich für das sein, was uns begegnet, müssen uns ohne vorgefasste Meinungen und Urteile ihm dadurch nähern, dass wir es uns die Wirklichkeit offenbaren lassen. Dann tritt ein zweiter Aspekt der Handlung der Aufmerksamkeit ins Spiel: das Ringen um neue Formen, das auszudrücken, was wir in der Handlung der schöpferischen Empfänglichkeit erlebt haben.
Ein weiterer Aspekt der schöpferischen Liebe ist die Fähigkeit, vor der Liebe kapitulieren zu können, ohne uns dabei selbst zu verlieren. Kapitulieren wir blind vor der Macht der Liebe, so werden wir uns in einer kurzlebigen Ekstase verlieren. Diese Ekstase ist aber so mächtig, dass wir darauf fixiert werden, sie zu reproduzieren, ohne allerdings dabei zu durchschauen, dass es das Ego ist, das um des eigenen Vergnügens Willen die Liebe gefangen nehmen will. Andererseits haben wir nicht die Fähigkeit, unser Ego vollständig beiseitezulegen, nicht einmal nachdem wir die imaginative Erkenntnis und das Seelenleben vollkommen ausgebildet haben. Alles, was wir tun können, ist, 1) uns dessen bewusst sein, wie unser Ego versucht, die Ekstasen der Liebe einzufangen, und 2) schrittchenweise daran arbeiten, immer weniger auf dessen Anforderungen zu einzugehen. Das Ego fordert ständig, das Zentrum unseres Bewusstseins zu sein; in dieser Weise behält sie Macht für sich. Das Ego fordert ferner, in Kontrolle zu sein, und sucht sogar die Liebe zu kontrollieren. Außerdem fordert das Ego ein Gefühl der Selbstbefriedigung und Selbstwichtigkeit. An Ego-Bewusstsein an und für sich ist nichts auszusetzen; durch es gewinnen wir Interesse an der Welt. Zu Beginn aber, und lange Zeit danach, handelt es ausschließlich eigensüchtig. Wohl kann unser Ego aber zu einem wahren Diener der Liebe werden.
So kommen wir also zu einer letzten Aussage mit Bezug auf die schöpferische Liebe: Die Ergebnisse der Liebe in der Welt liegen im Reich des Unbestimmbaren, und das Üben der Liebe kann nicht auf spezifische Ergebnisse abzielen. Wenn die Liebe den Weg in die Welt findet, können wir nicht wissen, wie ihre weltverwandelnden Wirkungen sich zeigen werden. Wir können ihr Resultat nicht lenken, denn die Liebe ist völlig frei. Sogar dann, wenn durch uns die Liebe sich auf einen anderen Menschen richtet, sind deren Auswirkungen nicht messbar. Rückblickend können wir etwa sehen, dass der Lebenslauf eines anderen Menschen sich geändert hat, und dass dies mit einer selbstlosen Liebe unsererseits zu tun gehabt hat. So viele andere Faktoren sind aber mit beteiligt, dass wir nicht eigentlich wissen können, wie diese Liebe gewirkt hat. Ganz bestimmt können wir nicht in der Erwartung eines spezifischen Resultats lieben, ohne zu riskieren, dass unsere Liebe zur Manipulation wird. Das eine, dessen wir uns absolut sicher sein können, das ist, dass die Liebe, wenn sie zum Vollbringen ihres geheimnisvollen Werkes in die Welt freigesetzt wird, die Gegenwart der Angst überall verringert.
Jenseits der Angst liegt eine andere Welt. Diese neue Welt ist ganz bestimmt keine Utopie. Sie funktioniert anderen Gesetzen gemäß; sie wird uns vor völlig andere Aufgaben stellen und uns vollkommen andersartige Belohnungen in Aussicht stellen. In dieser Welt werden wir lernen, wie die Liebe im Herzen aller menschlichen Angelegenheiten walten und – statt des Atoms – zum grundlegenden Baustein des Universums werden kann.
Nächstes Kapitel (K. VIII): Künstlerisches Leben
Wenn die Liebe darauf beschränkt wäre, nur zwischen Menschen zu fließen, so könnte sie die Vorstöße der Angst auf den vielen oben erwähnten Gebieten nicht aufhalten. Auch in die Welt hinein muss die Liebe fließen, ja sie muss Teil der Substanz der Welt selbst werden. Derjenige Modus der Liebe mit der Macht, sowohl den Menschen wie auch die Welt umzuwandeln, ist die schöpferische Liebe. Wollen wir einen Einblick in diese Art der Liebe gewinnen, so müssen wir erst an dem Feuer der Liebe so sehr gelitten haben, dass wir die Gestaltung unseres Körpers zu ihrem Werkzeug zulassen wollen. Wir müssen das Heranbranden der sexuellen Liebe fühlen können, ohne sie weder „sanieren“ noch sie in willkürlicher Weise gebrauchen zu wollen. Letzteres soll nicht heißen, dass wir Zölibat werden müssen. Das Kennzeichen davon, die Flammen der sexuellen Liebe läuternd überstanden zu haben, ist ein Freude-Gefühl im Körper; Freude daran, ein empfindendes Wesen überhaupt zu sein. Freude an der Gegenwart aller Dinge der irdischen Welt.
Zweitens müssen wir hinlänglich die Flammen der Liebe durchlitten haben, wie diese in der Seele brennen. Fühlen wir unser Getrenntsein von denen, die wir lieben? Fühlen wir, wie dieses Getrenntsein durch die uns Liebenden beschützt und überwacht wird? Fühlen wir uns trotz dieses Getrenntseins miteinander vereinigt? Fühlen wir innere Freude an und Erstaunen vor der nie enden wollenden Seelentiefe? Fühlen wir uns dazu berufen, die Seelentiefe jener zu beschützen und zu bewachen, die wir lieben? Kennen wir überhaupt das Reich der Seele und haben es nicht mehr nötig, jemanden um eine Definition von „Seele“ zu bitten? Ferner: Durchflammt das Feuer der Liebe nicht nur unseren Körper und unsere Seele, sondern verwandelt es auch unser Denken so gründlich, dass ihre schöpferische Macht in uns ein phantasievolles Denken und Wahrnehmen inspiriert? Wann immer die diversen Arten der Liebe durch uns hindurchwirken und uns verwandeln, wird es möglich, einen Blick auch auf die schöpferische Liebe zu erhaschen.
Schöpferische Liebe wirkt in merkwürdiger, ja in eigener Weise. Zu ihrer Wesensart lässt sich kaum etwas sagen; wir können sie nur durch ihre Wirkungen erkennen. Die schöpferische Liebe wirkt in vollkommen qualitativer Art und Weise; alle andere Liebe übrigens auch, aber mit den anderen Modi kann es wenigstens einen Bezugspunkt geben, der uns auf etwas Substantielles hinweist – wie etwa das Gefühl einer starken oder aber nicht so starken Liebe, einer intensiven oder weniger intensiven Liebe. Bei der schöpferischen Liebe erzeugt auch die kleinste in die Welt hinein freigesetzte Handlung der Liebe die gleichen Ergebnisse, wie die größte. Die Liebe existiert nicht als Quantität, und so gelten bei ihr streng genommen die Kriterien „groß“ und „klein“ gar nicht. Allerdings beschreiben Groß und Klein auch Qualitäten. Wenn ich die Straße entlanglaufe und einen Augenblick anhalte, um mich mit einem Bekannten zu unterhalten, und im Verfolg unseres kleinen Gesprächs – im Bruchteil einer Sekunde – das innere Licht dieses Menschen in seinem Antlitz offenbar wird, so strömt die Liebe durch uns hindurch und ich erkenne den Geist dieses Menschen. Aber bei dieser kleinen Handlung der Liebe wird nicht nur erkannt, sondern in diesem Augenblick wird auch Liebe in die Welt hinein freigesetzt. Man stelle sich nun die alltägliche Arbeit eines Menschen wie zum Beispiel der Mutter Theresa vor. Ihre Fürsorge für die Leidenden gilt eindeutig als große Handlung der Liebe. Können wir aber sagen, dass eine kleine Handlung der Liebe in der Welt weniger bewirkt, als eine große Handlung der Liebe? Diese Frage erscheint zunächst lächerlich; steht doch wohl außer Frage, dass die große Handlung mehr ausrichtet.
Die in die Welt kommende schöpferische Liebe ist aber nicht als Ausdruck eines Ergebnisses zu messen. Deren Anliegen ist weiter nichts, als in die Welt hineinzuströmen; sie unterliegt keinerlei Urteil unsererseits darüber, was sie bewirken oder nicht bewirken darf. In den zwei oben angeführten Beispielen strömt die Liebe in die Welt. Die einen sind dazu berufen, in der einen Weise zu lieben, die anderen in anderer Weise. Zwar ist es für dein eigenes Menschsein unerlässlich, davon Kenntnis zu erlangen, in welcher Weise du zum Lieben berufen bist und dem die Treue zu halten; die eine Weise darf aber nicht als wichtiger denn die andere gelten. Wir mögen sagen, dass die durch Mutter Theresa hindurchfließende Liebe viel mehr Menschen beeinflusst, als die kleine Begegnung an der Straßenecke. Eine solche Bewertung lässt aber lediglich der Furcht den freien Zutritt; sie erzeugt in uns das Gefühl, dass es nur große Seelen wie Mutter Theresa sind, die wichtige Handlungen der Liebe vollziehen. Wir können das volle Ausmaß des Liebens schlicht nicht wissen; nicht einmal Mutter Theresa konnte das. Das gesellschaftliche Ergebnis dessen, was sie tat, mag allerdings sichtbarer sein, aber die Liebe ist nicht von unmittelbar sichtbaren sozialen Ergebnissen abhängig. Die schöpferische Liebe begibt sich jenseits derer, durch die sie wirken mag, in die Welt hinaus. Und solange eine Handlung der Liebe um Selbstlosigkeit bemüht ist, so lange wird die Liebe freigesetzt, um in der Welt zu handeln.
Eine weitere Wahrheit bezüglich der schöpferischen Liebe: Je stärker die Intensität der Liebe, umso größer die Zunahme der Liebe in der Welt. Als Werkzeuge der Liebe ist es uns zwar möglich, die Intensität der Liebe wachsen oder abnehmen zu lassen, aber nur in indirekter Weise, durch einen Fokus der Aufmerksamkeit. Nicht die Liebe selbst, sondern nur unsere Aufmerksamkeit können wir fokussieren. Wenn unsere Aufmerksamkeit am stärksten ist – das heißt, wenn unsere Wahrnehmung gänzlich auf das gerichtet ist, was sich vor uns befindet; unser Körper ist entspannt, uns beschäftigt kein fremder Gedanke, keine weitere Emotion – so steigert sich die Liebe. Wenn unsere Aufmerksamkeit diffus ist, so zerstreut sich die Liebe wegen der Unzulänglichkeit des Werkzeugs. Wenn wir sagen, jemand liebt in intensiver Weise, so ist von der Qualität nicht seiner Liebe, sondern von der Qualität seiner Aufmerksamkeit die Rede.
Haben wir einmal ein wirkliches Gespür für die Autonomie der Liebe gewonnen, haben wir einmal erkannt, dass sie nicht aus unseren Kräften entsteht, so können wir unsere Sorge von der illusorischen Frage weglenken, ob ich denn genügend richtig oder stark liebe, und auf das Werkzeug hinlenken, durch welches die Liebe in die Welt kommt. Die Frage ist nicht „Was kann ich tun, um besser oder voller zu lieben?“, sondern „Was kann ich tun, um ein rechtes Gefäß zu sein, durch das die Liebe in die Welt hineingelangt?“ Die Kardinalpraktik besteht im ständigen Arbeiten daran, wahrhaftig anwesend zu sein. Diese Handlung der Aufmerksamkeit erfordert, dass wir uns aus uns selbst hinausbegeben und uns völlig auf das Herz und die Tiefe dessen einlassen, auf welches wir unsere Aufmerksamkeit richten. Wir müssen hochempfänglich für das sein, was uns begegnet, müssen uns ohne vorgefasste Meinungen und Urteile ihm dadurch nähern, dass wir es uns die Wirklichkeit offenbaren lassen. Dann tritt ein zweiter Aspekt der Handlung der Aufmerksamkeit ins Spiel: das Ringen um neue Formen, das auszudrücken, was wir in der Handlung der schöpferischen Empfänglichkeit erlebt haben.
Ein weiterer Aspekt der schöpferischen Liebe ist die Fähigkeit, vor der Liebe kapitulieren zu können, ohne uns dabei selbst zu verlieren. Kapitulieren wir blind vor der Macht der Liebe, so werden wir uns in einer kurzlebigen Ekstase verlieren. Diese Ekstase ist aber so mächtig, dass wir darauf fixiert werden, sie zu reproduzieren, ohne allerdings dabei zu durchschauen, dass es das Ego ist, das um des eigenen Vergnügens Willen die Liebe gefangen nehmen will. Andererseits haben wir nicht die Fähigkeit, unser Ego vollständig beiseitezulegen, nicht einmal nachdem wir die imaginative Erkenntnis und das Seelenleben vollkommen ausgebildet haben. Alles, was wir tun können, ist, 1) uns dessen bewusst sein, wie unser Ego versucht, die Ekstasen der Liebe einzufangen, und 2) schrittchenweise daran arbeiten, immer weniger auf dessen Anforderungen zu einzugehen. Das Ego fordert ständig, das Zentrum unseres Bewusstseins zu sein; in dieser Weise behält sie Macht für sich. Das Ego fordert ferner, in Kontrolle zu sein, und sucht sogar die Liebe zu kontrollieren. Außerdem fordert das Ego ein Gefühl der Selbstbefriedigung und Selbstwichtigkeit. An Ego-Bewusstsein an und für sich ist nichts auszusetzen; durch es gewinnen wir Interesse an der Welt. Zu Beginn aber, und lange Zeit danach, handelt es ausschließlich eigensüchtig. Wohl kann unser Ego aber zu einem wahren Diener der Liebe werden.
So kommen wir also zu einer letzten Aussage mit Bezug auf die schöpferische Liebe: Die Ergebnisse der Liebe in der Welt liegen im Reich des Unbestimmbaren, und das Üben der Liebe kann nicht auf spezifische Ergebnisse abzielen. Wenn die Liebe den Weg in die Welt findet, können wir nicht wissen, wie ihre weltverwandelnden Wirkungen sich zeigen werden. Wir können ihr Resultat nicht lenken, denn die Liebe ist völlig frei. Sogar dann, wenn durch uns die Liebe sich auf einen anderen Menschen richtet, sind deren Auswirkungen nicht messbar. Rückblickend können wir etwa sehen, dass der Lebenslauf eines anderen Menschen sich geändert hat, und dass dies mit einer selbstlosen Liebe unsererseits zu tun gehabt hat. So viele andere Faktoren sind aber mit beteiligt, dass wir nicht eigentlich wissen können, wie diese Liebe gewirkt hat. Ganz bestimmt können wir nicht in der Erwartung eines spezifischen Resultats lieben, ohne zu riskieren, dass unsere Liebe zur Manipulation wird. Das eine, dessen wir uns absolut sicher sein können, das ist, dass die Liebe, wenn sie zum Vollbringen ihres geheimnisvollen Werkes in die Welt freigesetzt wird, die Gegenwart der Angst überall verringert.
Jenseits der Angst liegt eine andere Welt. Diese neue Welt ist ganz bestimmt keine Utopie. Sie funktioniert anderen Gesetzen gemäß; sie wird uns vor völlig andere Aufgaben stellen und uns vollkommen andersartige Belohnungen in Aussicht stellen. In dieser Welt werden wir lernen, wie die Liebe im Herzen aller menschlichen Angelegenheiten walten und – statt des Atoms – zum grundlegenden Baustein des Universums werden kann.
Nächstes Kapitel (K. VIII): Künstlerisches Leben