- aus Die Macht der Seele. Wege zum Leben der Monatstugenden
von Robert Sardello
Die Tugend des Mitleids
(Mitleid wird zu Freiheit - Rudolf Steiner)
21. Juli - 20. August - Mitleid ist ein zentraler Aspekt der buddhistischen Spiritualität. Daher möchte ich mit einer Nacherzählung der Geschichte beginnen, wie Siddhartha zum Mitleid kam. Das wird uns in die Lage versetzen, eine richtige Verbindung zu knüpfen zwischen dem Mitleid als Tugend und der buddhistischen Auffassung und Praxis. Das wird nicht leicht sein. Wir werden das Phänomen von verschiedenen Gesichtspunkten aus ansehen müssen, um nur allmählich die Ähnlichkeit und die Unterschiede zu sehen zwischen dem Mitleid der buddhistischen Spiritualität und Mitleid als einer, vielleicht als der zentralen der zwölf Tugenden. Mitleid so, wie es im Buddhismus verstanden und praktiziert wird, darf nicht der Tugend völlig gleichgesetzt werden. Auch ohne die Spiritualität des Buddhismus aufgreifen zu müssen ist die Tugend im alltäglichen Leben zu erfahren.
Siddhartha wurde im Jahre 560 vor Christus in die herrschende Familie des Reiches Skya, an der Grenze zwischen Nepal und Indien hineingeboren. Seine Kindheit war von Prophezeiungen der Größe, ja der Göttlichkeit begleitet. Der Name Siddhartha bedeutet „der, dessen Ziel vollendet wird“, und es waren acht weise Männer, die dem Knaben diesen Namen gaben. Er wuchs in Luxus auf, verbrachte den Winter, den Sommer und die Regenzeit in je einem anderen Palast. Er hätte sein ganzes Leben in Luxus verbringen können, was ja von seinem Vater beabsichtigt war.
In seinen zwanziger Jahren bereiste Siddhartha die ganze Region und war von all dem Leid, von dem er Zeuge wurde, tief erschüttert. Mit neunundzwanzig Jahren verschenkte er sein ganzes Hab und Gut und wurde ein Wanderer und gelobte, Heilige aufzusuchen, die ihn lehren würden, wie er über sich selbst hinauswachsen und die endlose Kette menschlichen Elends durchbrechen könnte. Er erlangte mystische Daseinszustände, blieb aber dennoch unzufrieden. Er trat eine harte Kur der Selbstkasteiung und des Fastens an, die sechs Jahre dauerte. Diese Askese hat ihn bis an den Rand des Todes geführt. Er sagte zum Beispiel:
Wegen der geringen Ernährung ähnelten alle meine Gliedmaßen verschrumpelten Schlingpflanzen mit knotigen Gelenken; mein Gesäß ähnelte dem Huf eines Büffels; mein Rückgrat ragte wie eine Reihe von Bällen hervor, meine Rippen wie die Dachsparren eines baufälligen Schuppens; die Pupillen meiner Augen lagen in den Augenhöhlen versunken, wie am Boden eines tiefen Brunnens schimmerndes Wasser. Wann immer es mich verlangte, dem Ruf der Natur zu gehorchen, fiel ich auf der Stelle auf mein Angesicht. Wenn ich mit den Händen über meine Arme und Beine strich, fielen die in den Wurzeln verdorrten Haare heraus.
Er erlebte manche entsetzlichen Gesichte in Gestalt des Mara, Dämon des Bösen und der Leidenschaft. Er ließ diese Visionen bis hin zur Auflösung seines psychischen Selbstes zu, was heißt, dass er keinen psychischen Spiegel mehr besaß, in dem die Dämonen Gestalt annehmen konnten. Es brauchte sehr lange, bis er die Erfahrungen der sechs Jahre aussortieren und herausfinden konnte, welche dieser Erfahrungen echt und welche Illusion waren. Aus dieser Zeit des ordnenden Unterscheidens entstand eine Vereinigung zwischen seinem Bewusstsein und seinem Unterbewusstsein; es fand ein Zusammenfluss seines Geistes mit seinem Leib statt. Als das geschah, gab er seine Askese auf.
Eines Morgens setzte er sich unter einen Assattha-Baum, fest entschlossen, nicht eher wieder aufzustehen, als bis er Erleuchtung erlangt haben würde. Innerhalb einer Stunde griffen ihn Horden von Dämonen und Ungeheuern im Übersinnlichen an. Siddartha durchschaute sie als Illusionen und verharrte ruhig in seiner Meditation. Bis zum Abend verließen ihn die Heere des Bösen wieder. Dann taten sich die Himmel auf und er sah, wie er mannigfache Inkarnationen durchlebt hatte. Er schaute auch die schöpferische geistige Tätigkeit des Kosmos und die Gesetze, durch die die Wirklichkeit entsteht. Er sagte „Unwissenheit wurde zerstreut, Erkenntnis erstand, Finsternis wurde zerstreut, Licht erstand.“ So gut vorbereitet war er, dass der ganze Vorgang nur einen einzigen Tag dauerte.
Über die darauffolgenden sieben Wochen reflektierte Siddhartha seine Erfahrung und formulierte sie so um, dass auch andere sie verstehen konnten. Er formulierte die Vier Edlen Wahrheiten:
Eins, das alltägliche menschliche Dasein besteht aus Verwirrung, Konflikt, Unzufriedenheit und Leid.
Zwei, diese verworrene Existenz wird durch unser Ego – das selbstsüchtige Begehren nach Ruhm, Reichtum und Macht über andere – verursacht.
Drei, die einzige Weise, von der weltlichen Realität Freiheit zu erlangen, ist die Erleuchtung.
Vier, der Weg zur Erleuchtung ist der „mittlere Pfad“ zwischen Maßlosigkeit und Selbstkasteiung. Dieser mittlere Pfad ist der achtgliedrige Pfad, der besteht aus rechter Einsicht/Anschauung, rechter Gesinnung/Absicht, rechter Rede, rechtem Handeln/rechter Tat, rechtem Lebenserwerb/rechter Lebensführung, rechtem Streben/Üben, rechter Achtsamkeit/Bewusstheit, rechter Sammlung/Konzentration.
Mit „recht“ ist „mit dem Göttlichen in Übereinstimmung“ gemeint. Die Ausführung dieses mittleren Weges des achtgliedrigen Pfades führt zum Mitleid, dem Vermögen, das Leiden eines anderen Menschen völlig wahrzunehmen, ohne sich einzumischen oder irgendetwas zu tun, was das stören würde, was die Seele des anderen Menschen erleben muss.
Der Zweck dieses Berichtes über Siddhartha ist, auf das ungeheure Streben aufmerksam zu machen, das es braucht, um zu dieser Tugend zu kommen. Wir müssen uns eine Zeit vorstellen, zu der es diese Tugend noch nicht gab und müssen bedenken, wie es des Opfers eines einzelnen Menschen bedurfte, um sie der ganzen Menschheit zu schenken. Dieses Bild deutet außerdem auf eine besonders interessante Forschungslinie hin mit Bezug auf alle Tugenden. Die Vermutung ist nicht abwegig, dass für jede der Tugenden jemand – ein Eingeweihter nämlich – da sein musste, der der Menschheit die Tugend bringt, der sie ein erstes Mal überhaupt ausführt; der eine Handlung vollbringt, in die menschlichen Seelenfähigkeiten eine neue Fähigkeit hineinpflanzt. Wir haben uns den Ursprung der Tugenden noch nicht tief genug vorgestellt, wenn wir sie einfach für gegeben, für gebrauchsfertig halten, als hätte es sie seit Anbeginn der Menschheit gegeben.
Mitleid ragt als vielleicht die zentralste der Tugenden heraus, als die Tugend, bei der es um die Verwandlung, oder – so könnte man sagen – das nach-außen-Wenden aller Kräfte unseres Seelenlebens geht, um deren Umorientierung nach den geistigen Reichen. Das Erste, was wir über die Tugend des Mitleids sagen können, ist, dass sie einen spirituellen Ausblick auf alles ermöglicht – auf alles ohne Ausnahme. Ist dies nicht die Entdeckung, die durch das Leiden und die Opfer des Siddhartha geschmiedet wurde?
Soll Mitleid als tatsächliche Handlung möglich sein und keine bloß abstrakte Vorstellung, von der wir uns nur einbilden, wir könnten sie leben, dies aber in Wirklichkeit nicht können, findet erst ein Läuterungsprozess statt. In unserem Leben ereignet sich dieser Läuterungsprozess durch alles Leiden, das wir durchgemacht haben, ob leiblicher, emotionaler oder seelischer Art. Solches Leid reinigt allerdings nicht, wenn wir, ohne viel darüber nachzudenken, es über uns ergehen lassen und bloß warten, bis es vorbei ist. Wenn wir aber zulassen, dass unser Leiden uns verändert, dann führt der Prozess zur Fähigkeit, für alle Menschen und Dinge gleichermaßen tiefe Liebe zu empfinden.
Mit Läuterung meine ich die Reinigung des Begehrens von Fantasie, Wollust, Geiz und Erinnerung. Unsere Leiden gleichen einem alchemistischen Feuer, das das Begehren in seine Essenz destilliert. Die Essenz der Begierde besteht in innerlicher Gefühls-Erkenntnis und in unbeirrbarem sich-Anziehenlassen von den spirituellen Reichen. Alle unsere gewöhnlichen Begierden sind wie eine Brechung dieser einen Begierde. Alle Begierden sind gut, weil sie den göttlichen Ursprung des Begehrens spiegeln, wie das Licht, das sich farbenstrahlend in einem Diamanten bricht. Aber obwohl alle Begierde gut ist, heißt das nicht, dass die Gegenstände unserer Begierde unbedingt gut sind. Wir verwechseln ständig unsere Begierde mit den Gegenständen, an die sie sich heftet. So besteht ein erster Schritt in Richtung Mitleid – ein nie endender Schritt – darin, dass wir Begierde umso intensiver erleben, aber ohne die Gegenstände haben zu wollen, an denen sie sich entzündet. Ist das Seelenleben einmal geläutert, so werden alle unsere irdischen Tätigkeiten unter die Glut der göttlichen Begierde gesetzt.
Mitleid ermöglicht auch dann intensive Beziehungen mit anderen Menschen, wenn wir diese nicht kennen; es unterscheidet nicht zwischen persönlicher und universeller Liebe. Es unterscheidet nicht zwischen jemandem, dem wir nahestehen und jemandem, dem wir überhaupt nie begegnet sind. Stellen wir bei uns selbst fest, dass wir eine Art Mitleid empfinden können für jemanden, dem wir verbunden sind, aber nicht für andere, so wäre das kein wahres Mitleid, weil es sich auf die beschränkt, zu denen wir irgendeine Schicksalsverbindung haben; es ist, wie wenn unser Herz nur so weit hervorleuchten kann und nicht weiter.
Durch Mitleid werden wir in intime Verbindung mit der ganzen Menschheit gebracht. Eine solche Verbindung wird in tiefer Weise empfunden. Sie existiert nicht nur als Begriff, als die bloße Idee, dass wir alle miteinander verbunden sind. Zur gleichen Zeit übt man Mitleid am Individuum aus und nicht an der ganzen Menschheit. Wie sind diese zwei sich widersprechenden Vorstellungen – einmal mit dem Ganzen und einmal mit dem Individuum verbunden zu sein – miteinander zu vereinbaren?
Mitleid geht mit einer anderen Wahrnehmungsart einher als die, die uns das gewöhnliche Wahrnehmen und Denken bescheren. Es geht dabei um eine Wahrnehmung, in der wir in einem jeden Individuum auch das universell Menschheitliche wahrnehmen. Diese Wahrnehmungsfähigkeit gilt es erst auszubilden, denn sie ist nicht von Natur gegeben, wie zum Beispiel das Sehen- Hören- oder Tastenkönnen. Für die meisten von uns bleibt die Art Mitleid, die Siddhartha erlangte, ein Fernziel, bleibt etwas, nach dem wir trachten und streben können, das aber keine Realität hat. Durch die vollständige Läuterung seines Seelenlebens erlangte Siddhartha die Fähigkeit, den anderen Menschen als individuelles Geistwesen wahrzunehmen. Er konnte das Geist-Wesen des anderen Menschen sehen – das Universell-Menschliche – und konnte sehen, dass wenn er in der ganzen Verwirrung und all dem Leid, das dieser Mensch durchmachte, es zu keiner spirituellen Wahrnehmung bringt, er zu einer Runde des Leidens nach der anderen verurteilt ist.
Wenn man in dieser Weise einen anderen Menschen wahrnimmt, so geht das über das Organ des Herzens. Mitleid ist die Wahrnehmung des anderen Menschen durch das geläuterte Herz – eine hochspirituelle Fähigkeit. Die Tugend so, wie sie im alltäglichen Leben zu erfahren ist, erreicht nicht diese Höhen und bleibt mehr mit dem Seelenleben in Kontakt.
Es ist vielleicht hilfreich, zwischen einem „großen“ Mitleid und einem „kleinen“ Mitleid zu unterscheiden. Das erstere ist den Eingeweihten vorbehalten. Das letztere ist die Art, wie wir anderen möglichst gut an dem teilnehmen, was der Menschheit durch die Eingeweihten gebracht wurde. Wir können zwar die geistige Individualität des anderen Menschen nicht wahrnehmen, wohl aber können wir die Fähigkeit in uns ausbilden, unmittelbar zu erfahren, wie das Leben des anderen Menschen sich entfaltet. Diese Wahrnehmung erfordert allerdings minimale Läuterung der Begierde, denn wir müssen einen anderen Menschen frei von unseren Fantasien, Vorstellungen, Voreingenommenheiten sehen können. Auch diese Wahrnehmung geht durch das Herz vor sich. Wir können den anderen Menschen als Prozess wahrnehmen. Es ist sogar möglich, zu sehen, wie sich jemand von einem Tag zum nächsten ändert. Wir achten normalerweise nicht sehr auf diese Veränderungen beziehungsweise halten sie für weiter nichts als Stimmungs- oder Haltungsumschwünge im äußeren Verhalten. Wenn wir aber solche Änderungen durch das Herzbewusstsein wahrnehmen, so sehen wir ein Muster, eine seelische Entwicklung im Gang.
Die Wahrnehmung dieser Kraft ist ein inneres Fühlen der Entfaltung des Lebens. Um Mitleid zu fühlen, muss man empfinden können, dass die Dinge nicht fest und statisch sind, sondern beweglich, in Entwicklung begriffen, in einem Zustand der Metamorphose. Ich kann unmöglich für etwas Mitleid fühlen, was fixiert ist. Empathie, Anteilnahme, Bedauern, Wohlwollen schon eher; aber Mitleid kann ich nicht für etwas fühlen, was sich nicht ändern kann. Daraus geht hervor, dass ich dazu in der Lage sein muss, etwas Unsichtbares zu spüren – einen Kern der Bewegung, der Entwicklung, der Veränderung, des Wachstums. Ich muss das tatsächliche Erlebnis haben können: „Das, was ich sehe, muss nicht so sein; ich vermag fühlend die tatsächliche Möglichkeit dessen zu sehen, was dieser Mensch werden kann.“ Es handelt sich hier um eine reals Wahrnehmung und nicht bloß um das, was ich für diesen anderen Menschen wünsche. Indem der andere Mensch dynamisch ins Geistes-Dasein tritt, nehme ich diesen Vorgang fühlend – mitleidend – wahr.
Solches wahrnehmende Mitleid kommt nicht ohne Vorbereitung zustande. Diese Vorbereitung leistet man durch die Pflege freundschaftlicher Beziehungen ohne jemand auszuschließen; durch rückhaltloses Verstehen und Dulden; dadurch, dass man sich der Voreingenommenheit enthält; durch die Anfänge, zumindest, einer alles umfassenden Liebe, die tiefer sehen kann als die Persönlichkeit des anderen Menschen und die konkret die Ewigkeit dieses Menschen ahnt.
Damit Mitleid zur Entfaltung kommen kann, braucht es auch eine zweite Vorbereitung. Wir nehmen durch unsere körperlichen Sinne die physische Welt wahr, und aus dieser Wahrnehmung haben wir es zu einem Verständnis der Gesetze gebracht, die den physischen Kosmos beherrschen. Das Wahrnehmen durch das Herz erfasst nicht den physischen Kosmos. Das Herz nimmt den Kosmos der Güte wahr. Durch das Herz nehmen wir das Gute wahr, das der andere Mensch ist. Auch hier rede ich von etwas Direkterem, Greifbarerem, als von der Idee der Güte oder von dem, was ich für gut halten mag; es kann eine eigentliche Wahrnehmung sein. Um Güte wahrnehmen zu können, braucht es gute Gedanken und Absichten; diese Gedanken und Absichten müssen als tatsächliche Strömungen innerhalb des Herzens gefühlt werden. Nur das in der Welt vermögen wir wahrzunehmen, was in uns bereits aktiv ist. Das Auge kann nur deshalb Licht sehen, weil in unserem Auge das Potential des Lichtes existiert. Das Ohr vermag nur deshalb zu hören, weil in ihm das Potential des Klanges vorhanden ist.
In Zeiten einer materialistischen Biologie sind wir es nicht gewöhnt, uns die Sinnesorgane als im Besitz des Potentials dessen vorzustellen, was sie wahrnehmen. In früheren Zeiten, auch in esoterischen Kreisen, war diese Wahrheit bekannt. Sie wurde viel in der Kunst sowie in der frühen Anatomie und Wissenschaft dargestellt; so existieren etwa zahlreiche Zeichnungen, die aus den Augen eines in eine Landschaft hinausschauenden Menschen hervorgehende, unsichtbare Lichtstrahlen darstellen. Es wäre jenen frühen Anatomen und Physiologen die Vorstellung töricht vorgekommen, dass das Sehen nur von den – von einem Gegenstand draußen in der Welt stammenden – Wellen der Lichtenergie bestehen soll, die in das Gehirn eintreten und dort ein Bild des anzuschauenden Objektes reproduzieren.
Jedes der Sinnesorgane, so die Auffassung der Alten, ist ebenfalls eine Kraft, eine Seelenkraft, die in die Welt hinaus projiziert wird und dort Kräften aus dem wahrzunehmenden Gegenstand begegnet. Das eigentliche Wahrnehmen, aus dieser Sicht verstanden, besteht in einem einheitlichen Feld zwischen dem Wahrnehmenden und dem Wahrgenommenen. Einer solchen Vorstellung bedarf es noch immer, um zu verstehen, was mit einer Wahrnehmung vom Herzen her gemeint ist. Ohne eine solche Vorstellung verfällt alles, was bezüglich des Herzens gesagt wird, in schwammige, substanzlose Sentimentalität ohne Aktualität. Man braucht weiter nichts zu tun, als das Bewusstsein ins Zentrum des Herzens zu versetzen und die Gefühls-Strömung dort wahrzunehmen, um zur Erfahrung einer strahlenden Wärme zu kommen, die vom Herzen zu anderen reicht. Das ist die Basis des Herz-Wahrnehmens, durch die Mitleid zu einem tatsächlichen Erlebnis wird.
Die Kraft, die aus dem Herzen hervorstrahlt, ist die Kraft der Liebe. Es handelt sich dabei nicht um eine Liebe für dies oder das, für die eine oder die andere Person, sondern um die Kraft der universellen Liebe. Ohne aber in eine direkte und innere Verbindung mit dieser Kraft einzutreten, können wir andere Menschen nicht in ihrer wahren Güte und Individualität wahrnehmen. Eben das zu können macht aber den Hauptaspekt der Tugend des Mitleids aus.
Mitleid ist etwas völlig anderes, als unsere gewöhnliche Auffassung davon. Wenn wir uns Mitleid vorstellen, so stellen wir uns normalerweise emotionales Mitleid vor. Gewöhnlich erlebt man Mitleid in Begleitung von dem Verlangen danach, behilflich zu sein. Das ist ja eine Neigung, der die Gefühlsreaktion auf das Leiden eines anderen Menschen zugrunde liegt. Wir fühlen uns dann mitleidig, wenn wir sehen, dass jemand leidet. Wir bringen Mitleid und Schmerzen miteinander in Beziehung. Hier geht es um die emotionale Ebene des Mitleids.
Die Funktion eines geistigen und seelischen Mitleids besteht aber nicht darin, Schmerzen unmittelbar zu lindern, sondern darin, die innere Wahrheit des anderen Menschen zu sehen. So führt geistig-seelisches Mitleid den anderen Menschen dazu, die Wahrheit über sich selbst zu sehen. Mitleid führt zur Selbsterkenntnis, und Selbsterkenntnis ist es, was heilend wirkt. Solche Erkenntnis, sowohl von Seiten des Mitleidenden als auch von Seiten des Empfängers, ist kein intellektuelles Wissen, keine verstandesmäßige Einsicht, sondern ein Herzwissen.
Beim Herzwissen verlagern wir das Bewusstsein nach innen und von seiner gewöhnlichen Orientierung an der Sinneswelt weg. Bei einer solchen Bewusstseinsverlagerung entsteht normalerweise ein innerer Fokus in der Kopfregion. Diesen gilt es in die Herzmitte zu versetzen. Wenn es uns gelingt, uns in der Herzmitte zu beruhigen, können wir gleichsam im Herzen sublimierte Strömungen empfinden. Diese Strömungen erleben wir als unmittelbares Fühlen des Seelen- und Geistwesens des anderen Menschen. Wenn wir in Verbindung mit jemandem eine solche Strömung spüren, besteht für uns kein Zweifel daran, dass unser Herz mit der Herzensströmung des anderen Menschen mitschwingt.
Mitleid ermöglicht es dem anderen Menschen, Schmerz zu ertragen und hilft ihm, schwierige Erfahrungen sinnvoll und erträglich zu machen. Sie erschafft nämlich Vertrauen und bewirkt dadurch die innere Wahrhaftigkeit eines Menschen vor sich selbst. Im Leiden betrifft diese Wahrheit die Art, wie wir uns selbst vertiefen durch das, was wir durchmachen. Den Schmerz von jemandem direkt zu beseitigen kann an Seele und Geist dieses Menschen ein Vergehen sein, sofern solche Beseitigung die Möglichkeit ausschaltet, die Botschaft unseres Leidens über uns selbst zu vernehmen.
Freilich ist es manchmal zwingend notwendig, sofort und direkt Schmerzen zu lindern. Niemand würde es für richtig halten, im Namen des Mitleids einen Menschen unerträglichen Schmerz erleiden zu lassen, wenn man weiß, wie sich der Schmerz lindern lässt. Aber normalerweise ist das Lindern von Schmerz weiter nichts, als die Ausschaltung der äußeren Erscheinungsformen von irgendeinem tieferen, fortdauernden seelischen Schmerz. Damit dieser tiefere Schmerz abnimmt, ist es erforderlich, dass der Leidende zu bedeutender Selbsterkenntnis kommt, und an dieser Stelle ist die Tugend des Mitleids die größte Hilfe, um zu einer Heilungsmöglichkeit zu kommen.
Es muss der Unterschied zwischen emotionalem und seelisch-geistigem Mitleid noch deutlicher gemacht werden. Wenn es zum Beispiel jemandem schlecht geht, der mir nahe steht, so kann ich schwerlich froh sein. Wenn ich das Unglück des anderen Menschen mitfühle und miterlebe, es so fühle, als wäre es das eigene, kann auch ich solange nicht glücklich sein, wie der andere unglücklich ist. Das ist emotionales Mitleid. Mit Mitleid der Seele und des Geistes nehmen wir den Geist-Aspekt des anderen Menschen wahr und verlieren dessen Geistwesen – egal was dieser Mensch durchmachen mag – nicht aus dem Blick, tun auch nichts, was sein geistiges Schicksal hindern würde.
Zwar unterscheiden sich emotionales und seelisch-geistiges Mitleid voneinander, aber andererseits kann jenes zu diesem hinführen. Angenommen etwa, ich muss mich um jemand kümmern, der im Sterben liegt und der im Lauf des Sterbeprozesses sehr viel Schmerz erleiden muss. Wenn ich mit diesem Menschen zusammen bin und die eigenen Gefühle nicht abwürge, so werde auch ich dabei erheblichen Schmerz durchmachen. Dadurch, dass ich diesen sterbenden Menschen kenne, lerne ich Mitleid und auch er lernt, indem ich mich um ihn kümmere, was Mitleid ist. Die Erfahrung kann zwar auf der Ebene des emotionalen Mitleids bleiben, aber sie kann auch das Herz öffnen und zu einem anderen Ausblick auf das Leben führen. Das Öffnen des Herzens kann von einem tiefen emotionalen Erlebnis zu einem spirituellen Erlebnis werden.
Als Tugend liegt Mitleid auf der Grenze zwischen emotionalem und spirituellem Mitleid. Da diese Region der Tugenden einen Teil des seelischen Reiches ausmacht, muss der Kontakt zum emotionalen Element erhalten bleiben, aber ohne dort hängen zu bleiben. Wird Mitleid hingegen zu einer gänzlich spirituellen Angelegenheit, so haben wir den Kreis der Tugenden verlassen und uns etwas Höherem zugewandt. Wir können also die buddhistische Praxis des Mitleids zwar in höchstem Maße verehren, aber das ist nicht die Richtung, die wir bei der Praxis der Tugend anstreben. Ganz innerhalb des emotionalen Mitleids zu bleiben befriedigt uns aber auch nicht; kann das doch zu verschiedenen psychologischen Krankheiten führen, wie zum Beispiel Co-Abhängigkeit. Wir müssen, um in und mit der Tugend zu bleiben, auf dieser Grenze bleiben; zumal als zeitgleiche Zugehörigkeit sowohl zur Sphäre der Seele als auch zur Sphäre des Geistes
Es kann recht schwierig sein, auf der Grenze zwischen emotionalem und spirituellem Mitleid zu bleiben. Zwischen der Tugend des Mitleids und der des Urteilsvermögens gilt ein besonderes Verhältnis, ein beständiges Spannungsverhältnis nämlich. Wenn wir den Impuls zum Mitleid hin verspüren und dabei gegenüber der Ebene der Seele sensibel sind, so werden wir auch die Notwendigkeit empfinden, zu unterscheiden, ob unser emotionales Engagement für einen anderen diesem Menschen zur Selbsterkenntnis verhilft, oder ob es nur palliativer Art ist. Wer mitten im Fühlen des Mitleids begriffen ist, kann auch ein inneres Verlangen empfinden, zur Klarheit zu kommen, und dieses Verlangen drängt uns dazu, das Gefühl des Mitleids genau und doch auch innig zu beobachten. Diese innere Beobachtung hilft uns nach und nach unsere derzeitige Lage auf dem emotionell-spirituellen Kontinuum des Mitleids klar zu orten.
Wenn wir auf jemanden treffen, der leidet, so haben wir von alleine eine Position der Macht. Wir selbst leiden nicht beziehungsweise in geringerem Grad als der, den wir vor uns haben. Diese Machtstellung kann bewirken, dass sich eine billige Art von Mitleid bei uns einstellt, noch bevor wir uns dessen bewusst sind. Es ist leicht, jemanden zu bemitleiden; ja allein schon der Anblick des Leidens eines anderen Menschen bestätigt uns unsere eigene Macht. Um es aufrichtig auszusprechen: Wir brauchen die Gegenwart des Leidens anderer, um die Empfindung der eigenen Macht erleben zu können.
Wenn ich zum Beispiel Psychotherapeut oder Arzt oder Anwalt oder überhaupt jemand bin, der im Dienst anderer arbeitet, so bedarf ich des leidenden anderen Menschen, um die Macht meines Status als „Professioneller“ zu bestätigen. So und nicht anders funktioniert dieses urbildliche Tandem. Es gibt keine Helfer ohne diejenigen, die Hilfe brauchen. Was aber normalerweise unbemerkt bleibt, ist, dass die Helfenden der Bedürftigen bedürfen. Menschen in der Not kommen zu mir; so kann ich mich ihnen in Mitleid nähern. Dieses ziemlich trostlose Bild scheint von der Art, wie die Auffassung des Mitleids hier bisher entwickelt wurde, weit entfernt zu sein. Und doch ist es eine wahre Realität, der es sich zu stellen und die es durchzuarbeiten gilt.
Es ist sehr viel schwieriger, für einen anderen Menschen Mitleid zu fühlen, wenn man selbst leidet. Man erinnere sich, wie Siddhartha beim Aufwachsen allen nur zu wünschenden Luxus genoss. Durch seine Reisen wurde er mit enormem menschlichem Elend konfrontiert. Dann entsagte er seinen Reichtümern und machte selbst immenses Leid durch. Erst danach konnte er von Mitleid sprechen. Diese Reihenfolge ist hochinteressant.
Er begann als ein Mensch mit großer irdischer Macht. Wir dürfen aber nicht außer Acht lassen, dass es diese Macht selbst war, welche, in Form von Wohlstand, ihm als Kontrast diente, damit er das ungeheure Leiden sehen konnte, von dem er umgeben war. Mit all diesen Reichtümern hätte er sicherlich viel tun können, um das Leid derer, denen er begegnete, zu lindern. Er hätte ihnen Nahrung oder Kleidung geben, Schulen oder Krankenhäuser bauen können. Das hätte aber nur seine Machtposition bestätigt. Was man hieraus lernt, ist, dass man auf Macht angewiesen ist, um sehen zu können; dass aber diese Macht aufgegeben werden muss, wenn es darum geht, sie in Mitleid umzuwandeln.
Der zum Ausführen des Mitleids nötige Verzicht auf Macht muss nicht im wortwörtlichen Sinn aufgefasst werden. Ich muss nicht aufhören, Medizin, Psychotherapie oder sonst irgendeine Dienstleistung zu praktizieren, um das Macht-Schwäche-Verhältnis zu brechen. Wohl aber scheint es nicht ohne weiteres anzugehen, zugleich Macht auszuüben und Mitleid zu praktizieren. Für jeden von uns heute, die wir in einer Welt leben, in der es überall Geld und Gut und Arbeit und Berufe gibt, tritt Mitleid (wenn überhaupt) in nur gedämpfter Form auf. Kann zum Beispiel ein Arzt in der Weise Mitleid haben, wie es in dieser Schrift bisher geschildert wurde? Ist es etwa möglich, in einer großen Arztpraxis zu arbeiten, ein üppiges Einkommen zu erzielen, unter kassenärztlichen Sachzwängen zu arbeiten und obendrein auch Mitleid auszuüben? Ist es möglich, soviel Macht zu haben und auch in die Tugend des Mitleids hineinzufinden?
Diese Tugend verdeutlicht, dass für die Seele auf dem Pfad der Tugend eine Umkehrung, eine Verwandlung, ein Metanoia unserer Lebensweise nötig ist. Haben wir dies einmal anhand der Tugend des Mitleids durchschaut, so wird deutlicher, dass alle die Tugenden unser Leben selbst, unseren Lebenswandel, in Frage stellen. Hiermit will ich aber nicht nahelegen, dass der Seelenpfad der Tugend von uns verlangen würde, dass wir uns von der gegenwärtigen Welt lossagen. Im Gegenteil: Tugend sollte heißen, dass wir uns umso tiefer auf die eigentlichen Realitäten unserer Zeit einlassen. Das ist in der Tat möglich.
Wir brauchen nicht unser ganzes Hab und Gut zu verschenken. Wohl aber müssen wir auf bestimmte Funktionsweisen der heutigen Welt verzichten. Wir können allerdings arbeiten, Professionelle sein und Geld verdienen; aber das Bedürfnis nach Sicherheit muss aufgelockert werden. Der seelische Weg der Tugend erfordert, dass wir aufhören, uns an irgendetwas festzuklammern. In dieser Weise können wir es sehr weit bringen im Verzicht auf Macht.
Als Siddhartha seinen Reichtümern entsagte und mit seinem Fasten und Opfern begann, wurde er mit vielen inneren Dämonen konfrontiert. Auch wir dürfen sehr wohl annehmen, dass wenn wir es zum Betreten des Seelenpfades der Tugend bringen, wir uns unseren eigenen, der eigenen Entwicklungsstufe entsprechenden Dämonen werden stellen müssen. Diese Dämonen treten gerne in Form von Ängsten oder Furcht auf; etwa die Furcht davor, in dieser Welt der Konkurrenz und des Wettbewerbs nicht bestehen zu können; die Furcht davor, dass wir im Alter nicht finanziell versorgt sein werden; die Furcht davor, dass wir auf andere nicht als erfolgreich wirken. Diese eher geringfügigen Arten der Furcht sind nichts im Vergleich zur Art und Größenordnung der Dämonen, die Siddhartha heimsuchten. Das Niveau unseres eigenen Mitleids lässt sich andererseits mit dem seinigen wohl kaum vergleichen.
Hier ist ein Beispiel. Vor einigen Jahren lernte ich einen jungianischen Psychotherapeuten kennen, der hieß Arwind Vasavada und arbeitete in Chicago. Die Frage, wie man in moralischer Weise Psychotherapie ausüben kann, beschäftigte ihn sehr. Er war sich des Machtanteils beim Praktizieren der Psychotherapie akut bewusst. Er beschloss, für seine Behandlungen keine Gebühr zu erheben, da er empfand, dass wenn man für solche Arbeit Geld verlangt, das im Konflikt steht mit den seelischen Ressourcen, die man braucht, um eine mitfühlende Präsenz zu sein. Wohl ließ er es zu, wenn Menschen ihm Geld gaben, die dies tun wollten; eine feste Gebühr erhob er aber nicht. Manchmal waren es Lebensmittel oder sonstige Dinge, was die Menschen ihm gaben. Er galt unter Fachkollegen nicht als zünftiger, professioneller Therapeut. Auch lebte er in einfacher Weise. Ich würde sagen, dass er sich in die Tugend des Mitleids tief hineingelebt hat. Ferner litt er sehr, indem er in beispielloser Weise das Leiden seiner Patienten mitfühlte, und er war ständig um die Moral seiner Arbeit mit Patienten besorgt. Er entfernte bestimmte „Polster“ des Komforts aus seinem Leben; so schaffte er es, die Seelenbewegungen ganz deutlich wahrzunehmen, die durch seine therapeutische Arbeit in ihm ausgelöst wurden.
Dieser Punkt ist wohl der wesentlichste hinsichtlich des Erlebens von Mitleid in einer solchen Welt wie unserer. Unser Komfort kann leicht die Sensibilität unseres Seelenlebens abstumpfen. Es mag sein, dass wir es mit irgendeiner Arbeit oder irgendeinem Beruf zu tun haben, bei denen die Tugend des Mitleids eine Rolle zu spielen scheint. Vielleicht fühlen wir sogar emotionales Mitleid, während wir in solchen Berufen unseren Dienst an Menschen leisten. Wenn wir aber nicht im eigenen Seelenleben verändert werden durch das, was wir erleben, bleibt das Mitleid nur auf der Seite der Emotion und es hat sich bloß um eine momentane emotionale Reaktion gehandelt. Die spirituelle Seite der Tugend braucht längere Zeit, um in das Leben der Seele hineinzuwirken, und das geht nicht, solange durch Komfort die Seele betäubt ist.
Indem die Bewegung von der eher emotionalen Dimension des Mitleids zu dessen mehr spiritueller Dimension hin stattfindet, ersteht ein Gefühl des Konfliktes. Bei unserer Bewegung von dem eher Seelischen zum Geist hin kann eine unausgewogene Geistorientierung Schuldgefühle in uns auslösen hinsichtlich unserer Lebensweise. Dann kommt es uns vor, als wäre kein Mitleid möglich, wenn wir unser Verhältnis zum eigenen Lebenswandel nicht verändern, etwa im Sinne von Arwind Vasavada. Und da ja das Haften am Besitz unsere Sensibilität abstumpfen kann, so sehen wir dann die Dinge und den Komfort, die uns gehören, buchstäblich so an, als würden sie unserem Blick für den Geistaspekt anderer Menschen im Wege stehen.
Vom Gesichtspunkt des Geistes scheint es schon nötig, Verzicht zu üben, um Mitleid praktizieren zu können. Wenn man daher feststellen sollte, dass die eigene Ausgewogenheit über Bord geht, so sollte man bedenken, dass es möglich ist, sich an die imaginative Seite des Seelenlebens zu halten und zugleich sich vor dem Gefangenwerden in der emotionalen Seite zu bewahren. Das ist ja kein Abwürgen der Emotion oder des Fühlens, sondern das Geltendmachen der Fähigkeit, Emotion innerlich zu umfassen, während man für den Geist wach ist. Wenn uns die imaginative Seite unseres seelischen Lebens erhalten bleiben kann, gelangen wir zu einer neuen, zum Ausüben des Mitleids nötigen Vorbedingung.
Wir müssen nämlich unseren Komfort zwar nicht wortwörtlich aufgeben, um für andere Menschen Mitleid zu empfinden; aber wir dürfen nicht zulassen, dass dieser Komfort uns in den Griff bekommt. So ist diese für die Ausübung des Mitleids erforderliche Bedingung also etwas, was es immer und immer wieder zu vollziehen gilt. Wenn wir in imaginativer Weise in der Seele leben, und zwar in der Seele, die nach dem Geist strebt, wird der zum Fühlen von Mitleid unentbehrliche Verzicht auf Komfort nicht zu etwas zwingend Wortwörtlichem, sondern zu einer fortdauernden inneren Arbeit. Wir müssen nicht die Dinge selbst loslassen; wohl aber müssen wir permanent verhindern, dass sie uns im Griff haben bzw. in den Griff bekommen.
Wie man den Seelenpfad der Tugend leben und dennoch mit der Welt in inniger Verbindung bleiben kann, muss jeder für sich ausarbeiten. Regeln, die einen bestimmten Weg hierzu vorgeben, gibt es keine. Es wäre aber falsch anzunehmen, dass der Seelenpfad der Tugend etwas sei, was man der eigenen Lebensweise aufpfropft, ohne im eigenen Dasein große Veränderungen hervorzurufen. Man sollte die Aufmerksamkeit auf die Tugend gerichtet halten als auf ein Leben in Harmonie mit dem Ganzen der Erde und des Kosmos, und dann mit großem Interesse verfolgen, wie das Leben sich verändert. Denn verändern wird es sich. Von allen Tugenden ist es vielleicht die Tugend des Mitleids, die in unserem Leben die größten Änderungen in Gang setzen wird.
Mitleid hat eine ungeheure Kraft. Durch diese Kraft können wir jedem noch so großen Leid begegnen, ohne ihm zu unterliegen. Diese Tugend vermag es, jemanden, der durch Leiden aus der menschlichen Gemeinschaft verstoßen wurde, aufzufangen, ihn zurückzuholen und wieder herzustellen. Man bedenke zum Beispiel den Heiligen Franziskus von Assisi, der ein wahrer Ritter des Mitleids war.
In der mittelalterlichen Welt des Heiligen Franziskus mussten sich Leprakranke einen aufwendigen religiösen Ritus unterziehen, der sie im Wesentlichen aus der Welt der Menschen entfernte. Wer sich mit der Lepra infiziert hatte, wurde zur Siechenkapelle gebracht und zum Knien vor dem Altar gezwungen. Dann zelebrierte der Priester eine Trennungszeremonie, indem er zu dem Aussätzigen sprach:
Mein Bruder, lieber, kleiner Mann des gütigen Gottes, durch große Traurigkeit und Leid, Lepra und vielerlei Trübsal gewinnt man das Himmelreich, wo weder Krankheit noch Kummer herrscht und alles lauter und weiß, unbefleckt und leuchtender als die Sonne ist. Dorthin wirst du gehen, wenn es Gott gefällt. Bis dahin sei ein guter Christ, ertrage geduldig dieses Leid, und Gott wird sich deiner erbarmen.
Der Kranke antwortete: - Es zittert mir das Gebein, meine Seele verliert den Weg. Halleluja. Erbarme dich meiner, o Herr. Bewahre mich vor dem Bösen.
- Darauf sprach der Priester:
Mein Bruder, nimm diesen Umhang und lege ihn um zum Zeichen der Demut und gehe niemals ohne ihn von hier weg. Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.
In dieser Welt lebte Franziskus und war wie Siddhartha der Sohn eines wohlhabenden Mannes. Eines Tages als er unterwegs zu einem der Anwesen seines Vaters in der Nähe eines Siechenhauses ritt, scheute plötzlich sein Pferd und Franziskus sah einen Leprakranken, der ihm unmittelbar im Weg stand. Als würde er durch eine unwiderstehliche Macht herangezogen, stieg er ab, ging hin zum Aussätzigen und nahm dessen Hand in die seine. Er drückte ihm ein Goldstück in die Hand und sah ihm ins Antlitz. Er umarmte den Mann und küsste ihn. Franziskus verstand die eigenen Handlungen nicht. Als er aufblickte, stand der Mann nicht mehr da, er war verschwunden. Franziskus hatte sein Herz dem geöffnet, was er bis dahin mit äußerstem Entsetzen abgelehnt hatte. In jenem einzigen Augenblick der Begegnung mit diesem Mann war in Franziskus eine neue Eigenschaft geboren worden, die Eigenschaft des Mitleids.
Franziskus arbeitete weiterhin mit Aussätzigen. Das Mitleid war in ihm so stark, dass viele Leprakranke schon allein dadurch geheilt wurden, dass sie in seiner Nähe waren. Sie wurden geheilt, weil sie zur Selbsterkenntnis kamen, dass auch sie der Ganzheit der Schöpfung angehören. Das Mitleid des Heiligen Franziskus brachte sie dahin, dies erleben zu können. Hier haben wir ein Bild von der Macht des Mitleids. Mit dem Heiligen Franziskus wird uns ein Mittel zuteil, den Ursprung dieser Macht zu verstehen. Die Form und Struktur des Sonnengesangs, eines erlesenen lyrischen Gedichtes des Heiligen Franziskus, offenbart den Kraftquell des Mitleids. Als Erstes Der Sonnengesang:
Der Sonnengesang des Heiligen Franz von Assisi
Höchster, allmächtiger, guter Herr,
dein sind der Lobpreis, die Herrlichkeit und Ehre
und jeglicher Dank.
Dir nur gebühren sie, Höchster,
und keiner der Menschen ist würdig
Dich nur zu nennen.
Gelobt seist du, Herr,
mit allen Wesen, die Du geschaffen,
der edlen Herrin vor allem, Schwester Sonne,
die uns den Tag heraufführt und Licht
mit ihren Strahlen, die Schöne, spendet;
gar prächtig in mächtigem Glanze:
Dein Gleichnis ist sie, Erhabener.
Gelobt seist du, mein Herr,
durch Bruder Mond und die Sterne.
Durch Dich sie funkeln am Himmelsbogen
und leuchten köstlich und schön.
Gelobt seist du, Herr,
durch Bruder Wind
und Luft und Wolke Wetter,
die sanft oder streng, nach Deinem Willen,
die Wesen leiten, die durch Dich sind.
Gelobt seist du, Herr,
durch Schwester Quelle:
Wie ist sie nützlich in ihrer Demut,
wie köstlich und keusch!
Gelobt seist du, Herr,
durch Bruder Feuer,
durch den du zur Nacht uns leuchtest.
Schön und freundlich ist er
mächtig und stark.
Gelobt seist du, Herr,
durch unsere Schwester, die Mutter Erde,
die gütig und stark uns trägt
und mancherlei Frucht uns bietet
mit farbigen Blumen und Matten.
Gelobt seist du, Herr, durch die, so
vergeben um Deiner Liebe willen
und Pein und Trübsal geduldig tragen.
Selig, die's überwinden in Frieden:
Du, Höchster, wirst sie krönen.
Gelobt seist du, Herr,
durch unseren Bruder, den leiblichen Tod;
ihm kann kein lebender Mensch entrinnen.
Wehe denen, die sterben in schweren Sünden!
Selig, die er in Deinem heiligsten Willen findet!
Denn sie versehrt nicht der zweite Tod.
Lobt und preist den Herrn!
Danket und dient ihm in großer Demut!
Übersetzung von Otto Karrer aus Franz von Assisi. Legenden und Laude. Zürich, 1975, S. 518-519
In diesem wunderschönen, einfachen Gedicht sehen wir die Weite, die Tiefe und die Höhe der Vorstellungskraft des Heiligen Franziskus. Hier haben wir eine Erweiterung des Mitleids durch einen Eingeweihten des Mitleids, der dem Siddhartha absolut ebenbürtigen ist. Es kommt etwas Neues herein. Von Franziskus erfahren wir im Sonnengesang eine Intimität mit dem Kosmos als Ganzes, von den fernsten Entfernungen der Galaxie bis hin zu den kleinsten Geschöpfen.
Aufgrund der buddhistischen Auffassung des Mitleids besteht eine Tendenz, Mitleid mit Unnahbarkeit in Verbindung zu sehen. Dann tritt der Heilige Franziskus auf und sagt sinngemäß, dass ein solches Verständnis des Mitleids falsch ist. Distanziertheit ist es nicht, was Siddhartha meinte. Im Gegenteil: Mitleid erfordert volle Bindung. Dabei geht es aber um mehr als sich für das leidende Individuum zu engagieren. Es muss eine volle Bindung mit der ganzen Schöpfung sein. Ein jedes Ding des Universums ist unser Freund, und jeder von uns ist dem Universum Freund. Die heilende Wirkung des Mitleids holt die Enteigneten wieder heim und stellt Siddhartha und Franziskus auf den gleichen Rang nebeneinander hin.
Wir müssen erkennen, dass Franziskus all das nicht durch Logik gefunden hat. Er hat diese Fülle mit großer Präsenz in seiner Seele erleb. Diese imaginative Fülle verleiht dem Mitleid heilende Macht. Wenn etwa ein Leprakranker aus der mitmenschlichen Gemeinschaft ausgeschlossen wurde, so heißt das, dass den Menschen im Allgemeinen die Fähigkeit abging, sich einen solchen Kranken als Teil ihrer Welt – der Welt der Menschen – vorzustellen. Das Mitleid des Heiligen Franziskus vermochte es, auf einen solchen Menschen zu blicken und ihn als zur Schöpfung als Ganzes zugehörig anzusehen. Wiederum war ein solches Sehen kein Verstandeswissen, sondern eine tiefe emotional-spirituelle Erkenntnis, und zwar eine Erkenntnis von solcher Potenz, dass sie den Kranken heilte.
Zum Schluss können wir einige der Ausdrucksweisen der handelnden Tugend des Mitleids betrachten. Kenntnis davon, wie diese Tugend durch jemanden konkret zum Ausdruck kommt, kann hilfreich sein, da sie uns zeigt, wie leicht es ist, die Tugend zum Entgleisen zu bringen. Es zeigt sich zum Beispiel am mitleidigen Menschen etwas Aristokratisches und Königliches. In den Geschichten von Siddhartha und Franziskus sehen wir, wie das Königliche ein zentraler Aspekt in ihrem Leben war. Als sie sich für den Pfad des Mitleids öffneten, verschwand dieses Königliche nicht etwa, sondern es nahm eine spiritualisierte Form an. Mitleid ist eine majestätische Tugend, es gebührt Königen und Königinnen. Die Aufgabe der Mitleid Ausübenden besteht darin, auch dann innerhalb der seelisch-geistigen Praxis zu bleiben, wenn ihnen Verehrung entgegengebracht wird: wenn sie feststellen, dass sie wie Mitglieder eines Königshauses behandelt werden. Sowie ein mitleidiger Mensch Verehrung erwartet, geht die Tugend verloren.
Den Menschen des Mitleids kennzeichnet ferner eine ruhige Gefasstheit und Gesinnung, eine Abgeklärtheit, die wie Distanzertheit aussehen kann, die aber eigentlich Anteilnahme auf imaginativer Ebene und keine bloße Reaktion auf Leid oder Entsetzen ist, die wiederum zwar so aussieht wie Engagement, aber bloß ein Mittel ist, um Distanz zu gewinnen. Obige Abgeklärtheit ist ein Ausstrahlen der Freude am Leben selber. Das Herz ist allumfassend. Diese nämlichen Attribute können aber eingesetzt werden, um Billigung und Lob einzuheimsen, aus Ruhm als Selbstzweck. Das Wahrheit suchende Wesen des Mitleids kann also verloren gehen, denn wenn wir Ehre brauchen, sind wir für alle Arten von Lüge und Schmeichelei anfällig. So besteht also eine zweite Aufgabe darin, wach und selbstlos zu sein, um die Eigenschaft der Tugend nicht zu verfälschen; um also der Diener zu bleiben und nicht zum Politiker zu werden. Wer Mitleid ausübt, muss lernen, für sich zu stehen.
Verlangen nach Eitelkeit, Ehre, Lob, Macht sind die Schatteneigenschaften, denen man sich stellen muss, wenn man sich auf den Pfad der Tugend des Mitleids aufmacht. Die Tugend des Urteilvermögens, wohl auch die Tugend der Geduld tritt hier als Hilfe auf. Beide sind ein gutes Gegengift gegen die feurige Hitze eines nicht-temperierten Mitleids, das so schnell zum Machtgehabe wird.
Diese Warnungen vor Entgleisungsmöglichkeiten des Mitleids belehren uns über das Wesen der Tugend selbst. Alle die Tugenden haben ihre Schattenseiten. Die Praxis jeder der Tugenden erfordert allerdings eine Konfrontation mit den jeweiligen Schattenaspekten. Diese Schatten-Aspekte werden aber nur dann zur Vorherrschaft kommen, wenn wir uns einbilden, wir hätten die Tugend bemeistert beziehungsweise zur Lebensgewohnheit gemacht. Tugend ist niemals nur Gewohnheit; jede Tugend ist ein schöpferischer Akt.
Wir irren, wenn wir meinen, dass wir Mitleid oder Mut oder Geduld oder irgend eine der Tugenden besitzen. Sie sind nicht zu haben, sondern in jedem Moment zu erschaffen, und zwar in genau dem Augenblick, in dem die Umstände sie erfordern.
- Links zum Weiterlesen über die Tugenden:
Die Macht von Seele. Wege zum Leben der zwölf Monatstugenden
Die Tugend der Hingabe
Die Tugend des Gleichgewichts
Die Tugend der Treue
Die Tugend der Selbstlosigkeit
Die Tugend der Gelassenheit
Die Tugend des Urteilsvermögens
Die Tugend der Liebe
Der Umgang mit den Tugenden im eigenen Leben