aus Die Macht der Seele.Wege zum Leben der Monatstugenden
von Robert Sardello
Der Umgang mit den Tugenden im eigenen Leben
Drei Ansätze gibt es, die Tugenden ins eigene Leben einzubeziehen: den intellektuell-geistigen, den psychologischen, den spirituell-psychologischen. Der erste besteht im Wissen, was die Tugenden sind, im Studieren jeder einzelnen Tugend, im Entdecken, wie man sie meditieren kann, und im Beobachten, wie sie im Leben funktionieren.
Der zweite Ansatz beginnt anders. Es werden keine Tugenden beobachtet, sondern wir werden hin und wieder von Lebensumständen in verschiedene Verwirrungen hineingeworfen, die durchaus Lebensphasen sein können, in denen wir zur einen oder anderen Tugend gerufen werden. Wer lernt, auf solche Phasen des Ärgers, der Verunsicherung, der Störung aufmerksam zu sein, der wird ganz konkret in die Tugend hineingetragen, indem er nach den diesen Verwirrungen innewohnenden seelischen und geistigen Richtungen sucht, anstatt gegen das anzukämpfen, was geschieht oder alles Mögliche durchzuprobieren, um den früheren, heilen Lebenszustand wieder herzustellen. Diese gewöhnlichere Annäherungsweise an die Tugenden wird in diesem Kapitel erkundet.
Der dritte, spirituell-psychologische Ansatz beginnt damit, dass man die Tugenden studiert und bis zu einem gewissen Grad kennt, damit dann, wenn der Lauf des Lebens die entsprechenden Umstände bietet, man die Tugend zur Entfaltung bringen kann. Hier können wir uns des Prozesses viel bewusster sein, in das wir eingebunden sind. Im Gegensatz zum zweiten Ansatz, dem ausschließlich psychologischen, können wir mit einem spirituell-psychologischen Ansatz einsehen, dass wenn wir uns in Verwirrung finden, das die Chance ist, eine spezifische Tugend zu entwickeln. Statt zuzulassen, dass der Prozess einen beliebigen Lauf nimmt, kann über ihn nachgedacht und meditiert werden, um so die Entfaltung der Tugend zu einem bewussten Vorgang zu machen, der einen direkten Anschluss an dem Leben hat. Die mit diesem Ansatz verbundene spezifische Art der Meditation wird im Folgenden auseinandergesetzt.
Als Ausgangspunkt wurden die zwölf Tugenden und einige ihrer wesentlichen Eigenschaften in untenstehender Tabelle zusammengefasst. Zu Beginn werden die zwölf Tugenden auf den Tierkreis – Spalt 1, 2, 3 der Tabelle – verteilt. Die Entsprechung einer jeden Tugend mit einem der Tierkreiszeichen wurde auf der Grundlage vorheriger Forschungsarbeit von H. P. Blavatsky und Rudolf Steiner vorgenommen.
Zu einem anfänglichen Gefühl für den Kosmos der Tugend gelangt man, indem man eine der Tugenden auf die in der Tabelle jeweils vorangehende und nachfolgende Tugend bezieht. Will man für die Tugend ein inneres Gefühl entwickeln, damit sie nicht bloß ein Wort ist, sondern ein tatsächliches Erlebnis zu werden beginnt, so erfordert das, dass man den dynamischen Fluss zwischen der vorigen, der in Frage kommenden und der nachfolgenden Tugend meditiert.
So beginnen wir etwa für die Tugend der Hingabe ein inneres Gefühl zu gewinnen, indem wir den Fluss von der Liebe über die Hingabe zum Gleichgewicht meditieren. Diese drei Wörter gilt es innerlich zu verbildlichen; so lässt sich der Fluss von dem einen zum anderen meditierend Vorstellen. Man kann das so machen, dass man tatsächliche Vorkommnisse vors innere Auge stellt, in denen man im Leben eine Handlung ausführt, die ein Ausdruck der Liebe ist; dann eine, die Ausdruck der Hingabe ist; dann eine, die Ausdruck des Gleichgewichtes ist. Es beginnt sich so ein inneres Gefühl für die Tugend zu entwickeln. In der Tabelle wird dieses Verhältnis für jede Tugend unter der Überschrift „vorher/nachher“ angegeben.
Unter der Überschrift „Gegenteil“ wird das Zeichen angegeben, das im Tierkreis sich auf der gegenüberliegenden Position vom in Frage kommenden Zeichen befindet, zusammen mit der diesem Zeichen entsprechenden Tugend angegeben. Unterhalb dessen steht die Ausgangs-Eigenschaft, durch welche sich gewöhnlich diese gegenüberliegende Tugend manifestiert. Ein weiteres Empfinden für die in Frage kommende Tugend ergibt sich dadurch, dass man die Spannungslinie zwischen dieser Tugend und ihrem Gegenteil meditiert. So liegt zum Beispiel die Tugend des Gleichmuts gegenüber der Tugend der Hingabe. Die Spannung zwischen diesen beiden ist es, was zum als fortdauernd und beständig empfundenen Gefühl der Hingabe führt. Die gegenüberliegende Positionierung auf dem Tierkreis deutet nicht auf Gegensätzlichkeit der Tugenden; es bedeutet vielmehr, dass die Gegenüberliegende Tugend zum Einstieg in die in Frage kommende verhilft. Um Hingabe üben zu können, bedürfen wir des Gleichmuts, und umgekehrt. Meditierend vermag man, sowohl die Beziehung als auch den Unterschied zwischen Hingabe und Gleichgewicht genau zu empfinden. Die Hingabe führt starke Herzensgefühle mit sich, zusammen mit einer starken Empfindung der Notwendigkeit, vor dem unmittelbaren Augenblick intensiv gegenwärtig zu sein. Gleichmut hingegen hat nicht so sehr das Herz als Mittelpunkt; er hat mehr mit dem emotionalen Reich als Ganzes zu tun.
Unter der Überschrift „Bild“ steht eine kurze Beschreibung des Wesens der Tugend. Diese Bilder kommen so zustande, dass man eine jede Tugend meditiert und dann durch dieses Meditieren dazu kommt, die besondere Wesenhaftigkeit jeder Tugend so zu sehen, dass sie sich in wenigen Wörtern aussprechen lässt.
Unter der Überschrift „Praxis“ steht eine kurze Beschreibung des Übungsansatzes, durch den ein Bewusstsein für die in Frage kommende Tugend entwickelt werden kann. Die besondere Praxis stammt auch von der phänomenologischen Arbeit, jede der einzelnen Tugenden sorgfältig zu beschreiben. Wird zugelassen, dass die Tugend für sich sprechen darf, anstatt dass wir den Tugenden irgendeinen Sinngehalt aufstülpen, so erfolgt spontan die mit der Entwicklung der Tugend verknüpfte Praktik.
Unter der Überschrift „Extreme“ sind die emotionalen Polaritäten aufgelistet, die normalerweise als das volle Kontinuum vom einen Extrem zum anderen entstehen, wenn durch irgendeinen Lebensumstand die „anfängliche Eigenschaft“ der Tugend zu uns kommt. Die erwähnten besonderen Extreme werden auch davon abgeleitet, dass eine jede der Tugenden meditiert und eine phänomenologische Beschreibung von ihr verfasst wird. Diese Extreme sind enorm wichtig. Jede Tugend ist als das volle Kontinuum vom einen Extrem zum anderen zu verstehen. So wird zum Beispiel die Tugend der Hingabe nur dann richtig als emotionale Qualität verstanden und empfunden, wenn sie als das Kontinuum Boshaftigkeit – Oberflächlichkeit verbildlicht wird. Wenn über diese drei Eigenschaften meditiert wird, dann lassen sich die volle Tiefe, Kraft und Weite der Qualität der Hingabe in einer Weise empfinden, die nicht erfasst wird, wenn man nur versucht, sich die Hingabe allein für sich vorzustellen.
Den vielleicht interessantesten Aspekt der Tabelle findet man unter der Überschrift „anfängliche Eigenschaft“. Zu diesen Eigenschaften kam ich durch die Erkenntnis, dass die durch geistige Forschung von Helena Petrovna Blavatsky und Rudolf Steiner gegebenen, mit jedem Tierkreisbild verbundenen Tugenden entschieden anders sind, als die in der konventionellen Astrologie mit jedem Tierkreisbild verknüpften und gemeinhin angewandten Eigenschaften. Die unter „anfängliche Eigenschaft“ stehenden Bezeichnungen beschreiben das Wesen der primären Eigenschaften, die in der Astrologie für jedes Tierkreisbild gegebenen sind. Diese Eigenschaften sind die unentwickelten Aspekte der Tugenden. Das heißt, die für ein jedes Tierkreiszeichen in der Standardastrologie angegebenen typischen Charakteristiken lassen sich als die uns gegebenen anfänglichen Gaben betrachten, die uns die Richtung weisen, die zur Entwicklung der Tugend im Leben hinführen. Zu gewissen Lebenszeiten scheinen eine oder mehrere dieser Eigenschaften stark angeregt zu sein, und zu solchen Zeiten besteht die Möglichkeit, die Eigenschaft zu einer lebendigen Empfindung der Tugend hin zur Entfaltung zu bringen.
Die „anfängliche Eigenschaft“ ist es, was die innere Seelen- und Geistwahrnehmung erst ermöglicht. Wir benötigen sozusagen „das Organ“, um die Besonderheit jeder Tugend fühlen zu können. Zwölf solche Organe besitzen wir, unsere Teilnahme an den zwölf Tierkreiszeichen, die uns als Seelen- und Geistausrüstung beigegeben sind. Durch die Eigenschaften dieser zwölf Zeichen ist es, dass wir fühlen können, wie die Tugend sich rührt. Sonst wäre Tugend weiter nichts, als ein intellektuelles Schema.
In unserem Leben gibt es besondere emotionale Ereignisse, die die Entwicklungsmöglichkeit einer spezifischen Tugend signalisieren. Solche Ereignisse sind unsere Zugänge in den Kreis der Tugenden. In der Tabelle sind diese Zugänge unter der Überschrift „anfängliche Eigenschaft“ (Spalt 4) zu finden. Bedenken Sie etwa eine Phase, zu der Sie sich in ihrem Leben stark beunruhigt fühlten. Hier meine ich keine momentane Bestürzung, sondern eine Zeit anhaltender Lebens-Desorientierung emotionaler Art.
Diese Frage stellte ich zum Beispiel einmal einer Gruppe in einem Workshop. Eine Frau erzählte davon, wie mehrere Jahre zuvor ihr Ehemann auf eine Camping-Reise gefahren sei, ohne zu sagen, wohin er fährt. Zum angekündigten Termin einige Tage später sei er nicht wieder eingetroffen. Nach weiteren mehreren Tagen wurde die Polizei verständigt, die aber nicht viel hat ausrichten können, da die Frau ihr ja nicht hatte sagen können, wo sie ihren Mann suchen sollte. Sie beschrieb in diesem Workshop, wie dadurch ihr Leben vollkommen in Zerrissenheit versetzt wurde. Nach einigen Wochen wäre die Frau wieder zur Arbeit zurückgekehrt, ohne von ihrem Gatten etwas erfahren zu haben. Sie fühlte sich zwar durch die Stabilität des täglichen Arbeitens etwas getröstet, aber dass es sich hierbei um eine äußerst emotionale Zerwühlung handelt, stand außer Frage. Hatte er sie verlassen? War ihm etwas Schreckliches zugestoßen? War er etwa verunglückt oder gar ermordet worden?
Solche Gedanken und die sie begleitenden Gefühle hätten manchmal in Augenblicke gewechselt, in denen sie das Gefühl hatte, dass alles sicherlich in Ordnung wäre und er zurückkehren würde. Sie beschrieb, wie tief bewegt sie wegen der Unterstützung ihrer Großfamilie gewesen war, wie dank der Gebete und des Getragenseins all dieser Menschen sowie ihrer Freunde und ihrer Arbeitskollegen sie zu einer gewissen Ruhe und Gefasstheit hatte zurückfinden können. Dann, nach weiter einigen Wochen, wurde ihr mitgeteilt, dass die Suchpartien ihren Ehemann an seinem Camping Platz gefunden hätten; er wäre im Schlaf an einem Herzinfarkt gestorben.
Indem ich aufmerksam der Erzählung dieser Frau zuhörte, war klar, dass inmitten von alledem, was ihr während dieser Zeit zugestoßen ist, sie zur Tugend der Hingabe gefunden hatte. Durch die Unterstützung der Menschen um sie herum wirkte aber auch stark die im Tierkreis entgegengesetzte Tugend, die des Gleichmuts. (In der Tabelle wird die entgegengesetzte unter der Überschrift „Gegenteil“ aufgelistet. Und dieser Überschrift steht das Tierkreisbild der entgegengesetzten Tugend und unter dieser ist die „anfängliche Eigenschaft“ dieser Entgegengesetzten Tugend aufgelistet.)
Ganz gewiss machte sie Extreme der Emotionalität durch: sie erlebte zum Beispiel bei der Vorstellung, dass ihr Mann angegriffen worden war, äußersten Hass gegen irgendeinen Täter. (Die Extreme der Tugend werden unter der letzten Spalt aufgelistet.) Zu anderen Zeiten hatte sie die Empfindung, dass alles in Ordnung sei, was eine Art oberflächlicher Reaktion war. Sie erlebte überraschenderweise eine Art inneren Gleichgewichts, nachdem sie vom Tod ihres Mannes erfuhr.
Nicht jeder, der das durchmacht, was dieser Frau zustieß, würde so reagieren wie sie. Während ihr dies geschah, dachte sie nicht bewusst an Tugend beziehungsweise daran, tugendhaft zu sein. Dennoch bestand unter den Eigenschaften seelischer Art, die im Verfolg dieser Erfahrung in ihr zur Entwicklung kamen, als Haupteigenschaft eine Empfindung der Hingabe, einer Vertiefung der Fähigkeit, in beständiger, tiefer Weise zu lieben. Noch Jahre später strahlt sie diese Qualität aus, und wir können von ihr nur sagen, dass sie diese Eigenschaft geradezu verkörpert.
Eine weitere Person beschrieb im selben Kurs eine Situation ungeheurer Beunruhigung in seinem Leben. Dieser Mensch, ein junger Mann von kaum 20 Jahren, war eine Reihe von Jahren zuvor zu seinen Eltern gegangen, um sie in einer ihn zutiefst bekümmernden Situation um Rat und Hilfe zu bitten. Anstatt ihm zu helfen, verwiesen sie ihm des Hauses. Nach mehreren Tagen des Herumwanderns stieg er in einen Bus mit dem Entschluss, nach einem kleinen Ort in Kalifornien umzuziehen. Er hatte sich fest vorgenommen, im Leben selbständig, ohne die Hilfe seiner Eltern zurecht zu kommen. Während der langen Reise nach Westen empfand er plötzlich eine starke innere Zuversicht und innere Ruhe und wusste, dass für ihn alles gut gehen würde. Diese Qualitäten der Zuversicht und der Ruhe haben mit der Tugend der Hingabe nichts zu tun, sondern sind Eigenschaften, die eher den Gleichmut kennzeichnen.
Ich glaube nicht, dass diese Person in die Eigenschaften der Tugend der Hingabe eingetreten ist. Stattdessen ging er in die gegenüberliegende Tugend über, in die Tugend des Gleichmuts. Aus der Tabelle geht hervor, dass die der Tugend des Gleichmuts vorangehende respektive nachfolgende Tugend die Höflichkeit respektive die Geduld ist (unter der Spalt „vorher/ nachher“ angegeben). Wahrscheinlich war der junge Mann in diesen Eigenschaften stärker, als in der der Tugend der Hingabe vorangehenden und ihr nachfolgenden Tugend der Liebe respektive des Gleichgewichts. Dass seine Seele Gleichmut erlebte statt der „anfänglichen Eigenschaft“ der Tugend des Gleichmuts, deutet tendenziell darauf hin, dass in ihm Liebe und Gleichgewicht wohl ziemlich gut entwickelt waren.
Für manche Menschen würde das Durchleben solcher Erfahrungen wie die für diese zwei Personen beschriebenen keineswegs die Bewegung in Richtung einer bestimmten Tugend ergeben. Stattdessen bliebe ein solcher Mensch entweder in der anfänglichen Qualität oder aber er würde in die anfängliche Qualität der entgegengesetzten Tugend einen Übergang machen. Er könnte in die Extreme der Tugend eintreten, mit der er in Kontakt kam. Im Fall des sich Näherns an die Tugend der Hingabe machen wir gewöhnlich, wenn unser Leben gründlich aufgewühlt wird, die extremen Emotionen der Boshaftigkeit und der Oberflächlichkeit durch. Es kann vorkommen, dass wir für eine Zeit anderen gegenüber Feindseligkeit hegen oder uns anderen in extrem oberflächlicher weise nähern. Wenn wir uns solchen Verhaltens nicht bewusst werden, ob durch das Leid, das es auslöst oder durch die Reaktionen von Seiten anderer Menschen, so kann es kommen, dass wir in diesen Extremen des emotionalen Lebens stecken bleiben. Diese emotionalen Extreme sind ein notwendiger Lernprozess, durch den wir allmählich in die Lage versetzt werden, zwischen den Extremen einen Mittelweg zu finden, welcher ja die Tugend ist.
Eine weitere Möglichkeit ist die, psychisch in die entgegengesetzte anfängliche Qualität hineingezogen zu werden und dann, anstatt sich in die mit dieser Qualität verbundene Tugend, sich in die Extreme dieser Tugend hineinzubewegen. So kann man, zum Beispiel im Fall, in dem man einer anfänglichen Qualität der Unruhe im Leben begegnet, in die entgegengesetzte Qualität der Unentschlossenheit und das emotionale Extrem der Grobheit und damit in Abwechslung eine Art ästhetische Beziehung zu anderen und zur Welt, was eine Art oberflächlichen Selbstgenusses sinnlicher Freuden ist. Man merke die Ähnlichkeit zwischen der mit der anfänglichen Qualität der Tugend der Hingabe verwandten Extreme – Feindseligkeit und Oberflächlichkeit – und den emotionalen Extremen, die mit der anfänglichen Qualität der der Hingabe entgegengesetzten Tugend, nämlich Grobheit und ästhetischem Verhalten. Diese Ähnlichkeit der Eigenschaften zeigt deutlich, dass wenn wir in die Entwicklung der Tugend eingeführt werden, wir es zur gleichen Zeit mit dem Ziehen der entgegengesetzten Tugend und mit deren Extremen – beziehungsweise Laster, wenn man so will – aufnehmen müssen.
Wahrscheinlich werden aber die konkreten Umstände, unter denen diese verschiedenen Beziehungen zur Tugend entstehen, komplexer sein, als hier dargestellt. Dasselbe gilt für die Ereignisse des Lebens, die einen zur Entwicklung einer bestimmten Tugend hinziehen sowie für solche Ereignisse, die eben dieses Ziehen vereiteln. Der so angedeuteten Entwicklung der Tugenden wohnt dennoch eine psychische Gesetzmäßigkeit inne.
Bleiben wir einmal bei der Tugend der Hingabe. Wir geben einige Hinweise zu der Art an, wie die Entwicklung dieser Tugend in Gang gebracht werden kann. Wenn ein Mensch ein deutliches und zuverlässiges Empfinden für die Liebe hat, so macht dies eine erste Voraussetzung für die Tugend der Hingabe aus. Wenn hingegen man in der Tugend des Gleichmuts weiter entwickelt ist, wird eben Gleichmut die eher wahrscheinliche Reaktion sein. Heißt das, dass wenn diese Reaktion auftritt, die Chance verloren wird, Hingabe zu entwickeln? Vielleicht schon. Aber für die Entwicklung dieser Tugend werden sich in der Zukunft schon andere Möglichkeiten bieten.
Wenn in einer Situation extremer emotionaler Turbulenz wir einmal emotionale Feindseligkeit gegenüber anderen durchleben oder aber feststellen, dass unser emotionales Leben gänzlich auf der Oberfläche liegt, werden wir wahrscheinlich bemerken, dass unser Leben nicht so gut verläuft. An dieser Stelle kann eine Art inneren Erwachsens eintreten. Wir können beginnen, uns selbst und andere Menschen bewusst anders zu behandeln, mit einem tieferen Sinn für Ehre und Respekt. Hierbei geht es um den Anfang der Entwicklung der Tugend der Hingabe. Indem sich solches Verhalten vertieft, wird es zur Gewohnheit, sich einem selbst, anderen und der Welt als heilig zu nähern. Wir stellen fest, wie in uns eine neue Fähigkeit entsteht: die Fähigkeit, mit Tiefe und Beständigkeit zu lieben. Auch merken wir, dass diese Fähigkeit das Gefühl des emotionalen Aufgewühltseins auflöst.
Eine psychologische Herangehensweise an die Tugenden – eine, die sich ihnen von der Perspektive der Psyche (dessen, was im Leben der Seele vor sich geht) nähert – ist wichtig, denn eine solche Herangehensweise beschreibt, wie die Umstände des Lebens uns vor die Möglichkeit einer spirituellen Entwicklung stellen. Eine streng spirituelle Annäherungsweise an die Tugenden führt unvermeidlich zu bestimmten Schwierigkeiten. Unter „streng spirituell“ verstehe ich einen Ansatz, der die Charakteristiken einer jeden Tugend beschreibt und es dann dem Individuum überlässt, die zum praktischen Umsetzen jeder Tugend nötige Disziplin zu entwickeln.
Eine Schwierigkeit bei letzterer Herangehensweise ist die, dass in der heutigen Zeit nur sehr wenige Menschen die erforderliche Disziplin und die nötigen Praktiken aufgreifen würden. Darauf folgt eine zusätzliche Schwierigkeit: ohne einen Sinn für die Psyche, die Seele, würden die Tugenden wortwörtlich aufgefasst werden. „Wortwörtlich“ heißt hier ohne jeden Sinn dafür, wie für eine gegebene Zeit und für die besonderen, im eigenen Leben gerade obwaltenden Umstände die eine spezifische Tugend gilt, und nicht irgendeine der anderen. Ferner ist die Art und Weise, wie eine Tugend gelebt werden kann, für jeden einzelnen Menschen einzigartig. Eine streng spirituelle Herangehensweise neigt zur Vermittlung der Vorstellung, dass eine Tugend eine einzige Form habe.
Zugleich birgt aber eine psychologische Herangehensweise auch ihrerseits Schwierigkeiten. Die Umstände des Lebens bringen zwar die Möglichkeit für die Entwicklung einer Tugend mit sich; aber es kann vorkommen, dass man jahrelang hängen bleibt, ohne zu durchschauen, dass die Turbulenz des Lebens eine Einladung sein könnte, sich auf den Prozess einer bestimmten Tugend einzulassen. Heutzutage ist es sogar typisch, solcher Turbulenz mit herkömmlicher Psychotherapie und Beratung zu begegnen, die ja von den Tugenden wenig oder gar keine Vorstellung haben.
Eine spirituell-psychologische Herangehensweise an die Tugenden besteht im Folgenden: Eine gedanklich-verstandesmäßige Auseinandersetzung ist ein wichtiger Teil dieses Ansatzes und der einzige Weg, in die Vielfalt der Tugenden eingeführt zu werden, und so einen verlorengegangenen Seelenmodus ins Kulturleben einzuführen. Die gedanklich-verstandesmäßige Beschäftigung mit den Tugenden ist ferner eine Fundierung für die meditative Arbeit, die zum Erfassen der Besonderheit einer jeden Tugend im Verhältnis zum eigenen Leben und zu den eigenen Umständen nötig ist.
Dieser notwendige Aspekt der gedanklichen Durchdringung der Tugenden ist anders als ein akademisches Studium; er ist eher als eine richtige und gesunde Vorbereitung auf Geistiges Arbeiten anzusehen. In allen geistigen Schulen der Vergangenheit ging vor jeder Einweihungserfahrung ein jahrelanges Lernen dem eigentlichen Üben voraus. Eine richtige Auffassung dieser Form spirituellen Arbeitens innerhalb einer geistigen Tradition ergibt, dass es entschieden ungesund wäre, auf irgendwelche die Tugenden bezogene Übungen anzubieten, die sich über die wichtige verstandesmäßige Vorbereitung hinwegsetzten. Andererseits ist es ebenso wichtig darauf hinzuweisen, dass solche gedankenmäßige Durchdringung, auch wenn sie lange Zeit in Anspruch nehmen mag, nur eine Vorbereitung auf die eigentliche spirituelle Arbeit ist.
Wenn nach ausreichendem Studium der Tugenden die Lebensumstände uns in Situationen hineinstürzen, die uns zum Aufgreifen der inneren Entwicklung einer Tugend einladen, können wir bewusst in die entsprechenden Praktiken eintreten. Wir nehmen selbst die Entwicklung der eigenen Seele und des eigenen Geistes in die Hand. Während Studium die erste Phase dieser Entwicklung ausmacht, besteht die zweite Phase darin, nach und nach die Fähigkeiten der inneren Beobachtung soweit auszubilden, dass viele der in der Tabelle angegebenen Eigenschaften aus erster Hand wiederzuerkennen sind. Dann können manche gezielten meditativen Praktiken stattfinden.
Auch wenn ich so rede, als wäre dieser Übergang von der einen Umgangsform mit den Tugenden zur nächsten linearer Art: Diese Darstellungsweise ist durch sprachliche Beschränkungen bedingt; anders geht es nämlich nicht, als dass man die Sachen eine nach der anderen – eben linear – beschreibt. Ein solches Verfahren gibt es im Leben nicht; wohl gibt es aber eine wesentliche Unterscheidung zwischen Stufen des Bewusstseins. Diese Sektoren des Bewusstseins und nicht die Sequenz, in der sie auftreten, sind der Kern des hier Beschriebenen. Haben wir uns einmal auf die Wichtigkeit der Tugenden eingestimmt, dann haben manchmal die Lebensumstände die Führung, während zu anderen Zeiten es das Studium ist, was führt, und zu wiederum anderen Zeiten das meditative Üben.
Ein geistiges Bewusstsein der Tugenden besteht im Verstehen derselben in ihrer allgemein menschlichen Bedeutung sowie im Verstehen des besonderen Wesens und der besonderen Qualität jeder Tugend für sich. Auch besteht ein solches geistiges Bewusstsein darin, dass man für jede einzelne Tugend im eigenen Leben eine Entwicklungsrichtung sieht. Psychologische Bewusstheit der Tugenden besteht im Durchschauen, dass die Turbulenz im Leben eine Einladung zum Entwickeln von Tugend ist. Diese Bewusstheit besteht darin, aufmerksam zu sein auf die emotionale Spannweite der Reaktionen, welche durch besondere Aufregungen im Leben hervorgerufen werden sowie im Erkennen, dass diese Spannweite der Reaktionen nicht anormal ist, auch wenn sie oft extrem sind.
Psychologische Bewusstheit besteht auch in den Ahnungen, dass unser Seelenleben – Erfahrungen von den Dingen, die uns erfassen und festhalten, die außerhalb unseres Kontrollbereiches zu sein scheinen, die auch dann in uns fortleben, wenn die äußeren, sie zeitigenden Umstände vorbei sind – nicht nur damit zu tun hat, was uns schon passiert ist, sondern uns auch darauf einstimmt, was noch auf uns zukommt. Der Modus, durch den die Seele sich auf alles vorbereitet, was kommen mag, ist Tugend.
Geistig-psychologische Bewusstheit der Tugenden tritt dann ein, wenn die geistigen und psychologischen Dimensionen um die Tugend herum bewusst eine Verbindung zu einander eingehen. Es geht um mehr als bloß ein Kombinieren der zwei Dimensionen. Eine neue Freiheit entsteht, in der wir die Umwerfungen im Leben bewusst und immer wieder willkommen heißen, und mit ihnen im Licht der Tugend arbeiten, um so Tugend zu entwickeln. So und nicht anders geht das Seelenleben mit dem geistigen Leben ein harmonisches Verhältnis ein. In diesem Arbeitsmodus mit den Tugenden machen wir das durch, was das Leben eben mit sich bringt, aber wir verstricken uns nicht darin. Wir suchen vielmehr, als eine Art Opferhandlung diese Lebensschwierigkeiten dem Geist entgegenzuheben, und dann aktiv empfangend auf dessen Antwort zu warten. Wie lässt sich dieser Arbeitsmodus ausführen?
In vielen Werkstattkursen, die ich zusammen mit meiner Partnerin Cheryl Sanders zum Thema Monatstugenden leitete, wurde mir klar, dass es zusätzlich zu den oben ausgeführten Methoden (Besprechen der Tugenden, Zuhören beim Erzählen der Geschichten ihrer Entfaltung im Leben einzelner Menschen, Entwicklung eines Verständnisses für jede der in der obigen Tabelle aufgelisteten Angelegenheiten) auch möglich ist, einen von Bildern ausgehenden meditativen Übungsmodus zu entwickeln, der die Entfaltung eines geistig-psychologischen Erlebnisses der Tugend fördert. Das Verfahren ist einfach: dennoch ist es vorweg nötig, klar zu zeigen, wie sich dieses meditative Verfahren von anderen Meditationsweisen und Formen der Arbeit mit inneren Bildern, wie etwa „aktiver Imagination“, unterscheidet.
Anhand der Tugend soll ein Beispiel aufgebaut werden für die Form einer vom Bilde ausgehenden Meditation auf die Tugenden. Dabei soll zur Kenntnis gegeben werden, dass dieses Verfahren auf jede der Monatstugenden angewandt werden kann. In der Tat: für diese Meditationsweise – die ich „imaginale Meditation“ nennen würde, um sie von anderen Formen der spirituellen Meditation und des Arbeitens mit inneren Bildern zu unterscheiden), gibt es ein breites Spektrum an Anwendungsmöglichkeiten über den Umgang mit den Tugenden hinaus.
Das speziell auf die Tugend der Hingabe angewandte Verfahren der imaginalen Meditation beginnt damit, dass man ein inneres Bild macht vom Ausführen einer Handlung der Hingabe mit Bezug auf einen anderen Menschen. (Imaginale Meditation in Verbindung mit jeder anderen Tugend würde dem gleichen Grundmuster folgen.) Diese Anweisung bedarf der Klärung. Der Ausdruck „machen“ ist absichtlich. Ein Bild zu machen ist etwas anderes als zu erinnern, ein Bild kommen zu lassen, oder ein Bild zu haben. Dieses Wort impliziert eine spezifische Willenshandlung. Diese Willenshandlung unterscheidet imaginale Meditation von anderen Formen des Arbeitens mit inneren Bildern, wie etwa das Visualisieren, oder imaginative Psychotherapie (guided imagery) beziehungsweise von Verfahren, die nach einer Phase der Entspannung zu Beginn einer therapeutischen Behandlung zulassen, dass irgendein beliebiges Bild auftaucht.
Zwar trifft es zu, dass der Stoff, aus dem man ein Bild des Ausführens einer Handlung der Hingabe machen könnte, der Erinnerung einer ausgeführten Handlung entnommen werden könnte, und doch besteht das Verfahren nicht nur im Erinnern. Wenn man etwa als Stoff die Erinnerung verwendet, so ist in diesem meditativen Modus solcher Stoff als vergleichbar den Materialien des Künstlers zu betrachten. Um ein Bild zu machen, braucht der Maler Farben, Kenntnisse von Farbe, Licht und Komposition, eine bestimmte Ausbildung, einen Pinsel und eine Leinwand. Unsere Erinnerungen können dementsprechend als die Materialien angesehen werden, die wir verwenden, um ein Bild zu machen.
Wenn zum Beispiel jemand ein inneres Bild vom Ausführen einer auf einen anderen Menschen gerichteten Handlung der Hingabe machen soll, kommt es häufig vor, dass eine Anzahl von Erinnerungsbildern die anfängliche Reaktion bildet. Wird daraus ein einzelnes Vorkommnis gewählt, so fließt eine weitere Folge von Bildern vorbei, die wiederum mit diesem einen Ereignis verwandt sind. Aus dieser Stofffülle macht dann der Bildmeditant ein Bild. Dieses einzelne Bild ist einem Gemälde analog, obzwar es sich um ein inneres Gemälde handelt. Dieses innere Bild ist nicht einem äußeren Gemälde gleichzusetzen, da das innere Bild aus der Handlung des Bild-Machens sowie aus der begleitenden Handlung des Entgegennehmens dieses Bildes besteht, und letzteres Entgegennehmen ist obendrein zugleich auch die Leinwand, auf der das Bild hergestellt wird.
Dieses spezifische Verfahren, imaginale Meditation, beginnt mit der bewussten Handlung des so beschriebenen Bildmachens. Es könnte jemand zum Beispiel folgendes inneres Bild (des Ausführens einer Handlung der Hingabe mit Bezug auf jemand anderen) machen: „Ich führe mein getreues wöchentliches Telefonat mit meinem Sohn, und ich fühle den Wunsch meinerseits, ihn zum Reden zu ermutigen und mir zu sagen, was in seinem Leben los ist. Ich bin am Telefon und höre mit aufmerksamer Intensität zu, antworte ihm mit Intensität, als wäre ich bei ihm.“
Es braucht eine Willenshandlung, dieses Bild zu machen. Das innere Bild wird dann stabilisiert, damit keine weiteren Bilder eintreten, genau so, wie in jeder meditativen Handlung es notwendig ist, die Aufmerksamkeit zu bündeln und unter Ausschluss von allem Anderen sich auf ein einziges Ding zu konzentrieren. Einmal stabilisiert, hält man das Bild fünf Minuten lang als Fokus der Konzentration. Eine weitere Hilfe ist es, dieses Bild vom Zentriertsein im Kopf zum Zentriertsein in der Herzgegend hin zu bewegen. Es kann wohl Zeit und Übung kosten, bis man ohne Anstrengung dazu in der Lage ist.
Bevor ich die nächste Phase dieses Prozesses beschreibe, möchte ich auf den Sinn hinweisen, diese Form der Bildmeditation bis zu diesem Punkt hin zu entwickeln. Wer sich auf eine Arbeit mit Bildern einlässt, muss unbedingt wissen, mit welcher imaginalen Welt er es zu tun hat. Wenn wir uns etwas vorstellen, so findet diese Handlung nicht nur in unserem Inneren statt; sie trägt uns vielmehr in etwas hinein; sie trägt uns irgendwohin. Dieses „Irgendwo“ kann als eine imaginale Welt gelten. Allerdings gibt es viele imaginale Welten. Zu unseren Zwecken seien nur drei solche Welten in Betracht gezogen.
Zuerst gibt es die imaginale Welt des Wachens, des Dauerbewusstseins. Alles, was wir wahrnehmen, nehmen wir über Bilder wahr; sonst gäbe es in unserem Wahrnehmen keine Form, kein Muster, keinen Sinngehalt. Diese imaginale Welt verbindet sich stark mit den Sinnesempfindungen, sodass der imaginale Aspekt unserer Sinneswahrnehmung unerkannt bleibt. Wenn die Seele mit der gewöhnlichen Welt des wachenden Lebens verstrickt ist, ist sie mit allem erfüllt, was uns umgibt. Deshalb gibt es kein gesondertes Bewusstsein von Seele in sich. Seele wird mit alledem restlos aufgefüllt, auf das unsere Aufmerksamkeit gerade gerichtet ist – mit dem Wahrnehmen von etwas in der äußeren Welt, mit unseren Gedanken, oder mit unseren Gefühlen. Alle unsere Erfahrungen ereignen sich zwar durch die Seele, aber von der Seele selbst gibt es kein Bewusstsein.
Das geeignetste Beispiel der zweiten imaginalen Welt ist der Weg, den der Schamane wandert. Der Schamane findet durch spezifische Prozeduren, wie etwa Gesang, Trommeln, vielleicht auch durch den Gebrauch bestimmter Drogen, den Weg in eine andere imaginale Welt. Diese Welt besteht ganz aus Bild; hier ist Bild Wirklichkeit. Diese imaginale Welt ist eine bereits völlig fertige Welt. Diese Welt lässt sich zum Beispiel aufzeichnen, und im Lauf der Jahrtausende arbeiteten die Schamanen eines gegebenen Gebietes einen Satz kultureller Symbole heraus, die für jeden als Richtlinien dienten, der in die schon gebildete imaginale Welt eintrat. Es gibt dort Wesenheiten und Mächte, die innerhalb der Reiche aller natürlichen Phänomene unsichtbar walten, wie etwa der Wolkenbildung und des Regens, der Kräfte innerhalb der Berge, der Wüsten oder der Flüsse, der Elementarkräfte innerhalb von Pflanzen, Tieren und dem menschlichen Leib. Diese imaginale Welt nennt sich zu Recht die Welt der elementaren Imagination. Der Schamane, der sich mit der Imagination beschäftigt, weiß genau wohin er unterwegs ist und wie er mit den verfeinerten Aspekten dieser Welten zurechtkommt.
Auch außerhalb dieser spezialisierten Tradition, in der sehr viel bekannt ist über die elementaren imaginalen Welten (das heißt die darin waltenden Kräfte und was dort möglich ist, wie etwa das Zusammenarbeiten mit Elementarwesen, um die Heilung des physischen Leibes zu bewirken), werden diese Welten angerührt – ohne allerdings zu wissen, wo man ist und womit man es zu tun hat. Wir berühren diese Welt der elementaren Imagination wann immer wir irgendein Verfahren benutzen, das davon abhängt, dass man „ein Bild hat“ oder „darauf wartet, dass ein Bild kommt“, oder Verfahren wie zum Beispiel das Visualisieren oder die gelenkte Meditation.
Diese Welten berührt man auch bei tiefenpsychologischen Ansätzen der Traumdeutung und bei solchen Techniken wie aktive Imagination und sonstigem Umgang mit dem Traumleben. Diese Welten elementarer Imagination sind aber gewöhnlich mit anderen imaginalen Welten gleichsam vermischt, ohne dass wir dies durchschauen. Das typische Ergebnis der Arbeit mit den meisten modernen Techniken der Imagination ist, dass unerkannt bleibt, mit welcher dieser Welten man gerade arbeitet.
Die dritte imaginale Welt ist die Empfänglichkeit der Seele gegenüber den geistigen Welten. Nicht alle geistigen imaginalen Welten gleichen den elementaren imaginalen Welten. Die geistigen Welten sind die, denen man traditionsgemäß durch die Entwicklung spezifischer spiritueller Disziplinen begegnet. Die wohl grundlegendste dieser Disziplinen ist das Gebet. Rein in seiner Eigenschaft als imaginale Technologie betrachtet, beschäftigt sich das Gebet damit, die Aufmerksamkeit direkt auf die Empfänglichkeit der Seele gegenüber den geistigen Reichen zu lenken. Eine höher entwickelte Technik ist die der Mystik in Verbindung mit ihr eigenen Praktiken, die darin bestehen, mit Absicht sich von der Welt ab- und der Seele zuzuwenden, um dort einen Funken, ein inneres Feuer des Göttlichen zu finden, und sich hingebungsvoll konzentrieren zu lernen auf die Gegenwart des Göttlichen. Eine noch höher entwickelte Technik besteht im Richten der Aufmerksamkeit auf geistige Präsenzen sowie im Lernen, „die innere Flamme zu schüren“. Mit dem „Schüren der inneren Flamme“ ist die Entwicklung spezifischer meditativer Techniken gemeint, durch die man beginnt, die geistigen Reiche wahrnehmen zu können.
Die durch gezieltes Entwickeln spiritueller Fähigkeiten zu betretenden imaginalen Welten sind andere, als die Welten der elementaren Imagination. Die geistigen Welten, von bereits gebildeten imaginalen Welten weit entfernt, sind vielmehr die Welten derjenigen Schöpferwesen, die in den Handlungen der Erschaffung imaginaler Welten eingebunden sind. Sie existieren nicht als schon geschaffene Welten. In den geistigen Welten ist nicht alles festgesetzt; hier besteht die geistige Realität ganz in Prozess, im Handeln, ganz in Bewegung. Diese Welten sind alles Andere als chaotisch; aber deren Formen sind keine bereits vollendeten, sondern solche, die im Begriff sind, erschaffen zu werden. Diese Welten sind es, an die man mit der Fülle der Tugenden rührt. Man erinnere sich an die Bedeutung des Wortes „Tugend“: „die Mächte oder Handlungen göttlicher Wesen“.
Die „imaginale Technik“, durch die man eine Verbindung mit den spirituellen Welten herstellt, ist eine andere, als die des Arbeitens mit der Imagination im Verhältnis zu unserer alltäglichen Welt des Wachseins; sie ist auch eine andere Technik als die des Arbeitens mit den Reichen der elementaren Imagination. Zwar sind diese Reiche nicht deutlich von einander getrennt; aber um klar arbeiten zu können braucht es im Verhältnis zu jedem der Reiche differenzierte Verfahren.
Ein zusätzlicher Faktor, den man mit erwägen sollte, hat mit der Klarheit mit Bezug auf den Standpunkt zu tun, den man im Verhältnis zu den imaginalen Welten bezieht. Der Standpunkt dieser Arbeit mit den Tugenden ist der der geistigen Psychologie. Hier sind die beiden Begriffe „Geist“ und „Psyche“ (beziehungsweise „Seele“) sorgfältig erwählt und in einer Art zusammengesetzt worden, die auf einen besonderen Standpunkt hindeutet. Geistige Psychologie hat damit zu tun, dass die rezeptiven Fähigkeiten der Seele in einer Weise entwickelt werden, die gegenüber den geistigen Welten Offenheit zulässt.
Die so definierte geistige Psychologie ist anders als viele andere spirituelle Disziplinen. Die etwa von Blavatsky und Steiner entwickelten spirituellen Disziplinen besorgen die Ausbildung von Kapazitäten des individuellen Geistes so, dass hellseherische Fähigkeiten entstehen, um die komplexen Reiche der spirituellen Welten zu erkunden. Geistige Psychologie verfolgt diese Entwicklungslinie nicht; sie steht im Reich der Seele und auch für dieses Reich; sie bildet Seelenkapazitäten zur Empfänglichkeit gegenüber spirituellen Strömungen zwar aus, ist sich aber sowohl über den Unterschied als auch über das Verhältnis zwischen Seele und Geist im Klaren.
Geistige Psychologie unterscheidet sich von anderen spirituellen Praktiken; sie unterscheidet sich aber zugleich auch von anderen Arten seelischen Übens. Die Tiefenpsychologie Jungs zum Beispiel ist nicht klar hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Seele und Geist. Diese zwei Reiche werden in der Tiefenpsychologie vermischt. So ist das Aufgreifen von solchen Praktiken wie aktive Imagination, Jung’sche Traumarbeit oder das Folgen des Pfades der Individuation zwar von großem Wert, aber es lässt keine Kenntnis davon zu, mit welchen Welten man es dabei zu tun hat, da ja die elementaren Welten mit den spirituellen Welten vermischt sind.
Diese Verwirrung tritt deswegen auf, weil in den Praktiken der Tiefenpsychologie stets mit Bildern begonnen und zusammengearbeitet wird, die einem kommen oder einem gegeben werden; was die Welten elementarer Imagination als Hauptfokus impliziert. In der Tiefenpsychologie wird das Reich der elementaren Imagination das kollektive Unbewusstsein genannt; dieses kollektive Unbewusstsein ist auch das Reich des Urbildes. In Jungs Verständnis sind die Urbilder schon geformt, fertig und im Wesentlichen unveränderbar. So spricht man in dieser Psychologie von Urbildern wie zum Beispiel der Senex, der Trickster, anima, animus. Dieser Annäherungsmodus an die Welten der Imagination verläuft analog den schamanischen Ansätzen, sich den Welten der Imagination zu nähern, und behandelt die geistigen Welten so, als hätten sie die gleiche Form, Struktur und Funktion wie die Welten der elementaren Imagination.
Geistige Psychologie vermischt die Reiche der Seele und des Geistes nicht, sondern sie arbeitet, um die Kapazitäten der Seele zur Offenheit und Empfänglichkeit gegenüber den geistigen Reichen zu entwickeln. Durch die Praktiken der geistigen Psychologie entwickelt man keine Fähigkeiten, „den Leib zu verlassen“ und den Übergang in die geistigen Reiche zu vollziehen. Andererseits öffnet sie nicht einfach die Seele den hereinströmenden Inhalten der elementaren Reiche.
Die imaginale Technik, die seit 1990 in unserer Schule der spirituellen Psychologie gepflegt wird, befasst sich mit dem klaren und bewussten Machen innerer Bilder, die zu dem Gegenstand, den man gerade untersucht, eine Verbindung haben. Um bei dem bereits angeschnitten Beispiel des Arbeitens mit der Tugend der Hingabe zu bleiben, beginnen wir das imaginale Üben damit, dass wir ein bewusstes inneres Bild vom Verrichten einer Handlung der Hingabe machen, mit Bezug auf einen anderen Menschen. Diese Handlung ist dann eine bewusste Handlung der Seele, wenn man ein inneres Bild macht und nicht bloß daran denkt, eine solche Handlung auszuführen beziehungsweise sich an eine solche Handlung nicht einfach erinnert oder darauf wartet, bis ein Bild erscheint. Ein solches Bild machen, es stabilisieren, sich auf es konzentrieren: das ist es, was den Seelen-Aspekt des Übens ausmacht.
Wenn in solchem Üben das Bild nicht stabil bleibt, sondern sich zu verändern oder zu bewegen oder Eigenschaften anzunehmen beginnt, die beim Machen des Bildes nicht vorhanden waren, deuten solche Änderungen darauf hin, dass die elementare imaginale Welt ungewollt in das Arbeiten hineinspielt. Beginnt man etwa damit, dass man ein inneres Bild von etwas so Einfachem wie einem Stein, den man gerade eben in der Hand gehalten und beobachtet hat, und setzt im Bild der Stein plötzlich Flügel an und fängt zu fliegen oder zu reden an, oder aber verschwindet er überhaupt ganz, so ist die elementare imaginale Welt berührt worden.
Geschieht es, dass in solcher Weise sich der Einfluss der elementaren imaginalen Welt einmischt, so deutet das auf die Notwendigkeit einer grundlegenden Stärkung des bewussten Seelenlebens hin. Solche Stärkung ist dadurch zu erreichen, dass man jeden Tag fünf Minuten daran zubringt, von einem alltäglichen Gegenstand (Stein, Bleistift, Papierklammer) ein inneres Bild zu machen und dieses innere Bild unbeweglich zu halten. Ist die Fähigkeit entwickelt worden, ein Bild zu machen und zu stabilisieren, so kann die nächste Phase des Vorgangs vorgenommen werden.
Man nehme also an, man hätte es soweit gebracht, dass man es vermag, ein inneres Bild zu machen vom Verrichten einer Handlung der Hingabe mit Bezug auf einen anderen Menschen. Aus einer Reihe von Ausgangsbildern, welche Erinnerungsbilder, Fantasiebilder oder von Ideen tingierte Bilder sein dürfen, bringt man es soweit, dass man ein inneres Bild macht. Dieses einzige Bild ist nicht statisch, da es eine dynamische Kondensation und ein kreativer Ausdruck der Bilderreihe ist, die zu diesem Moment einer intensiveren Konzentration geführt hat.
Wir sind also vom Verfolgen eines Prozesses der Seele zu einer Handlung übergegangen, die selbst ein bewusster Prozess der Seele ist. Dieses innere Bild, das Bild vom Ausführen einer Handlung der Hingabe in Bezug auf einen anderen Menschen, hat aber bisher noch nicht seine Beziehung zu den geistigen Welten gefunden. Der Wert dieser Phase des Prozesses besteht darin, dass sie dem besonderen und gänzlich individuellen Ausdruck einer Tugend Gültigkeit verleiht.
Beim Arbeiten mit Menschen an der Tugend der Hingabe beginne ich mit einer phänomenologischen Beschreibung der Tugend, zumal als Versuch, das tatsächliche Erleben einer solchen Handlung zu erschließen. Darauf machen wir diesen ersten Teil der Bildarbeit. Hierbei ist der durch den einen Menschen erlebte Weg der Hingabe ein anderer als ein durch einen anderen Menschen verbildlichter. Es geht so weit, dass in vielen Fällen das innere Bild einer Handlung der Hingabe gar nicht wie Hingabe aussieht. Wer sich über diese Phase der Arbeit an den Tugenden hinwegsetzt, hat lediglich verallgemeinerte Beschreibungen der Tugenden und keine Beschreibungen von der Art, wie sie im konkreten Einzelfall funktionieren. Dieser Teil der imaginalen meditativen Arbeit macht den seelischen Aspekt aus.
Eine zweite Phase der imaginal-meditativen Arbeit betrifft die spezifischen Praktiken, die man braucht, um die Seele durch das spezifische Thema, dem durch die innere Handlung des Bildmachens Bildform verliehen wurde, zur Empfänglichkeit gegenüber den geistigen Welten zu öffnen.
Um ein inneres Bild machen und gleichzeitig vor diesem Bild anwesend sein zu können, müssen zwei empfindlich auf einander abgestimmte Prozesse gleichzeitig vor sich gehen. Es gibt die Handlung, das Bild zu machen, welche als Willensakt erlebt wird. Dieser Willensakt muss mit dem Akt, das Bild zu empfangen – die Handlung, die Anwesenheit des Bildes zuzulassen, damit es da sein kann –, exakt im Gleichgewicht stehen. Befindet sich einer dieser Akte zum anderen nicht im Gleichgewicht, so wird sich das Bild vom ursprünglich gemachten abwandeln.
Besitzt die Handlung des Bild-Machens nicht ausreichend Kraft, so wird das Bild von sich aus andere Eigenschaften annehmen, was darauf hinweist, dass die Kräfte der imaginalen elementaren Welt auf das Bild und innerhalb seiner ihren Einfluss ausüben. Ist die Handlung des Bildmachens zu stark, so wird es gar keine innere Erscheinung des Bildes geben, da die Empfänglichkeit überwältigt wurde.
Ähnliche Änderungen können auftreten mit Bezug auf die Handlung der Empfänglichkeit, welche keineswegs eine passive, sondern eine aktive Handlung ist. Wenn keine volle Rezeptivität gegeben ist, wird es kein Bild geben; ist die Empfänglichkeit zu offen und im Verhältnis zum gemachten Bild nicht selektiv, so wird das Bild andere Eigenschaften annehmen. Es lässt sich beim Üben unterscheiden, ob auftretende Änderungen im gemachten Bild auf den Willen oder auf die Empfänglichkeit zurückzuführen sind, wenn man die Aufmerksamkeit auf die innere Empfindung der Spannung richtet, die zum Machen des Bildes aufgebracht wurde. Wenn sich das Bild ändert und man dabei eine starke innere Spannung oder eine schwache innere Spannung im Akt des Machens spürt, liegen die Schwierigkeiten auf der Seite des Willens, was sich durch Üben korrigieren lässt. Wenn sich das Bild ändert und man etwas spürt, was die Empfänglichkeit blockiert oder was sich übermäßig offen anfühlt, so liegt die Schwierigkeit auf der Seite der Empfänglichkeit.
Nachdem ein inneres Bild gemacht und für ein paar Minuten stabil gehalten wurde, besteht der nächste Teil der Übung im vollständigen Auslöschen des inneren Bildes, auf das man bisher die ganzen Aufmerksamkeitskräfte fokussiert hat. Dann „lauscht“ man der Leere. Die Leere bleibt nicht leer. Schenkt man den feineren, hintergründigen Qualitäten dieser inneren Leere die Aufmerksamkeit, wird sich etwas ereignen: es erscheint ein Bild oder eine Einsicht oder ein starker Gefühlston. Diese „Rückgabe“ ist die dem Ausführen einer besonderen Tugend angemessene spirituelle Entsprechung des bewussten Seelen-Bildes.
Ich möchte das verdeutlichen, was geschieht, wenn ein Bild, nachdem es meditiert wurde, dann ausgelöscht wird. Diese Handlung des Auslöschens eines Bildes erfordert ebenso viel Willenstätigkeit, wie erst das Machen des Bildes. Das losgelassene Bild wird den geistigen Welten in einer Form übergeben, die den geistigen Welten verständlich ist, das heißt, in der Form eines Bildes. Bei dem, was zurückgegeben wird, ob Bild, Einsicht, Gedanke oder Gefühl, handelt es sich nicht um irgendeine Art Botschaft aus den geistigen Welten. Das Bild, das in die Leere eintritt, ist am passendsten als die geistige Entsprechung der bewussten Seelentätigkeit zu verstehen, die im Machen eines inneren Bildes, im Sich Konzentrieren darauf und im wieder Loslassen des Bildes besteht.
Warum sage ich nicht, dass schon das innere Bild der Handlung der Hingabe spirituell sei? Warum müssen wir zusätzlich ein besonderes Verfahren durchexerzieren, um uns des geistigen Aspektes des Bildes bewusst zu werden?
Ein inneres Bild ist etwas, was nicht der natürlichen Welt zugehört, sondern der seelischen Welt. Das Verfahren ist nötig, um bewusst die Seele zur Empfänglichkeit gegenüber den geistigen Reichen zu öffnen, und es ist auch nötig, um Momente zu erfahren, in denen die geistigen und die seelischen Reiche miteinander übereinstimmen.
Das Verfahren des imaginalen Meditierens auf die Tugenden wurde in zahlreichen, von unserer School of Spiritual Psychology angebotenen Werkstattgruppen ausgearbeitet. An die 300 Menschen haben diese Art der meditativen Arbeit gemacht. Was sich tatsächlich ereignet betreffs der gemachten Bilder und der Arten der Erfahrungen bei der „Rückgabe“ in die Leere, ist vom Inhalt her nicht spektakulär. Was meistens erscheint während der Zeit der Konzentration innerhalb der Leere nachdem das Bild losgelassen wurde, sind Bilder, von denen der Übende in innerer Weise weiß, dass sie dem gemachten Bild der Handlung der Hingabe wohl entsprechen. Berichte über diese Bilder ergeben normalerweise keinerlei rationale Verbindung zum vorher gemachten inneren Bild.
Wohl aber wird das Bild, der Gedanke, die Einsicht, das Gefühl normalerweise von einer starken Gefühlsreaktion begleitet, die am besten als Ehrfurcht oder Devotion sich beschreiben lässt, oder auch als ein allein beim Machen des Bildes noch nicht erreichtes, gefühltes Erkennen der Heiligkeit der Handlung der Tugend. Um diese gefühlte Antwort scheint es eher zu gehen, als um den Inhalt des Bildes, des Gedankens oder der Einsicht, die auftauchen. Es ist sogar besser, aus dem Inhalt dessen, was zurückkommt, nicht so viel zu machen, weil daraus, dass man sich auf diesen Inhalt konzentriert, ohne weiteres ein Akt des Interpretierens werden kann, was nicht besonders hilfreich zu sein scheint.
Hier einige Beispiele als Kostprobe von dem, was eintritt:
A. Inneres Bild der Ausführung einer Handlung der Hingabe: „Ich führe mein getreues wöchentliches Telefonat mit meinem Sohn, und ich fühle den Wunsch meinerseits, ihn zum Reden zu ermutigen und mir zu sagen, was in seinem Leben los ist. Ich bin am Telefon und höre mit aufmerksamer Intensität zu, antworte ihm mit Intensität, als wäre ich bei ihm.“
Das Bild, das nach dem Auslöschen des meditierten Bildes empfangen wird: „Eine riesige, strahlende Erscheinung am Himmel, wie ein Auge, aus dem allerdings Lichtstrahlen hervorgehen; die Lichtstrahlen bescheinen ein Feld und im Felde stehen in großem Ring Sonnenblumen und das strahlende Licht scheint auf diese Blumen, die intensiv gelb sind.“
B. Inneres Bild des Ausführens einer Handlung der Hingabe: „Ich halte meine kranke Enkeltochter in meinen Armen. Sie weint und ich sitze mit ihr und wiege hin und her, hin und her.“
Das Bild, das nach dem Auslöschen des meditierten Bildes empfangen wird: „Ich erhielt kein Bild. Ich fühlte körperlich in meinen Armen den Schmerz, den ich beim Halten meiner Enkeltochter empfand, wobei er jetzt intensiver war; und obwohl er in meinen Armen war, war der Schmerz nicht gerade physisch, und ich hatte das innere Gefühl, dass dieser Schmerz, der bei mir in den Armen war, der Schmerz war, von dem meine Enkeltochter ergriffen war und dass er sie verließ und auf mich überging.
C. Inneres Bild des Ausführens einer Handlung der Hingabe: „Ich fixiere ein Kind, halte sie fest, während sie einen Tobsuchtsanfall hat.“
Das Bild, das nach dem Auslöschen des meditierten Bildes empfangen wurde: „Ich erhielt die überwältigende Empfindung einer hereinflutenden Liebe, die so stark war, dass ich nicht glaubte, sie fassen zu können.“
Es ließen sich viele weitere Beispiele anführen. In jedem Vorkommnis ereignen sich besondere Aspekte. Die Tugend der Hingabe nimmt so viele verschiedene Formen an, als es Menschen gibt. Es ist unmöglich, außer in sehr allgemeiner Weise abstrakt anzugeben, worin eine Handlung der Hingabe besteht. Oftmals könnte von außen eine Handlung der Hingabe alles andere als hingebungsvoll aussehen. Das dritte Beispiel oben zeigt einen Fall auf, von dem kaum jemand sagen würde, es handle sich um einen Akt der Hingabe. Wir dürfen annehmen, dass eben diese Unterschiedlichkeit, diese Individualität der Art, in der eine Tugend gelebt wird, für alle Tugenden zutrifft. In unseren Gruppen jedenfalls hat sich dies herausgestellt.
Eine weitere Charakteristik betrifft das, was in der Leere wieder erscheint, nachdem das Bild ausgelöscht wurde. In allen Fällen hat der Inhalt dessen, was zurückkommt, keine direkte logische Verbindung mit der Tugend der Hingabe. Aber jedes Mal, wenn dieses Verfahren ausgeführt wurde, erfassten die ausführenden Personen die Tugend der Hingabe in tiefer Weise. Die gleiche Erkenntnis gilt für alle die Tugenden.
Noch eine Charakteristik ist schwieriger zu beschreiben, wenngleich sie das womöglich wichtigste Ergebnis dieses Verfahrens ist. Wenn diese Technik der imaginalen Meditation in Gruppen ausgeführt wurde, wurde dabei ein neues Feld im Raum erschaffen, das nicht vorhanden gewesen war, bevor wir die Meditation gemeinsam machten. Dieses subtil-hintergründige Feld wurde immer dann gefühlt, wenn die Menschen von den Bildern, Gedanken, Einsichten und Gefühlen berichteten, die nach dem Auslöschen der geschaffenen Bilder erschienen; und dieses Feld wurde von jedem gefühlt. Hierbei geht es nicht um irgendetwas Mystisches. Das Phänomen scheint mit der Qualität imaginal spiritueller Welten zu tun zu haben beim Konvergieren dieser mit dem imaginalen bewussten Seelenleben. Die Gegenwart eines solchen Feldes ist transformativer Art und versetzt eine über die Tugend redende Gruppe ins dynamische Feld der Tugend.
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von Robert Sardello
Der Umgang mit den Tugenden im eigenen Leben
Drei Ansätze gibt es, die Tugenden ins eigene Leben einzubeziehen: den intellektuell-geistigen, den psychologischen, den spirituell-psychologischen. Der erste besteht im Wissen, was die Tugenden sind, im Studieren jeder einzelnen Tugend, im Entdecken, wie man sie meditieren kann, und im Beobachten, wie sie im Leben funktionieren.
Der zweite Ansatz beginnt anders. Es werden keine Tugenden beobachtet, sondern wir werden hin und wieder von Lebensumständen in verschiedene Verwirrungen hineingeworfen, die durchaus Lebensphasen sein können, in denen wir zur einen oder anderen Tugend gerufen werden. Wer lernt, auf solche Phasen des Ärgers, der Verunsicherung, der Störung aufmerksam zu sein, der wird ganz konkret in die Tugend hineingetragen, indem er nach den diesen Verwirrungen innewohnenden seelischen und geistigen Richtungen sucht, anstatt gegen das anzukämpfen, was geschieht oder alles Mögliche durchzuprobieren, um den früheren, heilen Lebenszustand wieder herzustellen. Diese gewöhnlichere Annäherungsweise an die Tugenden wird in diesem Kapitel erkundet.
Der dritte, spirituell-psychologische Ansatz beginnt damit, dass man die Tugenden studiert und bis zu einem gewissen Grad kennt, damit dann, wenn der Lauf des Lebens die entsprechenden Umstände bietet, man die Tugend zur Entfaltung bringen kann. Hier können wir uns des Prozesses viel bewusster sein, in das wir eingebunden sind. Im Gegensatz zum zweiten Ansatz, dem ausschließlich psychologischen, können wir mit einem spirituell-psychologischen Ansatz einsehen, dass wenn wir uns in Verwirrung finden, das die Chance ist, eine spezifische Tugend zu entwickeln. Statt zuzulassen, dass der Prozess einen beliebigen Lauf nimmt, kann über ihn nachgedacht und meditiert werden, um so die Entfaltung der Tugend zu einem bewussten Vorgang zu machen, der einen direkten Anschluss an dem Leben hat. Die mit diesem Ansatz verbundene spezifische Art der Meditation wird im Folgenden auseinandergesetzt.
Als Ausgangspunkt wurden die zwölf Tugenden und einige ihrer wesentlichen Eigenschaften in untenstehender Tabelle zusammengefasst. Zu Beginn werden die zwölf Tugenden auf den Tierkreis – Spalt 1, 2, 3 der Tabelle – verteilt. Die Entsprechung einer jeden Tugend mit einem der Tierkreiszeichen wurde auf der Grundlage vorheriger Forschungsarbeit von H. P. Blavatsky und Rudolf Steiner vorgenommen.
Zu einem anfänglichen Gefühl für den Kosmos der Tugend gelangt man, indem man eine der Tugenden auf die in der Tabelle jeweils vorangehende und nachfolgende Tugend bezieht. Will man für die Tugend ein inneres Gefühl entwickeln, damit sie nicht bloß ein Wort ist, sondern ein tatsächliches Erlebnis zu werden beginnt, so erfordert das, dass man den dynamischen Fluss zwischen der vorigen, der in Frage kommenden und der nachfolgenden Tugend meditiert.
So beginnen wir etwa für die Tugend der Hingabe ein inneres Gefühl zu gewinnen, indem wir den Fluss von der Liebe über die Hingabe zum Gleichgewicht meditieren. Diese drei Wörter gilt es innerlich zu verbildlichen; so lässt sich der Fluss von dem einen zum anderen meditierend Vorstellen. Man kann das so machen, dass man tatsächliche Vorkommnisse vors innere Auge stellt, in denen man im Leben eine Handlung ausführt, die ein Ausdruck der Liebe ist; dann eine, die Ausdruck der Hingabe ist; dann eine, die Ausdruck des Gleichgewichtes ist. Es beginnt sich so ein inneres Gefühl für die Tugend zu entwickeln. In der Tabelle wird dieses Verhältnis für jede Tugend unter der Überschrift „vorher/nachher“ angegeben.
Unter der Überschrift „Gegenteil“ wird das Zeichen angegeben, das im Tierkreis sich auf der gegenüberliegenden Position vom in Frage kommenden Zeichen befindet, zusammen mit der diesem Zeichen entsprechenden Tugend angegeben. Unterhalb dessen steht die Ausgangs-Eigenschaft, durch welche sich gewöhnlich diese gegenüberliegende Tugend manifestiert. Ein weiteres Empfinden für die in Frage kommende Tugend ergibt sich dadurch, dass man die Spannungslinie zwischen dieser Tugend und ihrem Gegenteil meditiert. So liegt zum Beispiel die Tugend des Gleichmuts gegenüber der Tugend der Hingabe. Die Spannung zwischen diesen beiden ist es, was zum als fortdauernd und beständig empfundenen Gefühl der Hingabe führt. Die gegenüberliegende Positionierung auf dem Tierkreis deutet nicht auf Gegensätzlichkeit der Tugenden; es bedeutet vielmehr, dass die Gegenüberliegende Tugend zum Einstieg in die in Frage kommende verhilft. Um Hingabe üben zu können, bedürfen wir des Gleichmuts, und umgekehrt. Meditierend vermag man, sowohl die Beziehung als auch den Unterschied zwischen Hingabe und Gleichgewicht genau zu empfinden. Die Hingabe führt starke Herzensgefühle mit sich, zusammen mit einer starken Empfindung der Notwendigkeit, vor dem unmittelbaren Augenblick intensiv gegenwärtig zu sein. Gleichmut hingegen hat nicht so sehr das Herz als Mittelpunkt; er hat mehr mit dem emotionalen Reich als Ganzes zu tun.
Unter der Überschrift „Bild“ steht eine kurze Beschreibung des Wesens der Tugend. Diese Bilder kommen so zustande, dass man eine jede Tugend meditiert und dann durch dieses Meditieren dazu kommt, die besondere Wesenhaftigkeit jeder Tugend so zu sehen, dass sie sich in wenigen Wörtern aussprechen lässt.
Unter der Überschrift „Praxis“ steht eine kurze Beschreibung des Übungsansatzes, durch den ein Bewusstsein für die in Frage kommende Tugend entwickelt werden kann. Die besondere Praxis stammt auch von der phänomenologischen Arbeit, jede der einzelnen Tugenden sorgfältig zu beschreiben. Wird zugelassen, dass die Tugend für sich sprechen darf, anstatt dass wir den Tugenden irgendeinen Sinngehalt aufstülpen, so erfolgt spontan die mit der Entwicklung der Tugend verknüpfte Praktik.
Unter der Überschrift „Extreme“ sind die emotionalen Polaritäten aufgelistet, die normalerweise als das volle Kontinuum vom einen Extrem zum anderen entstehen, wenn durch irgendeinen Lebensumstand die „anfängliche Eigenschaft“ der Tugend zu uns kommt. Die erwähnten besonderen Extreme werden auch davon abgeleitet, dass eine jede der Tugenden meditiert und eine phänomenologische Beschreibung von ihr verfasst wird. Diese Extreme sind enorm wichtig. Jede Tugend ist als das volle Kontinuum vom einen Extrem zum anderen zu verstehen. So wird zum Beispiel die Tugend der Hingabe nur dann richtig als emotionale Qualität verstanden und empfunden, wenn sie als das Kontinuum Boshaftigkeit – Oberflächlichkeit verbildlicht wird. Wenn über diese drei Eigenschaften meditiert wird, dann lassen sich die volle Tiefe, Kraft und Weite der Qualität der Hingabe in einer Weise empfinden, die nicht erfasst wird, wenn man nur versucht, sich die Hingabe allein für sich vorzustellen.
Den vielleicht interessantesten Aspekt der Tabelle findet man unter der Überschrift „anfängliche Eigenschaft“. Zu diesen Eigenschaften kam ich durch die Erkenntnis, dass die durch geistige Forschung von Helena Petrovna Blavatsky und Rudolf Steiner gegebenen, mit jedem Tierkreisbild verbundenen Tugenden entschieden anders sind, als die in der konventionellen Astrologie mit jedem Tierkreisbild verknüpften und gemeinhin angewandten Eigenschaften. Die unter „anfängliche Eigenschaft“ stehenden Bezeichnungen beschreiben das Wesen der primären Eigenschaften, die in der Astrologie für jedes Tierkreisbild gegebenen sind. Diese Eigenschaften sind die unentwickelten Aspekte der Tugenden. Das heißt, die für ein jedes Tierkreiszeichen in der Standardastrologie angegebenen typischen Charakteristiken lassen sich als die uns gegebenen anfänglichen Gaben betrachten, die uns die Richtung weisen, die zur Entwicklung der Tugend im Leben hinführen. Zu gewissen Lebenszeiten scheinen eine oder mehrere dieser Eigenschaften stark angeregt zu sein, und zu solchen Zeiten besteht die Möglichkeit, die Eigenschaft zu einer lebendigen Empfindung der Tugend hin zur Entfaltung zu bringen.
Die „anfängliche Eigenschaft“ ist es, was die innere Seelen- und Geistwahrnehmung erst ermöglicht. Wir benötigen sozusagen „das Organ“, um die Besonderheit jeder Tugend fühlen zu können. Zwölf solche Organe besitzen wir, unsere Teilnahme an den zwölf Tierkreiszeichen, die uns als Seelen- und Geistausrüstung beigegeben sind. Durch die Eigenschaften dieser zwölf Zeichen ist es, dass wir fühlen können, wie die Tugend sich rührt. Sonst wäre Tugend weiter nichts, als ein intellektuelles Schema.
In unserem Leben gibt es besondere emotionale Ereignisse, die die Entwicklungsmöglichkeit einer spezifischen Tugend signalisieren. Solche Ereignisse sind unsere Zugänge in den Kreis der Tugenden. In der Tabelle sind diese Zugänge unter der Überschrift „anfängliche Eigenschaft“ (Spalt 4) zu finden. Bedenken Sie etwa eine Phase, zu der Sie sich in ihrem Leben stark beunruhigt fühlten. Hier meine ich keine momentane Bestürzung, sondern eine Zeit anhaltender Lebens-Desorientierung emotionaler Art.
Diese Frage stellte ich zum Beispiel einmal einer Gruppe in einem Workshop. Eine Frau erzählte davon, wie mehrere Jahre zuvor ihr Ehemann auf eine Camping-Reise gefahren sei, ohne zu sagen, wohin er fährt. Zum angekündigten Termin einige Tage später sei er nicht wieder eingetroffen. Nach weiteren mehreren Tagen wurde die Polizei verständigt, die aber nicht viel hat ausrichten können, da die Frau ihr ja nicht hatte sagen können, wo sie ihren Mann suchen sollte. Sie beschrieb in diesem Workshop, wie dadurch ihr Leben vollkommen in Zerrissenheit versetzt wurde. Nach einigen Wochen wäre die Frau wieder zur Arbeit zurückgekehrt, ohne von ihrem Gatten etwas erfahren zu haben. Sie fühlte sich zwar durch die Stabilität des täglichen Arbeitens etwas getröstet, aber dass es sich hierbei um eine äußerst emotionale Zerwühlung handelt, stand außer Frage. Hatte er sie verlassen? War ihm etwas Schreckliches zugestoßen? War er etwa verunglückt oder gar ermordet worden?
Solche Gedanken und die sie begleitenden Gefühle hätten manchmal in Augenblicke gewechselt, in denen sie das Gefühl hatte, dass alles sicherlich in Ordnung wäre und er zurückkehren würde. Sie beschrieb, wie tief bewegt sie wegen der Unterstützung ihrer Großfamilie gewesen war, wie dank der Gebete und des Getragenseins all dieser Menschen sowie ihrer Freunde und ihrer Arbeitskollegen sie zu einer gewissen Ruhe und Gefasstheit hatte zurückfinden können. Dann, nach weiter einigen Wochen, wurde ihr mitgeteilt, dass die Suchpartien ihren Ehemann an seinem Camping Platz gefunden hätten; er wäre im Schlaf an einem Herzinfarkt gestorben.
Indem ich aufmerksam der Erzählung dieser Frau zuhörte, war klar, dass inmitten von alledem, was ihr während dieser Zeit zugestoßen ist, sie zur Tugend der Hingabe gefunden hatte. Durch die Unterstützung der Menschen um sie herum wirkte aber auch stark die im Tierkreis entgegengesetzte Tugend, die des Gleichmuts. (In der Tabelle wird die entgegengesetzte unter der Überschrift „Gegenteil“ aufgelistet. Und dieser Überschrift steht das Tierkreisbild der entgegengesetzten Tugend und unter dieser ist die „anfängliche Eigenschaft“ dieser Entgegengesetzten Tugend aufgelistet.)
Ganz gewiss machte sie Extreme der Emotionalität durch: sie erlebte zum Beispiel bei der Vorstellung, dass ihr Mann angegriffen worden war, äußersten Hass gegen irgendeinen Täter. (Die Extreme der Tugend werden unter der letzten Spalt aufgelistet.) Zu anderen Zeiten hatte sie die Empfindung, dass alles in Ordnung sei, was eine Art oberflächlicher Reaktion war. Sie erlebte überraschenderweise eine Art inneren Gleichgewichts, nachdem sie vom Tod ihres Mannes erfuhr.
Nicht jeder, der das durchmacht, was dieser Frau zustieß, würde so reagieren wie sie. Während ihr dies geschah, dachte sie nicht bewusst an Tugend beziehungsweise daran, tugendhaft zu sein. Dennoch bestand unter den Eigenschaften seelischer Art, die im Verfolg dieser Erfahrung in ihr zur Entwicklung kamen, als Haupteigenschaft eine Empfindung der Hingabe, einer Vertiefung der Fähigkeit, in beständiger, tiefer Weise zu lieben. Noch Jahre später strahlt sie diese Qualität aus, und wir können von ihr nur sagen, dass sie diese Eigenschaft geradezu verkörpert.
Eine weitere Person beschrieb im selben Kurs eine Situation ungeheurer Beunruhigung in seinem Leben. Dieser Mensch, ein junger Mann von kaum 20 Jahren, war eine Reihe von Jahren zuvor zu seinen Eltern gegangen, um sie in einer ihn zutiefst bekümmernden Situation um Rat und Hilfe zu bitten. Anstatt ihm zu helfen, verwiesen sie ihm des Hauses. Nach mehreren Tagen des Herumwanderns stieg er in einen Bus mit dem Entschluss, nach einem kleinen Ort in Kalifornien umzuziehen. Er hatte sich fest vorgenommen, im Leben selbständig, ohne die Hilfe seiner Eltern zurecht zu kommen. Während der langen Reise nach Westen empfand er plötzlich eine starke innere Zuversicht und innere Ruhe und wusste, dass für ihn alles gut gehen würde. Diese Qualitäten der Zuversicht und der Ruhe haben mit der Tugend der Hingabe nichts zu tun, sondern sind Eigenschaften, die eher den Gleichmut kennzeichnen.
Ich glaube nicht, dass diese Person in die Eigenschaften der Tugend der Hingabe eingetreten ist. Stattdessen ging er in die gegenüberliegende Tugend über, in die Tugend des Gleichmuts. Aus der Tabelle geht hervor, dass die der Tugend des Gleichmuts vorangehende respektive nachfolgende Tugend die Höflichkeit respektive die Geduld ist (unter der Spalt „vorher/ nachher“ angegeben). Wahrscheinlich war der junge Mann in diesen Eigenschaften stärker, als in der der Tugend der Hingabe vorangehenden und ihr nachfolgenden Tugend der Liebe respektive des Gleichgewichts. Dass seine Seele Gleichmut erlebte statt der „anfänglichen Eigenschaft“ der Tugend des Gleichmuts, deutet tendenziell darauf hin, dass in ihm Liebe und Gleichgewicht wohl ziemlich gut entwickelt waren.
Für manche Menschen würde das Durchleben solcher Erfahrungen wie die für diese zwei Personen beschriebenen keineswegs die Bewegung in Richtung einer bestimmten Tugend ergeben. Stattdessen bliebe ein solcher Mensch entweder in der anfänglichen Qualität oder aber er würde in die anfängliche Qualität der entgegengesetzten Tugend einen Übergang machen. Er könnte in die Extreme der Tugend eintreten, mit der er in Kontakt kam. Im Fall des sich Näherns an die Tugend der Hingabe machen wir gewöhnlich, wenn unser Leben gründlich aufgewühlt wird, die extremen Emotionen der Boshaftigkeit und der Oberflächlichkeit durch. Es kann vorkommen, dass wir für eine Zeit anderen gegenüber Feindseligkeit hegen oder uns anderen in extrem oberflächlicher weise nähern. Wenn wir uns solchen Verhaltens nicht bewusst werden, ob durch das Leid, das es auslöst oder durch die Reaktionen von Seiten anderer Menschen, so kann es kommen, dass wir in diesen Extremen des emotionalen Lebens stecken bleiben. Diese emotionalen Extreme sind ein notwendiger Lernprozess, durch den wir allmählich in die Lage versetzt werden, zwischen den Extremen einen Mittelweg zu finden, welcher ja die Tugend ist.
Eine weitere Möglichkeit ist die, psychisch in die entgegengesetzte anfängliche Qualität hineingezogen zu werden und dann, anstatt sich in die mit dieser Qualität verbundene Tugend, sich in die Extreme dieser Tugend hineinzubewegen. So kann man, zum Beispiel im Fall, in dem man einer anfänglichen Qualität der Unruhe im Leben begegnet, in die entgegengesetzte Qualität der Unentschlossenheit und das emotionale Extrem der Grobheit und damit in Abwechslung eine Art ästhetische Beziehung zu anderen und zur Welt, was eine Art oberflächlichen Selbstgenusses sinnlicher Freuden ist. Man merke die Ähnlichkeit zwischen der mit der anfänglichen Qualität der Tugend der Hingabe verwandten Extreme – Feindseligkeit und Oberflächlichkeit – und den emotionalen Extremen, die mit der anfänglichen Qualität der der Hingabe entgegengesetzten Tugend, nämlich Grobheit und ästhetischem Verhalten. Diese Ähnlichkeit der Eigenschaften zeigt deutlich, dass wenn wir in die Entwicklung der Tugend eingeführt werden, wir es zur gleichen Zeit mit dem Ziehen der entgegengesetzten Tugend und mit deren Extremen – beziehungsweise Laster, wenn man so will – aufnehmen müssen.
Wahrscheinlich werden aber die konkreten Umstände, unter denen diese verschiedenen Beziehungen zur Tugend entstehen, komplexer sein, als hier dargestellt. Dasselbe gilt für die Ereignisse des Lebens, die einen zur Entwicklung einer bestimmten Tugend hinziehen sowie für solche Ereignisse, die eben dieses Ziehen vereiteln. Der so angedeuteten Entwicklung der Tugenden wohnt dennoch eine psychische Gesetzmäßigkeit inne.
Bleiben wir einmal bei der Tugend der Hingabe. Wir geben einige Hinweise zu der Art an, wie die Entwicklung dieser Tugend in Gang gebracht werden kann. Wenn ein Mensch ein deutliches und zuverlässiges Empfinden für die Liebe hat, so macht dies eine erste Voraussetzung für die Tugend der Hingabe aus. Wenn hingegen man in der Tugend des Gleichmuts weiter entwickelt ist, wird eben Gleichmut die eher wahrscheinliche Reaktion sein. Heißt das, dass wenn diese Reaktion auftritt, die Chance verloren wird, Hingabe zu entwickeln? Vielleicht schon. Aber für die Entwicklung dieser Tugend werden sich in der Zukunft schon andere Möglichkeiten bieten.
Wenn in einer Situation extremer emotionaler Turbulenz wir einmal emotionale Feindseligkeit gegenüber anderen durchleben oder aber feststellen, dass unser emotionales Leben gänzlich auf der Oberfläche liegt, werden wir wahrscheinlich bemerken, dass unser Leben nicht so gut verläuft. An dieser Stelle kann eine Art inneren Erwachsens eintreten. Wir können beginnen, uns selbst und andere Menschen bewusst anders zu behandeln, mit einem tieferen Sinn für Ehre und Respekt. Hierbei geht es um den Anfang der Entwicklung der Tugend der Hingabe. Indem sich solches Verhalten vertieft, wird es zur Gewohnheit, sich einem selbst, anderen und der Welt als heilig zu nähern. Wir stellen fest, wie in uns eine neue Fähigkeit entsteht: die Fähigkeit, mit Tiefe und Beständigkeit zu lieben. Auch merken wir, dass diese Fähigkeit das Gefühl des emotionalen Aufgewühltseins auflöst.
Eine psychologische Herangehensweise an die Tugenden – eine, die sich ihnen von der Perspektive der Psyche (dessen, was im Leben der Seele vor sich geht) nähert – ist wichtig, denn eine solche Herangehensweise beschreibt, wie die Umstände des Lebens uns vor die Möglichkeit einer spirituellen Entwicklung stellen. Eine streng spirituelle Annäherungsweise an die Tugenden führt unvermeidlich zu bestimmten Schwierigkeiten. Unter „streng spirituell“ verstehe ich einen Ansatz, der die Charakteristiken einer jeden Tugend beschreibt und es dann dem Individuum überlässt, die zum praktischen Umsetzen jeder Tugend nötige Disziplin zu entwickeln.
Eine Schwierigkeit bei letzterer Herangehensweise ist die, dass in der heutigen Zeit nur sehr wenige Menschen die erforderliche Disziplin und die nötigen Praktiken aufgreifen würden. Darauf folgt eine zusätzliche Schwierigkeit: ohne einen Sinn für die Psyche, die Seele, würden die Tugenden wortwörtlich aufgefasst werden. „Wortwörtlich“ heißt hier ohne jeden Sinn dafür, wie für eine gegebene Zeit und für die besonderen, im eigenen Leben gerade obwaltenden Umstände die eine spezifische Tugend gilt, und nicht irgendeine der anderen. Ferner ist die Art und Weise, wie eine Tugend gelebt werden kann, für jeden einzelnen Menschen einzigartig. Eine streng spirituelle Herangehensweise neigt zur Vermittlung der Vorstellung, dass eine Tugend eine einzige Form habe.
Zugleich birgt aber eine psychologische Herangehensweise auch ihrerseits Schwierigkeiten. Die Umstände des Lebens bringen zwar die Möglichkeit für die Entwicklung einer Tugend mit sich; aber es kann vorkommen, dass man jahrelang hängen bleibt, ohne zu durchschauen, dass die Turbulenz des Lebens eine Einladung sein könnte, sich auf den Prozess einer bestimmten Tugend einzulassen. Heutzutage ist es sogar typisch, solcher Turbulenz mit herkömmlicher Psychotherapie und Beratung zu begegnen, die ja von den Tugenden wenig oder gar keine Vorstellung haben.
Eine spirituell-psychologische Herangehensweise an die Tugenden besteht im Folgenden: Eine gedanklich-verstandesmäßige Auseinandersetzung ist ein wichtiger Teil dieses Ansatzes und der einzige Weg, in die Vielfalt der Tugenden eingeführt zu werden, und so einen verlorengegangenen Seelenmodus ins Kulturleben einzuführen. Die gedanklich-verstandesmäßige Beschäftigung mit den Tugenden ist ferner eine Fundierung für die meditative Arbeit, die zum Erfassen der Besonderheit einer jeden Tugend im Verhältnis zum eigenen Leben und zu den eigenen Umständen nötig ist.
Dieser notwendige Aspekt der gedanklichen Durchdringung der Tugenden ist anders als ein akademisches Studium; er ist eher als eine richtige und gesunde Vorbereitung auf Geistiges Arbeiten anzusehen. In allen geistigen Schulen der Vergangenheit ging vor jeder Einweihungserfahrung ein jahrelanges Lernen dem eigentlichen Üben voraus. Eine richtige Auffassung dieser Form spirituellen Arbeitens innerhalb einer geistigen Tradition ergibt, dass es entschieden ungesund wäre, auf irgendwelche die Tugenden bezogene Übungen anzubieten, die sich über die wichtige verstandesmäßige Vorbereitung hinwegsetzten. Andererseits ist es ebenso wichtig darauf hinzuweisen, dass solche gedankenmäßige Durchdringung, auch wenn sie lange Zeit in Anspruch nehmen mag, nur eine Vorbereitung auf die eigentliche spirituelle Arbeit ist.
Wenn nach ausreichendem Studium der Tugenden die Lebensumstände uns in Situationen hineinstürzen, die uns zum Aufgreifen der inneren Entwicklung einer Tugend einladen, können wir bewusst in die entsprechenden Praktiken eintreten. Wir nehmen selbst die Entwicklung der eigenen Seele und des eigenen Geistes in die Hand. Während Studium die erste Phase dieser Entwicklung ausmacht, besteht die zweite Phase darin, nach und nach die Fähigkeiten der inneren Beobachtung soweit auszubilden, dass viele der in der Tabelle angegebenen Eigenschaften aus erster Hand wiederzuerkennen sind. Dann können manche gezielten meditativen Praktiken stattfinden.
Auch wenn ich so rede, als wäre dieser Übergang von der einen Umgangsform mit den Tugenden zur nächsten linearer Art: Diese Darstellungsweise ist durch sprachliche Beschränkungen bedingt; anders geht es nämlich nicht, als dass man die Sachen eine nach der anderen – eben linear – beschreibt. Ein solches Verfahren gibt es im Leben nicht; wohl gibt es aber eine wesentliche Unterscheidung zwischen Stufen des Bewusstseins. Diese Sektoren des Bewusstseins und nicht die Sequenz, in der sie auftreten, sind der Kern des hier Beschriebenen. Haben wir uns einmal auf die Wichtigkeit der Tugenden eingestimmt, dann haben manchmal die Lebensumstände die Führung, während zu anderen Zeiten es das Studium ist, was führt, und zu wiederum anderen Zeiten das meditative Üben.
Ein geistiges Bewusstsein der Tugenden besteht im Verstehen derselben in ihrer allgemein menschlichen Bedeutung sowie im Verstehen des besonderen Wesens und der besonderen Qualität jeder Tugend für sich. Auch besteht ein solches geistiges Bewusstsein darin, dass man für jede einzelne Tugend im eigenen Leben eine Entwicklungsrichtung sieht. Psychologische Bewusstheit der Tugenden besteht im Durchschauen, dass die Turbulenz im Leben eine Einladung zum Entwickeln von Tugend ist. Diese Bewusstheit besteht darin, aufmerksam zu sein auf die emotionale Spannweite der Reaktionen, welche durch besondere Aufregungen im Leben hervorgerufen werden sowie im Erkennen, dass diese Spannweite der Reaktionen nicht anormal ist, auch wenn sie oft extrem sind.
Psychologische Bewusstheit besteht auch in den Ahnungen, dass unser Seelenleben – Erfahrungen von den Dingen, die uns erfassen und festhalten, die außerhalb unseres Kontrollbereiches zu sein scheinen, die auch dann in uns fortleben, wenn die äußeren, sie zeitigenden Umstände vorbei sind – nicht nur damit zu tun hat, was uns schon passiert ist, sondern uns auch darauf einstimmt, was noch auf uns zukommt. Der Modus, durch den die Seele sich auf alles vorbereitet, was kommen mag, ist Tugend.
Geistig-psychologische Bewusstheit der Tugenden tritt dann ein, wenn die geistigen und psychologischen Dimensionen um die Tugend herum bewusst eine Verbindung zu einander eingehen. Es geht um mehr als bloß ein Kombinieren der zwei Dimensionen. Eine neue Freiheit entsteht, in der wir die Umwerfungen im Leben bewusst und immer wieder willkommen heißen, und mit ihnen im Licht der Tugend arbeiten, um so Tugend zu entwickeln. So und nicht anders geht das Seelenleben mit dem geistigen Leben ein harmonisches Verhältnis ein. In diesem Arbeitsmodus mit den Tugenden machen wir das durch, was das Leben eben mit sich bringt, aber wir verstricken uns nicht darin. Wir suchen vielmehr, als eine Art Opferhandlung diese Lebensschwierigkeiten dem Geist entgegenzuheben, und dann aktiv empfangend auf dessen Antwort zu warten. Wie lässt sich dieser Arbeitsmodus ausführen?
In vielen Werkstattkursen, die ich zusammen mit meiner Partnerin Cheryl Sanders zum Thema Monatstugenden leitete, wurde mir klar, dass es zusätzlich zu den oben ausgeführten Methoden (Besprechen der Tugenden, Zuhören beim Erzählen der Geschichten ihrer Entfaltung im Leben einzelner Menschen, Entwicklung eines Verständnisses für jede der in der obigen Tabelle aufgelisteten Angelegenheiten) auch möglich ist, einen von Bildern ausgehenden meditativen Übungsmodus zu entwickeln, der die Entfaltung eines geistig-psychologischen Erlebnisses der Tugend fördert. Das Verfahren ist einfach: dennoch ist es vorweg nötig, klar zu zeigen, wie sich dieses meditative Verfahren von anderen Meditationsweisen und Formen der Arbeit mit inneren Bildern, wie etwa „aktiver Imagination“, unterscheidet.
Anhand der Tugend soll ein Beispiel aufgebaut werden für die Form einer vom Bilde ausgehenden Meditation auf die Tugenden. Dabei soll zur Kenntnis gegeben werden, dass dieses Verfahren auf jede der Monatstugenden angewandt werden kann. In der Tat: für diese Meditationsweise – die ich „imaginale Meditation“ nennen würde, um sie von anderen Formen der spirituellen Meditation und des Arbeitens mit inneren Bildern zu unterscheiden), gibt es ein breites Spektrum an Anwendungsmöglichkeiten über den Umgang mit den Tugenden hinaus.
Das speziell auf die Tugend der Hingabe angewandte Verfahren der imaginalen Meditation beginnt damit, dass man ein inneres Bild macht vom Ausführen einer Handlung der Hingabe mit Bezug auf einen anderen Menschen. (Imaginale Meditation in Verbindung mit jeder anderen Tugend würde dem gleichen Grundmuster folgen.) Diese Anweisung bedarf der Klärung. Der Ausdruck „machen“ ist absichtlich. Ein Bild zu machen ist etwas anderes als zu erinnern, ein Bild kommen zu lassen, oder ein Bild zu haben. Dieses Wort impliziert eine spezifische Willenshandlung. Diese Willenshandlung unterscheidet imaginale Meditation von anderen Formen des Arbeitens mit inneren Bildern, wie etwa das Visualisieren, oder imaginative Psychotherapie (guided imagery) beziehungsweise von Verfahren, die nach einer Phase der Entspannung zu Beginn einer therapeutischen Behandlung zulassen, dass irgendein beliebiges Bild auftaucht.
Zwar trifft es zu, dass der Stoff, aus dem man ein Bild des Ausführens einer Handlung der Hingabe machen könnte, der Erinnerung einer ausgeführten Handlung entnommen werden könnte, und doch besteht das Verfahren nicht nur im Erinnern. Wenn man etwa als Stoff die Erinnerung verwendet, so ist in diesem meditativen Modus solcher Stoff als vergleichbar den Materialien des Künstlers zu betrachten. Um ein Bild zu machen, braucht der Maler Farben, Kenntnisse von Farbe, Licht und Komposition, eine bestimmte Ausbildung, einen Pinsel und eine Leinwand. Unsere Erinnerungen können dementsprechend als die Materialien angesehen werden, die wir verwenden, um ein Bild zu machen.
Wenn zum Beispiel jemand ein inneres Bild vom Ausführen einer auf einen anderen Menschen gerichteten Handlung der Hingabe machen soll, kommt es häufig vor, dass eine Anzahl von Erinnerungsbildern die anfängliche Reaktion bildet. Wird daraus ein einzelnes Vorkommnis gewählt, so fließt eine weitere Folge von Bildern vorbei, die wiederum mit diesem einen Ereignis verwandt sind. Aus dieser Stofffülle macht dann der Bildmeditant ein Bild. Dieses einzelne Bild ist einem Gemälde analog, obzwar es sich um ein inneres Gemälde handelt. Dieses innere Bild ist nicht einem äußeren Gemälde gleichzusetzen, da das innere Bild aus der Handlung des Bild-Machens sowie aus der begleitenden Handlung des Entgegennehmens dieses Bildes besteht, und letzteres Entgegennehmen ist obendrein zugleich auch die Leinwand, auf der das Bild hergestellt wird.
Dieses spezifische Verfahren, imaginale Meditation, beginnt mit der bewussten Handlung des so beschriebenen Bildmachens. Es könnte jemand zum Beispiel folgendes inneres Bild (des Ausführens einer Handlung der Hingabe mit Bezug auf jemand anderen) machen: „Ich führe mein getreues wöchentliches Telefonat mit meinem Sohn, und ich fühle den Wunsch meinerseits, ihn zum Reden zu ermutigen und mir zu sagen, was in seinem Leben los ist. Ich bin am Telefon und höre mit aufmerksamer Intensität zu, antworte ihm mit Intensität, als wäre ich bei ihm.“
Es braucht eine Willenshandlung, dieses Bild zu machen. Das innere Bild wird dann stabilisiert, damit keine weiteren Bilder eintreten, genau so, wie in jeder meditativen Handlung es notwendig ist, die Aufmerksamkeit zu bündeln und unter Ausschluss von allem Anderen sich auf ein einziges Ding zu konzentrieren. Einmal stabilisiert, hält man das Bild fünf Minuten lang als Fokus der Konzentration. Eine weitere Hilfe ist es, dieses Bild vom Zentriertsein im Kopf zum Zentriertsein in der Herzgegend hin zu bewegen. Es kann wohl Zeit und Übung kosten, bis man ohne Anstrengung dazu in der Lage ist.
Bevor ich die nächste Phase dieses Prozesses beschreibe, möchte ich auf den Sinn hinweisen, diese Form der Bildmeditation bis zu diesem Punkt hin zu entwickeln. Wer sich auf eine Arbeit mit Bildern einlässt, muss unbedingt wissen, mit welcher imaginalen Welt er es zu tun hat. Wenn wir uns etwas vorstellen, so findet diese Handlung nicht nur in unserem Inneren statt; sie trägt uns vielmehr in etwas hinein; sie trägt uns irgendwohin. Dieses „Irgendwo“ kann als eine imaginale Welt gelten. Allerdings gibt es viele imaginale Welten. Zu unseren Zwecken seien nur drei solche Welten in Betracht gezogen.
Zuerst gibt es die imaginale Welt des Wachens, des Dauerbewusstseins. Alles, was wir wahrnehmen, nehmen wir über Bilder wahr; sonst gäbe es in unserem Wahrnehmen keine Form, kein Muster, keinen Sinngehalt. Diese imaginale Welt verbindet sich stark mit den Sinnesempfindungen, sodass der imaginale Aspekt unserer Sinneswahrnehmung unerkannt bleibt. Wenn die Seele mit der gewöhnlichen Welt des wachenden Lebens verstrickt ist, ist sie mit allem erfüllt, was uns umgibt. Deshalb gibt es kein gesondertes Bewusstsein von Seele in sich. Seele wird mit alledem restlos aufgefüllt, auf das unsere Aufmerksamkeit gerade gerichtet ist – mit dem Wahrnehmen von etwas in der äußeren Welt, mit unseren Gedanken, oder mit unseren Gefühlen. Alle unsere Erfahrungen ereignen sich zwar durch die Seele, aber von der Seele selbst gibt es kein Bewusstsein.
Das geeignetste Beispiel der zweiten imaginalen Welt ist der Weg, den der Schamane wandert. Der Schamane findet durch spezifische Prozeduren, wie etwa Gesang, Trommeln, vielleicht auch durch den Gebrauch bestimmter Drogen, den Weg in eine andere imaginale Welt. Diese Welt besteht ganz aus Bild; hier ist Bild Wirklichkeit. Diese imaginale Welt ist eine bereits völlig fertige Welt. Diese Welt lässt sich zum Beispiel aufzeichnen, und im Lauf der Jahrtausende arbeiteten die Schamanen eines gegebenen Gebietes einen Satz kultureller Symbole heraus, die für jeden als Richtlinien dienten, der in die schon gebildete imaginale Welt eintrat. Es gibt dort Wesenheiten und Mächte, die innerhalb der Reiche aller natürlichen Phänomene unsichtbar walten, wie etwa der Wolkenbildung und des Regens, der Kräfte innerhalb der Berge, der Wüsten oder der Flüsse, der Elementarkräfte innerhalb von Pflanzen, Tieren und dem menschlichen Leib. Diese imaginale Welt nennt sich zu Recht die Welt der elementaren Imagination. Der Schamane, der sich mit der Imagination beschäftigt, weiß genau wohin er unterwegs ist und wie er mit den verfeinerten Aspekten dieser Welten zurechtkommt.
Auch außerhalb dieser spezialisierten Tradition, in der sehr viel bekannt ist über die elementaren imaginalen Welten (das heißt die darin waltenden Kräfte und was dort möglich ist, wie etwa das Zusammenarbeiten mit Elementarwesen, um die Heilung des physischen Leibes zu bewirken), werden diese Welten angerührt – ohne allerdings zu wissen, wo man ist und womit man es zu tun hat. Wir berühren diese Welt der elementaren Imagination wann immer wir irgendein Verfahren benutzen, das davon abhängt, dass man „ein Bild hat“ oder „darauf wartet, dass ein Bild kommt“, oder Verfahren wie zum Beispiel das Visualisieren oder die gelenkte Meditation.
Diese Welten berührt man auch bei tiefenpsychologischen Ansätzen der Traumdeutung und bei solchen Techniken wie aktive Imagination und sonstigem Umgang mit dem Traumleben. Diese Welten elementarer Imagination sind aber gewöhnlich mit anderen imaginalen Welten gleichsam vermischt, ohne dass wir dies durchschauen. Das typische Ergebnis der Arbeit mit den meisten modernen Techniken der Imagination ist, dass unerkannt bleibt, mit welcher dieser Welten man gerade arbeitet.
Die dritte imaginale Welt ist die Empfänglichkeit der Seele gegenüber den geistigen Welten. Nicht alle geistigen imaginalen Welten gleichen den elementaren imaginalen Welten. Die geistigen Welten sind die, denen man traditionsgemäß durch die Entwicklung spezifischer spiritueller Disziplinen begegnet. Die wohl grundlegendste dieser Disziplinen ist das Gebet. Rein in seiner Eigenschaft als imaginale Technologie betrachtet, beschäftigt sich das Gebet damit, die Aufmerksamkeit direkt auf die Empfänglichkeit der Seele gegenüber den geistigen Reichen zu lenken. Eine höher entwickelte Technik ist die der Mystik in Verbindung mit ihr eigenen Praktiken, die darin bestehen, mit Absicht sich von der Welt ab- und der Seele zuzuwenden, um dort einen Funken, ein inneres Feuer des Göttlichen zu finden, und sich hingebungsvoll konzentrieren zu lernen auf die Gegenwart des Göttlichen. Eine noch höher entwickelte Technik besteht im Richten der Aufmerksamkeit auf geistige Präsenzen sowie im Lernen, „die innere Flamme zu schüren“. Mit dem „Schüren der inneren Flamme“ ist die Entwicklung spezifischer meditativer Techniken gemeint, durch die man beginnt, die geistigen Reiche wahrnehmen zu können.
Die durch gezieltes Entwickeln spiritueller Fähigkeiten zu betretenden imaginalen Welten sind andere, als die Welten der elementaren Imagination. Die geistigen Welten, von bereits gebildeten imaginalen Welten weit entfernt, sind vielmehr die Welten derjenigen Schöpferwesen, die in den Handlungen der Erschaffung imaginaler Welten eingebunden sind. Sie existieren nicht als schon geschaffene Welten. In den geistigen Welten ist nicht alles festgesetzt; hier besteht die geistige Realität ganz in Prozess, im Handeln, ganz in Bewegung. Diese Welten sind alles Andere als chaotisch; aber deren Formen sind keine bereits vollendeten, sondern solche, die im Begriff sind, erschaffen zu werden. Diese Welten sind es, an die man mit der Fülle der Tugenden rührt. Man erinnere sich an die Bedeutung des Wortes „Tugend“: „die Mächte oder Handlungen göttlicher Wesen“.
Die „imaginale Technik“, durch die man eine Verbindung mit den spirituellen Welten herstellt, ist eine andere, als die des Arbeitens mit der Imagination im Verhältnis zu unserer alltäglichen Welt des Wachseins; sie ist auch eine andere Technik als die des Arbeitens mit den Reichen der elementaren Imagination. Zwar sind diese Reiche nicht deutlich von einander getrennt; aber um klar arbeiten zu können braucht es im Verhältnis zu jedem der Reiche differenzierte Verfahren.
Ein zusätzlicher Faktor, den man mit erwägen sollte, hat mit der Klarheit mit Bezug auf den Standpunkt zu tun, den man im Verhältnis zu den imaginalen Welten bezieht. Der Standpunkt dieser Arbeit mit den Tugenden ist der der geistigen Psychologie. Hier sind die beiden Begriffe „Geist“ und „Psyche“ (beziehungsweise „Seele“) sorgfältig erwählt und in einer Art zusammengesetzt worden, die auf einen besonderen Standpunkt hindeutet. Geistige Psychologie hat damit zu tun, dass die rezeptiven Fähigkeiten der Seele in einer Weise entwickelt werden, die gegenüber den geistigen Welten Offenheit zulässt.
Die so definierte geistige Psychologie ist anders als viele andere spirituelle Disziplinen. Die etwa von Blavatsky und Steiner entwickelten spirituellen Disziplinen besorgen die Ausbildung von Kapazitäten des individuellen Geistes so, dass hellseherische Fähigkeiten entstehen, um die komplexen Reiche der spirituellen Welten zu erkunden. Geistige Psychologie verfolgt diese Entwicklungslinie nicht; sie steht im Reich der Seele und auch für dieses Reich; sie bildet Seelenkapazitäten zur Empfänglichkeit gegenüber spirituellen Strömungen zwar aus, ist sich aber sowohl über den Unterschied als auch über das Verhältnis zwischen Seele und Geist im Klaren.
Geistige Psychologie unterscheidet sich von anderen spirituellen Praktiken; sie unterscheidet sich aber zugleich auch von anderen Arten seelischen Übens. Die Tiefenpsychologie Jungs zum Beispiel ist nicht klar hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Seele und Geist. Diese zwei Reiche werden in der Tiefenpsychologie vermischt. So ist das Aufgreifen von solchen Praktiken wie aktive Imagination, Jung’sche Traumarbeit oder das Folgen des Pfades der Individuation zwar von großem Wert, aber es lässt keine Kenntnis davon zu, mit welchen Welten man es dabei zu tun hat, da ja die elementaren Welten mit den spirituellen Welten vermischt sind.
Diese Verwirrung tritt deswegen auf, weil in den Praktiken der Tiefenpsychologie stets mit Bildern begonnen und zusammengearbeitet wird, die einem kommen oder einem gegeben werden; was die Welten elementarer Imagination als Hauptfokus impliziert. In der Tiefenpsychologie wird das Reich der elementaren Imagination das kollektive Unbewusstsein genannt; dieses kollektive Unbewusstsein ist auch das Reich des Urbildes. In Jungs Verständnis sind die Urbilder schon geformt, fertig und im Wesentlichen unveränderbar. So spricht man in dieser Psychologie von Urbildern wie zum Beispiel der Senex, der Trickster, anima, animus. Dieser Annäherungsmodus an die Welten der Imagination verläuft analog den schamanischen Ansätzen, sich den Welten der Imagination zu nähern, und behandelt die geistigen Welten so, als hätten sie die gleiche Form, Struktur und Funktion wie die Welten der elementaren Imagination.
Geistige Psychologie vermischt die Reiche der Seele und des Geistes nicht, sondern sie arbeitet, um die Kapazitäten der Seele zur Offenheit und Empfänglichkeit gegenüber den geistigen Reichen zu entwickeln. Durch die Praktiken der geistigen Psychologie entwickelt man keine Fähigkeiten, „den Leib zu verlassen“ und den Übergang in die geistigen Reiche zu vollziehen. Andererseits öffnet sie nicht einfach die Seele den hereinströmenden Inhalten der elementaren Reiche.
Die imaginale Technik, die seit 1990 in unserer Schule der spirituellen Psychologie gepflegt wird, befasst sich mit dem klaren und bewussten Machen innerer Bilder, die zu dem Gegenstand, den man gerade untersucht, eine Verbindung haben. Um bei dem bereits angeschnitten Beispiel des Arbeitens mit der Tugend der Hingabe zu bleiben, beginnen wir das imaginale Üben damit, dass wir ein bewusstes inneres Bild vom Verrichten einer Handlung der Hingabe machen, mit Bezug auf einen anderen Menschen. Diese Handlung ist dann eine bewusste Handlung der Seele, wenn man ein inneres Bild macht und nicht bloß daran denkt, eine solche Handlung auszuführen beziehungsweise sich an eine solche Handlung nicht einfach erinnert oder darauf wartet, bis ein Bild erscheint. Ein solches Bild machen, es stabilisieren, sich auf es konzentrieren: das ist es, was den Seelen-Aspekt des Übens ausmacht.
Wenn in solchem Üben das Bild nicht stabil bleibt, sondern sich zu verändern oder zu bewegen oder Eigenschaften anzunehmen beginnt, die beim Machen des Bildes nicht vorhanden waren, deuten solche Änderungen darauf hin, dass die elementare imaginale Welt ungewollt in das Arbeiten hineinspielt. Beginnt man etwa damit, dass man ein inneres Bild von etwas so Einfachem wie einem Stein, den man gerade eben in der Hand gehalten und beobachtet hat, und setzt im Bild der Stein plötzlich Flügel an und fängt zu fliegen oder zu reden an, oder aber verschwindet er überhaupt ganz, so ist die elementare imaginale Welt berührt worden.
Geschieht es, dass in solcher Weise sich der Einfluss der elementaren imaginalen Welt einmischt, so deutet das auf die Notwendigkeit einer grundlegenden Stärkung des bewussten Seelenlebens hin. Solche Stärkung ist dadurch zu erreichen, dass man jeden Tag fünf Minuten daran zubringt, von einem alltäglichen Gegenstand (Stein, Bleistift, Papierklammer) ein inneres Bild zu machen und dieses innere Bild unbeweglich zu halten. Ist die Fähigkeit entwickelt worden, ein Bild zu machen und zu stabilisieren, so kann die nächste Phase des Vorgangs vorgenommen werden.
Man nehme also an, man hätte es soweit gebracht, dass man es vermag, ein inneres Bild zu machen vom Verrichten einer Handlung der Hingabe mit Bezug auf einen anderen Menschen. Aus einer Reihe von Ausgangsbildern, welche Erinnerungsbilder, Fantasiebilder oder von Ideen tingierte Bilder sein dürfen, bringt man es soweit, dass man ein inneres Bild macht. Dieses einzige Bild ist nicht statisch, da es eine dynamische Kondensation und ein kreativer Ausdruck der Bilderreihe ist, die zu diesem Moment einer intensiveren Konzentration geführt hat.
Wir sind also vom Verfolgen eines Prozesses der Seele zu einer Handlung übergegangen, die selbst ein bewusster Prozess der Seele ist. Dieses innere Bild, das Bild vom Ausführen einer Handlung der Hingabe in Bezug auf einen anderen Menschen, hat aber bisher noch nicht seine Beziehung zu den geistigen Welten gefunden. Der Wert dieser Phase des Prozesses besteht darin, dass sie dem besonderen und gänzlich individuellen Ausdruck einer Tugend Gültigkeit verleiht.
Beim Arbeiten mit Menschen an der Tugend der Hingabe beginne ich mit einer phänomenologischen Beschreibung der Tugend, zumal als Versuch, das tatsächliche Erleben einer solchen Handlung zu erschließen. Darauf machen wir diesen ersten Teil der Bildarbeit. Hierbei ist der durch den einen Menschen erlebte Weg der Hingabe ein anderer als ein durch einen anderen Menschen verbildlichter. Es geht so weit, dass in vielen Fällen das innere Bild einer Handlung der Hingabe gar nicht wie Hingabe aussieht. Wer sich über diese Phase der Arbeit an den Tugenden hinwegsetzt, hat lediglich verallgemeinerte Beschreibungen der Tugenden und keine Beschreibungen von der Art, wie sie im konkreten Einzelfall funktionieren. Dieser Teil der imaginalen meditativen Arbeit macht den seelischen Aspekt aus.
Eine zweite Phase der imaginal-meditativen Arbeit betrifft die spezifischen Praktiken, die man braucht, um die Seele durch das spezifische Thema, dem durch die innere Handlung des Bildmachens Bildform verliehen wurde, zur Empfänglichkeit gegenüber den geistigen Welten zu öffnen.
Um ein inneres Bild machen und gleichzeitig vor diesem Bild anwesend sein zu können, müssen zwei empfindlich auf einander abgestimmte Prozesse gleichzeitig vor sich gehen. Es gibt die Handlung, das Bild zu machen, welche als Willensakt erlebt wird. Dieser Willensakt muss mit dem Akt, das Bild zu empfangen – die Handlung, die Anwesenheit des Bildes zuzulassen, damit es da sein kann –, exakt im Gleichgewicht stehen. Befindet sich einer dieser Akte zum anderen nicht im Gleichgewicht, so wird sich das Bild vom ursprünglich gemachten abwandeln.
Besitzt die Handlung des Bild-Machens nicht ausreichend Kraft, so wird das Bild von sich aus andere Eigenschaften annehmen, was darauf hinweist, dass die Kräfte der imaginalen elementaren Welt auf das Bild und innerhalb seiner ihren Einfluss ausüben. Ist die Handlung des Bildmachens zu stark, so wird es gar keine innere Erscheinung des Bildes geben, da die Empfänglichkeit überwältigt wurde.
Ähnliche Änderungen können auftreten mit Bezug auf die Handlung der Empfänglichkeit, welche keineswegs eine passive, sondern eine aktive Handlung ist. Wenn keine volle Rezeptivität gegeben ist, wird es kein Bild geben; ist die Empfänglichkeit zu offen und im Verhältnis zum gemachten Bild nicht selektiv, so wird das Bild andere Eigenschaften annehmen. Es lässt sich beim Üben unterscheiden, ob auftretende Änderungen im gemachten Bild auf den Willen oder auf die Empfänglichkeit zurückzuführen sind, wenn man die Aufmerksamkeit auf die innere Empfindung der Spannung richtet, die zum Machen des Bildes aufgebracht wurde. Wenn sich das Bild ändert und man dabei eine starke innere Spannung oder eine schwache innere Spannung im Akt des Machens spürt, liegen die Schwierigkeiten auf der Seite des Willens, was sich durch Üben korrigieren lässt. Wenn sich das Bild ändert und man etwas spürt, was die Empfänglichkeit blockiert oder was sich übermäßig offen anfühlt, so liegt die Schwierigkeit auf der Seite der Empfänglichkeit.
Nachdem ein inneres Bild gemacht und für ein paar Minuten stabil gehalten wurde, besteht der nächste Teil der Übung im vollständigen Auslöschen des inneren Bildes, auf das man bisher die ganzen Aufmerksamkeitskräfte fokussiert hat. Dann „lauscht“ man der Leere. Die Leere bleibt nicht leer. Schenkt man den feineren, hintergründigen Qualitäten dieser inneren Leere die Aufmerksamkeit, wird sich etwas ereignen: es erscheint ein Bild oder eine Einsicht oder ein starker Gefühlston. Diese „Rückgabe“ ist die dem Ausführen einer besonderen Tugend angemessene spirituelle Entsprechung des bewussten Seelen-Bildes.
Ich möchte das verdeutlichen, was geschieht, wenn ein Bild, nachdem es meditiert wurde, dann ausgelöscht wird. Diese Handlung des Auslöschens eines Bildes erfordert ebenso viel Willenstätigkeit, wie erst das Machen des Bildes. Das losgelassene Bild wird den geistigen Welten in einer Form übergeben, die den geistigen Welten verständlich ist, das heißt, in der Form eines Bildes. Bei dem, was zurückgegeben wird, ob Bild, Einsicht, Gedanke oder Gefühl, handelt es sich nicht um irgendeine Art Botschaft aus den geistigen Welten. Das Bild, das in die Leere eintritt, ist am passendsten als die geistige Entsprechung der bewussten Seelentätigkeit zu verstehen, die im Machen eines inneren Bildes, im Sich Konzentrieren darauf und im wieder Loslassen des Bildes besteht.
Warum sage ich nicht, dass schon das innere Bild der Handlung der Hingabe spirituell sei? Warum müssen wir zusätzlich ein besonderes Verfahren durchexerzieren, um uns des geistigen Aspektes des Bildes bewusst zu werden?
Ein inneres Bild ist etwas, was nicht der natürlichen Welt zugehört, sondern der seelischen Welt. Das Verfahren ist nötig, um bewusst die Seele zur Empfänglichkeit gegenüber den geistigen Reichen zu öffnen, und es ist auch nötig, um Momente zu erfahren, in denen die geistigen und die seelischen Reiche miteinander übereinstimmen.
Das Verfahren des imaginalen Meditierens auf die Tugenden wurde in zahlreichen, von unserer School of Spiritual Psychology angebotenen Werkstattgruppen ausgearbeitet. An die 300 Menschen haben diese Art der meditativen Arbeit gemacht. Was sich tatsächlich ereignet betreffs der gemachten Bilder und der Arten der Erfahrungen bei der „Rückgabe“ in die Leere, ist vom Inhalt her nicht spektakulär. Was meistens erscheint während der Zeit der Konzentration innerhalb der Leere nachdem das Bild losgelassen wurde, sind Bilder, von denen der Übende in innerer Weise weiß, dass sie dem gemachten Bild der Handlung der Hingabe wohl entsprechen. Berichte über diese Bilder ergeben normalerweise keinerlei rationale Verbindung zum vorher gemachten inneren Bild.
Wohl aber wird das Bild, der Gedanke, die Einsicht, das Gefühl normalerweise von einer starken Gefühlsreaktion begleitet, die am besten als Ehrfurcht oder Devotion sich beschreiben lässt, oder auch als ein allein beim Machen des Bildes noch nicht erreichtes, gefühltes Erkennen der Heiligkeit der Handlung der Tugend. Um diese gefühlte Antwort scheint es eher zu gehen, als um den Inhalt des Bildes, des Gedankens oder der Einsicht, die auftauchen. Es ist sogar besser, aus dem Inhalt dessen, was zurückkommt, nicht so viel zu machen, weil daraus, dass man sich auf diesen Inhalt konzentriert, ohne weiteres ein Akt des Interpretierens werden kann, was nicht besonders hilfreich zu sein scheint.
Hier einige Beispiele als Kostprobe von dem, was eintritt:
A. Inneres Bild der Ausführung einer Handlung der Hingabe: „Ich führe mein getreues wöchentliches Telefonat mit meinem Sohn, und ich fühle den Wunsch meinerseits, ihn zum Reden zu ermutigen und mir zu sagen, was in seinem Leben los ist. Ich bin am Telefon und höre mit aufmerksamer Intensität zu, antworte ihm mit Intensität, als wäre ich bei ihm.“
Das Bild, das nach dem Auslöschen des meditierten Bildes empfangen wird: „Eine riesige, strahlende Erscheinung am Himmel, wie ein Auge, aus dem allerdings Lichtstrahlen hervorgehen; die Lichtstrahlen bescheinen ein Feld und im Felde stehen in großem Ring Sonnenblumen und das strahlende Licht scheint auf diese Blumen, die intensiv gelb sind.“
B. Inneres Bild des Ausführens einer Handlung der Hingabe: „Ich halte meine kranke Enkeltochter in meinen Armen. Sie weint und ich sitze mit ihr und wiege hin und her, hin und her.“
Das Bild, das nach dem Auslöschen des meditierten Bildes empfangen wird: „Ich erhielt kein Bild. Ich fühlte körperlich in meinen Armen den Schmerz, den ich beim Halten meiner Enkeltochter empfand, wobei er jetzt intensiver war; und obwohl er in meinen Armen war, war der Schmerz nicht gerade physisch, und ich hatte das innere Gefühl, dass dieser Schmerz, der bei mir in den Armen war, der Schmerz war, von dem meine Enkeltochter ergriffen war und dass er sie verließ und auf mich überging.
C. Inneres Bild des Ausführens einer Handlung der Hingabe: „Ich fixiere ein Kind, halte sie fest, während sie einen Tobsuchtsanfall hat.“
Das Bild, das nach dem Auslöschen des meditierten Bildes empfangen wurde: „Ich erhielt die überwältigende Empfindung einer hereinflutenden Liebe, die so stark war, dass ich nicht glaubte, sie fassen zu können.“
Es ließen sich viele weitere Beispiele anführen. In jedem Vorkommnis ereignen sich besondere Aspekte. Die Tugend der Hingabe nimmt so viele verschiedene Formen an, als es Menschen gibt. Es ist unmöglich, außer in sehr allgemeiner Weise abstrakt anzugeben, worin eine Handlung der Hingabe besteht. Oftmals könnte von außen eine Handlung der Hingabe alles andere als hingebungsvoll aussehen. Das dritte Beispiel oben zeigt einen Fall auf, von dem kaum jemand sagen würde, es handle sich um einen Akt der Hingabe. Wir dürfen annehmen, dass eben diese Unterschiedlichkeit, diese Individualität der Art, in der eine Tugend gelebt wird, für alle Tugenden zutrifft. In unseren Gruppen jedenfalls hat sich dies herausgestellt.
Eine weitere Charakteristik betrifft das, was in der Leere wieder erscheint, nachdem das Bild ausgelöscht wurde. In allen Fällen hat der Inhalt dessen, was zurückkommt, keine direkte logische Verbindung mit der Tugend der Hingabe. Aber jedes Mal, wenn dieses Verfahren ausgeführt wurde, erfassten die ausführenden Personen die Tugend der Hingabe in tiefer Weise. Die gleiche Erkenntnis gilt für alle die Tugenden.
Noch eine Charakteristik ist schwieriger zu beschreiben, wenngleich sie das womöglich wichtigste Ergebnis dieses Verfahrens ist. Wenn diese Technik der imaginalen Meditation in Gruppen ausgeführt wurde, wurde dabei ein neues Feld im Raum erschaffen, das nicht vorhanden gewesen war, bevor wir die Meditation gemeinsam machten. Dieses subtil-hintergründige Feld wurde immer dann gefühlt, wenn die Menschen von den Bildern, Gedanken, Einsichten und Gefühlen berichteten, die nach dem Auslöschen der geschaffenen Bilder erschienen; und dieses Feld wurde von jedem gefühlt. Hierbei geht es nicht um irgendetwas Mystisches. Das Phänomen scheint mit der Qualität imaginal spiritueller Welten zu tun zu haben beim Konvergieren dieser mit dem imaginalen bewussten Seelenleben. Die Gegenwart eines solchen Feldes ist transformativer Art und versetzt eine über die Tugend redende Gruppe ins dynamische Feld der Tugend.
Hier endet "Der Umgang mit den Tugenden im eigenen Leben"
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