aus Die Macht der Seele. Wege zum Leben der Monatstugenden
von Robert Sardello Die Tugend des Urteilsvermögens (Diskretion* [Verschwiegenheit] wird zu Meditationskraft - Rudolf Steiner) 21. Januar - 20. Februar |
*Bemerkung des Übersetzers (wer gut Latein kann, weiß das alles schon): Der Leser, dem Rudolf Steiners zwölf Monatstugenden vertraut sind, wird beim Ausdruck "Urteilsvermögen" gestutzt haben. Heißt es doch bei Steiner "Diskretion (Verschwiegenheit) wird zur Meditationskraft." Nicht Urteilsvermögen also, sondern Diskretion beziehungsweise Verschwiegenheit sei die elfte Tugend. . .
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Die Tugend des Urteilsvermögens ist für eine Betrachtung aller zwölf Tugenden besonders wichtig. Wir können uns das Urteilsvermögen als die „Meta-Tugend“ vorstellen. Mit dem Ausdruck „Meta-Tugend“ meine ich eine umfassende Tugend, die alles untermauert, was ihresgleichen ist. Es ist mir nicht um eine Metaphysik beziehungsweise eine Ontologie der Tugend zu tun; ich möchte lediglich hervorheben, dass die Tugend des Urteilsvermögens über ihren eigenen Charakter hinausgeht. Jede der Tugenden enthält ein besonderes Verhältnis zu dem Urteilsvermögen, welches sowohl eine Tugend für sich als auch der Inbegriff geistiger Tugend ist.
Alle spirituellen Traditionen erkannten die Wichtigkeit des Vermögens an, zwischen Geistern zu unterscheiden, die Bedeutung der Fähigkeit, spirituelle Einflüsse ihrem Wesen gemäß exakt zu erkennen. Kann doch etwas, was gut zu sein scheint, in Wirklichkeit etwas Schädliches sein. Die Tugend des Urteilsvermögens erhebt die Tugenden sämtlich auf die Ebene des Spirituellen. Man denke sich das Urteilsvermögen als eine Art „Pfortentugend“, als eine Tugend, durch die sämtliche Tugenden es vermögen, die spirituelle Dimension anzunehmen, zugleich aber auch den nötigen praktischen Belang beizubehalten, um in der Welt tätig zu sein. Durch das Ausüben des Urteilsvermögens verlagert sich das Bewusstseinsniveau, das nötig ist, um alle Tugenden zu leben, auf einen anderen Level.
Alle besitzen wir eine Empfindung dafür, was es heißt, ein Mensch mit Urteilsvermögen zu sein. Es heißt in der Lage sein, das Wichtige und das Oberflächliche auseinanderzuhalten, das Wahre vom Falschen, das Hilfreiche vom Schädlichen zu unterscheiden. Beim Urteilsvermögen handelt es sich nicht um das Durchdenken aller möglichen Alternativen und eventuellen Konsequenzen, das Eine zu wählen und das Andere nicht. Es handelt sich vielmehr um etwas wie einen geistigen Instinkt, der ohne die Einmischung eines verstandesmäßigen Reflektierens funktioniert. Sämtliche Tugenden erfordern Urteilsvermögen: das Urteilsvermögen nämlich, das zu entdecken, was in einem beliebigen Augenblick des Handelns vonnöten ist. Wir wissen, was zu tun ist, und zwar intuitiv. Diese Intuition ist es, die das Urteilsvermögen kennzeichnet: ein Bewusstseinsmodus, der uns nach der Tugend hin im Allgemeinen und speziell in die Tugend hineinorientiert, um die es gerade geht.
Jede Tugend ist von den anderen abhängig und existiert ausschließlich in deren Licht, nie für sich allein. Zugleich enthält jede Tugend die ihr eigenen, einzigartigen Charakterzüge und steht gleichermaßen für sich da. Wird die einzigartige Qualität einer Tugend erfasst und der Zugang zu dieser Tugend gefunden, so findet eine Vertiefung sowohl des Verständnisses als auch der Praxis aller anderen ebenfalls statt. Insofern eine jede Tugend autonom ist und zugleich im Kreise der Zwölf existiert, verlangt ihre Autonomie nach der Fähigkeit des Urteilsvermögens; denn dessen Hauptaspekt besteht im Zusammenführen der Wahrnehmungsfähigkeit für das Separate mit der anderen, der Wahrnehmungsfähigkeit für das Kontinuierliche.
Die herkömmliche Auffassung des Wortes „urteilen“ muss erweitert werden. Normalerweise bedeutet dieses Wort die Fähigkeit, Dinge zu trennen beziehungsweise auseinanderzuhalten, die irrtümlich für zusammengehörig gehalten werden. Das Urteilsvermögen tritt auf um klarzumachen, wie sich die eine Erfahrung, Idee, Wahrnehmung oder innere Verfassung von einer anderen, ihr ähnlich gearteten, unterscheidet. Indem aber das Urteilsvermögen als Tugend die Unterschiede feststellt, behält es zugleich auch die Ähnlichkeiten im Blick.
Ein Beispiel von Urteilsvermögen: Ich gehe zur Arbeit und finde eine Riesenmenge unerledigter Aufgaben vor. Viele dieser Aufgaben erfordern Urteile und Entscheidungen, die das Leben anderer auf Jahre hinaus beeinflussen werden. Ich fühle mich unter Druck und emotional kurz vor dem Platzen. Ich muss nun daran denken können, was andere brauchen und nicht bloß an die Zumutung, die mir diese Arbeit bereitet. Hier sind verschiedene Tugenden gefragt – Gleichgewicht, Selbstlosigkeit, Mitleid, Mut, Geduld. Wie bringe ich jede Tugend im exakt richtigen Moment als Bewussteinsart und in der erforderlichen Weise ins Spiel?
Um das zu tun, denke ich ganz gewiss nicht darüber nach, welche Tugend ich wann anwenden soll. Habe ich aber den Entschluss einmal gefasst, in meinem Leben die Tugenden zu leben, so wird die Tugend des Urteilsvermögens nicht ausbleiben und wird mir das Ausführen der erforderlichen Aufgaben im Verhältnis zu den verlangten Tugenden ermöglichen. Es wird nicht nötig sein, darüber nachzudenken, welche Tugend ich „anwende“. Der geistige Instinkt des Urteilsvermögens ist das lenkende Bewusstsein. Das Urteilsvermögen begründet die Fähigkeit der Seele, viele verschiedene Seeleneigenschaften ohne Widerspruch oder Verwirrung zusammenzuhalten.
Hat man einmal eine Empfindung für den Kosmos der Tugend gewonnen, so besteht auch die Gefahr, dass der besondere, separate Charakter einer jeden Tugend sich in ein undifferenziertes Feld, ein fließendes Einerlei auflöst. Diese zwei Denkarten – die separate und die kontinuierliche – können deshalb nur schwer zusammengehalten werden, weil sie nicht auf derselben Ebene existieren. Das Separatsein kennzeichnet die physische Wirklichkeit – das eine Objekt beziehungsweise Ereignis ist vom anderen getrennt. Die Kontinuität kennzeichnet die Realität von Seele und Geist. Hier überlappt sich z. B. das eine Bild, Gefühl, der eine Gedanke, die eine Vorstellung oder Intuition mit den anderen. Das Urteilsvermögen hat eine starke kontinuierliche Dimension an sich, es ist ein Weg, sich in Reichen zurechtzufinden, in denen das Eine sich mit dem Anderen überlappt, wo sie sich verschränken, wo das Eine das Andere mit einschließt, im Anderen ruht. Das Urteilsvermögen ist unser Transportmittel im Reich der Tugenden.
Unser gewöhnliches Bewusstsein und die ihm entstammende Art zu denken funktionieren auf der Ebene empirischer Dinge und Geschehnisse. Auf dieser Ebene empfindet man das eine Objekt, Ereignis, Erlebnis als von den anderen Objekten, Ereignissen, Erlebnissen unterschieden und getrennt. Wenn es so erscheint, als würde von einem empirischen Vorgang ein Einfluss auf andere empirische Vorgänge ausgeübt, so sucht man den Grund dieses Einflusses im eng gefassten Bereich der Kausalität in der Annahme, dass der eine Bereich den anderen beeinflusst, und zwar als separater empirischer Vorgang, der von außen auf einen anderen separaten, empirischen Vorgang wirkt.
Unser Denken mit Bezug auf die Tugend hat zwar bislang diese Art des Empirismus zu vermeiden gesucht; und doch müssen wir uns damit abfinden, dass wir im alltäglichen Leben auf diese Bewusstseinsart angewiesen sind.
Zwei seelische Eigenschaften müssen wir zusammenhalten, wollen wir zu einer gültigen Wahrnehmung der Qualität der Tugend des Urteilsvermögens gelangen. Abgeschlossensein, Zurückgezogenheit und Offenheit zur gleichen Zeit – das ist eine anfängliche Eigenschaft der Handlung des Urteilsvermögens. Nicht die eine zuerst und anschließend das andere, sondern beide gleichzeitig. Das gewöhnliche Bewusstsein kann eine so widersprüchliche Realität nicht fassen. Nicht bloß Abgeschlossensein und Offenheit, sondern radikales Abgeschlossensein und radikale Offenheit zur gleichen Zeit.
Damit das Urteilsvermögen funktionieren kann, wird von uns verlangt, dass wir innerhalb des Seelenlebens das simultane Gefühl von Abgeschlossensein und Offensein finden. Das zu tun ist einfach: Man betrete die innere Ruhe, und zwar so tief, dass sie zu einer greifbaren, objektiven Qualität wird, dass sie kein bloßes „Stillesein“ mehr ist. Das Stillesein ist weiter nichts als die nötige Vorbedingung um Ruhe zu finden. Das mag auf mehrere Monate meditativen Arbeitens hinauslaufen, indem man täglich zwanzig Minuten lang sich bemüht, diese „Tiefen-Ruhe“ zu finden. Hat man sie einmal gefunden, so wird es eine Finsternis geben. Man arbeite dann daran, in die Ruhe immer tiefer den Eingang zu finden, bis die Finsternis als eine „kosmische“ Finsternis zu erleben ist; das heißt, man trete so tief in sie ein, dass man sie als Reich erlebt und nicht bloß als ein Nichtvorhandensein von etwas. Sind einmal tiefe Ruhe und tiefe Finsternis gefunden worden, so befindet man sich im Innern eines seelischen Raums. Diesen inneren Raum wird man als mit den beiden gleichzeitigen Eigenschaften „Eingeschlossensein“ und „Offenheit“ ausgestattet empfinden.
Wenn Sie sich genügend tief auf eine Sache einlassen und zulassen, dass Sie von dieser einen Sache umschlossen werden, so erreichen Sie einen Punkt, an dem sich dieses extreme Eingeschlossensein auftut und das ganze Universum in dieser einzigen Sache zu finden ist. Dies ist die Funktionsweise der künstlerischen Sensibilität. Der Künstler befasst sich ständig mit einem Einzelnen, Besonderen und akzeptiert, davon umfasst und eingeschränkt zu sein. Indem er aber so tief in ein bestimmtes Gemälde, Gedicht, Musikstück oder in eine sonstige Kunstform hineingeht, wird das Universelle verwirklicht. Radikales Eingeschlossensein ergibt radikale Offenheit, und wenn jemand radikal offen ist und zulässt, dass sein ganzes Wesen das ihm Dargebotene aufnimmt, so erlebt er das Besondere, Einzelne dessen, was er wahrnimmt, fühlt, oder erkennt.
Die wahre Einzigartigkeit einer Sache lässt sich nicht erfahren, wenn wir uns derselben mit vorgefassten Meinungen nähern; alles, was dann wahrzunehmen ist, sind die eigenen, auf die Sache projizierten, vorgefassten Meinungen. Wenn wir an dem Eingeschlossensein und der Offenheit arbeiten, die aus diesen Charakterisierungen hervorgehen, so wird uns klar, dass wenn wir die vollste Empfindung von Offenheit erleben, das eine Erfahrung des Eingeschlossenseins ist. Anders gesagt: Wir werden von der Offenheit umschlossen und vom Eingeschlossensein geöffnet. Ein Gespür zu bekommen für das Zusammenspiel dieser als Eins funktionierenden Widersprüche, ist ein Hauptergebnis des Urteilsvermögens.
Diese verschiedenen Ausführungen der Wörter „Eingeschlossensein“ und „Offenheit“ sind mehr als ein bloßes Wortspiel. Sie sollen uns von unserer landläufigen Vorstellung von Eingeschlossensein und Offensein als zwei getrennten und nicht verwandten Eigenschaften befreien, damit wir beginnen können, uns eine echte Empfindung vom Urteilsvermögen als Erfahrung anzueignen. Wenn wir an der Verbindung dieser beiden Worte und Erfahrungen treu festhalten, so beginnen wir, eine Ahnung von der Empfindungsqualität der Tugend des Urteilsvermögens zu bekommen.
Wenn wir von uns selbst umschlossen sind, so ist es, als wären wir von den Welten außerhalb von uns selbst abgetrennt, das heißt von den geistigen Welten. Dieses Eingeschlossensein ist notwendig. Es verleiht uns einen Sinn für die wahre Transzendenz der oberen beziehungsweise geistigen Welten. Das Eingeschlossensein gewährleistet, dass unsere Erfahrung der geistigen Welten kein bloß subjektives Erlebnis ist. Die geistigen Welten sind objektiv reell, auch wenn sie als innerlich erlebt werden. In dieser Weise sind wir dann am offensten, wenn wir am eingeschlossensten sind, und wenn wir zutiefst umschlossen sind, können die geistigen Reiche durch uns hindurchwirken. Eingeschlossen zu sein heißt also nicht, von anderen oder in uns abgeschlossen zu sein. Es bedeutet, in der Qualität der Seele zu sein; die Innerlichkeit der Dinge zu fühlen; die Dinge von innen und nicht von außen, als Zuschauer, zu sehen.
Diese ausführliche Beschreibung des Prozesses, der Aktivität des Urteilsvermögens ist bisher bestrebt gewesen, auf der Stufe der Tätigkeit selbst zu bleiben. Es ist wichtig, eine Empfindung zu bekommen für den Vorgang in seiner selbständigen Eigenschaft, bevor man ein subjektives Element hinzufügt. Die bisherigen Beschreibungen haben das Ego außen vor gelassen. Wir können jetzt mit der Fragestellung weitergehen, indem wir nach dem Sinn und Zweck des Prozesses fragen und danach, was er tut und wem er dient.
Sich dem Urteilsvermögen zu nähern – so, dass wir es erstens als Vorgang für sich betrachten, um dann erst zu sehen, wie er ins individuelle Leben hineinspielt, ist die sinnvollste Reihenfolge, weil man sich der Tugend als Reich nähern muss, bevor irgend eine bestimmte Tugend ausgeführt werden kann. Wenn wir keinen Sinn dafür haben, dass wir eine andere Daseinsschicht betreten, werden unsere Bemühungen, die Tugenden zu praktizieren, ohne jede Bewusstseinsentwicklung sein. Das Ergebnis wäre, dass die Tugenden zu einem Moralisieren über das Leben würden, statt ein Leben in Harmonie mit der Tiefendimension des Kosmos zu sein.
Lässt sich nun darüber etwas sagen, wie die Tugend des Urteilsvermögens in der Erfahrung des Einzelmenschen wirkt? Gesagt kann werden, dass sie plötzlich geschieht, wie elektrischer Strom; sie verläuft wie ein Moment der Erleuchtung. Bum! Sie ist da und dann wieder fort. Du kannst sie nicht festhalten; sie erscheint und verschwindet im Nu. Ein Augenblick reiner Offenheit gegenüber den geistigen Welten und ein ebenso kurzer Moment des Umschlossenseins. Solche Augenblicke können vorkommen, wenn wir am umschlossensten sind, wenn wir aus unserem ganzen Wesen ein inneres Gefäß machen. Solche Augenblicke kommen dann vor, wenn unser inneres Umschlossensein sich im Rhythmus mit Momenten befindet, in denen wir am offensten sind, in denen wir „ganz weit draußen“ sind in unseren wildesten spirituellen Vorstellungen.
Was unterscheiden wir dann, wenn Urteilsvermögen als Tugend funktioniert und nicht etwa als eine gewöhnliche Handlung, in der man eine Erfahrung von einer anderen unterscheidet? Häufig ist zum Beispiel eine Art Urteilsvermögen erforderlich, um unterscheiden zu können, ob eine bestimmte Emotion die eigene ist oder ob das, was wir fühlen, das Gefühl eines anderen Menschen ist. Wenn ich etwa im Beisein eines anderen Menschen eine plötzliche Welle des Zornes empfinde – ist das mein eigener Zorn, oder gehört er meinem Partner, mit dem ich mich gerade um ein ruhiges Gespräch bemühe, während er äußerst aufgebracht ist? Diese Erfahrung ist zwar eine Art Unterscheidungsvorgang; die Tugend des Urteilsvermögens ist sie aber nicht. Urteilsvermögen verläuft nur dann als Tugend, wenn die spezifische spirituelle Dimension eines Erfahrungsmomentes eintritt. Man könnte sagen, Urteilsvermögen hat immer mit einem Unterscheiden der Geister zu tun. Aber was bedeutet das?
Wenn wir plötzlich und unerwartet einen Geistesblitz erleben, ist diese Erleuchtung spiritueller Art, oder ist sie weiter nichts als mein Geistesblitz, Träger des Anliegens, meine eigenen Wünsche zu fördern? Sollte ich diese Idee verfolgen, sie aufgreifen und ausgestalten? Oder sie angesichts der Tatsache, dass sie ein Erhebliches an Selbstsucht enthält, einfach links liegen lassen? Wie in aller Welt hält man die erste Art der Erfahrung von der zweiten auseinander?
Beide treten in einem scheinbaren Aufleuchten der Einsicht auf. Beide ereignen sich für gewöhnlich im Zuge einer gedehnten Zeit des Nach-Innen-Gehens, der Konzentration, womöglich der Meditation, des Umschlossenseins, welche die Voraussetzung sind für die Offenheit. So geht es bei dem einen Aspekt der Tugend des Urteilsvermögens um das innere Unterscheiden bezüglich der Art der Einsicht, die uns zuteil wurde. Ein weiterer Aspekt hat mit dem Vorgang zu tun, der darin besteht, die Einsicht zu einer tatsächlichen Handlung im eigenen Leben und im Leben der Welt werden zu lassen. Was lässt sich in Bezug auf diese beiden Momente der Tugend des Urteilsvermögens sagen?
Der erste Aspekt der Tugend des Urteilsvermögens, aus der Perspektive des Individuellen gesehen – also danach betrachtet, wie sie uns als Einzelpersonen tangiert –, hat mit dem Wesen der Einsichten zu tun, die uns kommen. Diese Einsichten können als spirituell empfangen werden oder aber als würden sie von unserer eigenen „Brillanz“ herrühren. Sofern es spirituelle Einsichten sind, sind sie eher so etwas wie Besuche aus dem Geistigen, wobei wir, zumal in unserem Umschlossensein, die Empfänger dieser offenen Opfergabe aus den geistigen Welten sind. Spirituelle Einsicht bedeutet jedoch nicht, dass wir Medien für die Geister werden. Spirituelle Einsichten treten mit höherer Intensität des Bewusstseins auf. Medialität dagegen erfordert eine Lockerung der Bewusstseinsintensität. Wenn die Einsichten „brillant“ sind, so halten wir die Erleuchtung für die Frucht des eigenen Tuns; wir trachten danach, sie zu besitzen und festzuhalten und sie zu unseren eigenen Zwecken zu nutzen. Oder wenn eine „brillante“ Einsicht kommt, halten wir sie für etwas, das für uns vorbestimmt ist, das wir zusammenraffen und für uns selbst einsetzen sollen. Häufig aber ist der Eigennutz „brillanter“ Ideen nicht so deutlich; der Geistesblitz kann uns wie etwas vorkommen, das wir in die Welt hineintragen können, um anderen damit Gutes zu tun.
Die „genialen“ Ideen der Wissenschaftler sind sehr häufig von dieser Art. Der erste Augenblick der Tugend des Urteilsvermögens bittet uns, bei uns selbst zu unterscheiden, ob wir ein erleuchteter Mensch oder ein brillanter Denker sind. So mag es also den Anschein haben, als bezöge sich diese Tugend bloß auf diejenigen, die mit den Gaben und Lastern hoher Intelligenz ausgestattet sind; dem ist aber nicht so. Alle müssen wir diese Frage des Unterschiedes zwischen Erleuchtung und Genialität in einer oder mehreren Sphären unseres Lebens erleiden. Brillanz kennzeichnet die Fähigkeit, Gedanken so zu kombinieren, dass alles sich dem anpasst, wie ich die Dinge sehen will. Die Erleuchtung interessiert sich ausschließlich dafür, der spirituellen Intelligenz zu dienen, die der Ursprung der Einsicht ist; eine Einsicht, die dem dient, was sie will und nicht dem, was ich will.
Das zweite Moment des Urteilsvermögens ist mit der Art und Weise verbunden, wie die Erleuchtung aus der Sphäre einer Art Offenbarung heraus- und in eine Tätigkeit in der Welt hineingetragen wird. Dieses zweite Moment ist mit dem ersten intim verflochten. Wenn die Erleuchtung zu Recht dem Wirken von etwas zugeschrieben wird, was jenseits meiner eigenen Intelligenz liegt, einer kosmischen Intelligenz, so könnte es scheinen, als müsste sie dort bleiben. Mit welchem Recht suche ich, sie zur Bezogenheit auf die Dinge der irdischen Welt zu zwingen? Eine solche Haltung schafft aber eine absolute Trennung zwischen der irdischen Welt und den spirituellen Welten.
Indem man diese Situation dem Urteilsvermögen überlässt, darf die kosmische Intelligenz die Beschränkungen der individuellen Intelligenz durchspielen. Die beiden dürfen aber nicht getrennt werden. Die heutige Wissenschaft zum Beispiel lässt eine solche Trennung zu. In dieser Weise führen Momente wahrer Erleuchtung – die durch tiefe meditative Zustände erlangt wurden, indem man sich lange Zeit auf ein Problem konzentrierte – zu Entdeckungen, die unmittelbar praktisch umgesetzt werden. Die Erleuchtung wird nie einer spirituellen Welt zugeschrieben. Das Urteilsvermögen wird nicht einmal angesprochen. Die Kardinalfragen werden niemals gestellt: Woher stammt diese Einsicht? Was will sie?
Eine wahrhaft intelligente Weise, mit einer Erleuchtung, einem Geistesblitz zu arbeiten, besteht darin, sie aktiv dorthin zurückzugeben, woher sie erst stammte. Vielen Dank für die Einsicht. Ich gebe sie an dich, den wahren Urheber, zurück. Lass sie noch eine Weile bruzzeln. Allein schon die Tatsache, dass sie meinem Bewusstsein erschienen ist, hat das verändert, was ich tue. Soll das etwa heißen, dass die Einsicht keine praktische Anwendung finden darf? Auf gar keinen Fall darf eine solche Anwendung willkürlich sein. Und aus eigenen Stücken angewandt wird eine jede Anwendung, egal welche anscheinend humanen Werte im Spiel sind, wahllos sein. Hier, auf der Ebene der eigenen Ressourcen, lässt sich nur von Gradierungen der Wahllosigkeit sprechen.
Diese unglückliche Spannweite der Wahlmöglichkeiten ist auf die Tatsache zurückzuführen, dass wenn die Erleuchtung von der Intelligenz getrennt wird, man es nur mit der Hälfte des Ganzen zu tun bekommt. Die Tugend des Urteilsvermögens erfordert, dass auf Schritt und Tritt mit dem Ganzen gearbeitet werde.
Oben wurde ein zentraler Teil des Unterscheidungsprozesses folgendermaßen charakterisieren: Wir erkennen den Ursprung unserer tiefsten Einsichten an und geben sie an diesen Ursprung zurück, anstatt unmittelbar ihre Anwendung im Leben anzustreben. Dieser Aspekt des Urteilsvermögens bedarf der Klärung. Dieser Vorgang ist die alchemistische Art des Urteilsvermögens. In der Alchemie wurde, wenn eine Substanz in einem hermetischen Gefäß erhitzt wurde, diese Substanz zunächst in eine Flüssigkeit verwandelt, welche sodann als Dampf im Gefäß aufstieg. Das hermetische Gefäß war aber so geformt, dass sich das Destillat in sich selbst zurückwendete und der Substanz am Boden des Gefäßes zurückgegeben wurde; von wo aus es erneut erhitzt und so immer und immer wieder in Kreislauf gebracht wurde. Eine bestimmte Version dieses Gefäßes hieß der „Pelikan“, da es dem sich opfernden, sich selbst verwundenden Pelikan ähnelte, der den Hals krümmt und die eigene Brust durchsticht, um die Jungtiere mit dem eigenen Blut zu ernähren. Die alchemistische Art des Urteilsvermögens folgt dieser Art des Prozesses, das im Hereinholen einer Einsicht besteht, die man an die spirituelle Welt zurückgibt, sie erneut hereinholt und zurückgibt, und so immer und immer weiter. Das Zirkulieren und Neu-Zirkulieren der Einsicht in dieser Weise macht einen Vorgang der Läuterung aus, ein dem Urteilsvermögen absolut unerlässliches Verfahren.
Dieser Rezirkulations-Prozess dehnt den Unterscheidungsmoment selbst in die Länge, was oben als die widersprüchliche Gleichzeitigkeit von Offenheit und Umschlossensein beschrieben wurde. Es sollen für eine Weile die zwei Aspekte Offenheit und Umschlossensein, wie im hermetischen Gefäß, gleichsam getrennt werden, ebenso wie in der Alchemie die Gerinnung von der Auflösung getrennt ist. So gibt es beim Urteilsvermögen ein momentanes Licht der Erleuchtung oder aber der Brillanz. Es ist eine Intelligenz am Werk. Halten wir sie für eine Erleuchtung von oben, so bleibt es oben. Halten wir sie für unser eigenes Erzeugnis, so verfügen wir nicht über die Art von Intelligenz, die wir brauchen, um im Leben, beziehungsweise in der Welt die Einsicht anzuwenden, und dabei nicht die spirituelle Erleuchtung auf eine selbstbezogene, egomane persönliche Vorstellung zu reduzieren.
Es ist zwischen den zwei Momenten der Einsicht, den zwei Ebenen, auf denen sie vor sich geht, eine Kreislaufbewegung erforderlich. Um den ganzen Prozess des Urteilsvermögens mit der Begrifflichkeit der Alchemie zum Ausdruck zu bringen: Was eines war (Erleuchtung) wird zur Zwei (Erleuchtung, Intelligenz); welches dann zur Drei wird (Erleuchtung, Intelligenz, Intelligenz in Erleuchtung zurückverwandelt); was wiederum zur Vier wird (Urteilsvermögen).
Ein interessantes Beispiel für ein ins Wahllose geratenes Urteilsvermögen findet man in der Arbeit des William Crookes (1832-1919). Dieses Beispiel ist zwar eines von Tausenden, auf die im Feld der Wissenschaft hingewiesen werden könnte; zugleich deutet es aber auch darauf hin, was in persönlicherer Weise tagtäglich in unserem Leben vor sich geht. William Crookes war der Erfinder der Kathodenstrahlröhre, welche alles ermöglicht hat, was wir heute im Bereich des Fernsehens, Computers, Radars und jeglicher elektronischer Gerate, haben die von dieser Technologie des Vakuums, der Kathodenstrahlröhre abhängt. Seine Forschung war auch der Ausgangspunkt des langen Forschungsfadens, der letztlich in der Entfesselung der Atomenergie gegipfelt hat.
Weniger bekannt ist die Tatsache, dass die wissenschaftliche Forschungsarbeit Crookes‘ durch den Verlust eines von ihm sehr geliebten Bruders in Gang gesetzt wurde. Beim Anblick des Leichnams seines Bruders kam Crookes auf die Fragen, ob das Leben des Geistes nach dem Tode fortgesetzt wird, ob eine Verbindung zu einem solchen Reich gefunden und hergestellt werden könne, und wie dieses Leben in der irdischen Welt offenbaren würde. Er führte mit Spiritisten, und insbesondere mit einem gewissen Daniel Douglas Home, eine Reihe wissenschaftlicher Experimente aus. Diese Versuche überzeugten Crookes davon, dass er eine neue Energieform entdeckt hätte, welche er als „psychische Kraft“ bezeichnete. Diese Kraft zeigte sich als einer der Schwerkraft entgegengesetzten Bewegung fähig, vermochte, Gegenstände in Bewegung zu setzen, Schall und Licht ohne wahrnehmbaren Quell zu erzeugen.
Crookes‘ wissenschaftliche Forschungen der Phänomene des Spiritismus wurden von den zeitgenössischen Wissenschaftlern rundweg zurückgewiesen. Er ließ von der direkten Forschungsarbeit in diesem Feld ab und setzte die Arbeit im Bereich der Elektrizität fort. In seinen nachfolgenden Forschungen blieb er aber fortan gewissermaßen ein Spiritist. Er wies zum Beispiel darauf hin, dass er sich von den merkwürdigen Wirkungen angezogen fühlte, die dann entstehen, wenn elektrischer Strom durch verdünntes Gas hindurchgeschickt wird; das erinnere ihn an bestimmte Leuchtphänomene, die er im Lauf seiner spiritistischen Forschungen beobachtet habe. Diese letzteren Experimente führten ihn zur Entdeckung der Kathodenstrahlröhre. Crookes hielt das Wesen der Kathodenstrahlen für zweierlei Art – sie seien sowohl materiell als auch übermateriell. Er nannte diese Strahlen „strahlende Materie“ oder „Materie des vierten Aggregatzustandes“. Von diesen Strahlen sagte Crookes:
Es hat sich gezeigt, dass in manchen ihrer Eigenschaften die strahlende Materie so stofflich ist wie dieser Tisch, während hingegen in anderen sie beinahe die Eigenschaft strahlender Energie annimmt. Hier berühren wir tatsächlich den Grenzbereich, wo Materie und Kraft ineinander überzugehen scheinen, das schattenhafte Reich zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten, welches für mich immer einen besonderen Reiz hatte… Ich wage zu denken, dass die größten wissenschaftlichen Probleme der Zukunft in diesem Grenzbereich und gar jenseits davon ihre Lösungen finden werden; hier liegen, wie mir scheint, die letzten Wirklichkeiten, sublimiert, weitreichend, wundervoll.
Diese Entwicklungslinie zeigt ein Fehlen des Urteilsvermögens. Das Bedürfnis nach Urteilsvermögen begann für Crookes schon am Bett des verstorbenen Bruders. Da trat für ihn eine Art Erleuchtung auf: was geschieht nach dem Tode? Diese Frage kam Crookes mit Macht. Daraufhin interessierte er sich für Spiritismus, der sich zu jener Zeit als das Erscheinen von Phantomwesen im Nebel am Séance-Tisch, das Klopfen auf Tische, das Sich-Bewegen von Gegenständen im Raum der Séance äußerte. Das Bedürfnis nach Urteilsvermögen wurde aber noch größer: gibt es einen Unterschied zwischen wahrer spiritueller Existenz und materiellen Erscheinungsformen geistigen Lebens? Das war die Frage, die es festzuhalten und zu meditieren gegolten hätte.
Der erleuchtende Augenblick, in dem Crookes die Einsicht zuteil wurde, dass die Verstorbenen noch immer an den Angelegenheiten der Erde beteiligt sein könnten, wurde mit der Erforschung der Kathodenstrahlen und der Erfindung der Kathodenstrahlröhre zu einer genialen Idee. Das ganze Feld der Beziehung zwischen Lebenden und Verstorbenen wurde zu einer Form des Materialismus degradiert. Hätte Urteilsvermögen obwaltet, so war die anfängliche Einsicht, die es galt in meditativer Form an die spirituelle Welt zurückzugeben, die lebendige Frage gewesen: Was ist das Verhältnis zwischen den Lebenden und denen, die verstorben sind? Diese ursprüngliche, erleuchtende Frage wurde stattdessen von Crookes für den Geistesblitz gehalten, dass Licht und elektrischer Strom irgendwie Manifestationen der Toten sind. Diese Idee fand dann weitere Anwendung in Form der Kathodenstrahlröhre.
Tausende von Menschen weltweit sind nach wie vor der Meinung, dass spirituelle Energie elektrischer Art sei, beziehungsweise dass sie sich in materieller Form der einen oder der anderen Art manifestiere, von Radiowellen bis hin zur elektrischen Aktivität des Körpers. Als Beispiel hält man etwa die Kirlianfotographie für die Aura, das geistige Licht des Menschen. In Wirklichkeit ist es aber die elektrische Körpertätigkeit des Menschen, die fotografiert wird.
Hinzu kommt, dass paradoxerweise die Forschungsarbeit Crookes‘, die zum Projekt der Atombombe geführt hat, der Welt nicht etwa die Möglichkeit einer Verbindung zwischen Lebenden und Verstorbenen gebracht hat, sondern Todeskräfte mit denkbar hohem Zerstörungspotential. Seine spirituellen Forschungen haben sich so ausgewirkt, dass sie in der Welt nicht nur große Verwirrung bezüglich des Wesens der geistigen Realität, sondern auch eine Steigerung der Kräfte des Todes herbeigeführt haben.
Eine so einseitig negative Betrachtung der Arbeit von Crookes deutet ebenfalls auf einen Mangel an Urteilsvermögen hin. Was ist denn mit all den positiven Entwicklungen, die aus den Forschungen Crookes‘ hervorgegangen sind? William Crookes kann man wohl den Vater der Informationsrevolution nennen. Ohne ihn hätten wir kein Fernsehen, keine Computerschirme, kein Radar; auch viele der heutigen medizinischen Geräte hätten wir nicht und uns fehlten die vielen wertvollen Forschungsergebnisse der Atomwissenschaft.
Beim Erzählen der Geschichte von Crookes geht es uns nicht darum, festzustellen, dass er Unrecht hatte und dass das, was er tat, böse war und nicht hätte geschehen dürfen. Geschehen ist es eben, und somit nehmen die Aufgaben des Urteilsvermögens neue Formen an. Wir müssen nunmehr daran arbeiten, echte Spiritualität von simulierter Spiritualität zu unterscheiden. Wir müssen zum Beispiel das Wahrnehmungsvermögen besitzen, um sehen zu können, dass Elektrotechnik eine Art simulierter Spiritualität ist und dass deren ungeheuer große Anziehungskraft in der heutigen Zeit vielleicht in einem tiefgreifenden geistigen Verlangen urständet. Dank dieser Technologie vermögen wir sofort vor Gedanken, Informationen, Bildern zu stehen; auch scheint sie die Erleichterung von Belastungen zu versprechen, indem sie Genuss und Erfüllung spendet. Vielleicht sind wir dazu aufgerufen, dieses Verlangen aus seiner verfehlten Platzierung herauszuholen, damit es in einer Art erforscht werden kann, die denjenigen Wirklichkeiten angemessen ist, von welchen das Verlangen erst ausgelöst wird. Urteilsvermögen ist wahrhaftig die Tugend unserer Zeit, eine innere Haupteigenschaft, die von uns allen verlangt wird. Das, was sich für William Crookes ereignete, ist emblematisch für das, womit jeder von uns als ständige Herausforderung konfrontiert ist, nämlich spirituelle Einsichten so zu empfangen, dass wir solche Erleuchtungen nicht ausschließlich unserer eigenen Tätigkeit verdanken, und dennoch die Verantwortung für sie zu übernehmen und sie in spiritueller Weise in die Welt hineinzutragen lernen.
Hier endet Die Tugend des Urteilsvermögens
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The Power of Soul. Living the Twelve Virtues ist bei Goldenstone Press zu erwerben.
Alle spirituellen Traditionen erkannten die Wichtigkeit des Vermögens an, zwischen Geistern zu unterscheiden, die Bedeutung der Fähigkeit, spirituelle Einflüsse ihrem Wesen gemäß exakt zu erkennen. Kann doch etwas, was gut zu sein scheint, in Wirklichkeit etwas Schädliches sein. Die Tugend des Urteilsvermögens erhebt die Tugenden sämtlich auf die Ebene des Spirituellen. Man denke sich das Urteilsvermögen als eine Art „Pfortentugend“, als eine Tugend, durch die sämtliche Tugenden es vermögen, die spirituelle Dimension anzunehmen, zugleich aber auch den nötigen praktischen Belang beizubehalten, um in der Welt tätig zu sein. Durch das Ausüben des Urteilsvermögens verlagert sich das Bewusstseinsniveau, das nötig ist, um alle Tugenden zu leben, auf einen anderen Level.
Alle besitzen wir eine Empfindung dafür, was es heißt, ein Mensch mit Urteilsvermögen zu sein. Es heißt in der Lage sein, das Wichtige und das Oberflächliche auseinanderzuhalten, das Wahre vom Falschen, das Hilfreiche vom Schädlichen zu unterscheiden. Beim Urteilsvermögen handelt es sich nicht um das Durchdenken aller möglichen Alternativen und eventuellen Konsequenzen, das Eine zu wählen und das Andere nicht. Es handelt sich vielmehr um etwas wie einen geistigen Instinkt, der ohne die Einmischung eines verstandesmäßigen Reflektierens funktioniert. Sämtliche Tugenden erfordern Urteilsvermögen: das Urteilsvermögen nämlich, das zu entdecken, was in einem beliebigen Augenblick des Handelns vonnöten ist. Wir wissen, was zu tun ist, und zwar intuitiv. Diese Intuition ist es, die das Urteilsvermögen kennzeichnet: ein Bewusstseinsmodus, der uns nach der Tugend hin im Allgemeinen und speziell in die Tugend hineinorientiert, um die es gerade geht.
Jede Tugend ist von den anderen abhängig und existiert ausschließlich in deren Licht, nie für sich allein. Zugleich enthält jede Tugend die ihr eigenen, einzigartigen Charakterzüge und steht gleichermaßen für sich da. Wird die einzigartige Qualität einer Tugend erfasst und der Zugang zu dieser Tugend gefunden, so findet eine Vertiefung sowohl des Verständnisses als auch der Praxis aller anderen ebenfalls statt. Insofern eine jede Tugend autonom ist und zugleich im Kreise der Zwölf existiert, verlangt ihre Autonomie nach der Fähigkeit des Urteilsvermögens; denn dessen Hauptaspekt besteht im Zusammenführen der Wahrnehmungsfähigkeit für das Separate mit der anderen, der Wahrnehmungsfähigkeit für das Kontinuierliche.
Die herkömmliche Auffassung des Wortes „urteilen“ muss erweitert werden. Normalerweise bedeutet dieses Wort die Fähigkeit, Dinge zu trennen beziehungsweise auseinanderzuhalten, die irrtümlich für zusammengehörig gehalten werden. Das Urteilsvermögen tritt auf um klarzumachen, wie sich die eine Erfahrung, Idee, Wahrnehmung oder innere Verfassung von einer anderen, ihr ähnlich gearteten, unterscheidet. Indem aber das Urteilsvermögen als Tugend die Unterschiede feststellt, behält es zugleich auch die Ähnlichkeiten im Blick.
Ein Beispiel von Urteilsvermögen: Ich gehe zur Arbeit und finde eine Riesenmenge unerledigter Aufgaben vor. Viele dieser Aufgaben erfordern Urteile und Entscheidungen, die das Leben anderer auf Jahre hinaus beeinflussen werden. Ich fühle mich unter Druck und emotional kurz vor dem Platzen. Ich muss nun daran denken können, was andere brauchen und nicht bloß an die Zumutung, die mir diese Arbeit bereitet. Hier sind verschiedene Tugenden gefragt – Gleichgewicht, Selbstlosigkeit, Mitleid, Mut, Geduld. Wie bringe ich jede Tugend im exakt richtigen Moment als Bewussteinsart und in der erforderlichen Weise ins Spiel?
Um das zu tun, denke ich ganz gewiss nicht darüber nach, welche Tugend ich wann anwenden soll. Habe ich aber den Entschluss einmal gefasst, in meinem Leben die Tugenden zu leben, so wird die Tugend des Urteilsvermögens nicht ausbleiben und wird mir das Ausführen der erforderlichen Aufgaben im Verhältnis zu den verlangten Tugenden ermöglichen. Es wird nicht nötig sein, darüber nachzudenken, welche Tugend ich „anwende“. Der geistige Instinkt des Urteilsvermögens ist das lenkende Bewusstsein. Das Urteilsvermögen begründet die Fähigkeit der Seele, viele verschiedene Seeleneigenschaften ohne Widerspruch oder Verwirrung zusammenzuhalten.
Hat man einmal eine Empfindung für den Kosmos der Tugend gewonnen, so besteht auch die Gefahr, dass der besondere, separate Charakter einer jeden Tugend sich in ein undifferenziertes Feld, ein fließendes Einerlei auflöst. Diese zwei Denkarten – die separate und die kontinuierliche – können deshalb nur schwer zusammengehalten werden, weil sie nicht auf derselben Ebene existieren. Das Separatsein kennzeichnet die physische Wirklichkeit – das eine Objekt beziehungsweise Ereignis ist vom anderen getrennt. Die Kontinuität kennzeichnet die Realität von Seele und Geist. Hier überlappt sich z. B. das eine Bild, Gefühl, der eine Gedanke, die eine Vorstellung oder Intuition mit den anderen. Das Urteilsvermögen hat eine starke kontinuierliche Dimension an sich, es ist ein Weg, sich in Reichen zurechtzufinden, in denen das Eine sich mit dem Anderen überlappt, wo sie sich verschränken, wo das Eine das Andere mit einschließt, im Anderen ruht. Das Urteilsvermögen ist unser Transportmittel im Reich der Tugenden.
Unser gewöhnliches Bewusstsein und die ihm entstammende Art zu denken funktionieren auf der Ebene empirischer Dinge und Geschehnisse. Auf dieser Ebene empfindet man das eine Objekt, Ereignis, Erlebnis als von den anderen Objekten, Ereignissen, Erlebnissen unterschieden und getrennt. Wenn es so erscheint, als würde von einem empirischen Vorgang ein Einfluss auf andere empirische Vorgänge ausgeübt, so sucht man den Grund dieses Einflusses im eng gefassten Bereich der Kausalität in der Annahme, dass der eine Bereich den anderen beeinflusst, und zwar als separater empirischer Vorgang, der von außen auf einen anderen separaten, empirischen Vorgang wirkt.
Unser Denken mit Bezug auf die Tugend hat zwar bislang diese Art des Empirismus zu vermeiden gesucht; und doch müssen wir uns damit abfinden, dass wir im alltäglichen Leben auf diese Bewusstseinsart angewiesen sind.
Zwei seelische Eigenschaften müssen wir zusammenhalten, wollen wir zu einer gültigen Wahrnehmung der Qualität der Tugend des Urteilsvermögens gelangen. Abgeschlossensein, Zurückgezogenheit und Offenheit zur gleichen Zeit – das ist eine anfängliche Eigenschaft der Handlung des Urteilsvermögens. Nicht die eine zuerst und anschließend das andere, sondern beide gleichzeitig. Das gewöhnliche Bewusstsein kann eine so widersprüchliche Realität nicht fassen. Nicht bloß Abgeschlossensein und Offenheit, sondern radikales Abgeschlossensein und radikale Offenheit zur gleichen Zeit.
Damit das Urteilsvermögen funktionieren kann, wird von uns verlangt, dass wir innerhalb des Seelenlebens das simultane Gefühl von Abgeschlossensein und Offensein finden. Das zu tun ist einfach: Man betrete die innere Ruhe, und zwar so tief, dass sie zu einer greifbaren, objektiven Qualität wird, dass sie kein bloßes „Stillesein“ mehr ist. Das Stillesein ist weiter nichts als die nötige Vorbedingung um Ruhe zu finden. Das mag auf mehrere Monate meditativen Arbeitens hinauslaufen, indem man täglich zwanzig Minuten lang sich bemüht, diese „Tiefen-Ruhe“ zu finden. Hat man sie einmal gefunden, so wird es eine Finsternis geben. Man arbeite dann daran, in die Ruhe immer tiefer den Eingang zu finden, bis die Finsternis als eine „kosmische“ Finsternis zu erleben ist; das heißt, man trete so tief in sie ein, dass man sie als Reich erlebt und nicht bloß als ein Nichtvorhandensein von etwas. Sind einmal tiefe Ruhe und tiefe Finsternis gefunden worden, so befindet man sich im Innern eines seelischen Raums. Diesen inneren Raum wird man als mit den beiden gleichzeitigen Eigenschaften „Eingeschlossensein“ und „Offenheit“ ausgestattet empfinden.
Wenn Sie sich genügend tief auf eine Sache einlassen und zulassen, dass Sie von dieser einen Sache umschlossen werden, so erreichen Sie einen Punkt, an dem sich dieses extreme Eingeschlossensein auftut und das ganze Universum in dieser einzigen Sache zu finden ist. Dies ist die Funktionsweise der künstlerischen Sensibilität. Der Künstler befasst sich ständig mit einem Einzelnen, Besonderen und akzeptiert, davon umfasst und eingeschränkt zu sein. Indem er aber so tief in ein bestimmtes Gemälde, Gedicht, Musikstück oder in eine sonstige Kunstform hineingeht, wird das Universelle verwirklicht. Radikales Eingeschlossensein ergibt radikale Offenheit, und wenn jemand radikal offen ist und zulässt, dass sein ganzes Wesen das ihm Dargebotene aufnimmt, so erlebt er das Besondere, Einzelne dessen, was er wahrnimmt, fühlt, oder erkennt.
Die wahre Einzigartigkeit einer Sache lässt sich nicht erfahren, wenn wir uns derselben mit vorgefassten Meinungen nähern; alles, was dann wahrzunehmen ist, sind die eigenen, auf die Sache projizierten, vorgefassten Meinungen. Wenn wir an dem Eingeschlossensein und der Offenheit arbeiten, die aus diesen Charakterisierungen hervorgehen, so wird uns klar, dass wenn wir die vollste Empfindung von Offenheit erleben, das eine Erfahrung des Eingeschlossenseins ist. Anders gesagt: Wir werden von der Offenheit umschlossen und vom Eingeschlossensein geöffnet. Ein Gespür zu bekommen für das Zusammenspiel dieser als Eins funktionierenden Widersprüche, ist ein Hauptergebnis des Urteilsvermögens.
Diese verschiedenen Ausführungen der Wörter „Eingeschlossensein“ und „Offenheit“ sind mehr als ein bloßes Wortspiel. Sie sollen uns von unserer landläufigen Vorstellung von Eingeschlossensein und Offensein als zwei getrennten und nicht verwandten Eigenschaften befreien, damit wir beginnen können, uns eine echte Empfindung vom Urteilsvermögen als Erfahrung anzueignen. Wenn wir an der Verbindung dieser beiden Worte und Erfahrungen treu festhalten, so beginnen wir, eine Ahnung von der Empfindungsqualität der Tugend des Urteilsvermögens zu bekommen.
Wenn wir von uns selbst umschlossen sind, so ist es, als wären wir von den Welten außerhalb von uns selbst abgetrennt, das heißt von den geistigen Welten. Dieses Eingeschlossensein ist notwendig. Es verleiht uns einen Sinn für die wahre Transzendenz der oberen beziehungsweise geistigen Welten. Das Eingeschlossensein gewährleistet, dass unsere Erfahrung der geistigen Welten kein bloß subjektives Erlebnis ist. Die geistigen Welten sind objektiv reell, auch wenn sie als innerlich erlebt werden. In dieser Weise sind wir dann am offensten, wenn wir am eingeschlossensten sind, und wenn wir zutiefst umschlossen sind, können die geistigen Reiche durch uns hindurchwirken. Eingeschlossen zu sein heißt also nicht, von anderen oder in uns abgeschlossen zu sein. Es bedeutet, in der Qualität der Seele zu sein; die Innerlichkeit der Dinge zu fühlen; die Dinge von innen und nicht von außen, als Zuschauer, zu sehen.
Diese ausführliche Beschreibung des Prozesses, der Aktivität des Urteilsvermögens ist bisher bestrebt gewesen, auf der Stufe der Tätigkeit selbst zu bleiben. Es ist wichtig, eine Empfindung zu bekommen für den Vorgang in seiner selbständigen Eigenschaft, bevor man ein subjektives Element hinzufügt. Die bisherigen Beschreibungen haben das Ego außen vor gelassen. Wir können jetzt mit der Fragestellung weitergehen, indem wir nach dem Sinn und Zweck des Prozesses fragen und danach, was er tut und wem er dient.
Sich dem Urteilsvermögen zu nähern – so, dass wir es erstens als Vorgang für sich betrachten, um dann erst zu sehen, wie er ins individuelle Leben hineinspielt, ist die sinnvollste Reihenfolge, weil man sich der Tugend als Reich nähern muss, bevor irgend eine bestimmte Tugend ausgeführt werden kann. Wenn wir keinen Sinn dafür haben, dass wir eine andere Daseinsschicht betreten, werden unsere Bemühungen, die Tugenden zu praktizieren, ohne jede Bewusstseinsentwicklung sein. Das Ergebnis wäre, dass die Tugenden zu einem Moralisieren über das Leben würden, statt ein Leben in Harmonie mit der Tiefendimension des Kosmos zu sein.
Lässt sich nun darüber etwas sagen, wie die Tugend des Urteilsvermögens in der Erfahrung des Einzelmenschen wirkt? Gesagt kann werden, dass sie plötzlich geschieht, wie elektrischer Strom; sie verläuft wie ein Moment der Erleuchtung. Bum! Sie ist da und dann wieder fort. Du kannst sie nicht festhalten; sie erscheint und verschwindet im Nu. Ein Augenblick reiner Offenheit gegenüber den geistigen Welten und ein ebenso kurzer Moment des Umschlossenseins. Solche Augenblicke können vorkommen, wenn wir am umschlossensten sind, wenn wir aus unserem ganzen Wesen ein inneres Gefäß machen. Solche Augenblicke kommen dann vor, wenn unser inneres Umschlossensein sich im Rhythmus mit Momenten befindet, in denen wir am offensten sind, in denen wir „ganz weit draußen“ sind in unseren wildesten spirituellen Vorstellungen.
Was unterscheiden wir dann, wenn Urteilsvermögen als Tugend funktioniert und nicht etwa als eine gewöhnliche Handlung, in der man eine Erfahrung von einer anderen unterscheidet? Häufig ist zum Beispiel eine Art Urteilsvermögen erforderlich, um unterscheiden zu können, ob eine bestimmte Emotion die eigene ist oder ob das, was wir fühlen, das Gefühl eines anderen Menschen ist. Wenn ich etwa im Beisein eines anderen Menschen eine plötzliche Welle des Zornes empfinde – ist das mein eigener Zorn, oder gehört er meinem Partner, mit dem ich mich gerade um ein ruhiges Gespräch bemühe, während er äußerst aufgebracht ist? Diese Erfahrung ist zwar eine Art Unterscheidungsvorgang; die Tugend des Urteilsvermögens ist sie aber nicht. Urteilsvermögen verläuft nur dann als Tugend, wenn die spezifische spirituelle Dimension eines Erfahrungsmomentes eintritt. Man könnte sagen, Urteilsvermögen hat immer mit einem Unterscheiden der Geister zu tun. Aber was bedeutet das?
Wenn wir plötzlich und unerwartet einen Geistesblitz erleben, ist diese Erleuchtung spiritueller Art, oder ist sie weiter nichts als mein Geistesblitz, Träger des Anliegens, meine eigenen Wünsche zu fördern? Sollte ich diese Idee verfolgen, sie aufgreifen und ausgestalten? Oder sie angesichts der Tatsache, dass sie ein Erhebliches an Selbstsucht enthält, einfach links liegen lassen? Wie in aller Welt hält man die erste Art der Erfahrung von der zweiten auseinander?
Beide treten in einem scheinbaren Aufleuchten der Einsicht auf. Beide ereignen sich für gewöhnlich im Zuge einer gedehnten Zeit des Nach-Innen-Gehens, der Konzentration, womöglich der Meditation, des Umschlossenseins, welche die Voraussetzung sind für die Offenheit. So geht es bei dem einen Aspekt der Tugend des Urteilsvermögens um das innere Unterscheiden bezüglich der Art der Einsicht, die uns zuteil wurde. Ein weiterer Aspekt hat mit dem Vorgang zu tun, der darin besteht, die Einsicht zu einer tatsächlichen Handlung im eigenen Leben und im Leben der Welt werden zu lassen. Was lässt sich in Bezug auf diese beiden Momente der Tugend des Urteilsvermögens sagen?
Der erste Aspekt der Tugend des Urteilsvermögens, aus der Perspektive des Individuellen gesehen – also danach betrachtet, wie sie uns als Einzelpersonen tangiert –, hat mit dem Wesen der Einsichten zu tun, die uns kommen. Diese Einsichten können als spirituell empfangen werden oder aber als würden sie von unserer eigenen „Brillanz“ herrühren. Sofern es spirituelle Einsichten sind, sind sie eher so etwas wie Besuche aus dem Geistigen, wobei wir, zumal in unserem Umschlossensein, die Empfänger dieser offenen Opfergabe aus den geistigen Welten sind. Spirituelle Einsicht bedeutet jedoch nicht, dass wir Medien für die Geister werden. Spirituelle Einsichten treten mit höherer Intensität des Bewusstseins auf. Medialität dagegen erfordert eine Lockerung der Bewusstseinsintensität. Wenn die Einsichten „brillant“ sind, so halten wir die Erleuchtung für die Frucht des eigenen Tuns; wir trachten danach, sie zu besitzen und festzuhalten und sie zu unseren eigenen Zwecken zu nutzen. Oder wenn eine „brillante“ Einsicht kommt, halten wir sie für etwas, das für uns vorbestimmt ist, das wir zusammenraffen und für uns selbst einsetzen sollen. Häufig aber ist der Eigennutz „brillanter“ Ideen nicht so deutlich; der Geistesblitz kann uns wie etwas vorkommen, das wir in die Welt hineintragen können, um anderen damit Gutes zu tun.
Die „genialen“ Ideen der Wissenschaftler sind sehr häufig von dieser Art. Der erste Augenblick der Tugend des Urteilsvermögens bittet uns, bei uns selbst zu unterscheiden, ob wir ein erleuchteter Mensch oder ein brillanter Denker sind. So mag es also den Anschein haben, als bezöge sich diese Tugend bloß auf diejenigen, die mit den Gaben und Lastern hoher Intelligenz ausgestattet sind; dem ist aber nicht so. Alle müssen wir diese Frage des Unterschiedes zwischen Erleuchtung und Genialität in einer oder mehreren Sphären unseres Lebens erleiden. Brillanz kennzeichnet die Fähigkeit, Gedanken so zu kombinieren, dass alles sich dem anpasst, wie ich die Dinge sehen will. Die Erleuchtung interessiert sich ausschließlich dafür, der spirituellen Intelligenz zu dienen, die der Ursprung der Einsicht ist; eine Einsicht, die dem dient, was sie will und nicht dem, was ich will.
Das zweite Moment des Urteilsvermögens ist mit der Art und Weise verbunden, wie die Erleuchtung aus der Sphäre einer Art Offenbarung heraus- und in eine Tätigkeit in der Welt hineingetragen wird. Dieses zweite Moment ist mit dem ersten intim verflochten. Wenn die Erleuchtung zu Recht dem Wirken von etwas zugeschrieben wird, was jenseits meiner eigenen Intelligenz liegt, einer kosmischen Intelligenz, so könnte es scheinen, als müsste sie dort bleiben. Mit welchem Recht suche ich, sie zur Bezogenheit auf die Dinge der irdischen Welt zu zwingen? Eine solche Haltung schafft aber eine absolute Trennung zwischen der irdischen Welt und den spirituellen Welten.
Indem man diese Situation dem Urteilsvermögen überlässt, darf die kosmische Intelligenz die Beschränkungen der individuellen Intelligenz durchspielen. Die beiden dürfen aber nicht getrennt werden. Die heutige Wissenschaft zum Beispiel lässt eine solche Trennung zu. In dieser Weise führen Momente wahrer Erleuchtung – die durch tiefe meditative Zustände erlangt wurden, indem man sich lange Zeit auf ein Problem konzentrierte – zu Entdeckungen, die unmittelbar praktisch umgesetzt werden. Die Erleuchtung wird nie einer spirituellen Welt zugeschrieben. Das Urteilsvermögen wird nicht einmal angesprochen. Die Kardinalfragen werden niemals gestellt: Woher stammt diese Einsicht? Was will sie?
Eine wahrhaft intelligente Weise, mit einer Erleuchtung, einem Geistesblitz zu arbeiten, besteht darin, sie aktiv dorthin zurückzugeben, woher sie erst stammte. Vielen Dank für die Einsicht. Ich gebe sie an dich, den wahren Urheber, zurück. Lass sie noch eine Weile bruzzeln. Allein schon die Tatsache, dass sie meinem Bewusstsein erschienen ist, hat das verändert, was ich tue. Soll das etwa heißen, dass die Einsicht keine praktische Anwendung finden darf? Auf gar keinen Fall darf eine solche Anwendung willkürlich sein. Und aus eigenen Stücken angewandt wird eine jede Anwendung, egal welche anscheinend humanen Werte im Spiel sind, wahllos sein. Hier, auf der Ebene der eigenen Ressourcen, lässt sich nur von Gradierungen der Wahllosigkeit sprechen.
Diese unglückliche Spannweite der Wahlmöglichkeiten ist auf die Tatsache zurückzuführen, dass wenn die Erleuchtung von der Intelligenz getrennt wird, man es nur mit der Hälfte des Ganzen zu tun bekommt. Die Tugend des Urteilsvermögens erfordert, dass auf Schritt und Tritt mit dem Ganzen gearbeitet werde.
Oben wurde ein zentraler Teil des Unterscheidungsprozesses folgendermaßen charakterisieren: Wir erkennen den Ursprung unserer tiefsten Einsichten an und geben sie an diesen Ursprung zurück, anstatt unmittelbar ihre Anwendung im Leben anzustreben. Dieser Aspekt des Urteilsvermögens bedarf der Klärung. Dieser Vorgang ist die alchemistische Art des Urteilsvermögens. In der Alchemie wurde, wenn eine Substanz in einem hermetischen Gefäß erhitzt wurde, diese Substanz zunächst in eine Flüssigkeit verwandelt, welche sodann als Dampf im Gefäß aufstieg. Das hermetische Gefäß war aber so geformt, dass sich das Destillat in sich selbst zurückwendete und der Substanz am Boden des Gefäßes zurückgegeben wurde; von wo aus es erneut erhitzt und so immer und immer wieder in Kreislauf gebracht wurde. Eine bestimmte Version dieses Gefäßes hieß der „Pelikan“, da es dem sich opfernden, sich selbst verwundenden Pelikan ähnelte, der den Hals krümmt und die eigene Brust durchsticht, um die Jungtiere mit dem eigenen Blut zu ernähren. Die alchemistische Art des Urteilsvermögens folgt dieser Art des Prozesses, das im Hereinholen einer Einsicht besteht, die man an die spirituelle Welt zurückgibt, sie erneut hereinholt und zurückgibt, und so immer und immer weiter. Das Zirkulieren und Neu-Zirkulieren der Einsicht in dieser Weise macht einen Vorgang der Läuterung aus, ein dem Urteilsvermögen absolut unerlässliches Verfahren.
Dieser Rezirkulations-Prozess dehnt den Unterscheidungsmoment selbst in die Länge, was oben als die widersprüchliche Gleichzeitigkeit von Offenheit und Umschlossensein beschrieben wurde. Es sollen für eine Weile die zwei Aspekte Offenheit und Umschlossensein, wie im hermetischen Gefäß, gleichsam getrennt werden, ebenso wie in der Alchemie die Gerinnung von der Auflösung getrennt ist. So gibt es beim Urteilsvermögen ein momentanes Licht der Erleuchtung oder aber der Brillanz. Es ist eine Intelligenz am Werk. Halten wir sie für eine Erleuchtung von oben, so bleibt es oben. Halten wir sie für unser eigenes Erzeugnis, so verfügen wir nicht über die Art von Intelligenz, die wir brauchen, um im Leben, beziehungsweise in der Welt die Einsicht anzuwenden, und dabei nicht die spirituelle Erleuchtung auf eine selbstbezogene, egomane persönliche Vorstellung zu reduzieren.
Es ist zwischen den zwei Momenten der Einsicht, den zwei Ebenen, auf denen sie vor sich geht, eine Kreislaufbewegung erforderlich. Um den ganzen Prozess des Urteilsvermögens mit der Begrifflichkeit der Alchemie zum Ausdruck zu bringen: Was eines war (Erleuchtung) wird zur Zwei (Erleuchtung, Intelligenz); welches dann zur Drei wird (Erleuchtung, Intelligenz, Intelligenz in Erleuchtung zurückverwandelt); was wiederum zur Vier wird (Urteilsvermögen).
Ein interessantes Beispiel für ein ins Wahllose geratenes Urteilsvermögen findet man in der Arbeit des William Crookes (1832-1919). Dieses Beispiel ist zwar eines von Tausenden, auf die im Feld der Wissenschaft hingewiesen werden könnte; zugleich deutet es aber auch darauf hin, was in persönlicherer Weise tagtäglich in unserem Leben vor sich geht. William Crookes war der Erfinder der Kathodenstrahlröhre, welche alles ermöglicht hat, was wir heute im Bereich des Fernsehens, Computers, Radars und jeglicher elektronischer Gerate, haben die von dieser Technologie des Vakuums, der Kathodenstrahlröhre abhängt. Seine Forschung war auch der Ausgangspunkt des langen Forschungsfadens, der letztlich in der Entfesselung der Atomenergie gegipfelt hat.
Weniger bekannt ist die Tatsache, dass die wissenschaftliche Forschungsarbeit Crookes‘ durch den Verlust eines von ihm sehr geliebten Bruders in Gang gesetzt wurde. Beim Anblick des Leichnams seines Bruders kam Crookes auf die Fragen, ob das Leben des Geistes nach dem Tode fortgesetzt wird, ob eine Verbindung zu einem solchen Reich gefunden und hergestellt werden könne, und wie dieses Leben in der irdischen Welt offenbaren würde. Er führte mit Spiritisten, und insbesondere mit einem gewissen Daniel Douglas Home, eine Reihe wissenschaftlicher Experimente aus. Diese Versuche überzeugten Crookes davon, dass er eine neue Energieform entdeckt hätte, welche er als „psychische Kraft“ bezeichnete. Diese Kraft zeigte sich als einer der Schwerkraft entgegengesetzten Bewegung fähig, vermochte, Gegenstände in Bewegung zu setzen, Schall und Licht ohne wahrnehmbaren Quell zu erzeugen.
Crookes‘ wissenschaftliche Forschungen der Phänomene des Spiritismus wurden von den zeitgenössischen Wissenschaftlern rundweg zurückgewiesen. Er ließ von der direkten Forschungsarbeit in diesem Feld ab und setzte die Arbeit im Bereich der Elektrizität fort. In seinen nachfolgenden Forschungen blieb er aber fortan gewissermaßen ein Spiritist. Er wies zum Beispiel darauf hin, dass er sich von den merkwürdigen Wirkungen angezogen fühlte, die dann entstehen, wenn elektrischer Strom durch verdünntes Gas hindurchgeschickt wird; das erinnere ihn an bestimmte Leuchtphänomene, die er im Lauf seiner spiritistischen Forschungen beobachtet habe. Diese letzteren Experimente führten ihn zur Entdeckung der Kathodenstrahlröhre. Crookes hielt das Wesen der Kathodenstrahlen für zweierlei Art – sie seien sowohl materiell als auch übermateriell. Er nannte diese Strahlen „strahlende Materie“ oder „Materie des vierten Aggregatzustandes“. Von diesen Strahlen sagte Crookes:
Es hat sich gezeigt, dass in manchen ihrer Eigenschaften die strahlende Materie so stofflich ist wie dieser Tisch, während hingegen in anderen sie beinahe die Eigenschaft strahlender Energie annimmt. Hier berühren wir tatsächlich den Grenzbereich, wo Materie und Kraft ineinander überzugehen scheinen, das schattenhafte Reich zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten, welches für mich immer einen besonderen Reiz hatte… Ich wage zu denken, dass die größten wissenschaftlichen Probleme der Zukunft in diesem Grenzbereich und gar jenseits davon ihre Lösungen finden werden; hier liegen, wie mir scheint, die letzten Wirklichkeiten, sublimiert, weitreichend, wundervoll.
Diese Entwicklungslinie zeigt ein Fehlen des Urteilsvermögens. Das Bedürfnis nach Urteilsvermögen begann für Crookes schon am Bett des verstorbenen Bruders. Da trat für ihn eine Art Erleuchtung auf: was geschieht nach dem Tode? Diese Frage kam Crookes mit Macht. Daraufhin interessierte er sich für Spiritismus, der sich zu jener Zeit als das Erscheinen von Phantomwesen im Nebel am Séance-Tisch, das Klopfen auf Tische, das Sich-Bewegen von Gegenständen im Raum der Séance äußerte. Das Bedürfnis nach Urteilsvermögen wurde aber noch größer: gibt es einen Unterschied zwischen wahrer spiritueller Existenz und materiellen Erscheinungsformen geistigen Lebens? Das war die Frage, die es festzuhalten und zu meditieren gegolten hätte.
Der erleuchtende Augenblick, in dem Crookes die Einsicht zuteil wurde, dass die Verstorbenen noch immer an den Angelegenheiten der Erde beteiligt sein könnten, wurde mit der Erforschung der Kathodenstrahlen und der Erfindung der Kathodenstrahlröhre zu einer genialen Idee. Das ganze Feld der Beziehung zwischen Lebenden und Verstorbenen wurde zu einer Form des Materialismus degradiert. Hätte Urteilsvermögen obwaltet, so war die anfängliche Einsicht, die es galt in meditativer Form an die spirituelle Welt zurückzugeben, die lebendige Frage gewesen: Was ist das Verhältnis zwischen den Lebenden und denen, die verstorben sind? Diese ursprüngliche, erleuchtende Frage wurde stattdessen von Crookes für den Geistesblitz gehalten, dass Licht und elektrischer Strom irgendwie Manifestationen der Toten sind. Diese Idee fand dann weitere Anwendung in Form der Kathodenstrahlröhre.
Tausende von Menschen weltweit sind nach wie vor der Meinung, dass spirituelle Energie elektrischer Art sei, beziehungsweise dass sie sich in materieller Form der einen oder der anderen Art manifestiere, von Radiowellen bis hin zur elektrischen Aktivität des Körpers. Als Beispiel hält man etwa die Kirlianfotographie für die Aura, das geistige Licht des Menschen. In Wirklichkeit ist es aber die elektrische Körpertätigkeit des Menschen, die fotografiert wird.
Hinzu kommt, dass paradoxerweise die Forschungsarbeit Crookes‘, die zum Projekt der Atombombe geführt hat, der Welt nicht etwa die Möglichkeit einer Verbindung zwischen Lebenden und Verstorbenen gebracht hat, sondern Todeskräfte mit denkbar hohem Zerstörungspotential. Seine spirituellen Forschungen haben sich so ausgewirkt, dass sie in der Welt nicht nur große Verwirrung bezüglich des Wesens der geistigen Realität, sondern auch eine Steigerung der Kräfte des Todes herbeigeführt haben.
Eine so einseitig negative Betrachtung der Arbeit von Crookes deutet ebenfalls auf einen Mangel an Urteilsvermögen hin. Was ist denn mit all den positiven Entwicklungen, die aus den Forschungen Crookes‘ hervorgegangen sind? William Crookes kann man wohl den Vater der Informationsrevolution nennen. Ohne ihn hätten wir kein Fernsehen, keine Computerschirme, kein Radar; auch viele der heutigen medizinischen Geräte hätten wir nicht und uns fehlten die vielen wertvollen Forschungsergebnisse der Atomwissenschaft.
Beim Erzählen der Geschichte von Crookes geht es uns nicht darum, festzustellen, dass er Unrecht hatte und dass das, was er tat, böse war und nicht hätte geschehen dürfen. Geschehen ist es eben, und somit nehmen die Aufgaben des Urteilsvermögens neue Formen an. Wir müssen nunmehr daran arbeiten, echte Spiritualität von simulierter Spiritualität zu unterscheiden. Wir müssen zum Beispiel das Wahrnehmungsvermögen besitzen, um sehen zu können, dass Elektrotechnik eine Art simulierter Spiritualität ist und dass deren ungeheuer große Anziehungskraft in der heutigen Zeit vielleicht in einem tiefgreifenden geistigen Verlangen urständet. Dank dieser Technologie vermögen wir sofort vor Gedanken, Informationen, Bildern zu stehen; auch scheint sie die Erleichterung von Belastungen zu versprechen, indem sie Genuss und Erfüllung spendet. Vielleicht sind wir dazu aufgerufen, dieses Verlangen aus seiner verfehlten Platzierung herauszuholen, damit es in einer Art erforscht werden kann, die denjenigen Wirklichkeiten angemessen ist, von welchen das Verlangen erst ausgelöst wird. Urteilsvermögen ist wahrhaftig die Tugend unserer Zeit, eine innere Haupteigenschaft, die von uns allen verlangt wird. Das, was sich für William Crookes ereignete, ist emblematisch für das, womit jeder von uns als ständige Herausforderung konfrontiert ist, nämlich spirituelle Einsichten so zu empfangen, dass wir solche Erleuchtungen nicht ausschließlich unserer eigenen Tätigkeit verdanken, und dennoch die Verantwortung für sie zu übernehmen und sie in spiritueller Weise in die Welt hineinzutragen lernen.
Hier endet Die Tugend des Urteilsvermögens
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