Die Befreiung der Seele von der Angst
von Robert Sardello
Einleitung
Dieses Buch handelt von der Liebe. Zwar heißt es im Titel, dass es um Angst gehe, aber dessen Sinn und Zweck ist die Liebe. Denn die Angst kann uns belehren, in ganz neuer Art und Weise zu lieben. Das ist, denke ich, letzten Endes das Geheimnis der Angst. Wenn wir vor der Angst nicht fliehen oder versuchen, sie auszumerzen, so entdecken wir uns neu. Wir entdecken uns als Wesenheiten der Liebe.
Bevor es aber zu dieser Entdeckung kommen kann, will ein unerlässlicher Zwischenschritt getan werden, und der Ort, an dem dieser Schritt zu vollziehen ist, ist die Phantasie. Die Angst lässt zwar die Phantasie zunächst auf Hochtouren laufen; aber je länger der Mensch unter ständiger Bedrohung lebt – ob physischer, emotionaler oder psychologischer Bedrohung – desto mehr macht die Phantasie dicht. Dieses Krampfen der Phantasie ist zugleich auch ein Sich-Verengen der Seele. – Unter solchen Umständen werden wir es niemals hinbekommen, uns in einen Zustand hineinzuversetzen, aus dem heraus wir lieben können. Wir müssen in der Seele und in unserer Phantasie eine große Menge an Arbeit leisten, wenn wir die Tiefen der Liebe finden wollen; erst recht, wenn wir lernen wollen, an anderen Menschen und an der Welt überhaupt Liebe zu praktizieren. Das liegt daran, dass Liebe eine Handlung der Seele ist, eine Erfahrung, durch die ein anderer Mensch oder ein geistiges Wesen oder Gott in uns lebt.
Mit der Angst zu arbeiten ist zentralste spirituelle Aufgabe unserer Zeit. Freilich muss in einer ganz bestimmten Weise an diese Arbeit herangegangen werden. Wenn wir nämlich versuchen, uns von ihr abzuschotten, werden die Kräfte, die wir brauchen, um ganz Mensch zu bleiben – körperliche Vitalität, Tiefe und Fülle des inneren Selbst, Aufgeschlossenheit gegenüber den spirituellen Dimensionen des Lebens – verkümmern und absterben. Wir werden voneinander noch abgetrennter, werden misstrauisch und um Absicherungen jeglicher Art besorgt. schließlich werden wir die Fähigkeit verlieren, überhaupt zu lieben.
Die Gewalten in der Welt, welche die Angst verursachen, sind oft so übermächtig, dass wir keine Kraft in uns spüren, sie aufzuhalten. Die meisten Menschen können wenig oder gar nichts gegen die Corona-Pandemie (beziehungsweise das Ozonloch, die Krise in der Ukraine, Selbstmordbomber, Stellenabbau ganzer Konzerne, verrückt gewordene Börsenmärkte, gegen Erdbeben, globale Erwärmung, Massenmorde und was es sonst noch alles gibt) ausrichten.
Egal ob uns diese Dinge direkt betreffen oder ob sie gar nichts mit uns zu tun zu haben scheinen: sie nehmen die Seele stark mit. Auch wenn wir nur davon reden hören oder Berichte über sie in den Nachrichten sehen oder lesen – ihre Angst auslösenden Eigenschaften klingen im Seelenleben weiter nach. Die Angst braucht nicht als bewusste Erinnerung weiterzuleben. Die Wirkung solcher Ereignisse besteht mehr in einem Sich-Zusammenziehen, in einem Dichtmachen der unserer emotionalen Tiefe. Unser Leben wird von einem faden Gefühl beschlichen. Wir wissen nicht, was mit uns los ist, wissen auch nicht, wie es kommt, dass es so ist. Es setzt eine milde Depression ein, und im eher selten zu erwartenden Fall, dass wir den Blick nach innen wenden, entdecken wir eine Menge Angst. Eher wahrscheinlich ist es aber, dass wir uns keine Mühe machen, nach innen zu schauen. An der Oberfläche scheint alles in Ordnung zu sein. Das Leiden der Seele bleibt unbemerkt.
Menschen, deren Seele für die Angst ausgesprochen empfindlich ist, verfallen manchmal in eine Zwangsneurose. Der Welt der Medizin und der Psychologie ist der Ursprung dieses Syndroms ein Rätsel. Es wird spekuliert, dass es mit Streptokokken zu tun habe die, wenn sie einen Menschen in der frühen Kindheit infizieren, sich womöglich auf die Region des Gehirns auswirken, die das Reagieren auf die Angst steuert.
Egal, ob nun diese Spekulation sich irgendwann einmal als wahr erweist oder nicht: sie erklärt in keiner Weise das Ausmaß, bis zu welchem die Zwangserkrankung sich der Seele bemächtigen kann. Die von dieser Krankheit Befallenen haben eine totale Angst vor der Welt. Es kann zum Beispiel bei jemandem vorkommen, der in dieser Weise krank ist, dass er Monate lang sich weigert, die eigene Wohnung zu verlassen. Oder ein so Erkrankter erfindet komplizierte, ausgedehnte Ritualen, um den Eintritt dessen vorzubeugen, was ihn mit Ängsten quält – das Anfassen einer Türklinke; das Einatmen der Luft; das Essen: die Möglichkeiten sind unerschöpflich. Es ist deutlich: diese Menschen fürchten sich vor der Furcht selbst. Sie mögen sagen, dass sie eine Todesangst haben vor Keimen oder vor einem Virus, aber das heißt weiter nichts, als dass der Grund ihres Schreckens etwas Unsichtbares ist. Wenn wir aber solche Menschen mehr als Kulturanzeiger betrachten würden denn als Sonderlinge, die mit seltsamen psychologischen Symptomen behaftet sind, so könnten wir vielleicht eine Menge lernen.
In diesem Buch gehe ich auf alle Arten der Angst ein – nicht nur auf die Art, an der die Opfer der Zwangsneurose leiden. Anstatt dass ich Menschen, Gegenstände und Geschehnisse um uns herum als die Ursachen der Angst ansehe, betrachte ich sie vielmehr als die Träger der Angst – als die Boten, nicht als die Botschaft. Das, was wir gewöhnlich für Angst halten, ist lediglich unsere Antwort auf ihre Gegenwart, während sie selbst eine von uns autonome Existenz führt.
Die Angst so zu betrachten – als etwas ganz Reales an sich und somit als mehr denn bloß unsere Reaktion auf eine Bedrohung unseres Wohlseins, – ist eine unübliche Ansichtsweise. Wir denken gewöhnlich nach Ursache und Wirkung. Wir haben die etwas einfältige Auffassung, dass wenn sich nur die Auslöser der Angst finden und beseitigen ließen, sie dann auch selbst ausgeschaltet wäre. Was es während der Lektüre dieses Buches im Sinne zu behalten gilt, das ist, dass ich beim Sprechen über die Angst stets auf der Ebene der Seele spreche. Die Seele folgt nicht der Logik von Ursache und Wirkung so, wie wir uns diese in der physischen Welt vorstellen.
Von der Art, wie Menschen mit einer Zwangsneurose therapiert werden, kann man einiges lernen über die sonderbare Macht, welche die Furcht über uns haben kann. Der konventionelle Therapieansatz für dieses Syndrom ist die Konditionierung. Wenn zum Beispiel ein Mensch davor Angst hat, eine Türklinke anzufassen, und zwar nicht wegen irgendetwas, was ihn auf der anderen Seite der Tür erwartet, sondern wegen der Gefahr, durch Berührung derselben von irgendeiner Krankheit befallen zu werden, so besteht die Therapie darin, den Kranken dazu zu ermutigen, sich schrittchenweise der Tür zu nähern, die Klinke zu berühren und schließlieh die Tür zu öffnen. Diese Behandlung kann Monate dauern. Ferner empfindet der so Erkrankte normalerweise dieselbe Ängstlichkeit gegenüber vielem; so mag ein Mensch mit Zwangsvorstellungen dieser Art eine zehnseitige Liste von Dingen haben, vor denen er sich fürchtet, und in der Regel muss jedes Ding auf der Liste einzeln behandelt werden. Die Logik dieser Behandlungsweise ist die, dass wenn der Auslöser der Angst ein materieller Gegenstand ist, man das Problem bei der Wurzel packen könne, indem man durch Konditionierung den Gegenstand angeht. Bei dieser linearen Denkart aber ist es erforderlich, jedes einzelne Objekt zu behandeln, das mit Angst verbunden ist.
Aus der Perspektive der Seele geht etwas anderes vor sich. Die Angst bewirkt, dass die Seele sich zusammenzieht. Dieses Sich-Zusammenziehen äußert sich als Unfähigkeit des Menschen, sich auf andere Menschen und auf die Welt einzulassen. Die eigene Welt nimmt beständig ab. Die Anregung des Therapeuten, sich wieder in die Welt hinauszubegeben, ist eine Handlung der Liebe, die es ermöglicht, eine Vorstellung dessen zu bilden, was wirklich ist. Die Rolle des Therapeuten ist es, die Empfänglichkeit des Patienten wiederzuerwecken für die Art, wie er sich die Realität vorstellt. Das wiederum ermöglicht es ihm, die eigene Furcht anzunehmen: Eine Türklinke ist vornehmlich etwas, womit man eine Tür öffnet, und keine Bringerin tödlicher Infekte. Eine solche Umgestaltung der Vorstellungen ist eigentlich ein Weg, die Furcht an ihren rechten Platz zurückzuverweisen. Es mag tatsächlich der Fall sein, dass auf der Türklinke Keime lagern, und es ist allerdings denkbar, dass wenn wir sie berühren, wir sterben werden. Es geht darum, dass Furcht in der Welt stets vorhanden ist und auch darum, dass man im Leben nicht darum herum kommt, den zu einer Begegnung mit der Welt nötigen Mut aufzubringen. Die sorgende und liebevolle Beziehung zwischen dem Therapeuten und dem leidenden Menschen ermöglicht eine Weitung der Seele und eine Wiederherstellung des Vorstellungslebens, was zu einem gesunden Verhältnis zur weiteren Welt führt.
In diesem Buch konzentriere ich mich nicht direkt auf die therapeutische Behandlung der Zwangskrankheit, auch nicht auf irgendeinen der gängigen psychologischen Ansätze zur Analyse der Furcht – wie etwa der Angst, der Phobien oder der posttraumatischen Belastungsstörung. Meine Prämisse ist die, dass Furcht in der Welt zunimmt, und zwar rasant. Neben dem Umstand, dass sie in Form von individuellen psychologischen Störungen auftritt, sehen wir uns jetzt mit dieser zerstörerischen Macht auch als mit einem kulturellen Phänomen konfrontiert, das uns alle in tieferer und bedeutungsvollerer Weise berührt, als wir je ahnen würden. Das Seelenleben der Menschheit ist bedroht.
Auch im Zunehmen begriffen sind populäre Schriften zum Thema der Seele. Diese legen von unserer kollektiven misslichen Lage Zeugnis ab. Sie ermutigen die Menschen zur Arbeit am Leben der Seele und gehen davon aus, dass wenn wir für dasselbe nicht die Verantwortung ergreifen, die Seele sich selbst zersetzen werde. Zugleich aber behandeln die meisten dieser Schriften in nur sehr geringem Maße, wie man an die Stärkung des seelischen Lebens herangeht. Und gar keine von ihnen lenkt die Aufmerksamkeit auf die Furcht als schreckliches Hindernis zum Erleben und Pflegen der Seele.
Unsere gegenwärtige Haltung gegenüber der Seele ist die, dass sie ein fest bestehendes Dauer-Element des Menschen sei. Der landläufigen Auffassung zufolge können wir unsere Verbindung mit der Seele verlieren, diese Verbindung aber auf verschiedener Weise wiederherstellen, wie etwa dadurch, dass wir das eigene Leiden ehren; dass wir uns dem Zauber der Welt öffnen, dass wir die eigenen kleinen Marotten als Charakterstärke anstatt als Schwäche ansehen; dass wir auf das Traumleben Acht geben; dass wir eine künstlerische Tätigkeit aufnehmen; dass wir die Imagination wertschätzen.
So wichtig auch solche Tätigkeiten sein mögen: in der Gegenwart so vieler Arten starker Angst ist ein direktes Sich-Hinwenden zur Seele nicht immer wirksam. Und so distanziere ich mich von dieser Denkart und mache spezifische Vorschläge dazu, wie man sich um das Seelenleben kümmern und dessen Kraft stärken kann. In den folgenden Kapiteln ist eine folgerichtige Methode zu finden, um der Gegenwart verschiedener Arten von Angst entgegenzuwirken. Diese Methode lässt sich so zusammenfassen:
Als Erstes müssen wir uns ein Bewusstsein dafür erarbeiten, wie verschiedene Arten von Angst jeweils auf die Seele wirken. Mit jeder Art von Angst wird eine ihr entsprechende natürliche Kapazität der Seele geschwächt. Zweitens müssen wir Wege finden, durch bewusste Tätigkeit die so geschwundene Seelenkapazität wieder herzustellen. In jedem einzelnen Fall geht es darum, eine imaginative Übung zu ergreifen, welche die jeweils taub gewordene Qualität der Seele wiedererweckt. Drittens müssen wir, zuzüglich zum bloßen Ausführen der Übungen, auch auf unser eigenes Seelenleben reflektieren und für uns selbst das beschreiben, was in uns vorgeht.
Auf einen unmittelbaren Ertrag der Übungen kommt es nicht so sehr an; ja es passiert gar nichts Spektakuläres, während wir mit ihnen umgehen. Die Auswirkungen ereignen sich allmählich, im Lauf der Zeit. Machen wir uns aber mit der Art bekannt, wie sich unser Innenleben durch die Übungen verändert, so beginnen wir zu entdecken, wie die so erweckte Seelenfähigkeit in unser Alltagsleben integriert werden kann. Indem unsere seelischen Kapazitäten erwachen, erwacht in uns auch die Fähigkeit, liebevoller zu werden und Liebe hervorzubringen als wirksames Mittel gegen die Ausbreitung von Angst.
Eine Frage, die Ihnen beim Arbeiten mit diesem Buch kommen könnte, ist die, ob es wohl erforderlich ist, alle die vorgeschlagenen Übungen auszuführen. Die Antwort lautet: Es ist wohl besser, bloß eine davon vorzunehmen – diejenige, die für Sie im gegenwärtigen Lebensaugenblick für Sie am sinnvollsten erscheint – und eine Zeitlang mit ihr arbeiten. Es braucht nicht lange. Von Meditationsübungen pflegen wir zu denken, dass sie eine halbe Stunde und länger dauern. Die Seele spricht aber besser auf eine Übung an, wenn sie regelmäßig – täglich, wenn möglich – aber für nicht länger als etwa fünf Minuten ausgeführt wird. Solche kurzen Sitzungen mögen einem geringfügig vorkommen. Man bedenke aber, dass die Zeit der Seele eine ganz andere ist als nach der Uhr gemessene Zeit. Diese Übungen sind nicht solche, wie wenn man zum Fitness-Studio trainieren geht. Ihre positiven Auswirkungen nehmen nicht zu, wenn sie bis zur Erschöpfung wiederholt werden.
Die imaginativen Übungen in diesem Buch wurden schon landesweit von verschiedenen Menschen ausgeführt, und zwar in Seminaren, die von der School of Spiritual Psychology (eine von mir und Cheryl Sanders Sardello betriebene Organisation) veranstaltet wurden. Inzwischen sind es insgesamt mehr als 300 Individuen, die sie aufgenommen haben. Diese Menschen stammen aus allen Lebensbereichen. Keiner von ihnen wurde mit irgendwelchen spezifischen Phobien diagnostiziert, aber alle haben tiefe Sorge zum Ausdruck gebracht über die Art, wie verschiedene Formen der Angst in ihr tägliches Leben eintreten. Wer die von der Schule angebotenen Seminare besucht, möchte ein seelisches Bewusstsein und spirituelle Kapazitäten entfalten, die im praktischen Leben anzuwenden sind. Die im Lauf dieser Seminare von den Teilnehmern gewonnenen Erfahrungen bilden einen Teil dieses Buches. Die Herangehensweise an die für die Seminare entwickelten Übungen hat eine lange Tradition. Viele der Übungen wurden aus der Geisteswissenschaft Rudolf Steiners abgewandelt, eines begabten österreichischen Hellsehers, der zeitgleich mit Freud und Jung wirkte. Der Umgang mit inneren Bildern in der angegebenen Weise ist gänzlich ungefährlich. Wer sie übt bleibt während des Ausführens vollbewusst; es tritt kein veränderter Bewusstseinszustand, keine leibfreie Erfahrung ein. Ja der ganze Ansatz dieser spirituellen Psychologie fußt auf das Bilden eines bewussten, lebendigen seelischen Erlebens, das für die Reiche des Geistes empfänglich ist.
Eine der großen Herausforderungen beim Schreiben über die Angst besteht darin, nicht noch zusätzlich Furcht dabei zu erzeugen. Ich erhielt zum Beispiel einmal von einem Freund einen Brief, in dem er eine Tagung beschrieb, bei der es um das sogenannte Jahr-2000-Problem ging. Die Tagung sei in einer großen Kirche gehalten worden und es seien Redner aus dem ganzen Land dabei gewesen. Es sei gewarnt worden, Lebensmittel zu horten, für alle Fälle. Die Redner hätten gesägt, sie seien nur dazu da, um Informationen zu vermitteln, damit die Anwesenden eigene Entscheidungen treffen können. Der Kirchenleiter sei aufgestanden und habe gesagt, wie wichtig es sei, die Grenzen einer rein materialistischen Herangehensweise an das Computerproblem zu durchschauen und eine mystische Perspektive auf diese Problematik zu haben. Gott sei größer als das Jahr-2000-Problem und gewiss auch in dieser Angelegenheit nicht ohnmächtig. Als mein Freund diese Tagung verließ, habe er eine Menge Angst gefühlt. Seine Angst sei nicht einem größeren Verständnis der möglichen Folgen des Computerproblems entsprungen, sondern seinem Empfinden der ganzen Furcht, die gerade unter der Oberfläche des Gespräches gewirkt habe. Über die Angst selbst wurde gar nicht gesprochen, über die Liebe auch nicht. Den Anwesenden wurden technische Informationen mitgeteilt und dann gesagt, Gott werde eine Lösung bieten.
Die Alternative dazu, sich vor der Angst zu verstecken oder darauf zu hoffen, dass Gott alles in Ordnung bringen wird, ist die, offen und im Körper zentriert zu bleiben, sich der Schönheit der Welt zu verpflichten und zu erkennen, dass auch wenn die Angst nicht vollständig beseitigt werden kann, wir wohl daran arbeiten können, zu verhindern, dass sie uns überwältigt. Um in gesunder Weise mit der Angst zu arbeiten, muss man in enger, bewusster Verbindung mit dem Leben der Seele leben und eine Spiritualität in sich ausbilden, die zu einem ganz normalen Aspekt des alltäglichen Lebens wird.
Oben heißt es, Liebe sei das Gegengift zur Angst. Angst kann uns aber sehr viel über die Liebe lehren. Angst kann unsere Wachheit schärfen, und wir können diese Belebung des Bewusstseins dazu verwenden, unser Auffassungsvermögen für die verschiedenen Varietäten der Liebe zu stärken. In einem späteren Kapitel erkunde ich die Moden der Liebe – was ich aus vielen Begegnungen mit der Angst gelernt habe. In den Kapiteln bis dahin wird Liebe zwar erwähnt aber noch nicht zur Hauptthematik gemacht. Das liegt daran, weil es so leicht vorkommt, dass Liebe in egoistischer Weise verstanden wird. Sentimentale Vorstellungen der Liebe, allein schon der Gebrauch des Wortes ohne innerlich zu verstehen, was es bedeutet; auch ein pauschales Zusammenbegreifen allerlei verschiedener Sorten der Liebe – das alles ist zum Abwenden der Angst unwirksam. Die Auffassung, die Angst könne keinen Schaden anrichten, wenn ich nur umso intensiver und anhaltender liebe, ist ziemlich selbstherrlich, wenn nicht gar naiv. Liebe haben wir wirklich sehr wenig unter unserer Kontrolle. Bestenfalls können wir daran arbeiten, uns selbst zu einem adäquaten Gefäß der Liebe zu machen, damit sie durch uns hindurch und letztlich in die weitere Welt hinausfließen kann.
Mit am tückischsten bei der Angst ist der Umstand, dass sie sich unser bemächtigen kann ohne dass wir es wissen. Es ist nämlich nicht so, dass Menschen, die ständig unter dem Schatten der Angst leben, pausenlos beben und zagen; wohl aber leben sie so, wie wenn sie sich ständig in einem Traumzustand befänden. Nach einer Weile vergessen diese Menschen, dass dieser ihr eigentümlicher Seinszustand nicht reell ist. Dieses Phänomen ist in der Psychologie wohl dokumentiert. Menschen, die ein einschneidendes Trauma erlebt haben, leben Jahrelang in einer Art leisen Trance-Zustandes und vermögen es nicht, in der Welt richtig Fuß zu fassen. Solche Menschen haben es oft schwer, intime Beziehungen zu gründen. Auch neigen sie dazu, die eine oder die andere Sucht zu entwickeln und haben häufig eine grausame Seite, die sie gelegentlich an den Tag legen.
Es gibt auch größere, Kultur umfassende Vorkommnisse von Trauma: das Aufkommen des Nationalsozialismus unter Hitler ist ein deutliches Beispiel hiervon. Hitlers Missbräuche traumatisierten ein ganzes Volk und führten unfassbare Gräueltaten aus dem einfachen Grund herbei, weil er in der ständigen Gegenwart der Angst lebte. Die neuerliche Forschungsarbeit von Robert Jay Lifton ließ mich Erkennen, dass die Betäubung, die durch die Angst verursacht wird, mehr ist, als ein Sich-Ausschalten der körperlichen Sensibilität und der seelischen Aufmerksamkeit. Betäubung entspricht vollends einem Auswechseln des Selbst oder der Seele mit einem falschen Selbst, und solche „Doppelung“ tritt ein ohne dass wir durchschauen, dass sie sich ereignet hat. Die kulturellen Implikationen der Angst sind ungeheuer. Ferner findet dieses Ersetzen unseres zentralen Wesensaspektes nicht ausschließlich im Angesicht offener Feindseligkeit statt. Es lässt sich durch weit subtilere Einflüsse hervorrufen. In einem späteren Kapitel befasse ich mich mit dieser Sache, indem ich die Art und Weise aufzeige, wie „Doppelung“ in unserer Kultur vorkommt, und dann das Mittel anbiete, durch das man dem sich daraus ergebenden Verlust der Seele entgegenwirken kann.
Es werden so viele Bücher aus so vielen verschiedenen Perspektiven veröffentlicht, deren Titel das Wort „Seele“ enthält, dass ich es für unerlässlich halte, so klar wie möglich zu machen was ich unter „Seele“ verstehe, oder zumindest einen Kontext zu bieten für die Art und Weise, wie ich das Wort verwende. Im 20. Jahrhundert gewann das Wort wegen der hochoriginellen Tiefenpsychologie C. G. Jungs einen über religiöse Zusammenhänge hinausgehenden Sinngehalt. Ich für meinen Teil wurde durchaus von Jung beeinflusst, und noch mehr von denjenigen, die seine Arbeit hinsichtlich der individuellen Psychotherapie auf kulturelle Angelegenheiten übertragen haben, insbesondere von James Hillman und Thomas Moore. Ich hatte das große Glück, in den 1980er-Jahren für über fünf Jahre am Dallas Institute of the Humanities mit Hillman und Moore eng zusammen zu arbeiten. Gemeinsam erzielten wir bedeutende Fortschritte darin, „Seele“ aus dem Therapieraum hinaus und in die weitere Welt hinein zu bringen. Diese wichtige Richtung war im Wesentlichen auf die Schwungkraft und die Genialität von Gail Thomas, der Hauptgründerin des Institutes in Dallas, zurückzuführen. Sie regte uns alle mit Nachdruck dazu an, die Welt anzuschauen – die Städte, die Institutionen, die Architektur, die Medien, die moderne Kultur – und sie als Verkörperung der Urbild-Imagination zu sehen. Sie brachte uns dazu, zu sehen, dass Arbeit mit und an der Seele praktische Implikationen hat für das Kulturleben der Gegenwart.
Jung war so weise, „Seele“ nicht zu definieren; seine Charakterisierung derselben ist einfach und elegant: Seele, sagt er, ist Bild. Damit meint er, dass das spontane innere Erscheinen von Bildern – manchmal in bewusster, manchmal in unbewusster Weise – das Funktionieren der Seele kennzechnet. Ferner versteht er unter „Bild“ nicht Vorstellungen bzw. Gebilde, die durch das innere Auge beobachtete werden. Mit „Bild“ meint Jung die unsichtbaren, orientierenden Muster, durch die wir die Empfindung der eigenen Persönlichkeit erfahren und mit ihr auch einen tieferen Sinn der Welt. Die Seele erstehe, so Jung, aus diesen anhaltenden Mustern, den Urbildern. Unser Verhalten auf Urbild-Mustern zurückzuverfolgen helfe uns, die Muster unserer eigenen Erfahrungen zu verstehen. So seien Bilder nicht das, was wir „sehen“, sondern vielmehr das, „wodurch wir sehen“. Diese tieferen Muster wirken, so Jung, durch unser Wahrnehmen, unser Denken, Fühlen und Handeln hindurch, was eine Empfindung der Seele ist.
Ganz gewiss interessierte sich Jung für die weitere Welt. Er stellte eine Menge Spekulationen an über die Seele in der zeitgenössischen Kultur an und bereiste die Welt, um das aktive Seelenleben anderer Völker zu erleben. Auch berichtete er über Phänomene von kulturellem Interesse wie zum Beispiel Kunst, mythische Geschichten, ja sogar UFOs. Aber er brachte es nicht ganz bis zu einer Auffassung der Weltseele als an einem von der einzelnen menschlichen Seele autonomen Wesen. Ich erwähne deshalb diese Einschränkung, weil wann immer ich unter Berufung auf Jungs Auffassung der Seele versuchte, die Furcht als etwas mehr denn ein bloßes Problem der individuellen Psyche zu betrachten, eine Bestimmung der Seele der zeitgenössischen Kultur schwierig war. Zum Glück fand ich aber Hilfe in der Geisteswissenschaft Rudolf Steiners.
Steiner, der weniger bekannt ist als Jung, wirkte ja wie oben gesagt zur gleichen Zeit wie dieser und war sich des Beitrags von ihm wohl bewusst. Steiner war Philosoph, Gelehrter, Wissenschaftler und Pädagoge sowie der Begründer der Anthroposophie, einer modernen Wissenschaft des Geistes. Er inspirierte eine Erneuerung vieler kultureller Tätigkeiten, darunter der Pädagogik (die Waldorfschulen), der Landwirtschaft (biologisch-dynamische Landwirtschaftsweise), der Medizin (anthroposophische Medizin), der Heilpädagogik (etwa die Camphill-Bewegung), der Kunst, der Wirtschaftswissenschaft, der Philosophie und der Religion. Er spricht über den Beitrag sowie die Grenzen des Ansatzes von Jung etwa im Vortrag „Psychoanalyse und Psychosophie“. Seine Auffassung der Seele, auf die ich mich in erheblichem Maße beziehe, stellt er im Vortragszyklus Anthroposophie, Psychosophie, Pneumatosophie dar. Steiners Beschreibung der Seele enthält nur bis zu einem bestimmten Grade Parallelen zur Auffassung Jungs. Er spricht vom inneren Leben der Seele als aus einer fortdauernden, dramatischen Spannung zwischen Liebe und Hass bestehend. Weder „Liebe“ noch „Hass“ soll hier im alltäglichen Sinne aufgefasst werden, denn in diesem Zusammenhang meinen sie Kräfte der Anziehung und des Abstoßens. Die Spannung, die aus dem Zusammenwirken solcher Kräfte entsteht, drückt sich in der Entstehung von Bildern aus. Ferner wird die Seele von allem beeinflusst, was in der uns umgebenden Welt geschieht. Solche Einflüsse sind etwa unsere Beziehungen zu anderen Menschen oder die kollektiven Kräfte der Kultur. Das alles lebt noch lange in der Seele fort, nachdem das Ereignis vorbei ist, das den Eindruck ursprünglich machte. Erstaunlicherweise fehlt in der Psychologie Jungs eine Auseinandersetzung mit den langfristigen Wirkungen dessen, was um uns herum sich ereignet, auf das Seelenleben. Das ist der Grund, weshalb die Beiträge Steiners so unentbehrlich sind.
Im Gegensatz zur Psychologie Freuds, die behauptet, dass unbewusste Erinnerungen der Quell unserer Krankheiten seien, legt Steiner nahe, dass das, was in der Seele weiterlebe, nicht nur die Inhalte der Erinnerung, sondern eine generelle Ausdehnung (sofern es sich um gesunde Erfahrungen handelt) bzw. Zusammenziehung der Seele seien (sofern es sich um Ängste handelt). Solche Veränderungen, so Steiner, wirken sich nicht nur auf die Weise aus, wie wir mit uns selbst, mit anderen Menschen und mit der Welt umgehen, sondern auch auf die Weise, wie wir uns selbst, andere Menschen und die Welt verstehen. Die in diesem Buch vorkommenden Beschreibungen der Furcht stehen letzterer (Steiners) Auffassung des Lebens der Seele näher. Steiner behauptet keine umfassende Theorie der Seele. Er beginnt vielmehr mit der Frage: Was lässt sich rein durch Beobachtung über dieses Leben der Seele erkennen? Von hier aus schreitet er zu seinen Beschreibungen fort. Der in diesem Buche beschriebene Umgang mit der Furcht besteht darin, nicht nur Steiners Ergebnisse zu adoptieren, sondern so zu tun, wie Steiner tut – nämlich detaillierte Beobachtungen zu machen.
In dem, was folgt, werden Sie etwas von dem Verhalten der Furcht lernen und davon, wie man mit der Imagination arbeitet und wie man in Richtung einer umfassenden Liebe zur Welt hin sich bewegt. Auch werden Sie von der Notwendigkeit erfahren, eine Schönheit zu entwickeln, die Biss hat; womit ich die Notwendigkeit meine, unser Leben schön zu gestalten, zumal als Ausdruck von Liebe in der Welt. Alle diese Vorschläge tun weiter nichts als in unterschiedlicher Weise dieses zum Ausdruck zu bringen: Es braucht Zeit, „Seele“ zu machen, „Seele“ zu leben, „Seele“ zu erfahren. Die heute vorherrschenden Arten der Furcht rauben uns die Zeit, die wir brauchen, um an der Seele zu arbeiten. Die Seele wird zwar seit Jahrhunderten zusammengedrängt; nichtsdestoweniger passiert das ärgste Sich-Zusammenziehen des Seelenlebens erst seit Neuem, seit dem Zweiten Weltkrieg. Man bedenke nur alles, was in der kurzen Zeitspanne seit dem Krieg geschehen ist. Einige der Bereiche, in denen wir drastische Umwälzungen erlebt haben: Raumfahrt, Informatik, medizinische Technologie, Transport, Wirtschaftswerte, Genetik, sittliche Werte, Geschlechterrollen, Familienleben, religiöse Werte, das Gestalten von Konzernen, Globalisierung. Furcht kommt in der Seele dann auf, wenn Änderungen schneller eintreten, als unsere seelischen Kapazitäten mit denselben schritthalten können. Viele der Ängste, die wir heute erleiden, haben damit zu tun, dass die Zukunft vor ihrer Zeit eintrifft. Wir werden emotional und psychisch weit über uns selbst hinausgedrängt, und das Ergebnis dieses fundamentalen Zerwürfnisses ist ein enormer Stress. Vor Kurzem las ich die Einleitung zu einer Produktlinie von Tier-Pharmazeutika: „Doggy-Prozac“. Die Prämisse hinter dieser Behandlung ist die, dass unsere Haustiere den Stress des modernen Lebens verinnerlicht haben und allerlei Symptome hiervon an den Tag legen, wie etwa Heulen, Beißen, an der Tür Kratzen, sogar Selbstverletzung. Nun, das alles ist unser Stress, unsere Furcht. Wir tun vielleicht gut daran, uns unsere Tiere anzuschauen, um ein Bild für die Lage unseres eigenen Seelenlebens zu gewinnen.
Für jeden von uns bedurfte es als Kind einer ungeheuren Anstrengung, das Lesen zu lernen, das Rechnen zu beherrschen, denken zu können. Keine dieser Fähigkeiten hat sich naturgemäß entwickelt. Einen Umgang mit der Seele in bewusster Weise zu erlernen ist eine Aufgabe für Erwachsene, aber die damit verbundene Mühe ist der Anstrengung unseres Lernens in der Kindheit analog. Es braucht eine harte Arbeit, um einen Sinn für die Seele auszubilden. Wer sich für „Seele“ überhaupt interessiert, neigt dazu, sich im Sich-Erzählen-Lassen von ihr zu sonnen. Ein solches bloßes Erzählen-Hören wiederum erzeugt ein Mitklingen in der eigenen Seele, das uns betrügt: uns ist, als hätten wir eine Erfahrung der Seele tatsächlich gehabt. Es könnte aber, könnte sein, dass wir uns die Flügel der Imagination erst verdienen müssen.
Zum Weiterlesen: Kapitel I. Eintritt in die Gefahren der Furcht
Ausdruckbare pdf-Version der Einleitung zu "Die Befreiung der Seele aus der Furcht"
von Robert Sardello
Einleitung
Dieses Buch handelt von der Liebe. Zwar heißt es im Titel, dass es um Angst gehe, aber dessen Sinn und Zweck ist die Liebe. Denn die Angst kann uns belehren, in ganz neuer Art und Weise zu lieben. Das ist, denke ich, letzten Endes das Geheimnis der Angst. Wenn wir vor der Angst nicht fliehen oder versuchen, sie auszumerzen, so entdecken wir uns neu. Wir entdecken uns als Wesenheiten der Liebe.
Bevor es aber zu dieser Entdeckung kommen kann, will ein unerlässlicher Zwischenschritt getan werden, und der Ort, an dem dieser Schritt zu vollziehen ist, ist die Phantasie. Die Angst lässt zwar die Phantasie zunächst auf Hochtouren laufen; aber je länger der Mensch unter ständiger Bedrohung lebt – ob physischer, emotionaler oder psychologischer Bedrohung – desto mehr macht die Phantasie dicht. Dieses Krampfen der Phantasie ist zugleich auch ein Sich-Verengen der Seele. – Unter solchen Umständen werden wir es niemals hinbekommen, uns in einen Zustand hineinzuversetzen, aus dem heraus wir lieben können. Wir müssen in der Seele und in unserer Phantasie eine große Menge an Arbeit leisten, wenn wir die Tiefen der Liebe finden wollen; erst recht, wenn wir lernen wollen, an anderen Menschen und an der Welt überhaupt Liebe zu praktizieren. Das liegt daran, dass Liebe eine Handlung der Seele ist, eine Erfahrung, durch die ein anderer Mensch oder ein geistiges Wesen oder Gott in uns lebt.
Mit der Angst zu arbeiten ist zentralste spirituelle Aufgabe unserer Zeit. Freilich muss in einer ganz bestimmten Weise an diese Arbeit herangegangen werden. Wenn wir nämlich versuchen, uns von ihr abzuschotten, werden die Kräfte, die wir brauchen, um ganz Mensch zu bleiben – körperliche Vitalität, Tiefe und Fülle des inneren Selbst, Aufgeschlossenheit gegenüber den spirituellen Dimensionen des Lebens – verkümmern und absterben. Wir werden voneinander noch abgetrennter, werden misstrauisch und um Absicherungen jeglicher Art besorgt. schließlich werden wir die Fähigkeit verlieren, überhaupt zu lieben.
Die Gewalten in der Welt, welche die Angst verursachen, sind oft so übermächtig, dass wir keine Kraft in uns spüren, sie aufzuhalten. Die meisten Menschen können wenig oder gar nichts gegen die Corona-Pandemie (beziehungsweise das Ozonloch, die Krise in der Ukraine, Selbstmordbomber, Stellenabbau ganzer Konzerne, verrückt gewordene Börsenmärkte, gegen Erdbeben, globale Erwärmung, Massenmorde und was es sonst noch alles gibt) ausrichten.
Egal ob uns diese Dinge direkt betreffen oder ob sie gar nichts mit uns zu tun zu haben scheinen: sie nehmen die Seele stark mit. Auch wenn wir nur davon reden hören oder Berichte über sie in den Nachrichten sehen oder lesen – ihre Angst auslösenden Eigenschaften klingen im Seelenleben weiter nach. Die Angst braucht nicht als bewusste Erinnerung weiterzuleben. Die Wirkung solcher Ereignisse besteht mehr in einem Sich-Zusammenziehen, in einem Dichtmachen der unserer emotionalen Tiefe. Unser Leben wird von einem faden Gefühl beschlichen. Wir wissen nicht, was mit uns los ist, wissen auch nicht, wie es kommt, dass es so ist. Es setzt eine milde Depression ein, und im eher selten zu erwartenden Fall, dass wir den Blick nach innen wenden, entdecken wir eine Menge Angst. Eher wahrscheinlich ist es aber, dass wir uns keine Mühe machen, nach innen zu schauen. An der Oberfläche scheint alles in Ordnung zu sein. Das Leiden der Seele bleibt unbemerkt.
Menschen, deren Seele für die Angst ausgesprochen empfindlich ist, verfallen manchmal in eine Zwangsneurose. Der Welt der Medizin und der Psychologie ist der Ursprung dieses Syndroms ein Rätsel. Es wird spekuliert, dass es mit Streptokokken zu tun habe die, wenn sie einen Menschen in der frühen Kindheit infizieren, sich womöglich auf die Region des Gehirns auswirken, die das Reagieren auf die Angst steuert.
Egal, ob nun diese Spekulation sich irgendwann einmal als wahr erweist oder nicht: sie erklärt in keiner Weise das Ausmaß, bis zu welchem die Zwangserkrankung sich der Seele bemächtigen kann. Die von dieser Krankheit Befallenen haben eine totale Angst vor der Welt. Es kann zum Beispiel bei jemandem vorkommen, der in dieser Weise krank ist, dass er Monate lang sich weigert, die eigene Wohnung zu verlassen. Oder ein so Erkrankter erfindet komplizierte, ausgedehnte Ritualen, um den Eintritt dessen vorzubeugen, was ihn mit Ängsten quält – das Anfassen einer Türklinke; das Einatmen der Luft; das Essen: die Möglichkeiten sind unerschöpflich. Es ist deutlich: diese Menschen fürchten sich vor der Furcht selbst. Sie mögen sagen, dass sie eine Todesangst haben vor Keimen oder vor einem Virus, aber das heißt weiter nichts, als dass der Grund ihres Schreckens etwas Unsichtbares ist. Wenn wir aber solche Menschen mehr als Kulturanzeiger betrachten würden denn als Sonderlinge, die mit seltsamen psychologischen Symptomen behaftet sind, so könnten wir vielleicht eine Menge lernen.
In diesem Buch gehe ich auf alle Arten der Angst ein – nicht nur auf die Art, an der die Opfer der Zwangsneurose leiden. Anstatt dass ich Menschen, Gegenstände und Geschehnisse um uns herum als die Ursachen der Angst ansehe, betrachte ich sie vielmehr als die Träger der Angst – als die Boten, nicht als die Botschaft. Das, was wir gewöhnlich für Angst halten, ist lediglich unsere Antwort auf ihre Gegenwart, während sie selbst eine von uns autonome Existenz führt.
Die Angst so zu betrachten – als etwas ganz Reales an sich und somit als mehr denn bloß unsere Reaktion auf eine Bedrohung unseres Wohlseins, – ist eine unübliche Ansichtsweise. Wir denken gewöhnlich nach Ursache und Wirkung. Wir haben die etwas einfältige Auffassung, dass wenn sich nur die Auslöser der Angst finden und beseitigen ließen, sie dann auch selbst ausgeschaltet wäre. Was es während der Lektüre dieses Buches im Sinne zu behalten gilt, das ist, dass ich beim Sprechen über die Angst stets auf der Ebene der Seele spreche. Die Seele folgt nicht der Logik von Ursache und Wirkung so, wie wir uns diese in der physischen Welt vorstellen.
Von der Art, wie Menschen mit einer Zwangsneurose therapiert werden, kann man einiges lernen über die sonderbare Macht, welche die Furcht über uns haben kann. Der konventionelle Therapieansatz für dieses Syndrom ist die Konditionierung. Wenn zum Beispiel ein Mensch davor Angst hat, eine Türklinke anzufassen, und zwar nicht wegen irgendetwas, was ihn auf der anderen Seite der Tür erwartet, sondern wegen der Gefahr, durch Berührung derselben von irgendeiner Krankheit befallen zu werden, so besteht die Therapie darin, den Kranken dazu zu ermutigen, sich schrittchenweise der Tür zu nähern, die Klinke zu berühren und schließlieh die Tür zu öffnen. Diese Behandlung kann Monate dauern. Ferner empfindet der so Erkrankte normalerweise dieselbe Ängstlichkeit gegenüber vielem; so mag ein Mensch mit Zwangsvorstellungen dieser Art eine zehnseitige Liste von Dingen haben, vor denen er sich fürchtet, und in der Regel muss jedes Ding auf der Liste einzeln behandelt werden. Die Logik dieser Behandlungsweise ist die, dass wenn der Auslöser der Angst ein materieller Gegenstand ist, man das Problem bei der Wurzel packen könne, indem man durch Konditionierung den Gegenstand angeht. Bei dieser linearen Denkart aber ist es erforderlich, jedes einzelne Objekt zu behandeln, das mit Angst verbunden ist.
Aus der Perspektive der Seele geht etwas anderes vor sich. Die Angst bewirkt, dass die Seele sich zusammenzieht. Dieses Sich-Zusammenziehen äußert sich als Unfähigkeit des Menschen, sich auf andere Menschen und auf die Welt einzulassen. Die eigene Welt nimmt beständig ab. Die Anregung des Therapeuten, sich wieder in die Welt hinauszubegeben, ist eine Handlung der Liebe, die es ermöglicht, eine Vorstellung dessen zu bilden, was wirklich ist. Die Rolle des Therapeuten ist es, die Empfänglichkeit des Patienten wiederzuerwecken für die Art, wie er sich die Realität vorstellt. Das wiederum ermöglicht es ihm, die eigene Furcht anzunehmen: Eine Türklinke ist vornehmlich etwas, womit man eine Tür öffnet, und keine Bringerin tödlicher Infekte. Eine solche Umgestaltung der Vorstellungen ist eigentlich ein Weg, die Furcht an ihren rechten Platz zurückzuverweisen. Es mag tatsächlich der Fall sein, dass auf der Türklinke Keime lagern, und es ist allerdings denkbar, dass wenn wir sie berühren, wir sterben werden. Es geht darum, dass Furcht in der Welt stets vorhanden ist und auch darum, dass man im Leben nicht darum herum kommt, den zu einer Begegnung mit der Welt nötigen Mut aufzubringen. Die sorgende und liebevolle Beziehung zwischen dem Therapeuten und dem leidenden Menschen ermöglicht eine Weitung der Seele und eine Wiederherstellung des Vorstellungslebens, was zu einem gesunden Verhältnis zur weiteren Welt führt.
In diesem Buch konzentriere ich mich nicht direkt auf die therapeutische Behandlung der Zwangskrankheit, auch nicht auf irgendeinen der gängigen psychologischen Ansätze zur Analyse der Furcht – wie etwa der Angst, der Phobien oder der posttraumatischen Belastungsstörung. Meine Prämisse ist die, dass Furcht in der Welt zunimmt, und zwar rasant. Neben dem Umstand, dass sie in Form von individuellen psychologischen Störungen auftritt, sehen wir uns jetzt mit dieser zerstörerischen Macht auch als mit einem kulturellen Phänomen konfrontiert, das uns alle in tieferer und bedeutungsvollerer Weise berührt, als wir je ahnen würden. Das Seelenleben der Menschheit ist bedroht.
Auch im Zunehmen begriffen sind populäre Schriften zum Thema der Seele. Diese legen von unserer kollektiven misslichen Lage Zeugnis ab. Sie ermutigen die Menschen zur Arbeit am Leben der Seele und gehen davon aus, dass wenn wir für dasselbe nicht die Verantwortung ergreifen, die Seele sich selbst zersetzen werde. Zugleich aber behandeln die meisten dieser Schriften in nur sehr geringem Maße, wie man an die Stärkung des seelischen Lebens herangeht. Und gar keine von ihnen lenkt die Aufmerksamkeit auf die Furcht als schreckliches Hindernis zum Erleben und Pflegen der Seele.
Unsere gegenwärtige Haltung gegenüber der Seele ist die, dass sie ein fest bestehendes Dauer-Element des Menschen sei. Der landläufigen Auffassung zufolge können wir unsere Verbindung mit der Seele verlieren, diese Verbindung aber auf verschiedener Weise wiederherstellen, wie etwa dadurch, dass wir das eigene Leiden ehren; dass wir uns dem Zauber der Welt öffnen, dass wir die eigenen kleinen Marotten als Charakterstärke anstatt als Schwäche ansehen; dass wir auf das Traumleben Acht geben; dass wir eine künstlerische Tätigkeit aufnehmen; dass wir die Imagination wertschätzen.
So wichtig auch solche Tätigkeiten sein mögen: in der Gegenwart so vieler Arten starker Angst ist ein direktes Sich-Hinwenden zur Seele nicht immer wirksam. Und so distanziere ich mich von dieser Denkart und mache spezifische Vorschläge dazu, wie man sich um das Seelenleben kümmern und dessen Kraft stärken kann. In den folgenden Kapiteln ist eine folgerichtige Methode zu finden, um der Gegenwart verschiedener Arten von Angst entgegenzuwirken. Diese Methode lässt sich so zusammenfassen:
Als Erstes müssen wir uns ein Bewusstsein dafür erarbeiten, wie verschiedene Arten von Angst jeweils auf die Seele wirken. Mit jeder Art von Angst wird eine ihr entsprechende natürliche Kapazität der Seele geschwächt. Zweitens müssen wir Wege finden, durch bewusste Tätigkeit die so geschwundene Seelenkapazität wieder herzustellen. In jedem einzelnen Fall geht es darum, eine imaginative Übung zu ergreifen, welche die jeweils taub gewordene Qualität der Seele wiedererweckt. Drittens müssen wir, zuzüglich zum bloßen Ausführen der Übungen, auch auf unser eigenes Seelenleben reflektieren und für uns selbst das beschreiben, was in uns vorgeht.
Auf einen unmittelbaren Ertrag der Übungen kommt es nicht so sehr an; ja es passiert gar nichts Spektakuläres, während wir mit ihnen umgehen. Die Auswirkungen ereignen sich allmählich, im Lauf der Zeit. Machen wir uns aber mit der Art bekannt, wie sich unser Innenleben durch die Übungen verändert, so beginnen wir zu entdecken, wie die so erweckte Seelenfähigkeit in unser Alltagsleben integriert werden kann. Indem unsere seelischen Kapazitäten erwachen, erwacht in uns auch die Fähigkeit, liebevoller zu werden und Liebe hervorzubringen als wirksames Mittel gegen die Ausbreitung von Angst.
Eine Frage, die Ihnen beim Arbeiten mit diesem Buch kommen könnte, ist die, ob es wohl erforderlich ist, alle die vorgeschlagenen Übungen auszuführen. Die Antwort lautet: Es ist wohl besser, bloß eine davon vorzunehmen – diejenige, die für Sie im gegenwärtigen Lebensaugenblick für Sie am sinnvollsten erscheint – und eine Zeitlang mit ihr arbeiten. Es braucht nicht lange. Von Meditationsübungen pflegen wir zu denken, dass sie eine halbe Stunde und länger dauern. Die Seele spricht aber besser auf eine Übung an, wenn sie regelmäßig – täglich, wenn möglich – aber für nicht länger als etwa fünf Minuten ausgeführt wird. Solche kurzen Sitzungen mögen einem geringfügig vorkommen. Man bedenke aber, dass die Zeit der Seele eine ganz andere ist als nach der Uhr gemessene Zeit. Diese Übungen sind nicht solche, wie wenn man zum Fitness-Studio trainieren geht. Ihre positiven Auswirkungen nehmen nicht zu, wenn sie bis zur Erschöpfung wiederholt werden.
Die imaginativen Übungen in diesem Buch wurden schon landesweit von verschiedenen Menschen ausgeführt, und zwar in Seminaren, die von der School of Spiritual Psychology (eine von mir und Cheryl Sanders Sardello betriebene Organisation) veranstaltet wurden. Inzwischen sind es insgesamt mehr als 300 Individuen, die sie aufgenommen haben. Diese Menschen stammen aus allen Lebensbereichen. Keiner von ihnen wurde mit irgendwelchen spezifischen Phobien diagnostiziert, aber alle haben tiefe Sorge zum Ausdruck gebracht über die Art, wie verschiedene Formen der Angst in ihr tägliches Leben eintreten. Wer die von der Schule angebotenen Seminare besucht, möchte ein seelisches Bewusstsein und spirituelle Kapazitäten entfalten, die im praktischen Leben anzuwenden sind. Die im Lauf dieser Seminare von den Teilnehmern gewonnenen Erfahrungen bilden einen Teil dieses Buches. Die Herangehensweise an die für die Seminare entwickelten Übungen hat eine lange Tradition. Viele der Übungen wurden aus der Geisteswissenschaft Rudolf Steiners abgewandelt, eines begabten österreichischen Hellsehers, der zeitgleich mit Freud und Jung wirkte. Der Umgang mit inneren Bildern in der angegebenen Weise ist gänzlich ungefährlich. Wer sie übt bleibt während des Ausführens vollbewusst; es tritt kein veränderter Bewusstseinszustand, keine leibfreie Erfahrung ein. Ja der ganze Ansatz dieser spirituellen Psychologie fußt auf das Bilden eines bewussten, lebendigen seelischen Erlebens, das für die Reiche des Geistes empfänglich ist.
Eine der großen Herausforderungen beim Schreiben über die Angst besteht darin, nicht noch zusätzlich Furcht dabei zu erzeugen. Ich erhielt zum Beispiel einmal von einem Freund einen Brief, in dem er eine Tagung beschrieb, bei der es um das sogenannte Jahr-2000-Problem ging. Die Tagung sei in einer großen Kirche gehalten worden und es seien Redner aus dem ganzen Land dabei gewesen. Es sei gewarnt worden, Lebensmittel zu horten, für alle Fälle. Die Redner hätten gesägt, sie seien nur dazu da, um Informationen zu vermitteln, damit die Anwesenden eigene Entscheidungen treffen können. Der Kirchenleiter sei aufgestanden und habe gesagt, wie wichtig es sei, die Grenzen einer rein materialistischen Herangehensweise an das Computerproblem zu durchschauen und eine mystische Perspektive auf diese Problematik zu haben. Gott sei größer als das Jahr-2000-Problem und gewiss auch in dieser Angelegenheit nicht ohnmächtig. Als mein Freund diese Tagung verließ, habe er eine Menge Angst gefühlt. Seine Angst sei nicht einem größeren Verständnis der möglichen Folgen des Computerproblems entsprungen, sondern seinem Empfinden der ganzen Furcht, die gerade unter der Oberfläche des Gespräches gewirkt habe. Über die Angst selbst wurde gar nicht gesprochen, über die Liebe auch nicht. Den Anwesenden wurden technische Informationen mitgeteilt und dann gesagt, Gott werde eine Lösung bieten.
Die Alternative dazu, sich vor der Angst zu verstecken oder darauf zu hoffen, dass Gott alles in Ordnung bringen wird, ist die, offen und im Körper zentriert zu bleiben, sich der Schönheit der Welt zu verpflichten und zu erkennen, dass auch wenn die Angst nicht vollständig beseitigt werden kann, wir wohl daran arbeiten können, zu verhindern, dass sie uns überwältigt. Um in gesunder Weise mit der Angst zu arbeiten, muss man in enger, bewusster Verbindung mit dem Leben der Seele leben und eine Spiritualität in sich ausbilden, die zu einem ganz normalen Aspekt des alltäglichen Lebens wird.
Oben heißt es, Liebe sei das Gegengift zur Angst. Angst kann uns aber sehr viel über die Liebe lehren. Angst kann unsere Wachheit schärfen, und wir können diese Belebung des Bewusstseins dazu verwenden, unser Auffassungsvermögen für die verschiedenen Varietäten der Liebe zu stärken. In einem späteren Kapitel erkunde ich die Moden der Liebe – was ich aus vielen Begegnungen mit der Angst gelernt habe. In den Kapiteln bis dahin wird Liebe zwar erwähnt aber noch nicht zur Hauptthematik gemacht. Das liegt daran, weil es so leicht vorkommt, dass Liebe in egoistischer Weise verstanden wird. Sentimentale Vorstellungen der Liebe, allein schon der Gebrauch des Wortes ohne innerlich zu verstehen, was es bedeutet; auch ein pauschales Zusammenbegreifen allerlei verschiedener Sorten der Liebe – das alles ist zum Abwenden der Angst unwirksam. Die Auffassung, die Angst könne keinen Schaden anrichten, wenn ich nur umso intensiver und anhaltender liebe, ist ziemlich selbstherrlich, wenn nicht gar naiv. Liebe haben wir wirklich sehr wenig unter unserer Kontrolle. Bestenfalls können wir daran arbeiten, uns selbst zu einem adäquaten Gefäß der Liebe zu machen, damit sie durch uns hindurch und letztlich in die weitere Welt hinausfließen kann.
Mit am tückischsten bei der Angst ist der Umstand, dass sie sich unser bemächtigen kann ohne dass wir es wissen. Es ist nämlich nicht so, dass Menschen, die ständig unter dem Schatten der Angst leben, pausenlos beben und zagen; wohl aber leben sie so, wie wenn sie sich ständig in einem Traumzustand befänden. Nach einer Weile vergessen diese Menschen, dass dieser ihr eigentümlicher Seinszustand nicht reell ist. Dieses Phänomen ist in der Psychologie wohl dokumentiert. Menschen, die ein einschneidendes Trauma erlebt haben, leben Jahrelang in einer Art leisen Trance-Zustandes und vermögen es nicht, in der Welt richtig Fuß zu fassen. Solche Menschen haben es oft schwer, intime Beziehungen zu gründen. Auch neigen sie dazu, die eine oder die andere Sucht zu entwickeln und haben häufig eine grausame Seite, die sie gelegentlich an den Tag legen.
Es gibt auch größere, Kultur umfassende Vorkommnisse von Trauma: das Aufkommen des Nationalsozialismus unter Hitler ist ein deutliches Beispiel hiervon. Hitlers Missbräuche traumatisierten ein ganzes Volk und führten unfassbare Gräueltaten aus dem einfachen Grund herbei, weil er in der ständigen Gegenwart der Angst lebte. Die neuerliche Forschungsarbeit von Robert Jay Lifton ließ mich Erkennen, dass die Betäubung, die durch die Angst verursacht wird, mehr ist, als ein Sich-Ausschalten der körperlichen Sensibilität und der seelischen Aufmerksamkeit. Betäubung entspricht vollends einem Auswechseln des Selbst oder der Seele mit einem falschen Selbst, und solche „Doppelung“ tritt ein ohne dass wir durchschauen, dass sie sich ereignet hat. Die kulturellen Implikationen der Angst sind ungeheuer. Ferner findet dieses Ersetzen unseres zentralen Wesensaspektes nicht ausschließlich im Angesicht offener Feindseligkeit statt. Es lässt sich durch weit subtilere Einflüsse hervorrufen. In einem späteren Kapitel befasse ich mich mit dieser Sache, indem ich die Art und Weise aufzeige, wie „Doppelung“ in unserer Kultur vorkommt, und dann das Mittel anbiete, durch das man dem sich daraus ergebenden Verlust der Seele entgegenwirken kann.
Es werden so viele Bücher aus so vielen verschiedenen Perspektiven veröffentlicht, deren Titel das Wort „Seele“ enthält, dass ich es für unerlässlich halte, so klar wie möglich zu machen was ich unter „Seele“ verstehe, oder zumindest einen Kontext zu bieten für die Art und Weise, wie ich das Wort verwende. Im 20. Jahrhundert gewann das Wort wegen der hochoriginellen Tiefenpsychologie C. G. Jungs einen über religiöse Zusammenhänge hinausgehenden Sinngehalt. Ich für meinen Teil wurde durchaus von Jung beeinflusst, und noch mehr von denjenigen, die seine Arbeit hinsichtlich der individuellen Psychotherapie auf kulturelle Angelegenheiten übertragen haben, insbesondere von James Hillman und Thomas Moore. Ich hatte das große Glück, in den 1980er-Jahren für über fünf Jahre am Dallas Institute of the Humanities mit Hillman und Moore eng zusammen zu arbeiten. Gemeinsam erzielten wir bedeutende Fortschritte darin, „Seele“ aus dem Therapieraum hinaus und in die weitere Welt hinein zu bringen. Diese wichtige Richtung war im Wesentlichen auf die Schwungkraft und die Genialität von Gail Thomas, der Hauptgründerin des Institutes in Dallas, zurückzuführen. Sie regte uns alle mit Nachdruck dazu an, die Welt anzuschauen – die Städte, die Institutionen, die Architektur, die Medien, die moderne Kultur – und sie als Verkörperung der Urbild-Imagination zu sehen. Sie brachte uns dazu, zu sehen, dass Arbeit mit und an der Seele praktische Implikationen hat für das Kulturleben der Gegenwart.
Jung war so weise, „Seele“ nicht zu definieren; seine Charakterisierung derselben ist einfach und elegant: Seele, sagt er, ist Bild. Damit meint er, dass das spontane innere Erscheinen von Bildern – manchmal in bewusster, manchmal in unbewusster Weise – das Funktionieren der Seele kennzechnet. Ferner versteht er unter „Bild“ nicht Vorstellungen bzw. Gebilde, die durch das innere Auge beobachtete werden. Mit „Bild“ meint Jung die unsichtbaren, orientierenden Muster, durch die wir die Empfindung der eigenen Persönlichkeit erfahren und mit ihr auch einen tieferen Sinn der Welt. Die Seele erstehe, so Jung, aus diesen anhaltenden Mustern, den Urbildern. Unser Verhalten auf Urbild-Mustern zurückzuverfolgen helfe uns, die Muster unserer eigenen Erfahrungen zu verstehen. So seien Bilder nicht das, was wir „sehen“, sondern vielmehr das, „wodurch wir sehen“. Diese tieferen Muster wirken, so Jung, durch unser Wahrnehmen, unser Denken, Fühlen und Handeln hindurch, was eine Empfindung der Seele ist.
Ganz gewiss interessierte sich Jung für die weitere Welt. Er stellte eine Menge Spekulationen an über die Seele in der zeitgenössischen Kultur an und bereiste die Welt, um das aktive Seelenleben anderer Völker zu erleben. Auch berichtete er über Phänomene von kulturellem Interesse wie zum Beispiel Kunst, mythische Geschichten, ja sogar UFOs. Aber er brachte es nicht ganz bis zu einer Auffassung der Weltseele als an einem von der einzelnen menschlichen Seele autonomen Wesen. Ich erwähne deshalb diese Einschränkung, weil wann immer ich unter Berufung auf Jungs Auffassung der Seele versuchte, die Furcht als etwas mehr denn ein bloßes Problem der individuellen Psyche zu betrachten, eine Bestimmung der Seele der zeitgenössischen Kultur schwierig war. Zum Glück fand ich aber Hilfe in der Geisteswissenschaft Rudolf Steiners.
Steiner, der weniger bekannt ist als Jung, wirkte ja wie oben gesagt zur gleichen Zeit wie dieser und war sich des Beitrags von ihm wohl bewusst. Steiner war Philosoph, Gelehrter, Wissenschaftler und Pädagoge sowie der Begründer der Anthroposophie, einer modernen Wissenschaft des Geistes. Er inspirierte eine Erneuerung vieler kultureller Tätigkeiten, darunter der Pädagogik (die Waldorfschulen), der Landwirtschaft (biologisch-dynamische Landwirtschaftsweise), der Medizin (anthroposophische Medizin), der Heilpädagogik (etwa die Camphill-Bewegung), der Kunst, der Wirtschaftswissenschaft, der Philosophie und der Religion. Er spricht über den Beitrag sowie die Grenzen des Ansatzes von Jung etwa im Vortrag „Psychoanalyse und Psychosophie“. Seine Auffassung der Seele, auf die ich mich in erheblichem Maße beziehe, stellt er im Vortragszyklus Anthroposophie, Psychosophie, Pneumatosophie dar. Steiners Beschreibung der Seele enthält nur bis zu einem bestimmten Grade Parallelen zur Auffassung Jungs. Er spricht vom inneren Leben der Seele als aus einer fortdauernden, dramatischen Spannung zwischen Liebe und Hass bestehend. Weder „Liebe“ noch „Hass“ soll hier im alltäglichen Sinne aufgefasst werden, denn in diesem Zusammenhang meinen sie Kräfte der Anziehung und des Abstoßens. Die Spannung, die aus dem Zusammenwirken solcher Kräfte entsteht, drückt sich in der Entstehung von Bildern aus. Ferner wird die Seele von allem beeinflusst, was in der uns umgebenden Welt geschieht. Solche Einflüsse sind etwa unsere Beziehungen zu anderen Menschen oder die kollektiven Kräfte der Kultur. Das alles lebt noch lange in der Seele fort, nachdem das Ereignis vorbei ist, das den Eindruck ursprünglich machte. Erstaunlicherweise fehlt in der Psychologie Jungs eine Auseinandersetzung mit den langfristigen Wirkungen dessen, was um uns herum sich ereignet, auf das Seelenleben. Das ist der Grund, weshalb die Beiträge Steiners so unentbehrlich sind.
Im Gegensatz zur Psychologie Freuds, die behauptet, dass unbewusste Erinnerungen der Quell unserer Krankheiten seien, legt Steiner nahe, dass das, was in der Seele weiterlebe, nicht nur die Inhalte der Erinnerung, sondern eine generelle Ausdehnung (sofern es sich um gesunde Erfahrungen handelt) bzw. Zusammenziehung der Seele seien (sofern es sich um Ängste handelt). Solche Veränderungen, so Steiner, wirken sich nicht nur auf die Weise aus, wie wir mit uns selbst, mit anderen Menschen und mit der Welt umgehen, sondern auch auf die Weise, wie wir uns selbst, andere Menschen und die Welt verstehen. Die in diesem Buch vorkommenden Beschreibungen der Furcht stehen letzterer (Steiners) Auffassung des Lebens der Seele näher. Steiner behauptet keine umfassende Theorie der Seele. Er beginnt vielmehr mit der Frage: Was lässt sich rein durch Beobachtung über dieses Leben der Seele erkennen? Von hier aus schreitet er zu seinen Beschreibungen fort. Der in diesem Buche beschriebene Umgang mit der Furcht besteht darin, nicht nur Steiners Ergebnisse zu adoptieren, sondern so zu tun, wie Steiner tut – nämlich detaillierte Beobachtungen zu machen.
In dem, was folgt, werden Sie etwas von dem Verhalten der Furcht lernen und davon, wie man mit der Imagination arbeitet und wie man in Richtung einer umfassenden Liebe zur Welt hin sich bewegt. Auch werden Sie von der Notwendigkeit erfahren, eine Schönheit zu entwickeln, die Biss hat; womit ich die Notwendigkeit meine, unser Leben schön zu gestalten, zumal als Ausdruck von Liebe in der Welt. Alle diese Vorschläge tun weiter nichts als in unterschiedlicher Weise dieses zum Ausdruck zu bringen: Es braucht Zeit, „Seele“ zu machen, „Seele“ zu leben, „Seele“ zu erfahren. Die heute vorherrschenden Arten der Furcht rauben uns die Zeit, die wir brauchen, um an der Seele zu arbeiten. Die Seele wird zwar seit Jahrhunderten zusammengedrängt; nichtsdestoweniger passiert das ärgste Sich-Zusammenziehen des Seelenlebens erst seit Neuem, seit dem Zweiten Weltkrieg. Man bedenke nur alles, was in der kurzen Zeitspanne seit dem Krieg geschehen ist. Einige der Bereiche, in denen wir drastische Umwälzungen erlebt haben: Raumfahrt, Informatik, medizinische Technologie, Transport, Wirtschaftswerte, Genetik, sittliche Werte, Geschlechterrollen, Familienleben, religiöse Werte, das Gestalten von Konzernen, Globalisierung. Furcht kommt in der Seele dann auf, wenn Änderungen schneller eintreten, als unsere seelischen Kapazitäten mit denselben schritthalten können. Viele der Ängste, die wir heute erleiden, haben damit zu tun, dass die Zukunft vor ihrer Zeit eintrifft. Wir werden emotional und psychisch weit über uns selbst hinausgedrängt, und das Ergebnis dieses fundamentalen Zerwürfnisses ist ein enormer Stress. Vor Kurzem las ich die Einleitung zu einer Produktlinie von Tier-Pharmazeutika: „Doggy-Prozac“. Die Prämisse hinter dieser Behandlung ist die, dass unsere Haustiere den Stress des modernen Lebens verinnerlicht haben und allerlei Symptome hiervon an den Tag legen, wie etwa Heulen, Beißen, an der Tür Kratzen, sogar Selbstverletzung. Nun, das alles ist unser Stress, unsere Furcht. Wir tun vielleicht gut daran, uns unsere Tiere anzuschauen, um ein Bild für die Lage unseres eigenen Seelenlebens zu gewinnen.
Für jeden von uns bedurfte es als Kind einer ungeheuren Anstrengung, das Lesen zu lernen, das Rechnen zu beherrschen, denken zu können. Keine dieser Fähigkeiten hat sich naturgemäß entwickelt. Einen Umgang mit der Seele in bewusster Weise zu erlernen ist eine Aufgabe für Erwachsene, aber die damit verbundene Mühe ist der Anstrengung unseres Lernens in der Kindheit analog. Es braucht eine harte Arbeit, um einen Sinn für die Seele auszubilden. Wer sich für „Seele“ überhaupt interessiert, neigt dazu, sich im Sich-Erzählen-Lassen von ihr zu sonnen. Ein solches bloßes Erzählen-Hören wiederum erzeugt ein Mitklingen in der eigenen Seele, das uns betrügt: uns ist, als hätten wir eine Erfahrung der Seele tatsächlich gehabt. Es könnte aber, könnte sein, dass wir uns die Flügel der Imagination erst verdienen müssen.
Zum Weiterlesen: Kapitel I. Eintritt in die Gefahren der Furcht
Ausdruckbare pdf-Version der Einleitung zu "Die Befreiung der Seele aus der Furcht"