Die Befreiung der Seele von der Angst
von Robert Sardello
Kapitel I: Eintritt in die Gefahren der Angst
Angst ist unser finsterer Geselle, der begleitet uns vom Moment des Erwachens bis in die Tiefen unserer nächtlichen Träume. Hier eine kleine Kostprobe der landläufigsten Arten von Angst: der Verlust des Arbeitsplatzes; der Tod eines Kindes; das Altern; körperliche Gewalt zugefügt zu bekommen; krebskrank zu werden; das Zugrundegehen einer Beziehung; nicht gut genug zu sein; die eigene Familie nicht versorgen zu können. Die Liste ließe sich beliebig verlängern. Man könnte zunächst meinen, dass um von der Angst frei zu sein man ein und für alle Male diesen finsteren Gesellen los werden muss. So verbringen wir unsere Zeit damit, immer mehr und mehr Komfort zu suchen. Durch Shopping, Entertainment, Urlaub suchen wir uns zu zerstreuen. Wir erwerben teure Autos, gehen häufig essen, verbringen zu viel Zeit vor dem Fernseher, ziehen in eine eingezäunte Siedlung, in der es „sicher“ ist. Wir lassen uns therapieren oder treten einer Selbsthilfe-Gruppe bei, nehmen Prozac, führen eine Schusswaffe mit uns, leben in Verdrängung und Isolation. Solche Maßnahmen stumpfen aber nur vorübergehend die Gegenwart von Angst ab und ermöglichen ihr unter der Oberfläche umso intensiver zu wirken, was wiederum das Bedürfnis nach mehr Komfort weiter steigert.
Da die Welt mit Situationen voll ist, die unvermeidbar Angst erzeugen, kann es kein Entkommen geben. So kann das Freiwerden von Angst nicht bedeuten, dass wir sie einfach abschaffen. Das käme der Aussage gleich, dass man sich in einer Ehe nicht anders frei fühlen kann, als indem man die Ehe auflöst. Wohl können wir aber in uns innere Ressourcen ausbilden, die uns helfen, uns der Angst zu stellen. Wie man sich dazu anschickt, macht den Fokus dieses Buches aus.
Das Evangelium hat mit der Behauptung „die vollkommene Liebe treibt alle Angst aus“ völlig Recht. Da es aber nur wenige unter uns gibt, die es vermögen, zur vollkommenen Liebe zu gelangen, scheint eine Abschaffung der Angst unerreichbar. Und dennoch, wenn man sich der Angst nicht stellt, so unterhält sie sich selbst, nagt an der Substanz unseres Seins und vermag uns komplett zu überwältigen. Über längere Zeit kann die Angst uns unserer Menschlichkeit berauben. Nähern wir uns der Angst aber mit den Ressourcen eines bewussteren Seelenlebens, so bemächtigt sie sich unser nicht mehr, sondern motiviert uns fortdauernd dazu, mehr von unserer Menschlichkeit zu entdecken.
Die Angst rührt viele Reaktionen auf, die die Seele auslaugen und verwirren können. Um das Bewusstsein wahrhaft vertiefen zu können, müssen wir uns im menschlichen Leben einem umfassenderen Bild der Seele zuwenden. Für die gewöhnliche Auffassung kommt die Seele einer Ansammlung innerer Erlebnisqualitäten gleich. Sie ist Fantasie; sie kommt Gefühlen gleich, die Träger einer reflexiven Komponente sind; sie gilt als das, was jenseits der bewussten Erfahrung liegt. So verstanden bestimmt die Seele die Art, wie wir sowohl auf äußere Ereignisse zugehen als auch auf diese reagieren. Meine Sichtweise der Seele ist insofern eine etwas breitere, als dass sie Einflüsse mit umfasst, die aus der äußeren Welt auf uns einwirken. Solche Ereignisse in der Welt leben in der Seele weiter, und zwar nicht nur als Erinnerungen, sondern als Ballungen oder Spreizungen im Feld der Seele. Angst zieht die Seele zusammen. Wenn wir uns fürchten, so erleben wir uns als einsamer, isolierter, weniger eingebunden mit der größeren Welt, abgeschnittener von dem Reichtum unseres inneren Lebens. Weitet die Seele sich aber aus, so bietet sie uns eine Möglichkeit, mit den in jedem von uns befindlichen zerstörerischen Kräften konstruktiv zu arbeiten. Die Seele lebt an Eigenschaften wie etwa Freude, Mitgefühl, Wahrheit, Lust, Schenken, Dienen, Schönheit, ja sogar innerem Ringen, auf. Am stärksten kommt die Seele in einem breiten Spektrum von Liebeshandlungen zum Ausdruck – im Knüpfen tiefer Beziehungen mit anderen Menschen, im Bilden des Vermögens zum Dienen, im Öffnen unseres Herzens gegenüber den geistigen Reichen. Wenn man lernt, in neuer bewusster Art diese Eigenschaften zu erhalten und weiterzuentwickeln, so kann uns das sehr weit bringen im Heilen der Angst in der Welt.[1]
[1] Statt meine Definition von „Seele“ aus der Psychologie C. G. Jungs abzuleiten, welche „Seele“ für einen von jedem Einfluss aus der unmittelbar umgebenden Welt autonomen Faktor hält, behaupte ich eine breitere Sichtweise, die auf der von Rudolf Steiner gelieferten Auffassung dieses Begriffs fußt. Der Leser sei insbesondere auf Steiners Anthroposophie, Psychosophie, Pneumatosophie verwiesen. [Anmerkung des Übersetzers: für die englischsprachige Version dieses Zyklus von Rudolf Steiner hat Robert Sardello eine Einleitung verfasst, deren Übersetzung ins Deutsche in Arbeit ist.]
Wir beginnen mit der einfachen Definition von Angst als das, was uns das unmittelbare Erleben unserer wahren menschlichen Identität – dessen wir uns als Individualitäten bewusst sind – abstumpft. Ganz Mensch zu sein erfordert eine Empfindung des Mysteriums unseres Leibes im Verhältnis zur Größe der Welt und des Kosmos. Menschliche Identität erfordert auch ein Eingehen unsererseits auf solche inneren Qualitäten des Erlebens wie Gefühl, Emotion, schöpferisches Denken, Erinnerung, den Sinn für das Schicksal sowie für alle die subtilen Eigenschaften, die das Leben als bedeutungsvoll und nicht bloß als eine Erfahrung zufällig aneinandergereihter Ereignisse werden lässt. Unsere wahre Menschlichkeit besteht ferner darin, uns an der Wirklichkeit von etwas zu orientieren, was größer ist als wir selbst und solche Wirklichkeit auch zu erleben: das Geheimnis des Andersseins; die Realität des Sakralen; das Vermögen, das Heilige zu empfinden.
Wenn bei uns die Angst zuschlägt, so ist das eine Attacke auf unsere Empfindung, ganz Mensch zu sein. Es folgt ein von einer Teilnehmerin an unseren Workshops verfasstes Beispiel eines solchen Vorkommens von Angst. Dieser Fall ist lehrreich, da er nicht besonders außergewöhnlich ist und Elemente enthält, die einem jeden Erleben der Angst gemeinsam sind:
"Es war ein Tag im Spätsommer, wir waren irgendwo in Colorado unterwegs. Mein Freund und ich befanden uns auf dem Rückweg aus Denver. Ein schöner Urlaub war zu Ende gegangen. Wir unterhielten uns über seine Eltern, bei denen wir zwei Tage zu Besuch gewesen waren. Wir waren gerade zwei Stunden zuvor losgefahren. Ich saß hinter dem Lenkrad; es war Spätnachmittag geworden, als wir die Autobahn erreichten. Mein Freund redete, ich lachte über irgendetwas, als ich auf die Autobahnauffahrt fuhr. Ich beschleunigte, blickte in den Außenspiegel – die Fahrspur hinter uns war frei. Dann drehte ich den Kopf, sah über die rechte Schulter – frei. Während ich zum Einfädeln nach links blinkte, schaute ich noch einmal in den Rückspiegel und begann dann, mich einzufädeln. Setzte mich wieder aufrecht und blickte nach vorne – genau auf die Stoßstange eines riesigen LKW. Unser Auto berührte ihn schon fast. Alles andere verschwand. Es gab keinen Schall, kein Licht, keine Umgebung mehr. Es gab nur noch den LKW, die Kuppelung, das Bremspedal, das Lenkrad, die Gangschaltung und mich. Mein Herz raste nicht; es hörte vielmehr überhaupt zu schlagen auf. Ich schwitzte nicht; mir war eisig kalt. Mir waren die Hände, der Mund, die Augen trocken wie die Wüste. Mein Körper war nicht eigentlich steif; er funktionierte vollkommen richtig. Aber er tat nur das Notwendige, sonst nichts. Für eine Zeit, die mir wie endlos schien, war ich mit dem LKW allein in meinem Versuch, ihm zu entkommen. Als ich endlich etwa fünf Meter Abstand zu ihm gewonnen hatte, schien die Welt zu mir zurückzukehren. Mit den Geräuschen, der Umgebung, dem Licht, kehrten mir die Zeit und das Bewusstsein zurück. Die Zeit zeigte mir, dass ich noch immer ziemlich schnell fuhr – etwa 80 Kilometer pro Stunde. Mein Bewusstsein meldete mir, dass wir soeben dem sicheren Tod entkommen waren. Meine Körperreaktionen wurden anders. Ich begann zu zittern, ich fröstelte und schwitzte zugleich. Ich konnte nur mit Mühe das Auto auf der Fahrbahn halten. Bei der nächsten Ausfahrt hielt ich an und saß einfach weinend da, während mein Freund mich beruhigte. Die Situation war so urplötzlich eingetreten, dass ich erst dann die Gelegenheit hatte, Angst zu empfinden, nachdem alles vorbei war. Die Gefahr hatte nicht länger als eine Minute gedauert; aber ich brauchte etwa eine Stunde, bis mir Körper und Geist einigermaßen wieder funktionierten." [2] Mein Dank geht an Sabine Cox für diese Beschreibung, die im Rahmen eines Fernkurses über den Umgang mit der Angst geschrieben wurde.
Auch aus diesem nur sehr kurzen Augenblick wird deutlich, wie Angst die Seele zusammenzieht. Sie verengt uns die Sinne, die Zeit verändert sich, wir sind plötzlich isoliert, die Weite und Tiefe des Bewusstseins verschwinden. Angst rast durch den Körper, erzeugt Wogen des Zitterns, einen Augenblick des Zusammenbrechens. In dieser Beschreibung hilft die liebevolle Gegenwart des Freundes, die Verfasserin zum normalen Zustand zurückfinden zu lassen, aber die Auswirkungen der Angst klingen noch immer im Körper nach. Man stelle sich vor, was Angst denn anrichtet, wenn sie nicht wie hier ein momentaner Zwischenfall ist, sondern eine fortdauernde Präsenz, die dem Leben zugrunde liegt. Es sind nämlich die gleichen Faktoren wie in der obigen Beschreibung am Werk, aber hintergründiger, und mit schlimmen körperlichen, seelischen und geistigen Auswirkungen. Wie die Frau im Auto schalten wir uns ausschließlich auf Überlebensmodus um. Unser Körper wird gepanzert. Wir verlieren den Kontakt zu unserem Innenleben, und unsere Verbindung zu anderen Menschen in der Welt schwindet. Als Gesellschaft besteht unsere Antwort auf die Gegenwart vieler Arten fortdauernder Angst darin, sie zuzudecken, anstatt mit ihnen so zu arbeiten, dass unsere seelischen Fähigkeiten wieder hergestellt und erweitert werden.
So viele Dinge in der Welt gibt es, die unsere Fähigkeit verhindern, uns der Angst zu stellen. Unsere Sinne etwa sind bereits von Reizüberflutung und Exzessen eingeengt. Unsere Kultur ist so daran orientiert, Menschenmassen zu beeinflussen, sie bewegt sich so schnell und so effizient, dass kaum Zeit und Raum für das innere Leben übrig bleibt. Sogar die Kulturinstitutionen, die wir am höchsten wertschätzen, wie Erziehung, Bildung, Religion, Politik, verdecken unsere innere Entwicklung, wenn sie von Angst gesteuert werden. Angst, so möchte ich nahelegen, erfindet die Bereiche der Wahrnehmung, der Kultur, des Sakralen neu, indem sie diese Bereiche verkürzt.
Jede menschliche Handlung verändert die Welt. Alles, was wir im Lauf eines Tages tun, geht in die Welt über und wird zu einem Teil von ihr. Wenn wir aus Angst handeln, wird Angst in die Welt eingeschrieben. Handeln wir aus Liebe und Schönheit, so prägt sich das auch ein. Es entsteht eine Art kreisförmige Strömung, durch welche uns die Ergebnisse unserer Handlungen durchsichtig werden und die uns ermöglicht unsererseits, anders handeln zu lernen. Wir müssen nicht besonders intensiv hinschauen um zu sehen, dass Angst in der Welt große Fortschritte gemacht hat; sie befällt uns in sonderbarer Weise und dominiert uns, oft ohne dass wir es wissen.
Nachdem wir die obigen Betrachtungen nun vorangestellt haben, wollen wir uns eine Nächstes eine Form vorstellen, in der sich unsere schlimmsten Ängste verkörpern. Soll sie eine Skimaske tragen, während sie sich einer Frau aufdrängt, die gerade ihre eigene Wohnung betritt? Soll sie ein Arzt sein, der einem ahnungslosen Patienten verkündet, dass dieser an einem unheilbaren Lymphom erkrankt ist und in einigen Wochen sterben wird? Soll sie ein IS-Soldat sein, der seine Maschinenpistole mitten auf einen mit Kindern vollen Spielplatz abfeuert? Lassen wir sie ein Konzernmanager sein, der dabei ist, den Personalbestand seiner Firma zu verringern? Ein Bundestagsabgeordneter, der einen Gesetzentwurf vorstellt, um die Rente zu kürzen? Die Möglichkeiten sind unbegrenzt.
Jetzt versuchen Sie, sich Ihre eigene schlimmste Befürchtung vorzustellen. Verweilen Sie nicht lange darauf, sondern nehmen Sie einfach zur Kenntnis, was Ihnen einfällt, wenn sie für einen Augenblick die Aufmerksamkeit auf das ruhen lassen, was Ihre schlimmste Befürchtung ist. Diese kleine Übung ist kein Experiment im Visualisieren. Sie bezweckt weiter nichts, als uns dazu zu verhelfen, anfänglich eine Verbindung zu der Kraft der Angst zu finden sowie zu dem, was sie gerade bewirkt. Was dabei auftaucht, kann von Tag zu Tag etwas anderes sein.
Man bemerke, dass bei den ganzen oben angeführten Beispielen der Angst kein Zusammenhang gegeben ist. Höchstwahrscheinlich ermangelt in ähnlicher Weise auch die eigene Vorstellung eines Kontextes. Wenn jemand eine Befürchtung vor das eigene innere Auge ruft, so ist weder persönliche Vergangenheit, die eigene Persönlichkeit, die Stufe der eigenen inneren Entwicklung, die geistige Orientierung, noch sind alle die Menschen mit dabei, die einen lieben und unterstützen. Von den Dingen in der oben angeführten Liste wissen wir nicht, welche Menschen beteiligt sind, wir haben keine Ahnung davon, wo oder wie sie leben oder woran sie glauben. Und in Ermangelung eines Kontextes ist die Möglichkeit ausgeschlossen, vorherzusagen, wie verschiedene Menschen diese Situation durchstehen würden. Diese Vorstellungsübung ist dennoch lehrreich. Erstens zeigt sie, dass wenn die Angst daherkommt, sie jeden Zusammenhang wegfegt. Wenn uns der Zusammenhang unseres Lebens entzogen wurde, so verwenden wir künstliche Barrieren, um uns zu schützen. Bei solche Barrieren – wie zum Beispiel verstärkte Polizeipräsenz; Alarmanlagen; das Recht, eine Handwaffe mit sich zu führen; Medikamente, die die meisten Krankheiten zu heilen verheißen; politische Versprechungen – ist es oft so, dass sie just die Angst steigern, deren Entfernung sie bezwecken.
Fürchten wir uns vor Krankheit, so suchen wir vielleicht einen Arzt auf, der uns anhand von komplizierten Tests und Verfahren bescheinigt, dass wie kerngesund seien. In allen solchen Fällen träumen wir von etwas externem, das sich um das Problem der Angst kümmert; aber diese äußeren Kontrollen steigern nur die Angst, die in der Welt vorhanden ist. So gesehen tritt die Angst immer in veränderter Form auf: Wenn wir glauben, dass wir uns von ihr befreien konnten, so taucht sie ausgerechnet in den Waffen auf, deren wir uns bedienen, um sie zu kontrollieren.
Das, was viele Angstgeladene Situationen definiert, ist die plötzliche Feststellung, dass wir nicht mehr wir selber sind. Wenn ein Räuber mich mit einer Pistole konfrontiert, hat er keine Ahnung davon, wer ich bin. Das ist ihm egal. Er behandelt mich nicht als Individuum, sondern als Geldquelle. Und mit der Waffe in der Hand hat er die Macht, von einer Sekunde auf die nächste mich vor mir selbst auszuradieren und zu genau dem zu machen, was er von mir will – zu einem Geld- und Schmuck-Geber. In dem Augenblick bin ich nicht mehr Psychologe, Schriftsteller, Redner, Vater, Ehegatte, Lehrer. Was den Räuber angeht, so habe ich nicht einmal einen Namen. Eine bestimmte Ebene des Selbst verschwindet. Sofern ich im Leben nicht tiefer in mich selbst hineingegangen bin als bis zu diesen Äußerlichkeiten, löscht eine Situation der Angst meine Empfindung der eigenen Identität aus.
Mit dem abstrakten Wort „Opfer“ wird versucht, diesen Umstand zu beschönigen. Aber in dem Moment des "Opferseins" erlebe ich mich nicht als Opfer; ich finde mich vielmehr dominiert von einer Fremdauffassung dessen, wer ich bin. Der Räuber sieht mich nämlich als seinen Geldgeber. Mein Chef im Büro sieht mich vielleicht als einen bloßen Funktionsträger an. Der Feind im internationalen Konflikt sieht uns alle vielleicht als ein Übel, das es zu zerstören gilt.
Sowohl die körperlichen Begleiterscheinungen zur Angst – Weitung der Pupillen, Erbleichen, beschleunigter Pulsschlag, erhöhte Tätigkeit des sympathischen Nervensystems – als auch solche psychologischen Reaktionen wie Angst, Schrecken, Erschaudern, Kampf-oder-Flucht Reaktion, Panik, sind bloße Wirkungen und sollten nicht mit der Angst selbst verwechselt werden. In ähnlicher Weise sind auch geistige Reaktionen wie Zweifel, Zurückhaltung, isoliert Sein, Verlust der Zuversicht lediglich Wirkungen. Die Haupttätigkeit der Angst ist das Fragmentieren. Sind wir einmal fragmentiert, so setzt Verwirrung ein. Wir identifizieren unsere Angst als in einem oder mehreren dieser Fragmente zentriert und behandeln sie als ein körperliches, ein psychologisches oder ein geistiges Problem.
Die Angst entfernt das einheitliche Zentrum unseres Seins, den einzigen Teil von uns, der dazu in der Lage wäre, sich ihr im angemessenen Kampfmodus zu begegnen. Der Angst kommt man nicht anders als durch die Totalität unseres Seins bei, durch das ganz-Sein, das in unserem Menschsein besteht. Wenn ein Arzt oder ein Psychiater sich auf medikamentöse Behandlung verlässt, um bei Ängsten, Phobien und Panik für Erleichterung zu sorgen, so bedeutet das eine Gefährdung dessen, der behandelt wird. Hält der Psychologe oder der Therapeut die Angst für ein Problem, das mit der Art zu tun hat, wie der Mensch in der Kindheit behandelt wurde, oder für einen Komplex oder für einen Mangel an Selbstwertgefühl, so setzt das ebenfalls den Behandelten einer Gefahr aus. Und wenn ein Berater auf geistiger Ebene die Angst als Folge von Sünde ansieht oder als Folge des Fehlens einer Verbindung mit dem „höheren Selbst“ oder eines sich Abwendens von der Religion, so wurde ebenfalls von der Zentralität dieses Menschen als Mensch abgesehen.
Die Angst beginnt dann, das Leben der Seele zu befallen, wenn wir aus uns selbst herausgezogen werden. Verfallen wir, wenn auch in sehr subtiler Weise, dem falschen Selbst, zu dem die Angst uns macht, so leben wir von dem Moment an in Angst; obwohl die anfänglichen körperlichen Symptome abklingen. Ferner bedeutet unser gegenwärtiges Erleben der Welt als voller Angst, dass wir permanent der Situation ausgesetzt sind, nicht der zu sein, der wir sind; besonders tragisch hieran ist, dass das eintreten kann, noch bevor wir überhaupt zu einer Auffassung dessen gekommen sind, wer wir eigentlich sind und wie wir uns zur Welt in Beziehung setzen.
Angenommen ich habe eine schon lange bestehende Beziehung zu jemandem und wir sind miteinander so eng verbunden, dass keiner von uns auf die Idee kommt, zu fragen: „Wer bin eigentlich ich in dieser Beziehung?“ Dann ruft mich eines Tages der Freund an und setzt mich über ein neues Arbeitsverhältnis in Kenntnis, das er mit jemand anderem eingerichtet hat, und das mit meiner eigenen Arbeit direkt in Konkurrenz steht. Ich befürchte plötzlich, dass er unsere Freundschaft dazu benutzt hat, um herauszufinden, wie ich in meinem Geschäft Erfolg erziele. Dessen Entschluss, mit jemand anderem zusammenzuarbeiten, scheint unsere Freundschaft aufzuheben. Es ist in der Freundschaft ein Riss entstanden. Was eigentlich bearbeitet werden müsste, das ist die Freundschaft selbst, was ja erfordern würde, dass ich die genauen Eigenschaften der Angst kennenlerne, die uns getrennt haben. Es kann aber sein, dass der Riss eine Frage nicht über die Freundschaft aufwirft, sondern über mich selbst. Habe ich etwas Falsches gemacht? Warum bin ich nicht stark genug, um diesen Menschen loszulassen? Es geht mir im Zuge der Auflösung der Beziehung schlecht; ich bin verletzt, gekränkt, vielleicht werde ich nicht wieder einem anderen Menschen vertrauen können. Ich merke, dass diese Reaktion in keinem Verhältnis steht. Schließlich suche ich einen Therapeuten auf, um an mir selber zu arbeiten. Zusammen mit meinem Therapeut entdecke ich, dass ich wegen der Umstände in der frühen Phase meines Lebens nicht fest in mir ruhe, das sich eine tiefe Unsicherheit empfinde. Zwar ist in den Behandlungen auch von Angst die Rede, aber diese wird nur für ein Symptom meiner eigenen Schwäche gehalten. Indem ich mich selbst vollständiger kennenlerne, vermag ich, freier zu anderen in eine Beziehung zu treten, diese Beziehungen zu genießen und werde bereitwilliger, den anderen in der Beziehung ein autonomes Selbst sein zu lassen.
Was aber mit dieser Therapie erreicht wird, hat mehr mit der Taktik der Selbsteingenommenheit zu tun, welche durch den Riss im Gewebe der Verbindung geschaffen wurde und über die der Therapeut spekuliert, als damit den Weg zum Verbundensein zu finden. Ich lerne es wohl, sprechend mich durch schwierige Situationen hindurchzubringen wie die, die ich mit dem früheren Freund erfahren habe. Ich lerne vielleicht, den anderen Menschen als freie und autonome, mit individuellen Präferenzen ausgestattete Person zu sehen, die nicht zwingend mit mir etwas zu tun haben. Ich lerne vielleicht sogar, dass ich es vermag, mich auch ohne diesen Menschen als heil und ganz zu empfinden und dass ich es nicht nötig habe, mich dadurch zu schützen, dass ich mich isoliere. All dies klingt bestimmt wie die Entwicklung eines gesunden Sinnes für Verbundenheit. Was aber eigentlich passiert ist, das ist, dass sich die Angst meiner bemächtigt hat. Nicht habe ich gelernt, wie Angst ins Verbundensein eintritt; stattdessen habe ich einige Taktiken zur Vermeidung von Angst gelernt. Ich habe gelernt, mich besser um mich selbst zu kümmern, was bloß eine kompliziertere Form der Isolierung ist. Unter solchen Umständen verkümmert meine durch die Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen zu erreichende Entwicklung zu einem seelenhafteren Menschen. Zwar erlebe ich keine Angst mehr, wenn mich ein Freund oder ein Kollege schwer enttäuscht. Es ist in einer unsicheren Welt ein Punkt der Stabilität gefunden worden. Aber es sieht nur so aus, als wäre die Angst erlöst worden.
Die Schwierigkeit ist die, dass im hier beschriebenen Prozess die Angst als „meine“ Angst galt. Meine Reaktion auf die Gegenwart der Angst ist die eigene, aber Angst selbst – das sagt wohl jeder, der sie erlebt hat – ergreift Besitz von einem, man kann nicht von ihr sagen, dass sie einem eigentlich gehöre. Man kann einen Raum betreten und die Angst überall um einen herum fühlen. Oder man kann empfinden, wie Angst zwischen zwei in Konflikt begriffenen Menschen besteht. Es kann ein ganzes Land von Angst eingenommen sein. [3] Rudolf Steiners Kritik an Jungs Auffassung der Seele war, dass sie nicht weit genug geht. Wann immer Jung die Urbilder des Seelenlebens beschreibt, begreift er nie diese Figuren als außerhalb der Psyche bestehend. Steiners Sichtweise ist, dass das psychische Leben durch unsichtbare, zum Leben der einzelnen Psyche an sich nicht dazugehörige Bildrealitäten beeinflusst wird, die zwar nicht sichtbar, wohl aber sehr reell sind. Die in diesem Buch vertretene Sichtweise der Angst erfasst diese als eine solche Wesenheit.
Im Beispiel oben hielt der Therapeut die Angst für das Resultat einer unzulänglichen Auffassung des Selbst; dabei offenbart ein tieferer Blick, dass der Fokus der Therapie die Ego-Identität war. Die Angst gab das Stichwort, in der Therapie diese Identität neu einzuschätzen, was eigentlich noch mehr Selbstbezogenheit schaffte und somit mehr Isolation. Das Strömen meiner Beziehungen mit anderen Menschen ist jetzt darauf beschränkt, wie ich mich besser um mich selbst kümmere. Die Angst kann nunmehr unbemerkt ans Werk gehen. Die Angst ist das, was mich hellwach hält gegenüber der Notwendigkeit, mich um mich selbst zu kümmern. Allerdings sieht das nicht mehr so aus wie Angst, sondern so, als hätte man alles besser in Griff.
Zwar lässt sich die Angst nicht austricksen, man kann aber vermeiden, von ihr ausgetrickst zu werden; man kann genügend Geistesgegenwart erringen, um die verschiedenen Vorwände, unter denen sie funktioniert – deren Tarnungsversuche – zu durchschauen. So kommt man darum herum, zu ihrem Handlanger zu werden. Als Erstes müssen wir es dahin bringen, Angst als fremde Präsenz zu erkennen. Sie gehört nicht zu uns, wenngleich unsere Reaktionen auf sie so aussehen mögen; sie existiert noch vor unseren Reaktionen auf sie. Sie greift nach uns. Wir mögen sie für einen Augenblick dadurch zerstreuen, dass wir sie für bloße Einbildung halten. Aber schon nach einigen Sekunden behauptet sie sich erneut als wortlose Drohung. Physikalische Spuren ihrer Anwesenheit gibt es nicht; räumlich ist sie nicht zu orten, weder neben uns noch oberhalb oder innerhalb unser, auch hockt sie nicht drüben in der Ecke oder schwebt mitten in der Luft. Und doch ist sie unverkennbar zugegen, als eine Macht für sich.
Es ist illusorisch zu denken, dass wir die Angst bewältigen können, indem wir stärkere Kontrollen installieren – über unser Leben, unsere Beziehungen, unsere Lebenslage, unsere Welt. Wir behandeln die Symptome im irrtümlichen Glauben, dass sie die Angst selbst seien. Sie zieht sich in die Verborgenheit zurück, indem sie als Tarnung verschiedene Formen der Ego-Identität erzeugt und so von sich den Anschein erweckt, als wäre sie mit unserer Persönlichkeit Eins. Ich lerne vielleicht, mir mich selbst als Herr meiner Beziehungen vorzustellen. Oder ich sehe mich als wunderbarer Beschützer meiner Familie vor jeder Gefahr. Die jeweilige Form der Ego-Identität, die ich annehme, hängt von der jeweiligen Art der Angst ab. Wie sich später zeigen wird, erschafft die Angst tatsächlich mannigfache falsche Selbst-Auffassungen, und alle passen sich unserer Persönlichkeit an.
Wann immer wir uns von der Angst kompromittiert sehen, ist es unsere Aufgabe, sie in ihrem jeweiligen Erscheinungsbild zu entlarven. Die Vorwände, unter denen sich die Angst behauptete, sind äußerst listig. Unter dem Vorwand etwa, das Selbst zu stärken, schiebt sie die Schuld für unsere Schwächen auf das, was unsere Eltern an uns vergangen oder unterlassen haben oder auf Traumata, die wir durchgemacht oder auf Missbrauch, den wir erlitten haben. Tatsächlich kann das Tragische, das uns zugestoßen ist, als die Ursache unserer Schwächen gelten; man kann es aber auch als Pforte behandeln, die zu einem tieferen und bewussteren Seelenleben führt. Wenn wir die Schwierigkeiten des Lebens als Schwächen ansehen, so hat die Angst ein Versteck gefunden, wo sie sich ausbreiten kann. Sehen wir die Schwierigkeiten als Pforten, so vermeiden wir die Fehleinschätzung, dass wir die Angst abgeschüttelt haben. Stattdessen entfalten wir die Seelenkraft, alle vorhandene Angst auszugleichen.
Von dem Selbst zur Person
Unsere Menschlichkeit entstammt nicht einem vollständigen Abwesendsein der Angst, sondern einem mutigen, nie endenden Ringen mit ihr. Hier nämlich ist die kleine aber absolut notwendige Domäne der menschlichen Freiheit zu finden – im freien Entschluss, dieses fortwährende Ringen einzugehen. Und die Intention dieses Ringens ist es nicht, den absoluten Sieg zu erlangen, sondern in unserer Menschlichkeit zuzunehmen.
Hier ein Beispiel von jemandem, der sich willentlich auf die Auseinandersetzung mit der Angst einlässt, anstatt sich von ihr kontrollieren zu lassen. Alan, ein einfacher, siebzigjähriger Mann, der voller Leben und Energie war und sich für alles interessierte, was um ihn her war, suchte einen Arzt auf, weil in seinem Urin Blut war. Er fühlte sich wohl und war nie ernsthaft krank gewesen. Eine ärztliche Untersuchung ergab, dass seine rechte Niere vergrößert war. Diese zwei Symptome, zusammen mit seinem Alter, legten Nahe, dass sich ein bösartiger Tumor auf der rechten Niere gebildet hatte. Der Arzt teilte Alan mit, dass um diese Diagnose zu bestätigen Alan zwecks weiterer Tests ins Krankenhaus stationär aufgenommen werden müsse.
Als der Arzt Alan dies sagte, verweigerte er einen Krankenhausaufenthalt. Er wollte zuhause bleiben. Der Arzt erzählte ihm, die Krankheit sei höchstwahrscheinlich sehr ernst und dass wenn es sich um einen bösartigen Tumor handle, die Niere entfernt werden müsse. Wenn bei ihm ein bösartiger Tumor vorliege, werde er mit ziemlicher Sicherheit sehr leiden und eines elenden Todes sterben. Er bat Alan darum, seine Ehefrau, seine Kinder und seine Freunde zu berücksichtigen. Warum wolle er zuhause bleiben, statt ins Krankenhaus zu gehen und die Krankheit behandeln zu lassen und dadurch wenigstens ein Bisschen Zeit gewinnen? Alan weigerte sich trotzdem. Er lehnte ab, vom Haus weggenommen zu werden, in dem er gelebt, gearbeitet und seine Kinder erzogen hatte. Er lehnte ab, den im Stich zu lassen, der er zu sein wusste und sich in die fremde Welt der Klinik stecken zu lassen. Er hatte nicht vor, einfach nach Hause zu gehen und auf den Tod zu warten. Er wollte nach Hause gehen und sich auf möglichst natürliche Weise um sich selbst kümmern. Er war mit seinem Leben zufrieden, um seine 70 Jahre dankbar.
Es ist wichtig, zwischen der Unmittelbarkeit körperlicher Reaktionen und der Art der Angst zu unterscheiden, die das Leben der Seele befällt. Mit Sicherheit wird Alan bei der Verkündung durch den Arzt Angst empfunden haben. Sein Herz raste; wahrscheinlich empfand er große Angst und wollte wegrennen, flüchten. Aber er hat nicht zugelassen, dass sich die Angst seiner bemächtigt.
Alan wird sich auch plötzlich seiner Identität entledigt empfunden haben. Aber seine inneren Ressourcen ließen keine Usurpation dessen zu, der er sich zu sein wusste. Er reagierte nicht auf die Angst ließ keine Behandlung zu, die ihm nicht als die richtige einleuchtete. Er vermochte es, der Bedrängung durch den Arzt standzuhalten. Diese Geschichte war deshalb interessant, weil es zwar so scheinen mochte, wie wenn es Leben ist, was der Arzt Alan anbot, und dennoch wusste dieser instinktiv, dass ihm eben nicht Leben, sondern Angst angeboten wurde. Irgendwo, im tiefstem Innern, wusste er, dass wenn er in die Klinik geschleppt, in ein weißes Hemdchen gekleidet, in einen Raum mit lauter fremden Menschen gesteckt, gepikst und sondiert, betäubt, geöffnet und einer Strahlenbehandlung unterzogen würde, er nie wieder zu sich selbst gehören würde. Ferner wusste er instinktiv, dass er sich von dieser Trennung von sich selbst nie wieder würde erholen können. Für andere Menschen würde eine solche Erholung sehr wohl möglich, und für diese Menschen wäre es das Richtige gewesen, sich einer solchen Behandlung zu unterziehen.
Dieser Mann stellte sich seiner Situation und auch sich selbst: So handelt es sich hier nicht um Verdrängung. Seine Seele war von der Angst befreit. Er hat sich nicht preisgegeben, als er mit Angst konfrontiert wurde. Das lag nicht daran, dass seine Empfindung der eigenen Identität stärker, weiter entwickelt oder reifer war, als die der meisten anderen Menschen, sondern – so möchte ich nahelegen – daran, dass er im Laufe der Jahre seines Lebens es bis zu einem bestimmten Grad der Selbstlosigkeit gebracht hatte. Wobei es allerdings eine besondere Art zu leben gewesen sein muss. Sein Zuhause, seine Familie, seine Umgebung, seine Freunde waren er selbst – Das ist natürlich nicht im wortwörtlichen Sinn gemeint. Als es vorhin hieß, Alan müsse jemand mit inneren Ressourcen gewesen sein, bezog sich der Ausdruck „innere“ nicht auf irgendwelche innerhalb dieser Person befindlichen Dinge. Ganz im Gegenteil: hier haben innere Ressourcen mit der Art zu tun, wie dieser Mensch mit der Welt verwoben ist; sie haben mit der Beschaffenheit der Qualitäten zu tun, die er zu erfahren gelernt hatte, und zwar erlebte er diese Qualitäten nicht in sich selbst alleine, sondern in Verbindung mit allen Menschen, die um ihn herum waren. [4] Hier wird ein erweiterter Blick auf die Seele impliziert. „Seele“ als Eigenschaft, als Sammelbegriff ist nichts, was innerhalb unser existiert, sondern ausschließlich in unseren Beziehungen mit anderen und mit der Welt sowie durch dieselben. Diese Sichtweise folgt einer anderen Herangehensweise an die Psychologie, nämlich der der phänomenologischen Psychologie. Man vergleiche zum Beispiel J. H. van den Berg: A Different Existence, Duquesne University Press, 1971.]
Wir können uns sein Zuhause als voller Wärme, Fürsorge, Erinnerungen vorstellen; seine Familie als Achtung vor ihm ausstrahlend; seine Umgebung als recht einfach vielleicht, als ein aus Arbeit, Freunden, Werten bestehendes Leben vorstellen.
Menschen wie Alan, die einen Sinn für die eigene Gegenwart in der Welt alsreale Gegenwart besitzen, leben nicht ohne Angst. Aber aufgrund des zwischen ihnen und der Welt existierenden Beziehungsgewebes, von dem die Angst nur ein einziger Faden ist, kann die Angst sie nicht dominieren. Wenn aber die Fäden dieses Gewebes auszufransen beginnen – wenn die Welt mehr irreal als real wird beziehungsweise wenn eine innere Erfahrung wie etwa ein kraftvoller Traum oder eine überwältigende Emotion von einem selbst Besitz ergreift –, dann entsteht ein Loch im Gewebe und es tritt ein Fragezeichen auf. Dieses Fragezeichen kann der Aufweckruf sein, der uns zwar nicht direkt in Richtung einer Suche nach sich selbst drängt, wohl aber nach einer Vertiefung des Sinnes für unsere lebenswichtigen Verbindungen mit der Welt.
Was der Angst das Potential verleiht, uns zu neuen Daseinsmöglichkeiten zu erwecken, ist die Tatsache, dass es vor ihr kein Entkommen gibt. Angst lässt sich nicht beiseiteschieben, in irgend eine Ecke der Welt, eingezäunt und mit dem Namen „Angstgefängnis“ versehen, damit wir wissen, wo sie sich befindet und so sie vermeiden können. Wir sind vielmehr dazu aufgerufen, mit der Angst zu arbeiten, sie intim kennenzulernen, zwar niemals mit der Vorstellung, dass sie unsere Freundin werden könnte, aber auch ohne sie zu unserer Feindin zu machen. Eine Umgangsweise mit der Angst als Feindin zwingt uns zu Angstsamen Versuchsweisen, sie loszuwerden, was paradoxerweise ihre Gegenwart nur verstärkt.
Angst kann uns mit Kapazitäten in Kontakt bringen, von denen wir nicht einmal wussten, dass wir sie besitzen. Eine erste Ahnung dieser Kapazitäten tritt mit der Einsicht ein, dass es nicht möglich ist, Angst loszuwerden, wohl aber sie nach und nach umzuwandeln. Umzuwandeln in was? Angst kann in Seelenkapazitäten umgestaltet werden, welche die Kräfte der Liebe in die Welt hineintragen. Liebe wirkt so, dass sie Angst aufhebt, denn Liebe ist eine Kraft der Verbindung und der Anziehung, während Angst eine Kraft der Trennung und Teilung ist. [5] Rudolf Steiner: Die Liebe und ihre Bedeutung in der Welt, Zürich, 17. Dezember 1912. Vortrag vor Mitgliedern der Theosophischen Gesellschaft. Damit diese Verwandlung sich vollziehen kann, gilt es, in alchemistischer und nicht in wissenschaftlicher Weise zu verfahren. Wenn wir uns die Angst als bloße Wirkung einer Ursache vorstellen, als etwas, was wir erst zu finden und dann zu tilgen brauchen, damit sie keine Gewalt mehr über uns hat, so denken wir wissenschaftlich. Alchemistisch Wir verfahren aber, wenn wir uns der Angst als Grundsubstanz unseres Seins und der Welt selbst nähern. Unsere Aufgabe wird es sein zu entdecken, wie man aus diesem Dung Gold macht – wobei unter „Gold“ ein ganzer Mensch zu verstehen ist, der immer weniger durch Angst fragmentiert ist.
Worte zu finden, die das Mensch-Sein adäquat beschreiben, ist nicht leicht; vielleicht ist das Wort „Mensch-Sein“ zu abstrakt. Das, wonach zu werden wir ringen, ist eine ganze Person. In abstrakter Weise könnten wir sagen, die Person ist eine ungeteilte und in ihrem Ausdruck ungehemmte Einheit von Leib, Seele und Geist, die ins Gewebe der Beziehungen mit anderen Menschen und mit der Welt voll hineingewoben ist. Das Antlitz der Person erkennen wir alle: Es ist eine Ausstrahlung, ein Leuchten, eine Wärme, die uns dahin führt, mehr von dem- oder derjenigen zu fühlen, der/die wir in Wahrheit sind. Wir fühlen, dass sich nichts versteckt, dass dieses Individuum wahr und echt ist und nichts beschützt oder abschirmt. Wir fühlen, dass ein solches Individuum nicht darauf aus ist, aus uns etwas herauszuschlagen. Natürlich fühlen wir keine Angst, die von diesem Menschen ausgestrahlt würde – was freilich nicht bedeutet, dass er keine Angst mehr empfindet, sondern nur, dass er kein Träger der Angst ist. Wir können uns ziemlich sicher sein, dass ein solches Individuum – weit entfernt davon, einfach eine angenehme Persönlichkeit zu haben – mit vielen, sowohl inneren wie auch äußeren Dämonen gerungen hat und dass er es zur Entdeckung der unantastbaren Region des Herzens gebracht hat.
Die Seele von der Angst zu befreien heißt, sich an der Angst beteiligen; nicht naiv und nicht wie ein Schaf, das zum Abgeschlachtet-Werden geführt wird, sondern mit der größten Aufmerksamkeits- und Bewusstseinsintensität, die wir aufbringen können. Es hat mit einer Steigerung des Bewusstseins zu tun – was aber von dem Schmerz unzertrennlich ist, der mit jeder Bewusstseinserweiterung einhergeht – und es geht dabei nicht darum, das zu beherrschen, was uns bedroht. Dieser Ansatz zum Umgang mit der Angst erfordert von uns eine erhöhte Wachheit für die Besonderheiten dessen, was wir durch die Sinne erfahren. Solche Wachheit können wir nur dadurch aufbringen, dass wir dem Reich der Sinne eine scharfe Bewusstheit zuwenden – wir müssen offener, weicher, lebendiger sein in genau den Situationen, in denen es so scheinen möchte, wie wenn wir dadurch Freiheit gewinnen könnten, dass wir flüchten, indem wir unsere Sinne abstumpfen. Noch mehr: Was hier gefragt ist, das ist, dass man lernt, sich um sympathische Einsicht intensiv zu bemühen, damit man vordringen kann bis zu den Gründen und den Ursachen der Angst, ja bis zum Geist selber der Menschen, die wohl die Täter sind. Das Ausbilden einer solchen Einsicht ist schwierig, weil es ohne die Pflege auch der leisesten Spur von Sentimentalität erfolgen muss, welche nämlich die Handlungen der Täter entschuldigen würde. Entsprechend muss diese Einsicht ebenfalls ohne jede Spur von Sentimentalität uns selbst gegenüber sein, zumal ohne in eine Opfermentalität hineinzuverfallen.
Diesen Prozess durchzumachen zeitigt in uns eine allmähliche aber ziemliche radikale Veränderung. Schicht um Schicht wird frühere Konditionierung abgetragen. Mit dieser Konditionierung werden auch die ganzen irrtümlichen Hoffnungen mit abgebaut, enen gemäß wir seit vielen Jahren gelebt haben. In uns allen findet solche Konditionierung statt durch Eltern, Schulung, Religion, Gesetze, Konventionen, Tradition und die Zivilisation und Kultur, in denen wir leben. Alles, was uns im Leben ein Maß an Gewissheit gibt, kann uns weggenommen werden, einschließlich das, was – an der Oberfläche wenigstens – unsere allerbesten Qualitäten und Charakterzüge zu sein scheinen. Ja wir bekommen eine Gelegenheit, diese Charakterzüge für die Masken zu sehen, die sie sind. Wir dürfen sie für das zu schätzen, was sie uns gegeben haben; zu gleicher Zeit durchschauen wir aber, wie sie uns an der Oberfläche festgehalten haben, weil wir uns ausschließlich ihretwegen mit dem Erhalt beziehungsweise dem Beschützen der eigenen Bedürfnisse und Wünsche beschäftigt haben. Dieser Prozess des Abstreifens legt nach und nach die vielen Schichten unseres Unterbewusstseins frei, wo wir die Gelegenheit bekommen, uns den weniger erfreulichen Aspekten der Emotionen, Leidenschaften, Trieben zu stellen – dem, von dem Jung als die Schattenaspekte unserer Persönlichkeit spricht. Wir dürfen uns unserer ganzen Kleinlichkeit und Selbstbezogenheit stellen, aber auch den Stärken, von denen wir nicht wussten, dass wir sie haben, und auch der Macht, vor der wir vielleicht zurückscheuen. Schließlich kommen wir bei der Nacktheit der Seele an.
Dieser Weg ist gefahrvoll, denn jede freigelegte Schicht ist eine Gelegenheit für die Angst, sich des Freigelegten zu bedienen. Hier ein Beispiel: Carol, ein Mitglied einer unserer Workshops, kam zur Entdeckung, dass sie ihr Leben auf der Wichtigkeit ihres Rufes aufgebaut hatte. Das schien ihr nun eine gute Sache zu sein; es muss jedenfalls nichts Falsches oder Schädliches sein. Ist man schließlich so aufgewachsen wie sie, nämlich in der Tradition einer vornehmen, aristokratischen Familie der Südstaaten der USA, in der der Vater, der Großvater, ja auf mehrere Generationen zurück alle ihre Vorfahren biedere, aufrichtige Bürger einer Gesellschaft waren, in der Dienst an der Gemeinschaft, der Kirche und der Universität vor Ort viel Gutes herbeigeführt hatte, so ist doch gut nachvollziehbar, wieso sie so konditioniert worden war, auch so zu handeln. Aber – diese Schicht der Konditionierung, die bestimmt, dass man sich in einer bestimmten Weise verhalten solle, ist der Ort, wo die Angst sich sammelt und versucht, die Kontrolle zu gewinnen. Carol hatte ständig das Gefühl, sie müsse Dinge tun, die respektabel sind. Sie legte beiseite ihr eigenes tiefes Interesse für Lernen, Schreiben und Lehren, um karitative, bürgerliche und organisatorische Aufgaben zu ergreifen, die in der Gemeinschaft als ehrenhaft gelten. Versagte sie in irgendeinem dieser Vorsätze, so fühlte sie eine intensive Angst. Tat sie das Geringste, was ihren Ruf hätte beflecken können, erlebte sie große Ängstlichkeit. Sie ertappte sich sogar beim Verrichten von Dingen, die ihren Ruf auf Kosten anderer Menschen aufrechterhielten. Sie sorgte dafür, dass sie bei organisatorischen Aufgaben immer die oberste Verantwortung bekam, ließ sich auf Machtkämpfe mit ihren Freunden ein, beschuldigte andere, wenn nicht alles genau so verlief, wie sie wollte. Für Carol bedeutete das Sichbefreien von der Angst, dass sie jede dieser Konditionierungsschichten – eine nach der anderen – abstreifen und intensive Angst empfinden musste, indem sie sich jeder der freigelegten Schichten bewusst wurde.
Ein weiteres Beispiel: Es könnte jemand urplötzlich in die tiefsten Ebenen des Unterbewusstseins dadurch gestürzt werden, dass sie einem Trauma – etwa einer Vergewaltigung – ausgesetzt wird. Ein solches Trauma fegt oft mit einem Schlag unseren ganzen Schutz weg. Unter einer solchen Bedingung der Nacktheit der Seele kommt es vor, dass der Mensch schlimmste Aufwallungen etwa von unkontrollierbarer Wut oder Depression erlebt. Wer verwundbar ist und mitten ins Unbekannte geworfen wird, kann von der Angst eingenommen und in die Verzweiflung getrieben werden. Es muss dann eine ungeheure Anstrengung aufgebracht werden, um solche Verwundungen nicht mit neuen Schichten der Konditionierung zu überlagern. Das Erscheinen von Angst und Beben verkündet uns, dass eine weitere Schicht abgetragen wurde und verhilft uns zu durchschauen, wie sehr wir in der Illusion leben.
Außer der Angst vermag nichts, die gusseisernen Schichten des falschen Selbst wegzuätzen und uns zu unserem Wesenskern zu führen, wo die Verwandlung der Angst in Tugend beginnen kann – vorausgesetzt wir stellen uns der Angst mit gesteigertem seelischem Bewusstsein, anstatt ihr nachzugeben. Wir brauchen uns nur die Geschichten von Individuen zu vergegenwärtigen, die Kriege oder Konzentrationslager durchlebt haben oder die aus politischen Gründen inhaftiert und gefoltert wurden, die die entsetzlichsten Krankheiten durchgemacht haben, oder die mit den Auswirkungen aller möglichen Arten des Missbrauchs ringen müssen. Die ätzenden Wirkungen der Angst können ein freies und offenes Seelenleben herbeiführen, das sich an Fürsorge und Dienen sowie an einem tiefen Empfinden und Erkennen der Liebe orientiert; sie kann uns allerdings auch zu bloßen Menschenhülsen machen. Der Unterschied scheint darin zu liegen, ob wir uns angesichts der Angst mehr der Seele öffnen oder aber uns den Tiefen unseres Daseins schließen.
Das Ausbilden seelischer Fakultäten, um Angst auszubalancieren
Angst trägt unsere natürlichen menschlichen Fähigkeiten ab. Wenn zum Beispiel wir anderen Menschen gegenüber ängstlich werden, so wird unsere natürliche Fähigkeit zum Vertrauen abgetragen, oder wenn wir irgendein körperliches Trauma durchgemach haben, würgt sich unsere naturgegebene Fähigkeit ab, in unseren Sinnen offen zu sein. Die von der Angst abgetragenen Fähigkeiten gilt es dann, durch bewusstes inneres Arbeiten zurückzubilden. Indem wir unsere inneren Ressourcen stärken und weniger durchdringbar machen, können die verschiedenen Arten der Angst, denen wir begegnen, abgeschwächt werden. In den folgenden Kapiteln wird eine Anzahl meditativer Übungen angegeben, und jede Übung hat eine ähnliche Form. Man soll als Erstes ein bestimmtes Bild machen, je nachdem mit welcher Art der Angst man gerade arbeitet. Dann muss man dieses Bild halten, es so stabilisieren, dass es sich nicht in irgendetwas Anderes verwandelt. Nachdem man für eine Weile das Bild festgehalten hat, löst man es absichtlich wieder auf und richtet die Aufmerksamkeit auf die innere Leere. [6] Um sich über den Hintergrund und die Ausbildung dieser Methode zu informieren, siehe Dennis Klocek, Seeking Spirit Vision (Fair Oaks, CA: Rudolf Steiner College Press, 1998). Dieses Verfahren bewirkt die Entwicklung einer inneren Stärke der Seele. Es erfordert Seelenkraft, ein inneres Bild herzustellen. Es erfordert auch Kraft, um das Bild zu stabilisieren und zu halten. Wurde ein Bild einmal in dieser Weise hergestellt und stabilisiert, so erfordert es weitere Stärke, das Bild wieder auszulöschen und die eigene Anwesenheit vor der inneren Leere aufrechtzuerhalten. In dieser Weise bilden sich neue Seelenfähigkeiten, und zwar solche, die sich direkt dahin orientieren, die Gegenwart der Angst auszubalancieren.
Als ein Zugang in die in den kommenden Kapiteln verwendete Arbeit mit Bildern empfiehlt es sich, ein inneres Bild eines einfachen Gegenstands zu machen – wie etwa eines Steins. Man finde einen ganz gewöhnlichen Stein und betrachte diesen für einige Minuten, indem man ihn in der Hand umwendet. Dann schließe man die Augen und bilde eine innere Vorstellung dieses Steins. Es soll eine Vorstellung geschaffen werden, welche den Stein genauso wiedergibt, wie man sie sah. Man bemerke, wo das Bild zu entstehen scheint. Erscheint es in der Gegend der Augen, wie wenn man es anschauen würde, so ist das ein intellektuell-mentales Abbild des Steins und kein tieferes, lebendigeres Bild. Wenn man nur ein solches Abbild des Steins hat, so ist nur die dem Blick zugekehrte Fläche des Steins zu sehen. Man hat dann eher ein Seelenbild des Gegenstandes, wenn ein Gefühl des Gegenstandes als Ganzes entsteht; vielleicht sieht man das Ganze nicht visuell, aber die Qualität des Ganzen wird vorhanden sein. Es geht darum, das Bild zu stabilisieren, es so lange wie es geht ruhig und konstant zu halten. Es kann vorkommen, dass es sich zu bewegen beginnt; wenn das passiert, so bringe man es zur Mitte zurück. Wenn es zu verblassen beginnt, so bringe man es durch ein sanftes Willensaufgebot zurück. Auch kann es vorkommen, dass das Bild neue Eigenschaften anzunehmen beginnt. Es beginnt, sich zu animieren, oder man fängt an, über etwas mit dem Stein Verbundenes nachzudenken, wie etwa den Ort, wo man ihn gefunden hat, und ehe man es sich versieht ist man in eine Gedankenreverie abgeschweift. Stellt man dies fest, so kehre man zum Bild zurück.
Nachdem man das Bild einige Minuten lang stabilisiert hat, lösche man es aus und stelle sich so lange wie möglich der Leere, ohne irgendeinen anderen Gedanken oder irgend in anderes Bild erscheinen zu lassen. Es kann auch vorkommen, dass man dabei die Gegenwart von Angst oder einen Anteil von Angst bemerkt. Die Gegenwart der Angst stört die Fähigkeit, sich zu konzentrieren. Sinn der Übung aber ist es, sich mit dem vertraut zu machen, was gemacht werden muss, um ein Bild zu stabilisieren. Es genügt nicht, sich an den Stein zu erinnern, den man betrachtet hat; man muss davon ein Bild machen. Die Handlung, das Bild herzustellen, erfordert Willenskraft. Zugleich aber muss man, damit das Bild da sein kann, dem empfänglich sein, was sich darbietet. Diese zwei Eigenschaften müssen zueinander in vollkommenem Gleichgewicht stehen. Ist der Willensakt zu stark, so wird das Bild in irgendeiner Weise verzerrt sein. Ist der Wille nicht stark genug, um das Bild zu halten, so wird es beginnen, eine Eigendynamik zu entfalten: vielleicht sieht man Funken oder Lichter, oder der Stein verwandelt sich in ein Bild der ganzen Erde – oder sonst alles Mögliche Andere.
Ein zweites Ziel der Übung hat mit dem Augenblick zu tun, in dem man das Bild auslöscht und sich bemüht, bei der Leere dabeizubleiben. Unter Leere verstehe ich, dass für kurze Zeit kein Gedanke, kein Bild, keine Erinnerung ins Bewusstsein tritt. Dieser Teil der Übung stärkt die Willensfähigkeit. Man wird feststellen, dass es einen Konzentrationsaufwand erfordert, um bei der Leere dabeizubleiben und dass sich diese Konzentration sogar im Körper fühlen lässt. Es wird Wille aufgeboten, um die Leere aufrechtzuerhalten. Zu Beginn mag man es schwierig finden, für länger als ein paar Sekunden bei der Leere dabeizubleiben. Andere Bilder oder Gedanken werden sich vielleicht aufdrängen, oder man wird sich womöglich etwas müde fühlen. Mit wiederholter Anstrengung wird das Zeitintervall länger – wobei es allerdings niemals leicht fallen wird.
Das Aufbauen eines lebhaften Bildes, um es dann auszulöschen, schafft eine Öffnung, einen Ort des Nichtwissens, den man kraftvoll halten muss als das Zentrum des eigenen Waltens. Dieses Zentrum des Nichtwissens ist der eine sichere Ort, zu dem die Kräfte der Angst keinen Zutritt finden. Nichtwissen bedeutet nicht Zweifel; ist doch Zweifel die offene Tür für die Kräfte der Angst. Zweifel schafft einen Raum für Verwirrung, und Verwirrung führt zur ausgewachsenen Skepsis, was ein sicheres Zeichen dafür ist, dass negative Kräfte sich festgesetzt haben. Das Nichtwissen bedeutet aber nicht Unbewusstsein. Diese Eigenschaft des Nichtwissens hält man in völliger Klarheit des Bewusstseins und ist nur dadurch zu erlangen, dass man innere Bilder macht, diese auslöscht, die innere Leere hält und ihr zuhört. Was in der inneren Leere zu erstehen beginnt, das ist eine Gefühlseigenschaft, ein Gefühl des Schutzes, eine innere Sicherheit, dass man der Angst begegnen und es mit ihr aufnehmen kann, ohne sich vollkommen zu verlieren. Will man sich auf detailliertere Auseinandersetzungen mit der Angst einlassen, so ist als Ausgangspunkt die Ausbildung der Imagination äußerst wichtig.
Im Finden eines Ortes der inneren Ruhe sucht man innerlich nach Ruhephasen, in denen man nicht bestürmt wird. Im Festhalten an etwas Sicherem oder Vertrautem sucht man äußerlich solche Phasen. Und die Pflege der Tiefenatmung ist das Bemühen, zwischen dem eine Einheit herzustellen, was außen und dem, was innen ist. Die Außenluft wird eingezogen und die Innenluft wird ausgestoßen. Wird die Atmung rhythmisch, in richtiger Weise ausgewogen, so entsteht eine Innen-Außen-Kontinuität. Die in den folgenden Kapiteln angegebenen Übungen erweitern den gewöhnlichen Prozess, die Ruhe im Bereich der Imagination wieder herzustellen, auf die ganze Domäne des seelischen Lebens, so dass man mit Erlebnissen der Angst, die mehr als nur flüchtige sind, in gesunder Weise arbeiten kann.
Angst, indem sie die Schichten unseres äußeren und auch unseres inneren Seins wegfrisst, trifft auf einen zentralen Kern des Feuers, das man nun das Feuer der Liebe nennen kann; ein geheimnisvolles Feuer, von uns selbst weder angezündet noch unterhalten, das aber immer und ständig im Herzen unseres Wesens loht. Zwar mag dieses Feuer dadurch entstehen, dass man die eine oder die andere spirituelle Tradition befolgt, aber es muss von einer Auseinandersetzung mit der Angst selber entfacht werden. Wir können das Gift der Angst zur Vertiefung der Seele, zur Entfaltung des Seelen- und des Geistbewusstseins und zur Stärkung der feurigen Kräfte der schöpferischen Liebe verwenden lernen.
Wer wir in der Tiefe unseres Wesens sind, besteht nicht aus irgendeiner zentralen Substanz, einer irgendwo in den Falten unseres physischen Körpers untergetauchten unsichtbaren Wesenheit, die trotz aller Veränderung äußerlicher Umstände überdauert. Sind wir nicht im Kern selbst unseres Wesens eher etwas wie eine brennende Lichtflamme? Die Metapher der Flamme offenbart jedenfalls einen inneren Kern des Mysteriums, etwas, was über das gewöhnliche Begreifen hinausgeht, etwas, was dazu in der Lage ist, sowohl Wärme und Licht in die Welt hineinzutragen, als die Angst zu verbrennen. Indem unsere Erkundung der Angst fortschreitet, wird diese Metapher einer zentralen Flamme unseres Wesens unsere Führerin sein.
Hier endet Kapitel 1 der Befreiung der Seele von der Angst
Ausdruckbare pdf-Version von Kapitel 1
von Robert Sardello
Kapitel I: Eintritt in die Gefahren der Angst
Angst ist unser finsterer Geselle, der begleitet uns vom Moment des Erwachens bis in die Tiefen unserer nächtlichen Träume. Hier eine kleine Kostprobe der landläufigsten Arten von Angst: der Verlust des Arbeitsplatzes; der Tod eines Kindes; das Altern; körperliche Gewalt zugefügt zu bekommen; krebskrank zu werden; das Zugrundegehen einer Beziehung; nicht gut genug zu sein; die eigene Familie nicht versorgen zu können. Die Liste ließe sich beliebig verlängern. Man könnte zunächst meinen, dass um von der Angst frei zu sein man ein und für alle Male diesen finsteren Gesellen los werden muss. So verbringen wir unsere Zeit damit, immer mehr und mehr Komfort zu suchen. Durch Shopping, Entertainment, Urlaub suchen wir uns zu zerstreuen. Wir erwerben teure Autos, gehen häufig essen, verbringen zu viel Zeit vor dem Fernseher, ziehen in eine eingezäunte Siedlung, in der es „sicher“ ist. Wir lassen uns therapieren oder treten einer Selbsthilfe-Gruppe bei, nehmen Prozac, führen eine Schusswaffe mit uns, leben in Verdrängung und Isolation. Solche Maßnahmen stumpfen aber nur vorübergehend die Gegenwart von Angst ab und ermöglichen ihr unter der Oberfläche umso intensiver zu wirken, was wiederum das Bedürfnis nach mehr Komfort weiter steigert.
Da die Welt mit Situationen voll ist, die unvermeidbar Angst erzeugen, kann es kein Entkommen geben. So kann das Freiwerden von Angst nicht bedeuten, dass wir sie einfach abschaffen. Das käme der Aussage gleich, dass man sich in einer Ehe nicht anders frei fühlen kann, als indem man die Ehe auflöst. Wohl können wir aber in uns innere Ressourcen ausbilden, die uns helfen, uns der Angst zu stellen. Wie man sich dazu anschickt, macht den Fokus dieses Buches aus.
Das Evangelium hat mit der Behauptung „die vollkommene Liebe treibt alle Angst aus“ völlig Recht. Da es aber nur wenige unter uns gibt, die es vermögen, zur vollkommenen Liebe zu gelangen, scheint eine Abschaffung der Angst unerreichbar. Und dennoch, wenn man sich der Angst nicht stellt, so unterhält sie sich selbst, nagt an der Substanz unseres Seins und vermag uns komplett zu überwältigen. Über längere Zeit kann die Angst uns unserer Menschlichkeit berauben. Nähern wir uns der Angst aber mit den Ressourcen eines bewussteren Seelenlebens, so bemächtigt sie sich unser nicht mehr, sondern motiviert uns fortdauernd dazu, mehr von unserer Menschlichkeit zu entdecken.
Die Angst rührt viele Reaktionen auf, die die Seele auslaugen und verwirren können. Um das Bewusstsein wahrhaft vertiefen zu können, müssen wir uns im menschlichen Leben einem umfassenderen Bild der Seele zuwenden. Für die gewöhnliche Auffassung kommt die Seele einer Ansammlung innerer Erlebnisqualitäten gleich. Sie ist Fantasie; sie kommt Gefühlen gleich, die Träger einer reflexiven Komponente sind; sie gilt als das, was jenseits der bewussten Erfahrung liegt. So verstanden bestimmt die Seele die Art, wie wir sowohl auf äußere Ereignisse zugehen als auch auf diese reagieren. Meine Sichtweise der Seele ist insofern eine etwas breitere, als dass sie Einflüsse mit umfasst, die aus der äußeren Welt auf uns einwirken. Solche Ereignisse in der Welt leben in der Seele weiter, und zwar nicht nur als Erinnerungen, sondern als Ballungen oder Spreizungen im Feld der Seele. Angst zieht die Seele zusammen. Wenn wir uns fürchten, so erleben wir uns als einsamer, isolierter, weniger eingebunden mit der größeren Welt, abgeschnittener von dem Reichtum unseres inneren Lebens. Weitet die Seele sich aber aus, so bietet sie uns eine Möglichkeit, mit den in jedem von uns befindlichen zerstörerischen Kräften konstruktiv zu arbeiten. Die Seele lebt an Eigenschaften wie etwa Freude, Mitgefühl, Wahrheit, Lust, Schenken, Dienen, Schönheit, ja sogar innerem Ringen, auf. Am stärksten kommt die Seele in einem breiten Spektrum von Liebeshandlungen zum Ausdruck – im Knüpfen tiefer Beziehungen mit anderen Menschen, im Bilden des Vermögens zum Dienen, im Öffnen unseres Herzens gegenüber den geistigen Reichen. Wenn man lernt, in neuer bewusster Art diese Eigenschaften zu erhalten und weiterzuentwickeln, so kann uns das sehr weit bringen im Heilen der Angst in der Welt.[1]
[1] Statt meine Definition von „Seele“ aus der Psychologie C. G. Jungs abzuleiten, welche „Seele“ für einen von jedem Einfluss aus der unmittelbar umgebenden Welt autonomen Faktor hält, behaupte ich eine breitere Sichtweise, die auf der von Rudolf Steiner gelieferten Auffassung dieses Begriffs fußt. Der Leser sei insbesondere auf Steiners Anthroposophie, Psychosophie, Pneumatosophie verwiesen. [Anmerkung des Übersetzers: für die englischsprachige Version dieses Zyklus von Rudolf Steiner hat Robert Sardello eine Einleitung verfasst, deren Übersetzung ins Deutsche in Arbeit ist.]
Wir beginnen mit der einfachen Definition von Angst als das, was uns das unmittelbare Erleben unserer wahren menschlichen Identität – dessen wir uns als Individualitäten bewusst sind – abstumpft. Ganz Mensch zu sein erfordert eine Empfindung des Mysteriums unseres Leibes im Verhältnis zur Größe der Welt und des Kosmos. Menschliche Identität erfordert auch ein Eingehen unsererseits auf solche inneren Qualitäten des Erlebens wie Gefühl, Emotion, schöpferisches Denken, Erinnerung, den Sinn für das Schicksal sowie für alle die subtilen Eigenschaften, die das Leben als bedeutungsvoll und nicht bloß als eine Erfahrung zufällig aneinandergereihter Ereignisse werden lässt. Unsere wahre Menschlichkeit besteht ferner darin, uns an der Wirklichkeit von etwas zu orientieren, was größer ist als wir selbst und solche Wirklichkeit auch zu erleben: das Geheimnis des Andersseins; die Realität des Sakralen; das Vermögen, das Heilige zu empfinden.
Wenn bei uns die Angst zuschlägt, so ist das eine Attacke auf unsere Empfindung, ganz Mensch zu sein. Es folgt ein von einer Teilnehmerin an unseren Workshops verfasstes Beispiel eines solchen Vorkommens von Angst. Dieser Fall ist lehrreich, da er nicht besonders außergewöhnlich ist und Elemente enthält, die einem jeden Erleben der Angst gemeinsam sind:
"Es war ein Tag im Spätsommer, wir waren irgendwo in Colorado unterwegs. Mein Freund und ich befanden uns auf dem Rückweg aus Denver. Ein schöner Urlaub war zu Ende gegangen. Wir unterhielten uns über seine Eltern, bei denen wir zwei Tage zu Besuch gewesen waren. Wir waren gerade zwei Stunden zuvor losgefahren. Ich saß hinter dem Lenkrad; es war Spätnachmittag geworden, als wir die Autobahn erreichten. Mein Freund redete, ich lachte über irgendetwas, als ich auf die Autobahnauffahrt fuhr. Ich beschleunigte, blickte in den Außenspiegel – die Fahrspur hinter uns war frei. Dann drehte ich den Kopf, sah über die rechte Schulter – frei. Während ich zum Einfädeln nach links blinkte, schaute ich noch einmal in den Rückspiegel und begann dann, mich einzufädeln. Setzte mich wieder aufrecht und blickte nach vorne – genau auf die Stoßstange eines riesigen LKW. Unser Auto berührte ihn schon fast. Alles andere verschwand. Es gab keinen Schall, kein Licht, keine Umgebung mehr. Es gab nur noch den LKW, die Kuppelung, das Bremspedal, das Lenkrad, die Gangschaltung und mich. Mein Herz raste nicht; es hörte vielmehr überhaupt zu schlagen auf. Ich schwitzte nicht; mir war eisig kalt. Mir waren die Hände, der Mund, die Augen trocken wie die Wüste. Mein Körper war nicht eigentlich steif; er funktionierte vollkommen richtig. Aber er tat nur das Notwendige, sonst nichts. Für eine Zeit, die mir wie endlos schien, war ich mit dem LKW allein in meinem Versuch, ihm zu entkommen. Als ich endlich etwa fünf Meter Abstand zu ihm gewonnen hatte, schien die Welt zu mir zurückzukehren. Mit den Geräuschen, der Umgebung, dem Licht, kehrten mir die Zeit und das Bewusstsein zurück. Die Zeit zeigte mir, dass ich noch immer ziemlich schnell fuhr – etwa 80 Kilometer pro Stunde. Mein Bewusstsein meldete mir, dass wir soeben dem sicheren Tod entkommen waren. Meine Körperreaktionen wurden anders. Ich begann zu zittern, ich fröstelte und schwitzte zugleich. Ich konnte nur mit Mühe das Auto auf der Fahrbahn halten. Bei der nächsten Ausfahrt hielt ich an und saß einfach weinend da, während mein Freund mich beruhigte. Die Situation war so urplötzlich eingetreten, dass ich erst dann die Gelegenheit hatte, Angst zu empfinden, nachdem alles vorbei war. Die Gefahr hatte nicht länger als eine Minute gedauert; aber ich brauchte etwa eine Stunde, bis mir Körper und Geist einigermaßen wieder funktionierten." [2] Mein Dank geht an Sabine Cox für diese Beschreibung, die im Rahmen eines Fernkurses über den Umgang mit der Angst geschrieben wurde.
Auch aus diesem nur sehr kurzen Augenblick wird deutlich, wie Angst die Seele zusammenzieht. Sie verengt uns die Sinne, die Zeit verändert sich, wir sind plötzlich isoliert, die Weite und Tiefe des Bewusstseins verschwinden. Angst rast durch den Körper, erzeugt Wogen des Zitterns, einen Augenblick des Zusammenbrechens. In dieser Beschreibung hilft die liebevolle Gegenwart des Freundes, die Verfasserin zum normalen Zustand zurückfinden zu lassen, aber die Auswirkungen der Angst klingen noch immer im Körper nach. Man stelle sich vor, was Angst denn anrichtet, wenn sie nicht wie hier ein momentaner Zwischenfall ist, sondern eine fortdauernde Präsenz, die dem Leben zugrunde liegt. Es sind nämlich die gleichen Faktoren wie in der obigen Beschreibung am Werk, aber hintergründiger, und mit schlimmen körperlichen, seelischen und geistigen Auswirkungen. Wie die Frau im Auto schalten wir uns ausschließlich auf Überlebensmodus um. Unser Körper wird gepanzert. Wir verlieren den Kontakt zu unserem Innenleben, und unsere Verbindung zu anderen Menschen in der Welt schwindet. Als Gesellschaft besteht unsere Antwort auf die Gegenwart vieler Arten fortdauernder Angst darin, sie zuzudecken, anstatt mit ihnen so zu arbeiten, dass unsere seelischen Fähigkeiten wieder hergestellt und erweitert werden.
So viele Dinge in der Welt gibt es, die unsere Fähigkeit verhindern, uns der Angst zu stellen. Unsere Sinne etwa sind bereits von Reizüberflutung und Exzessen eingeengt. Unsere Kultur ist so daran orientiert, Menschenmassen zu beeinflussen, sie bewegt sich so schnell und so effizient, dass kaum Zeit und Raum für das innere Leben übrig bleibt. Sogar die Kulturinstitutionen, die wir am höchsten wertschätzen, wie Erziehung, Bildung, Religion, Politik, verdecken unsere innere Entwicklung, wenn sie von Angst gesteuert werden. Angst, so möchte ich nahelegen, erfindet die Bereiche der Wahrnehmung, der Kultur, des Sakralen neu, indem sie diese Bereiche verkürzt.
Jede menschliche Handlung verändert die Welt. Alles, was wir im Lauf eines Tages tun, geht in die Welt über und wird zu einem Teil von ihr. Wenn wir aus Angst handeln, wird Angst in die Welt eingeschrieben. Handeln wir aus Liebe und Schönheit, so prägt sich das auch ein. Es entsteht eine Art kreisförmige Strömung, durch welche uns die Ergebnisse unserer Handlungen durchsichtig werden und die uns ermöglicht unsererseits, anders handeln zu lernen. Wir müssen nicht besonders intensiv hinschauen um zu sehen, dass Angst in der Welt große Fortschritte gemacht hat; sie befällt uns in sonderbarer Weise und dominiert uns, oft ohne dass wir es wissen.
Nachdem wir die obigen Betrachtungen nun vorangestellt haben, wollen wir uns eine Nächstes eine Form vorstellen, in der sich unsere schlimmsten Ängste verkörpern. Soll sie eine Skimaske tragen, während sie sich einer Frau aufdrängt, die gerade ihre eigene Wohnung betritt? Soll sie ein Arzt sein, der einem ahnungslosen Patienten verkündet, dass dieser an einem unheilbaren Lymphom erkrankt ist und in einigen Wochen sterben wird? Soll sie ein IS-Soldat sein, der seine Maschinenpistole mitten auf einen mit Kindern vollen Spielplatz abfeuert? Lassen wir sie ein Konzernmanager sein, der dabei ist, den Personalbestand seiner Firma zu verringern? Ein Bundestagsabgeordneter, der einen Gesetzentwurf vorstellt, um die Rente zu kürzen? Die Möglichkeiten sind unbegrenzt.
Jetzt versuchen Sie, sich Ihre eigene schlimmste Befürchtung vorzustellen. Verweilen Sie nicht lange darauf, sondern nehmen Sie einfach zur Kenntnis, was Ihnen einfällt, wenn sie für einen Augenblick die Aufmerksamkeit auf das ruhen lassen, was Ihre schlimmste Befürchtung ist. Diese kleine Übung ist kein Experiment im Visualisieren. Sie bezweckt weiter nichts, als uns dazu zu verhelfen, anfänglich eine Verbindung zu der Kraft der Angst zu finden sowie zu dem, was sie gerade bewirkt. Was dabei auftaucht, kann von Tag zu Tag etwas anderes sein.
Man bemerke, dass bei den ganzen oben angeführten Beispielen der Angst kein Zusammenhang gegeben ist. Höchstwahrscheinlich ermangelt in ähnlicher Weise auch die eigene Vorstellung eines Kontextes. Wenn jemand eine Befürchtung vor das eigene innere Auge ruft, so ist weder persönliche Vergangenheit, die eigene Persönlichkeit, die Stufe der eigenen inneren Entwicklung, die geistige Orientierung, noch sind alle die Menschen mit dabei, die einen lieben und unterstützen. Von den Dingen in der oben angeführten Liste wissen wir nicht, welche Menschen beteiligt sind, wir haben keine Ahnung davon, wo oder wie sie leben oder woran sie glauben. Und in Ermangelung eines Kontextes ist die Möglichkeit ausgeschlossen, vorherzusagen, wie verschiedene Menschen diese Situation durchstehen würden. Diese Vorstellungsübung ist dennoch lehrreich. Erstens zeigt sie, dass wenn die Angst daherkommt, sie jeden Zusammenhang wegfegt. Wenn uns der Zusammenhang unseres Lebens entzogen wurde, so verwenden wir künstliche Barrieren, um uns zu schützen. Bei solche Barrieren – wie zum Beispiel verstärkte Polizeipräsenz; Alarmanlagen; das Recht, eine Handwaffe mit sich zu führen; Medikamente, die die meisten Krankheiten zu heilen verheißen; politische Versprechungen – ist es oft so, dass sie just die Angst steigern, deren Entfernung sie bezwecken.
Fürchten wir uns vor Krankheit, so suchen wir vielleicht einen Arzt auf, der uns anhand von komplizierten Tests und Verfahren bescheinigt, dass wie kerngesund seien. In allen solchen Fällen träumen wir von etwas externem, das sich um das Problem der Angst kümmert; aber diese äußeren Kontrollen steigern nur die Angst, die in der Welt vorhanden ist. So gesehen tritt die Angst immer in veränderter Form auf: Wenn wir glauben, dass wir uns von ihr befreien konnten, so taucht sie ausgerechnet in den Waffen auf, deren wir uns bedienen, um sie zu kontrollieren.
Das, was viele Angstgeladene Situationen definiert, ist die plötzliche Feststellung, dass wir nicht mehr wir selber sind. Wenn ein Räuber mich mit einer Pistole konfrontiert, hat er keine Ahnung davon, wer ich bin. Das ist ihm egal. Er behandelt mich nicht als Individuum, sondern als Geldquelle. Und mit der Waffe in der Hand hat er die Macht, von einer Sekunde auf die nächste mich vor mir selbst auszuradieren und zu genau dem zu machen, was er von mir will – zu einem Geld- und Schmuck-Geber. In dem Augenblick bin ich nicht mehr Psychologe, Schriftsteller, Redner, Vater, Ehegatte, Lehrer. Was den Räuber angeht, so habe ich nicht einmal einen Namen. Eine bestimmte Ebene des Selbst verschwindet. Sofern ich im Leben nicht tiefer in mich selbst hineingegangen bin als bis zu diesen Äußerlichkeiten, löscht eine Situation der Angst meine Empfindung der eigenen Identität aus.
Mit dem abstrakten Wort „Opfer“ wird versucht, diesen Umstand zu beschönigen. Aber in dem Moment des "Opferseins" erlebe ich mich nicht als Opfer; ich finde mich vielmehr dominiert von einer Fremdauffassung dessen, wer ich bin. Der Räuber sieht mich nämlich als seinen Geldgeber. Mein Chef im Büro sieht mich vielleicht als einen bloßen Funktionsträger an. Der Feind im internationalen Konflikt sieht uns alle vielleicht als ein Übel, das es zu zerstören gilt.
Sowohl die körperlichen Begleiterscheinungen zur Angst – Weitung der Pupillen, Erbleichen, beschleunigter Pulsschlag, erhöhte Tätigkeit des sympathischen Nervensystems – als auch solche psychologischen Reaktionen wie Angst, Schrecken, Erschaudern, Kampf-oder-Flucht Reaktion, Panik, sind bloße Wirkungen und sollten nicht mit der Angst selbst verwechselt werden. In ähnlicher Weise sind auch geistige Reaktionen wie Zweifel, Zurückhaltung, isoliert Sein, Verlust der Zuversicht lediglich Wirkungen. Die Haupttätigkeit der Angst ist das Fragmentieren. Sind wir einmal fragmentiert, so setzt Verwirrung ein. Wir identifizieren unsere Angst als in einem oder mehreren dieser Fragmente zentriert und behandeln sie als ein körperliches, ein psychologisches oder ein geistiges Problem.
Die Angst entfernt das einheitliche Zentrum unseres Seins, den einzigen Teil von uns, der dazu in der Lage wäre, sich ihr im angemessenen Kampfmodus zu begegnen. Der Angst kommt man nicht anders als durch die Totalität unseres Seins bei, durch das ganz-Sein, das in unserem Menschsein besteht. Wenn ein Arzt oder ein Psychiater sich auf medikamentöse Behandlung verlässt, um bei Ängsten, Phobien und Panik für Erleichterung zu sorgen, so bedeutet das eine Gefährdung dessen, der behandelt wird. Hält der Psychologe oder der Therapeut die Angst für ein Problem, das mit der Art zu tun hat, wie der Mensch in der Kindheit behandelt wurde, oder für einen Komplex oder für einen Mangel an Selbstwertgefühl, so setzt das ebenfalls den Behandelten einer Gefahr aus. Und wenn ein Berater auf geistiger Ebene die Angst als Folge von Sünde ansieht oder als Folge des Fehlens einer Verbindung mit dem „höheren Selbst“ oder eines sich Abwendens von der Religion, so wurde ebenfalls von der Zentralität dieses Menschen als Mensch abgesehen.
Die Angst beginnt dann, das Leben der Seele zu befallen, wenn wir aus uns selbst herausgezogen werden. Verfallen wir, wenn auch in sehr subtiler Weise, dem falschen Selbst, zu dem die Angst uns macht, so leben wir von dem Moment an in Angst; obwohl die anfänglichen körperlichen Symptome abklingen. Ferner bedeutet unser gegenwärtiges Erleben der Welt als voller Angst, dass wir permanent der Situation ausgesetzt sind, nicht der zu sein, der wir sind; besonders tragisch hieran ist, dass das eintreten kann, noch bevor wir überhaupt zu einer Auffassung dessen gekommen sind, wer wir eigentlich sind und wie wir uns zur Welt in Beziehung setzen.
Angenommen ich habe eine schon lange bestehende Beziehung zu jemandem und wir sind miteinander so eng verbunden, dass keiner von uns auf die Idee kommt, zu fragen: „Wer bin eigentlich ich in dieser Beziehung?“ Dann ruft mich eines Tages der Freund an und setzt mich über ein neues Arbeitsverhältnis in Kenntnis, das er mit jemand anderem eingerichtet hat, und das mit meiner eigenen Arbeit direkt in Konkurrenz steht. Ich befürchte plötzlich, dass er unsere Freundschaft dazu benutzt hat, um herauszufinden, wie ich in meinem Geschäft Erfolg erziele. Dessen Entschluss, mit jemand anderem zusammenzuarbeiten, scheint unsere Freundschaft aufzuheben. Es ist in der Freundschaft ein Riss entstanden. Was eigentlich bearbeitet werden müsste, das ist die Freundschaft selbst, was ja erfordern würde, dass ich die genauen Eigenschaften der Angst kennenlerne, die uns getrennt haben. Es kann aber sein, dass der Riss eine Frage nicht über die Freundschaft aufwirft, sondern über mich selbst. Habe ich etwas Falsches gemacht? Warum bin ich nicht stark genug, um diesen Menschen loszulassen? Es geht mir im Zuge der Auflösung der Beziehung schlecht; ich bin verletzt, gekränkt, vielleicht werde ich nicht wieder einem anderen Menschen vertrauen können. Ich merke, dass diese Reaktion in keinem Verhältnis steht. Schließlich suche ich einen Therapeuten auf, um an mir selber zu arbeiten. Zusammen mit meinem Therapeut entdecke ich, dass ich wegen der Umstände in der frühen Phase meines Lebens nicht fest in mir ruhe, das sich eine tiefe Unsicherheit empfinde. Zwar ist in den Behandlungen auch von Angst die Rede, aber diese wird nur für ein Symptom meiner eigenen Schwäche gehalten. Indem ich mich selbst vollständiger kennenlerne, vermag ich, freier zu anderen in eine Beziehung zu treten, diese Beziehungen zu genießen und werde bereitwilliger, den anderen in der Beziehung ein autonomes Selbst sein zu lassen.
Was aber mit dieser Therapie erreicht wird, hat mehr mit der Taktik der Selbsteingenommenheit zu tun, welche durch den Riss im Gewebe der Verbindung geschaffen wurde und über die der Therapeut spekuliert, als damit den Weg zum Verbundensein zu finden. Ich lerne es wohl, sprechend mich durch schwierige Situationen hindurchzubringen wie die, die ich mit dem früheren Freund erfahren habe. Ich lerne vielleicht, den anderen Menschen als freie und autonome, mit individuellen Präferenzen ausgestattete Person zu sehen, die nicht zwingend mit mir etwas zu tun haben. Ich lerne vielleicht sogar, dass ich es vermag, mich auch ohne diesen Menschen als heil und ganz zu empfinden und dass ich es nicht nötig habe, mich dadurch zu schützen, dass ich mich isoliere. All dies klingt bestimmt wie die Entwicklung eines gesunden Sinnes für Verbundenheit. Was aber eigentlich passiert ist, das ist, dass sich die Angst meiner bemächtigt hat. Nicht habe ich gelernt, wie Angst ins Verbundensein eintritt; stattdessen habe ich einige Taktiken zur Vermeidung von Angst gelernt. Ich habe gelernt, mich besser um mich selbst zu kümmern, was bloß eine kompliziertere Form der Isolierung ist. Unter solchen Umständen verkümmert meine durch die Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen zu erreichende Entwicklung zu einem seelenhafteren Menschen. Zwar erlebe ich keine Angst mehr, wenn mich ein Freund oder ein Kollege schwer enttäuscht. Es ist in einer unsicheren Welt ein Punkt der Stabilität gefunden worden. Aber es sieht nur so aus, als wäre die Angst erlöst worden.
Die Schwierigkeit ist die, dass im hier beschriebenen Prozess die Angst als „meine“ Angst galt. Meine Reaktion auf die Gegenwart der Angst ist die eigene, aber Angst selbst – das sagt wohl jeder, der sie erlebt hat – ergreift Besitz von einem, man kann nicht von ihr sagen, dass sie einem eigentlich gehöre. Man kann einen Raum betreten und die Angst überall um einen herum fühlen. Oder man kann empfinden, wie Angst zwischen zwei in Konflikt begriffenen Menschen besteht. Es kann ein ganzes Land von Angst eingenommen sein. [3] Rudolf Steiners Kritik an Jungs Auffassung der Seele war, dass sie nicht weit genug geht. Wann immer Jung die Urbilder des Seelenlebens beschreibt, begreift er nie diese Figuren als außerhalb der Psyche bestehend. Steiners Sichtweise ist, dass das psychische Leben durch unsichtbare, zum Leben der einzelnen Psyche an sich nicht dazugehörige Bildrealitäten beeinflusst wird, die zwar nicht sichtbar, wohl aber sehr reell sind. Die in diesem Buch vertretene Sichtweise der Angst erfasst diese als eine solche Wesenheit.
Im Beispiel oben hielt der Therapeut die Angst für das Resultat einer unzulänglichen Auffassung des Selbst; dabei offenbart ein tieferer Blick, dass der Fokus der Therapie die Ego-Identität war. Die Angst gab das Stichwort, in der Therapie diese Identität neu einzuschätzen, was eigentlich noch mehr Selbstbezogenheit schaffte und somit mehr Isolation. Das Strömen meiner Beziehungen mit anderen Menschen ist jetzt darauf beschränkt, wie ich mich besser um mich selbst kümmere. Die Angst kann nunmehr unbemerkt ans Werk gehen. Die Angst ist das, was mich hellwach hält gegenüber der Notwendigkeit, mich um mich selbst zu kümmern. Allerdings sieht das nicht mehr so aus wie Angst, sondern so, als hätte man alles besser in Griff.
Zwar lässt sich die Angst nicht austricksen, man kann aber vermeiden, von ihr ausgetrickst zu werden; man kann genügend Geistesgegenwart erringen, um die verschiedenen Vorwände, unter denen sie funktioniert – deren Tarnungsversuche – zu durchschauen. So kommt man darum herum, zu ihrem Handlanger zu werden. Als Erstes müssen wir es dahin bringen, Angst als fremde Präsenz zu erkennen. Sie gehört nicht zu uns, wenngleich unsere Reaktionen auf sie so aussehen mögen; sie existiert noch vor unseren Reaktionen auf sie. Sie greift nach uns. Wir mögen sie für einen Augenblick dadurch zerstreuen, dass wir sie für bloße Einbildung halten. Aber schon nach einigen Sekunden behauptet sie sich erneut als wortlose Drohung. Physikalische Spuren ihrer Anwesenheit gibt es nicht; räumlich ist sie nicht zu orten, weder neben uns noch oberhalb oder innerhalb unser, auch hockt sie nicht drüben in der Ecke oder schwebt mitten in der Luft. Und doch ist sie unverkennbar zugegen, als eine Macht für sich.
Es ist illusorisch zu denken, dass wir die Angst bewältigen können, indem wir stärkere Kontrollen installieren – über unser Leben, unsere Beziehungen, unsere Lebenslage, unsere Welt. Wir behandeln die Symptome im irrtümlichen Glauben, dass sie die Angst selbst seien. Sie zieht sich in die Verborgenheit zurück, indem sie als Tarnung verschiedene Formen der Ego-Identität erzeugt und so von sich den Anschein erweckt, als wäre sie mit unserer Persönlichkeit Eins. Ich lerne vielleicht, mir mich selbst als Herr meiner Beziehungen vorzustellen. Oder ich sehe mich als wunderbarer Beschützer meiner Familie vor jeder Gefahr. Die jeweilige Form der Ego-Identität, die ich annehme, hängt von der jeweiligen Art der Angst ab. Wie sich später zeigen wird, erschafft die Angst tatsächlich mannigfache falsche Selbst-Auffassungen, und alle passen sich unserer Persönlichkeit an.
Wann immer wir uns von der Angst kompromittiert sehen, ist es unsere Aufgabe, sie in ihrem jeweiligen Erscheinungsbild zu entlarven. Die Vorwände, unter denen sich die Angst behauptete, sind äußerst listig. Unter dem Vorwand etwa, das Selbst zu stärken, schiebt sie die Schuld für unsere Schwächen auf das, was unsere Eltern an uns vergangen oder unterlassen haben oder auf Traumata, die wir durchgemacht oder auf Missbrauch, den wir erlitten haben. Tatsächlich kann das Tragische, das uns zugestoßen ist, als die Ursache unserer Schwächen gelten; man kann es aber auch als Pforte behandeln, die zu einem tieferen und bewussteren Seelenleben führt. Wenn wir die Schwierigkeiten des Lebens als Schwächen ansehen, so hat die Angst ein Versteck gefunden, wo sie sich ausbreiten kann. Sehen wir die Schwierigkeiten als Pforten, so vermeiden wir die Fehleinschätzung, dass wir die Angst abgeschüttelt haben. Stattdessen entfalten wir die Seelenkraft, alle vorhandene Angst auszugleichen.
Von dem Selbst zur Person
Unsere Menschlichkeit entstammt nicht einem vollständigen Abwesendsein der Angst, sondern einem mutigen, nie endenden Ringen mit ihr. Hier nämlich ist die kleine aber absolut notwendige Domäne der menschlichen Freiheit zu finden – im freien Entschluss, dieses fortwährende Ringen einzugehen. Und die Intention dieses Ringens ist es nicht, den absoluten Sieg zu erlangen, sondern in unserer Menschlichkeit zuzunehmen.
Hier ein Beispiel von jemandem, der sich willentlich auf die Auseinandersetzung mit der Angst einlässt, anstatt sich von ihr kontrollieren zu lassen. Alan, ein einfacher, siebzigjähriger Mann, der voller Leben und Energie war und sich für alles interessierte, was um ihn her war, suchte einen Arzt auf, weil in seinem Urin Blut war. Er fühlte sich wohl und war nie ernsthaft krank gewesen. Eine ärztliche Untersuchung ergab, dass seine rechte Niere vergrößert war. Diese zwei Symptome, zusammen mit seinem Alter, legten Nahe, dass sich ein bösartiger Tumor auf der rechten Niere gebildet hatte. Der Arzt teilte Alan mit, dass um diese Diagnose zu bestätigen Alan zwecks weiterer Tests ins Krankenhaus stationär aufgenommen werden müsse.
Als der Arzt Alan dies sagte, verweigerte er einen Krankenhausaufenthalt. Er wollte zuhause bleiben. Der Arzt erzählte ihm, die Krankheit sei höchstwahrscheinlich sehr ernst und dass wenn es sich um einen bösartigen Tumor handle, die Niere entfernt werden müsse. Wenn bei ihm ein bösartiger Tumor vorliege, werde er mit ziemlicher Sicherheit sehr leiden und eines elenden Todes sterben. Er bat Alan darum, seine Ehefrau, seine Kinder und seine Freunde zu berücksichtigen. Warum wolle er zuhause bleiben, statt ins Krankenhaus zu gehen und die Krankheit behandeln zu lassen und dadurch wenigstens ein Bisschen Zeit gewinnen? Alan weigerte sich trotzdem. Er lehnte ab, vom Haus weggenommen zu werden, in dem er gelebt, gearbeitet und seine Kinder erzogen hatte. Er lehnte ab, den im Stich zu lassen, der er zu sein wusste und sich in die fremde Welt der Klinik stecken zu lassen. Er hatte nicht vor, einfach nach Hause zu gehen und auf den Tod zu warten. Er wollte nach Hause gehen und sich auf möglichst natürliche Weise um sich selbst kümmern. Er war mit seinem Leben zufrieden, um seine 70 Jahre dankbar.
Es ist wichtig, zwischen der Unmittelbarkeit körperlicher Reaktionen und der Art der Angst zu unterscheiden, die das Leben der Seele befällt. Mit Sicherheit wird Alan bei der Verkündung durch den Arzt Angst empfunden haben. Sein Herz raste; wahrscheinlich empfand er große Angst und wollte wegrennen, flüchten. Aber er hat nicht zugelassen, dass sich die Angst seiner bemächtigt.
Alan wird sich auch plötzlich seiner Identität entledigt empfunden haben. Aber seine inneren Ressourcen ließen keine Usurpation dessen zu, der er sich zu sein wusste. Er reagierte nicht auf die Angst ließ keine Behandlung zu, die ihm nicht als die richtige einleuchtete. Er vermochte es, der Bedrängung durch den Arzt standzuhalten. Diese Geschichte war deshalb interessant, weil es zwar so scheinen mochte, wie wenn es Leben ist, was der Arzt Alan anbot, und dennoch wusste dieser instinktiv, dass ihm eben nicht Leben, sondern Angst angeboten wurde. Irgendwo, im tiefstem Innern, wusste er, dass wenn er in die Klinik geschleppt, in ein weißes Hemdchen gekleidet, in einen Raum mit lauter fremden Menschen gesteckt, gepikst und sondiert, betäubt, geöffnet und einer Strahlenbehandlung unterzogen würde, er nie wieder zu sich selbst gehören würde. Ferner wusste er instinktiv, dass er sich von dieser Trennung von sich selbst nie wieder würde erholen können. Für andere Menschen würde eine solche Erholung sehr wohl möglich, und für diese Menschen wäre es das Richtige gewesen, sich einer solchen Behandlung zu unterziehen.
Dieser Mann stellte sich seiner Situation und auch sich selbst: So handelt es sich hier nicht um Verdrängung. Seine Seele war von der Angst befreit. Er hat sich nicht preisgegeben, als er mit Angst konfrontiert wurde. Das lag nicht daran, dass seine Empfindung der eigenen Identität stärker, weiter entwickelt oder reifer war, als die der meisten anderen Menschen, sondern – so möchte ich nahelegen – daran, dass er im Laufe der Jahre seines Lebens es bis zu einem bestimmten Grad der Selbstlosigkeit gebracht hatte. Wobei es allerdings eine besondere Art zu leben gewesen sein muss. Sein Zuhause, seine Familie, seine Umgebung, seine Freunde waren er selbst – Das ist natürlich nicht im wortwörtlichen Sinn gemeint. Als es vorhin hieß, Alan müsse jemand mit inneren Ressourcen gewesen sein, bezog sich der Ausdruck „innere“ nicht auf irgendwelche innerhalb dieser Person befindlichen Dinge. Ganz im Gegenteil: hier haben innere Ressourcen mit der Art zu tun, wie dieser Mensch mit der Welt verwoben ist; sie haben mit der Beschaffenheit der Qualitäten zu tun, die er zu erfahren gelernt hatte, und zwar erlebte er diese Qualitäten nicht in sich selbst alleine, sondern in Verbindung mit allen Menschen, die um ihn herum waren. [4] Hier wird ein erweiterter Blick auf die Seele impliziert. „Seele“ als Eigenschaft, als Sammelbegriff ist nichts, was innerhalb unser existiert, sondern ausschließlich in unseren Beziehungen mit anderen und mit der Welt sowie durch dieselben. Diese Sichtweise folgt einer anderen Herangehensweise an die Psychologie, nämlich der der phänomenologischen Psychologie. Man vergleiche zum Beispiel J. H. van den Berg: A Different Existence, Duquesne University Press, 1971.]
Wir können uns sein Zuhause als voller Wärme, Fürsorge, Erinnerungen vorstellen; seine Familie als Achtung vor ihm ausstrahlend; seine Umgebung als recht einfach vielleicht, als ein aus Arbeit, Freunden, Werten bestehendes Leben vorstellen.
Menschen wie Alan, die einen Sinn für die eigene Gegenwart in der Welt alsreale Gegenwart besitzen, leben nicht ohne Angst. Aber aufgrund des zwischen ihnen und der Welt existierenden Beziehungsgewebes, von dem die Angst nur ein einziger Faden ist, kann die Angst sie nicht dominieren. Wenn aber die Fäden dieses Gewebes auszufransen beginnen – wenn die Welt mehr irreal als real wird beziehungsweise wenn eine innere Erfahrung wie etwa ein kraftvoller Traum oder eine überwältigende Emotion von einem selbst Besitz ergreift –, dann entsteht ein Loch im Gewebe und es tritt ein Fragezeichen auf. Dieses Fragezeichen kann der Aufweckruf sein, der uns zwar nicht direkt in Richtung einer Suche nach sich selbst drängt, wohl aber nach einer Vertiefung des Sinnes für unsere lebenswichtigen Verbindungen mit der Welt.
Was der Angst das Potential verleiht, uns zu neuen Daseinsmöglichkeiten zu erwecken, ist die Tatsache, dass es vor ihr kein Entkommen gibt. Angst lässt sich nicht beiseiteschieben, in irgend eine Ecke der Welt, eingezäunt und mit dem Namen „Angstgefängnis“ versehen, damit wir wissen, wo sie sich befindet und so sie vermeiden können. Wir sind vielmehr dazu aufgerufen, mit der Angst zu arbeiten, sie intim kennenzulernen, zwar niemals mit der Vorstellung, dass sie unsere Freundin werden könnte, aber auch ohne sie zu unserer Feindin zu machen. Eine Umgangsweise mit der Angst als Feindin zwingt uns zu Angstsamen Versuchsweisen, sie loszuwerden, was paradoxerweise ihre Gegenwart nur verstärkt.
Angst kann uns mit Kapazitäten in Kontakt bringen, von denen wir nicht einmal wussten, dass wir sie besitzen. Eine erste Ahnung dieser Kapazitäten tritt mit der Einsicht ein, dass es nicht möglich ist, Angst loszuwerden, wohl aber sie nach und nach umzuwandeln. Umzuwandeln in was? Angst kann in Seelenkapazitäten umgestaltet werden, welche die Kräfte der Liebe in die Welt hineintragen. Liebe wirkt so, dass sie Angst aufhebt, denn Liebe ist eine Kraft der Verbindung und der Anziehung, während Angst eine Kraft der Trennung und Teilung ist. [5] Rudolf Steiner: Die Liebe und ihre Bedeutung in der Welt, Zürich, 17. Dezember 1912. Vortrag vor Mitgliedern der Theosophischen Gesellschaft. Damit diese Verwandlung sich vollziehen kann, gilt es, in alchemistischer und nicht in wissenschaftlicher Weise zu verfahren. Wenn wir uns die Angst als bloße Wirkung einer Ursache vorstellen, als etwas, was wir erst zu finden und dann zu tilgen brauchen, damit sie keine Gewalt mehr über uns hat, so denken wir wissenschaftlich. Alchemistisch Wir verfahren aber, wenn wir uns der Angst als Grundsubstanz unseres Seins und der Welt selbst nähern. Unsere Aufgabe wird es sein zu entdecken, wie man aus diesem Dung Gold macht – wobei unter „Gold“ ein ganzer Mensch zu verstehen ist, der immer weniger durch Angst fragmentiert ist.
Worte zu finden, die das Mensch-Sein adäquat beschreiben, ist nicht leicht; vielleicht ist das Wort „Mensch-Sein“ zu abstrakt. Das, wonach zu werden wir ringen, ist eine ganze Person. In abstrakter Weise könnten wir sagen, die Person ist eine ungeteilte und in ihrem Ausdruck ungehemmte Einheit von Leib, Seele und Geist, die ins Gewebe der Beziehungen mit anderen Menschen und mit der Welt voll hineingewoben ist. Das Antlitz der Person erkennen wir alle: Es ist eine Ausstrahlung, ein Leuchten, eine Wärme, die uns dahin führt, mehr von dem- oder derjenigen zu fühlen, der/die wir in Wahrheit sind. Wir fühlen, dass sich nichts versteckt, dass dieses Individuum wahr und echt ist und nichts beschützt oder abschirmt. Wir fühlen, dass ein solches Individuum nicht darauf aus ist, aus uns etwas herauszuschlagen. Natürlich fühlen wir keine Angst, die von diesem Menschen ausgestrahlt würde – was freilich nicht bedeutet, dass er keine Angst mehr empfindet, sondern nur, dass er kein Träger der Angst ist. Wir können uns ziemlich sicher sein, dass ein solches Individuum – weit entfernt davon, einfach eine angenehme Persönlichkeit zu haben – mit vielen, sowohl inneren wie auch äußeren Dämonen gerungen hat und dass er es zur Entdeckung der unantastbaren Region des Herzens gebracht hat.
Die Seele von der Angst zu befreien heißt, sich an der Angst beteiligen; nicht naiv und nicht wie ein Schaf, das zum Abgeschlachtet-Werden geführt wird, sondern mit der größten Aufmerksamkeits- und Bewusstseinsintensität, die wir aufbringen können. Es hat mit einer Steigerung des Bewusstseins zu tun – was aber von dem Schmerz unzertrennlich ist, der mit jeder Bewusstseinserweiterung einhergeht – und es geht dabei nicht darum, das zu beherrschen, was uns bedroht. Dieser Ansatz zum Umgang mit der Angst erfordert von uns eine erhöhte Wachheit für die Besonderheiten dessen, was wir durch die Sinne erfahren. Solche Wachheit können wir nur dadurch aufbringen, dass wir dem Reich der Sinne eine scharfe Bewusstheit zuwenden – wir müssen offener, weicher, lebendiger sein in genau den Situationen, in denen es so scheinen möchte, wie wenn wir dadurch Freiheit gewinnen könnten, dass wir flüchten, indem wir unsere Sinne abstumpfen. Noch mehr: Was hier gefragt ist, das ist, dass man lernt, sich um sympathische Einsicht intensiv zu bemühen, damit man vordringen kann bis zu den Gründen und den Ursachen der Angst, ja bis zum Geist selber der Menschen, die wohl die Täter sind. Das Ausbilden einer solchen Einsicht ist schwierig, weil es ohne die Pflege auch der leisesten Spur von Sentimentalität erfolgen muss, welche nämlich die Handlungen der Täter entschuldigen würde. Entsprechend muss diese Einsicht ebenfalls ohne jede Spur von Sentimentalität uns selbst gegenüber sein, zumal ohne in eine Opfermentalität hineinzuverfallen.
Diesen Prozess durchzumachen zeitigt in uns eine allmähliche aber ziemliche radikale Veränderung. Schicht um Schicht wird frühere Konditionierung abgetragen. Mit dieser Konditionierung werden auch die ganzen irrtümlichen Hoffnungen mit abgebaut, enen gemäß wir seit vielen Jahren gelebt haben. In uns allen findet solche Konditionierung statt durch Eltern, Schulung, Religion, Gesetze, Konventionen, Tradition und die Zivilisation und Kultur, in denen wir leben. Alles, was uns im Leben ein Maß an Gewissheit gibt, kann uns weggenommen werden, einschließlich das, was – an der Oberfläche wenigstens – unsere allerbesten Qualitäten und Charakterzüge zu sein scheinen. Ja wir bekommen eine Gelegenheit, diese Charakterzüge für die Masken zu sehen, die sie sind. Wir dürfen sie für das zu schätzen, was sie uns gegeben haben; zu gleicher Zeit durchschauen wir aber, wie sie uns an der Oberfläche festgehalten haben, weil wir uns ausschließlich ihretwegen mit dem Erhalt beziehungsweise dem Beschützen der eigenen Bedürfnisse und Wünsche beschäftigt haben. Dieser Prozess des Abstreifens legt nach und nach die vielen Schichten unseres Unterbewusstseins frei, wo wir die Gelegenheit bekommen, uns den weniger erfreulichen Aspekten der Emotionen, Leidenschaften, Trieben zu stellen – dem, von dem Jung als die Schattenaspekte unserer Persönlichkeit spricht. Wir dürfen uns unserer ganzen Kleinlichkeit und Selbstbezogenheit stellen, aber auch den Stärken, von denen wir nicht wussten, dass wir sie haben, und auch der Macht, vor der wir vielleicht zurückscheuen. Schließlich kommen wir bei der Nacktheit der Seele an.
Dieser Weg ist gefahrvoll, denn jede freigelegte Schicht ist eine Gelegenheit für die Angst, sich des Freigelegten zu bedienen. Hier ein Beispiel: Carol, ein Mitglied einer unserer Workshops, kam zur Entdeckung, dass sie ihr Leben auf der Wichtigkeit ihres Rufes aufgebaut hatte. Das schien ihr nun eine gute Sache zu sein; es muss jedenfalls nichts Falsches oder Schädliches sein. Ist man schließlich so aufgewachsen wie sie, nämlich in der Tradition einer vornehmen, aristokratischen Familie der Südstaaten der USA, in der der Vater, der Großvater, ja auf mehrere Generationen zurück alle ihre Vorfahren biedere, aufrichtige Bürger einer Gesellschaft waren, in der Dienst an der Gemeinschaft, der Kirche und der Universität vor Ort viel Gutes herbeigeführt hatte, so ist doch gut nachvollziehbar, wieso sie so konditioniert worden war, auch so zu handeln. Aber – diese Schicht der Konditionierung, die bestimmt, dass man sich in einer bestimmten Weise verhalten solle, ist der Ort, wo die Angst sich sammelt und versucht, die Kontrolle zu gewinnen. Carol hatte ständig das Gefühl, sie müsse Dinge tun, die respektabel sind. Sie legte beiseite ihr eigenes tiefes Interesse für Lernen, Schreiben und Lehren, um karitative, bürgerliche und organisatorische Aufgaben zu ergreifen, die in der Gemeinschaft als ehrenhaft gelten. Versagte sie in irgendeinem dieser Vorsätze, so fühlte sie eine intensive Angst. Tat sie das Geringste, was ihren Ruf hätte beflecken können, erlebte sie große Ängstlichkeit. Sie ertappte sich sogar beim Verrichten von Dingen, die ihren Ruf auf Kosten anderer Menschen aufrechterhielten. Sie sorgte dafür, dass sie bei organisatorischen Aufgaben immer die oberste Verantwortung bekam, ließ sich auf Machtkämpfe mit ihren Freunden ein, beschuldigte andere, wenn nicht alles genau so verlief, wie sie wollte. Für Carol bedeutete das Sichbefreien von der Angst, dass sie jede dieser Konditionierungsschichten – eine nach der anderen – abstreifen und intensive Angst empfinden musste, indem sie sich jeder der freigelegten Schichten bewusst wurde.
Ein weiteres Beispiel: Es könnte jemand urplötzlich in die tiefsten Ebenen des Unterbewusstseins dadurch gestürzt werden, dass sie einem Trauma – etwa einer Vergewaltigung – ausgesetzt wird. Ein solches Trauma fegt oft mit einem Schlag unseren ganzen Schutz weg. Unter einer solchen Bedingung der Nacktheit der Seele kommt es vor, dass der Mensch schlimmste Aufwallungen etwa von unkontrollierbarer Wut oder Depression erlebt. Wer verwundbar ist und mitten ins Unbekannte geworfen wird, kann von der Angst eingenommen und in die Verzweiflung getrieben werden. Es muss dann eine ungeheure Anstrengung aufgebracht werden, um solche Verwundungen nicht mit neuen Schichten der Konditionierung zu überlagern. Das Erscheinen von Angst und Beben verkündet uns, dass eine weitere Schicht abgetragen wurde und verhilft uns zu durchschauen, wie sehr wir in der Illusion leben.
Außer der Angst vermag nichts, die gusseisernen Schichten des falschen Selbst wegzuätzen und uns zu unserem Wesenskern zu führen, wo die Verwandlung der Angst in Tugend beginnen kann – vorausgesetzt wir stellen uns der Angst mit gesteigertem seelischem Bewusstsein, anstatt ihr nachzugeben. Wir brauchen uns nur die Geschichten von Individuen zu vergegenwärtigen, die Kriege oder Konzentrationslager durchlebt haben oder die aus politischen Gründen inhaftiert und gefoltert wurden, die die entsetzlichsten Krankheiten durchgemacht haben, oder die mit den Auswirkungen aller möglichen Arten des Missbrauchs ringen müssen. Die ätzenden Wirkungen der Angst können ein freies und offenes Seelenleben herbeiführen, das sich an Fürsorge und Dienen sowie an einem tiefen Empfinden und Erkennen der Liebe orientiert; sie kann uns allerdings auch zu bloßen Menschenhülsen machen. Der Unterschied scheint darin zu liegen, ob wir uns angesichts der Angst mehr der Seele öffnen oder aber uns den Tiefen unseres Daseins schließen.
Das Ausbilden seelischer Fakultäten, um Angst auszubalancieren
Angst trägt unsere natürlichen menschlichen Fähigkeiten ab. Wenn zum Beispiel wir anderen Menschen gegenüber ängstlich werden, so wird unsere natürliche Fähigkeit zum Vertrauen abgetragen, oder wenn wir irgendein körperliches Trauma durchgemach haben, würgt sich unsere naturgegebene Fähigkeit ab, in unseren Sinnen offen zu sein. Die von der Angst abgetragenen Fähigkeiten gilt es dann, durch bewusstes inneres Arbeiten zurückzubilden. Indem wir unsere inneren Ressourcen stärken und weniger durchdringbar machen, können die verschiedenen Arten der Angst, denen wir begegnen, abgeschwächt werden. In den folgenden Kapiteln wird eine Anzahl meditativer Übungen angegeben, und jede Übung hat eine ähnliche Form. Man soll als Erstes ein bestimmtes Bild machen, je nachdem mit welcher Art der Angst man gerade arbeitet. Dann muss man dieses Bild halten, es so stabilisieren, dass es sich nicht in irgendetwas Anderes verwandelt. Nachdem man für eine Weile das Bild festgehalten hat, löst man es absichtlich wieder auf und richtet die Aufmerksamkeit auf die innere Leere. [6] Um sich über den Hintergrund und die Ausbildung dieser Methode zu informieren, siehe Dennis Klocek, Seeking Spirit Vision (Fair Oaks, CA: Rudolf Steiner College Press, 1998). Dieses Verfahren bewirkt die Entwicklung einer inneren Stärke der Seele. Es erfordert Seelenkraft, ein inneres Bild herzustellen. Es erfordert auch Kraft, um das Bild zu stabilisieren und zu halten. Wurde ein Bild einmal in dieser Weise hergestellt und stabilisiert, so erfordert es weitere Stärke, das Bild wieder auszulöschen und die eigene Anwesenheit vor der inneren Leere aufrechtzuerhalten. In dieser Weise bilden sich neue Seelenfähigkeiten, und zwar solche, die sich direkt dahin orientieren, die Gegenwart der Angst auszubalancieren.
Als ein Zugang in die in den kommenden Kapiteln verwendete Arbeit mit Bildern empfiehlt es sich, ein inneres Bild eines einfachen Gegenstands zu machen – wie etwa eines Steins. Man finde einen ganz gewöhnlichen Stein und betrachte diesen für einige Minuten, indem man ihn in der Hand umwendet. Dann schließe man die Augen und bilde eine innere Vorstellung dieses Steins. Es soll eine Vorstellung geschaffen werden, welche den Stein genauso wiedergibt, wie man sie sah. Man bemerke, wo das Bild zu entstehen scheint. Erscheint es in der Gegend der Augen, wie wenn man es anschauen würde, so ist das ein intellektuell-mentales Abbild des Steins und kein tieferes, lebendigeres Bild. Wenn man nur ein solches Abbild des Steins hat, so ist nur die dem Blick zugekehrte Fläche des Steins zu sehen. Man hat dann eher ein Seelenbild des Gegenstandes, wenn ein Gefühl des Gegenstandes als Ganzes entsteht; vielleicht sieht man das Ganze nicht visuell, aber die Qualität des Ganzen wird vorhanden sein. Es geht darum, das Bild zu stabilisieren, es so lange wie es geht ruhig und konstant zu halten. Es kann vorkommen, dass es sich zu bewegen beginnt; wenn das passiert, so bringe man es zur Mitte zurück. Wenn es zu verblassen beginnt, so bringe man es durch ein sanftes Willensaufgebot zurück. Auch kann es vorkommen, dass das Bild neue Eigenschaften anzunehmen beginnt. Es beginnt, sich zu animieren, oder man fängt an, über etwas mit dem Stein Verbundenes nachzudenken, wie etwa den Ort, wo man ihn gefunden hat, und ehe man es sich versieht ist man in eine Gedankenreverie abgeschweift. Stellt man dies fest, so kehre man zum Bild zurück.
Nachdem man das Bild einige Minuten lang stabilisiert hat, lösche man es aus und stelle sich so lange wie möglich der Leere, ohne irgendeinen anderen Gedanken oder irgend in anderes Bild erscheinen zu lassen. Es kann auch vorkommen, dass man dabei die Gegenwart von Angst oder einen Anteil von Angst bemerkt. Die Gegenwart der Angst stört die Fähigkeit, sich zu konzentrieren. Sinn der Übung aber ist es, sich mit dem vertraut zu machen, was gemacht werden muss, um ein Bild zu stabilisieren. Es genügt nicht, sich an den Stein zu erinnern, den man betrachtet hat; man muss davon ein Bild machen. Die Handlung, das Bild herzustellen, erfordert Willenskraft. Zugleich aber muss man, damit das Bild da sein kann, dem empfänglich sein, was sich darbietet. Diese zwei Eigenschaften müssen zueinander in vollkommenem Gleichgewicht stehen. Ist der Willensakt zu stark, so wird das Bild in irgendeiner Weise verzerrt sein. Ist der Wille nicht stark genug, um das Bild zu halten, so wird es beginnen, eine Eigendynamik zu entfalten: vielleicht sieht man Funken oder Lichter, oder der Stein verwandelt sich in ein Bild der ganzen Erde – oder sonst alles Mögliche Andere.
Ein zweites Ziel der Übung hat mit dem Augenblick zu tun, in dem man das Bild auslöscht und sich bemüht, bei der Leere dabeizubleiben. Unter Leere verstehe ich, dass für kurze Zeit kein Gedanke, kein Bild, keine Erinnerung ins Bewusstsein tritt. Dieser Teil der Übung stärkt die Willensfähigkeit. Man wird feststellen, dass es einen Konzentrationsaufwand erfordert, um bei der Leere dabeizubleiben und dass sich diese Konzentration sogar im Körper fühlen lässt. Es wird Wille aufgeboten, um die Leere aufrechtzuerhalten. Zu Beginn mag man es schwierig finden, für länger als ein paar Sekunden bei der Leere dabeizubleiben. Andere Bilder oder Gedanken werden sich vielleicht aufdrängen, oder man wird sich womöglich etwas müde fühlen. Mit wiederholter Anstrengung wird das Zeitintervall länger – wobei es allerdings niemals leicht fallen wird.
Das Aufbauen eines lebhaften Bildes, um es dann auszulöschen, schafft eine Öffnung, einen Ort des Nichtwissens, den man kraftvoll halten muss als das Zentrum des eigenen Waltens. Dieses Zentrum des Nichtwissens ist der eine sichere Ort, zu dem die Kräfte der Angst keinen Zutritt finden. Nichtwissen bedeutet nicht Zweifel; ist doch Zweifel die offene Tür für die Kräfte der Angst. Zweifel schafft einen Raum für Verwirrung, und Verwirrung führt zur ausgewachsenen Skepsis, was ein sicheres Zeichen dafür ist, dass negative Kräfte sich festgesetzt haben. Das Nichtwissen bedeutet aber nicht Unbewusstsein. Diese Eigenschaft des Nichtwissens hält man in völliger Klarheit des Bewusstseins und ist nur dadurch zu erlangen, dass man innere Bilder macht, diese auslöscht, die innere Leere hält und ihr zuhört. Was in der inneren Leere zu erstehen beginnt, das ist eine Gefühlseigenschaft, ein Gefühl des Schutzes, eine innere Sicherheit, dass man der Angst begegnen und es mit ihr aufnehmen kann, ohne sich vollkommen zu verlieren. Will man sich auf detailliertere Auseinandersetzungen mit der Angst einlassen, so ist als Ausgangspunkt die Ausbildung der Imagination äußerst wichtig.
Im Finden eines Ortes der inneren Ruhe sucht man innerlich nach Ruhephasen, in denen man nicht bestürmt wird. Im Festhalten an etwas Sicherem oder Vertrautem sucht man äußerlich solche Phasen. Und die Pflege der Tiefenatmung ist das Bemühen, zwischen dem eine Einheit herzustellen, was außen und dem, was innen ist. Die Außenluft wird eingezogen und die Innenluft wird ausgestoßen. Wird die Atmung rhythmisch, in richtiger Weise ausgewogen, so entsteht eine Innen-Außen-Kontinuität. Die in den folgenden Kapiteln angegebenen Übungen erweitern den gewöhnlichen Prozess, die Ruhe im Bereich der Imagination wieder herzustellen, auf die ganze Domäne des seelischen Lebens, so dass man mit Erlebnissen der Angst, die mehr als nur flüchtige sind, in gesunder Weise arbeiten kann.
Angst, indem sie die Schichten unseres äußeren und auch unseres inneren Seins wegfrisst, trifft auf einen zentralen Kern des Feuers, das man nun das Feuer der Liebe nennen kann; ein geheimnisvolles Feuer, von uns selbst weder angezündet noch unterhalten, das aber immer und ständig im Herzen unseres Wesens loht. Zwar mag dieses Feuer dadurch entstehen, dass man die eine oder die andere spirituelle Tradition befolgt, aber es muss von einer Auseinandersetzung mit der Angst selber entfacht werden. Wir können das Gift der Angst zur Vertiefung der Seele, zur Entfaltung des Seelen- und des Geistbewusstseins und zur Stärkung der feurigen Kräfte der schöpferischen Liebe verwenden lernen.
Wer wir in der Tiefe unseres Wesens sind, besteht nicht aus irgendeiner zentralen Substanz, einer irgendwo in den Falten unseres physischen Körpers untergetauchten unsichtbaren Wesenheit, die trotz aller Veränderung äußerlicher Umstände überdauert. Sind wir nicht im Kern selbst unseres Wesens eher etwas wie eine brennende Lichtflamme? Die Metapher der Flamme offenbart jedenfalls einen inneren Kern des Mysteriums, etwas, was über das gewöhnliche Begreifen hinausgeht, etwas, was dazu in der Lage ist, sowohl Wärme und Licht in die Welt hineinzutragen, als die Angst zu verbrennen. Indem unsere Erkundung der Angst fortschreitet, wird diese Metapher einer zentralen Flamme unseres Wesens unsere Führerin sein.
Hier endet Kapitel 1 der Befreiung der Seele von der Angst
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