Kapitel VII. Liebe vertreibt die Angst
Wir haben uns Wege zum Umwandeln des eigenen Vorstellungslebens und zum Arbeiten an der eigenen Phantasiefähigkeit angeschaut. Indem wir diese Wege gehen, lernen wir Kräfte kennen, die unsere Seele braucht, um überhaupt Lebensfähig zu sein, und durch die wir Angst ausgleichen können.
Eine weitere Kraft, die wir brauchen, um der Angst zu entgegnen, ist die Liebe. Phantasie und Liebe gehören zusammen. Ohne Liebe wird die Phantasie leicht zum mentalen Trick. Alle die in diesem Buch angegebenen Übungen erfordern ein Zentrieren der Phantasie nicht nur im Kopf, sondern hauptsächlich in der Herzgegend. Dieses Zentrieren stellt sicher, dass die Seele sich in Tandem mit der Liebe entwickelt. Ohne Phantasie wird die Liebe aber leicht zur verwirrten Sentimentalität.
Liebe und Angst sind die großen Gegensätze der Welt. Die Macht der Liebe vermag es sogar, die Erde in die Substanz der Liebe zu verwandeln. Die gesamte Erd- und Menschheitsevolution deutet darauf hin, dass sie durch die ungeheure Macht der Liebe erst in Erfüllung geht; ist die Liebe doch die einzige Macht, die das verheerende Wüten der Angst bändigen kann. Alle geistigen Traditionen schwingen – bei aller sonstigen Mannigfaltigkeit der Unterschiede – in diesem einen Thema zusammen. Die Verwandlung der Erde in einen Planeten der Liebe wird nicht von alleine geschehen. Diese Aufgabe liegt in den Händen der Menschen, denn die Werkzeuge, durch die die Liebe hindurchpulst, sind wir.[1]
Um zu überleben, verlässt sich die Angst auf unseren Widerwillen, unsere Gefühle auf den Prüfstand zu stellen. Statt unsere Gefühle zu überprüfen, bevorzugen wir oft die vage Sentimentalität, die Effekthascherei oder die Aura des Geheimnisvollen, von denen sie begleitet werden. Wir stellen uns vor, dass wenn wir unsere Gefühle zu genau unter die Lupe nehmen, die Spannung, das Drama aus unserem Leben womöglich verschwinden könnte.
Aber genauso denkbar ist es, das Mysterium des Gefühlslebens zu betreten und von seinen Subtilitäten, von seinen Nuancen, von seinem Reichtum mehr zu entdecken. Das wäre keine Verminderung des Seelenlebens, sondern eine Zunahme desselben. Die Überwindung unseres Widerwillens, die Liebe zu prüfen, ist ein unerlässlicher Schritt zur Eroberung der Angst.
Die Liebe gehört nicht ganz dem Bereich des Menschlichen an. Wir können sie nicht besitzen, nicht kontrollieren, nicht befehligen. Plato zum Beispiel verstand Liebe als einem zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen befindlichen Reich zugehörig. Die Liebe verbindet uns mit den Göttern. Laut Plato formt Sokrates eine Vorstellung von Eros als ein Daimon, als ein zwischen der spirituellen und der geistigen Welt handelndes Bindeglied. Außer dem Eros, der erotischen Liebe, existieren auch andere Arten von Liebe. Philia, auch seelische Freundschaft genannt, gehört ebenfalls zu den daimonischen Wirklichkeiten der Liebe. Die christliche Perspektive fügte agape, die selbstlose Liebe, hinzu. Wenn man die Liebe als mannigfache daimonische Wesenheiten auffasst, so ist es die Aufgabe der Menschen, die Fähigkeiten auszubilden, die sie zum Gefäß machen, durch welches die Kräfte der Liebe hindurchwirken können.
Der Eros weckt eine körperliche Anziehung in Verbindung mit phantasievoller Entdeckerlust. Die Philia weckt das Gefühl der Intimität, den Bund der Freundschaft. Agape weckt die Neigung, Dinge um anderer Menschen Willen zu tun, ohne Belohnung dafür zu erwarten. In unserer Zeit ist die differenzierte Auffassung dieser Formen von Liebe ausgestorben; sie scheinen uns weiter nichts als intellektuelle Kategorien. Der Angst ist es gelungen, die Fähigkeit zu verwirren, durch die wir unsere Gefühle klar differenzieren.
Eine Rehabilitierung des Gefühlslebens beginnt mit der Bildung einer neuen Vorstellung der Liebe. Anstatt nur die drei klassischen Kategorien der Liebe zu sehen, befähigt uns eine solche neue Vorstellung, ein vierfaches Funktionieren der Liebe zu sehen: als Sexualliebe, als emotionale Liebe, als geistige Liebe und als schöpferische Liebe. Diese vier Funktionsweisen sind allerdings mit den klassischen Kategorien eng verbunden. Wir können uns das so denken: Zu gegenwärtiger Zeit offenbart sich Eros einmal als Sexualliebe, aber in anderer Weise auch als emotionale Liebe. Philia zeigt sich anders, als die emotionale Liebe. Sie offenbart sich nämlich sowohl als emotionale Liebe wie auch als geistige Liebe. Und Agape offenbart sich als geistige Liebe, aber auch als schöpferische Liebe.
Geschlechtliche Liebe
Platos im Symposium niedergeschriebene Mythe der menschlichen Geschlechtlichkeit stellt den originalen Menschen als ein bequemes Geschöpf dar, das eine runde Form besitzt, und das in der Welt glücklich, sich selbst genug, ohne Bedürfnisse und Ambitionen vor sich her rollte. Zeus sei mit der Trägheit dieser selbstzufriedenen Wesen ungehalten geworden und habe sie mit einem Donnerkeil entzweigespalten. Jede Hälfte sucht noch heute nach ihrer anderen Hälfte, was in unserem Seelenleben als sexuelle Begierde zum Ausdruck komme. Die Liebe zeigt sich in der Menschenwelt zunächst als das drängende Bedürfnis, unseren Leib mit dem eines anderen Menschen zu vereinigen. Dieses Bedürfnis funktioniere wahllos. Wir fühlen uns von diversen Menschen angezogen; das ist weder schlimm noch unmoralisch. Eine solche Anziehung ist eine Verkündigung des Wunders unseres physischen Daseins – ja sie feiert dieses Wunder geradezu –, sofern sie im Kontext eines sozialisierten Verhaltens verläuft.
Auf sexuelle Erregung muss nicht zwingend Geschlechtsverkehr folgen. Das Aufwallen einer sexuellen Empfindung rüttelt uns wach. Wir erwachen zu einer Kraft in uns, die zwar auf unseren Körper einwirkt, die aber nicht auf rein physiologische Aspekte zu reduzieren ist. Das, was wir so spüren, ist nicht physiologischen Ursprungs, sondern der Körper bietet lediglich das Medium, durch das es hindurchwirkt.
Nehmen wir an, wir verleugnen oder unterdrücken die Gegenwart einer körperlich sich verkündigenden Liebe, und zwar aus Angst oder Schuldgefühl, oder weil wir sie als etwas „nur Körperliches“ verstehen. Haben wir da nicht die grundlegendste Äußerungsweise der Liebe verstoßen, die es überhaupt gibt? Die Liebe offenbart sich sinnlich als eine gewaltige Macht, als eine Macht, welche in fundamentalster, stärkster und unmittelbarster Weise Mensch und Mensch verbindet. Diese Verbindung ist viel differenzierter, als die genitale Geschlechtlichkeit. Die vielleicht stärkste Waffe zur Vorbeugung der Angst ist die Gefühlswärme einer körperlichen Verbindung mit anderen Menschen. Geht uns dieser Verbindungsmodus verloren, so fühlen wir uns isoliert, einsam, allen möglichen Tricks der einen oder der anderen Ausdrucksweise der Angst ausgeliefert.
Wenn man sich dieser in dem Körper fließenden Liebeskraft leichtfertig oder ungestüm nähert, wenn man sie nicht als heilige Präsenz in dem Körper auffasst, sondern nur als so viele natürliche Triebe, die Befriedigung fordern, ist es nicht so, dass wir uns ebenso, wenngleich in anderer Weise gegen die physische Gegenwart der Liebe gewendet haben? Die belebende Präsenz der Liebe im menschlichen Leib, wo sie als sexuelles Verlangen lebt, ist die Feier ihres Einzugs in die Welt. Dieses Verlangen verlässt uns nicht einmal im Alter. Ihr Rhythmus, ihre Intensität mögen variieren, aber ihre Gegenwart bleibt konstant.
Unsere Gesellschaft hegt eine zweideutige Haltung gegenüber der sinnlichen Liebe, was größten Teils auf die organisierte Religion zurückzuführen ist. Die Religion hat vielfach die körperliche Angst gefördert, indem sie die durch Sex erzeugte Seligkeit als einen Hemmschuh für unsere Hinwendung an das Göttliche verteufelt hat. Die Religion sichert ihre Autorität dadurch, dass sie die physische Welt als von dem Göttlichen vollkommen abgetrennt erklärt. Es ist aber nichts Götzendienerisches, die Sturzflut des Verlangens heilig zu halten; im Gegenteil: Gerade darin besteht unsere sinnliche Verbindung mit der göttlichen Welt. Die Unterdrückung unseres geschlechtlichen Wesens unterdrückt die Liebe in der Welt und öffnet uns dem Ansturm der Angst aller Arten.
Da wir unsere Sexualität sowohl vor uns selbst als auch vor anderen haben verbergen müssen, hat sie sich aus der Mitte unseres Wesens zurückgezogen und ist obdachlos geworden. Die starke Betonung auf Sexuelles in jeder Sphäre des modernen Lebens – in Filmen, in der Werbung, in der Musik und auf den Straßen – ist kein Zeichen einer Stärke der Sexualität, sondern es ist ein Zeichen ihrer Schwäche. Da die Sexualität eine Vetriebene ist, strampelt sie wild herum wie im Todeskampf, wie eine Macht, die völlig das Gleichgewicht verloren hat. Wenige Menschen haben so klar durchschaut, wie sehr wir in der Sexualsphäre aus dem Gleichgewicht gekommen sind, wie der Dichter Rainer Maria Rilke:
Die körperliche Wollust ist ein sinnliches Erlebnis, nicht anders als das reine Schauen oder das reine Gefühl, mit dem eine schöne Frucht die Zunge füllt; sie ist eine große, unendliche Erfahrung, die uns gegeben wird, ein Wissen von der Welt, die Fülle und Glanz alles Wissens. Und nicht, dass wir sie empfangen, ist schlecht; schlecht ist, dass fast alle diese Erfahrung missbrauchen und vergeuden und sie als Reiz an die müden Stellen ihres Lebens setzen und als Zerstreuung statt als Sammlung zu Höhepunkten.[2]
Die Verlagerung der Fülle unseres geschlechtlichen Wesens in die Enge der genitalen Sexualität lenkt nur für Augenblicke von unseren Ängsten ab; aber wenn unser Verlangen uns veranlasst, in die Fülle unseres Seins eintreten, so ist die Nähe des Göttlichen gewährleistet. In dem Maße, in dem wir die volle Anziehungskraft anderer Menschen fühlen, haben wir es nicht mehr nötig, ständig auf der Hut zu sein. Diese Auffassung der Liebe ist aber kein Allheilmittel. Die Flammen des Verlangens sind ganz bestimmt nicht geradezu gemütlich. Aber Rilke erinnert uns daran, dass Sex mehr ist, als ein rein körperlicher Drang, und dass wir ihn ferner nicht abstreifen müssen, um religiösen Angelegenheiten den Vorrang zu gewähren. Volle Kenntnis der Welt sei nicht möglich, wenn die sexuelle Begierde wie etwas Fauliges zur Seite geworfen wird. Ohne die Begierde ist das Wissen voller mentaler und intellektueller Abstraktionen und hat keinen Bezug zum lebendigen Leib der Welt. Wenn der einmal in diesem Sinne degradierte Sex in ungesunder Weise und mit Macht als eine kulturelle Zwangsvorstellung wiederkehrt, so gesellt er sich einem ungesunden Gedankenleben zu. Wir werden Zuschauer der Welt, anstatt Teilnehmer am Herzen der Realität zu sein.
Eine Erkenntnis, die durch Verlangen vollzogen wird, führt stellt eine neue Verbindung her zwischen uns und der Welt: Erkenntnis in ihrer Eigenschaft als heilende Instanz. Dieser intime Form der Erkenntnis erweckt unser Interesse für Verbindungen, für Synthesen, für Ganzheit, für eine produktive Verbindung mit anderen Menschen und der Welt, anstatt für eine analytische. Novalis ist ein weiterer Dichter, der tiefe Überlegungen zu Fragen des sinnlichen Körpers anstellte. In seinen „Blüthenstaub“-Fragmenten schreibt er:
Alle absolute Empfindung ist religiös.[3]
Der Körper soll Seele, die Seele Körper werden. Der Körper ist das Werkzeug zur Bildung und Modifikation der Welt; wir müssen also unsern Körper zum allfähigen Organ auszubilden suchen. Modifikation unseres Werkzeugs ist Modifikation der Welt.[4]
Es gibt nur einen Tempel in der Welt und das ist der menschliche Körper. Nichts ist heiliger als diese hohe Gestalt. Man berührt den Himmel, wenn man einen Menschenleib betastet.[5]
Wenn man in gesunder Weise die Liebe im Leibe lebt, hat das nichts damit zu tun, ob wir Sex haben oder enthaltsam bleiben. Und doch hat die Religion oft versucht, uns die Freiheit zu entziehen, selbst in rechter Weise mit dieser Gewalt zu ringen, indem sie den Geschlechtsakt als Sünde abgestempelt hat. In dieser Weise ließ die Religion zu, dass die Angst in das Heiligtum der Geschlechtlichkeit eindringt. Der Geschlechtstrieb ist nichts mehr und nichts weniger als eine göttliche Macht. Ihre Flammen bilden unseren Körper zu einem Organ für die Verwandlung der Welt. Als Individualitäten sind wir dafür verantwortlich, dieser Macht ein Zuhause zu geben und zuzulassen, dass sie uns zu fähigen Menschen macht.
Da die Macht der geschlechtlichen Liebe in jedem menschlichen Körper seine Zelte aufschlägt, ist es die Verantwortung jedes Einzelnen, die Härten der Schule des Lebens durchzumachen hinsichtlich der Art, wie sich diese Gewalt im konkreten Einzelfall ausgestalten will. Hier jagen allgemeine Regeln oder Gesetze den Menschen Angst ein, ob es diese zum Verklemmtsein oder zur Hemmungslosigkeit aufrufen.
Wie die Liebe konkret dem Körper des einzelnen Menschen innewohnt, das will im Einzelnen gelernt werden. Und das braucht lange Zeit. Die Individuellen Menschen unterscheiden sich ungeheuer, was die Intensität, die Rhythmen und die persönliche Wichtigkeit des Verlangens betrifft. Die richtige Beziehung zu dieser Gewalt zu finden, ist eine rein individuelle Angelegenheit, die einen hohen Grad an Geistesgegenwart und Selbstbeobachtung verlangt. Nicht selten will solche Reflektion inmitten einer Sturzflut der Leidenschaft geübt werden, die dem Anschein nach weiter nichts will, als sich zu verschenken. Besonders für junge Menschen ist Sex eine wunderschöne Schwierigkeit, die sie mit Ungeduld und Hast erfüllt. Wie anders es wäre, wenn sie verstehen würden, dass diese Schwierigkeit die Morgendämmerung der Liebeskraft im Innern ist; wenn sie von der Wichtigkeit eines vorsichtigen Umgangs mit ihr wüssten.
Schon lange bevor wir ganz Mensch sind, kündigt sich Sexuelle Begierde im Körper an. Wir werden zwar in eine menschliche Form hinein geboren, aber es bedarf mitunter der Feuersbrünste des Verlangens, damit ein Innenleben geschmiedet werden kann, durch das wir - schrittweise - in unser Menschsein hineinwachsen können. Die Bedrängnisse der Begierde sind ungezogen, ungestüm, frustrierend und fordernd. Aber es wäre falsch zu meinen, diese Formen des Andringens würden nur nach Entladung streben. Die Begierde lebt als tiefes Reservoir im Körper, um die Liebe in die Welt hineinzubringen. Zügele das Feuer; hüte die Flamme. Lasse sie ihr Werk vollbringen, dies Werk besteht darin, den Körper zu läutern. Somit schafft die Liebe einen inneren Raum, in welchem es möglich wird, das Leben der Seele mit der Herrlichkeit und Vollkommenheit des leiblichen Daseins zusammenzuweben.
Emotionelle Liebe
Die sexuelle Begierde birgt einen erheblichen unpersönlichen Anteil in sich. Es kann vorkommen, dass man sich ohne emotionale Verbindung körperlich von jemandem angezogen fühlt. Umgekehrt kann eine emotionale Verbindung bereits vor einer sexuellen Anziehung bestehen und nach dieser weiterbestehen. Emotionelle Liebe ergibt sich nicht wesensgemäß aus der sexuellen Liebe; sie ist autonom. Man sollte sie nicht als eine höhere Form der Liebe ansehen, sondern lediglich als eine andere Form, die neben und manchmal zusammen mit sonstigen Formen der Liebe existieren kann.
Der Zweck der sexuellen Liebe ist ein anderer, als der der emotionellen Liebe. Jene fließt ständig durch den Körper und entzündet dabei die Flammen der Verwandlung, welche wiederum den Körper zu einem Aufnahmegefäß machen. Dieses Gefäß kann nun nicht nur sexuelle Liebe fassen, sondern sämtliche Formen derselben. Die emotionelle Liebe hingegen besteht in einem die Seele durchfließenden Strom, der eben die Seele zum Aufnahmegefäß macht und wahre Phantasie inspiriert, welche wiederum zum heilvollen Umgang mit der Angst unerlässlich ist. Lernen wir die emotionelle Liebe zu fassen, so finden wir den reflexiven Raum, den wir zur Bildung eines bewussten Seelenlebens benötigen. Durch die emotionelle Liebe wird das Seelische zum direkten, unmittelbaren Erleben; der andere Mensch lebt nunmehr in unserer Phantasie.
Die heilige Macht der Liebe wirkt zu gleicher Zeit in zwei Seelen hinein, und zwei unter dem Einfluss der emotionellen Liebe stehende Menschen sagen, sie sind in einander verliebt, somit aneinander gebunden. Die Liebe als Emotion pendelt nicht eigentlich hin und her zwischen der einen Individualität und der anderen; sie umfasst und durchdringt beide Beteiligten gleichzeitig. Sagt die eine beteiligte Person zur anderen „Ich bin in dich verliebt“, so verkündet allein schon die Sprache, dass die Liebe nicht in einer Verbindung zweier getrennter Personen besteht, sondern dass beide im gleichen Kessel zusammensitzen. Dieser Modus der Liebe ist in sich zwar wunderschön; es kann allerdings extrem schmerzlich sein, in dieser Weise umfasst zu werden. Das Wunderschöne gehört zur Liebe; der Schmerz ist aus zwei miteinander verwandten Ursprüngen abzuleiten. Einerseits aus der Unerträglichkeit der Vorstellung, dass diese Schönheit nur vorübergehend sein könnte (was sie ja eigentlich auch nicht ist: Wandelbar ist sie schon; vergänglich aber nicht). Andererseits versuchen wir, diese erschreckende Schönheit dadurch loszuwerden, dass wir die Emotion des Verliebtseins von uns wegdrängen; scheint sie doch, unsere Individualität radikal zu bedrohen. Uns ist, als könnten wir uns selbst völlig verlieren. Dies ist die höchstpersönliche Erfahrung, dass die Liebe viel größer ist, als unsere eigene individuelle Existenz.
Die Angst sucht die emotionelle Liebe in mehrfacher Weise zu belagern. Die Angst vor dem Schmerzpotential der Liebe versucht, sich einzukeilen und so einen Fluchtimpuls auszulösen ausgerechnet vor dem, was wir uns am meisten wünschen: mit einem anderen Menschen zusammen die Liebe zu teilen. Ja die Angst kann so mächtig werden, dass sie uns die Gegenwart einer emotionellen Liebe leugnen lässt. Wenn die Liebe zu uns kommt, gilt es, einen mutigen Sprung in sie hineinzuwagen. Oscar Wild sagt, die zwei größten Schwierigkeiten in der Welt seien, das nicht zu bekommen, was man will, und das zu bekommen, was man will. Dieser dramatische Konflikt ist ein Kennzeichen des Heimgesuchtwerdens von der emotionellen Liebe. Wir befürchten, dass wir eines Morgens aufwachen und die ärgsten Zweifeln über die Wirklichkeit dessen haben, was wir für den anderen Menschen fühlen.
Die emotionelle Liebe ist zwar nicht flüchtig; wohl ist sie aber ständig im Wandel begriffen. Eines Tages ruhig, am nächsten Tag turbulent. Die Liebe kann nicht ewig gleich bleiben. Sie mag völlig verschwunden zu sein scheinen, und dann erscheint sie eines Tages ohne Vorwarnung wie eine warme Brise durch das Fenster wieder – vorausgesetzt das Fenster wurde offengelassen. Die schlimmsten Probleme scheinen dem Versuch zu entstammen, sich – zumal angesichts ihrer anscheinend instabilen Wesensart – an ihr festklammern zu wollen. Wir irren uns, wenn wir erwarten, als Folge der emotionellen Liebe glücklich zu werden. Aus dieser Liebe erwarte man bloß keinen Frieden; vielmehr ist eine große Flexibilität der Seele vonnöten, will man auf dieser turbulenten See stabil bleiben.
Emotionelle Ängste, die sich aus der Vergangenheit einer oder beider der Beteiligten zeigen, können in unseren Gefühlen Verwirrung stiften. Wenn sie schwanken oder ins Wanken geraten, können wir uns sicher sein, dass dies das Werk der Angst ist. Wenn wir für die Augenblicke des Befallenwerdens von der Angst wach sind, werden wir jedes Mal sehen, dass nicht die Emotion selbst es ist, was vom Zweifel befallen wird. Der Zweifel greift vielmehr dort an, wo wir über unsere Emotionen nachdenken. Wir können alles verlieren, wenn wir zulassen, dass unser Denken unserem Fühlen vorauseilt. Die Emotion der Liebe ist Selbstzweck; sie bedeutet nichts außer sie selbst. Insbesondere besagt sie nicht, dass ich dem anderen Menschen auf ewig verbunden sei. Ein solcher Entschluss zur Verbundenheit erfordert eine Handlung aus freier Wahl. Die Angst keilt sich an der Stelle ein, wo suggeriert wird, dass die emotionelle Liebe zwingend ein ewiges Zusammensein nach sich ziehe.
In der emotionellen Liebe fühlen wir zwar ein Verlangen, mit der anderen Person zusammenzufließen, aber solches Zusammensein ist nicht das Anliegen dieser Form der Liebe. Deren Absicht ist, uns über das wahre Wesen unseres Getrenntseins von dem anderen Menschen aufzuklären. Zu diesem Zweck zwingt sie uns dazu, dieses Getrenntsein als wahre innere Erfahrung zu entdecken. Das ist das Paradoxon der emotionellen Liebe; sie bringt uns zusammen, damit wir unser Getrenntsein entdecken. Wahres Getrenntsein ist nicht Einsamkeit, sondern ein Kennzeichen innerer Stärke, ein Kennenlernen unserer wahren Menschlichkeit. Wahres Getrenntsein ist eine Stärkung der Kapazität, sich der Angst zu stellen. Einsam fühlen wir nicht deshalb, weil uns ein Partner fehlt, sondern weil wir uns bei uns selbst nicht zuhause fühlen. Die Leere, die wir dabei erleben, kann kein anderer Mensch ausfüllen, auch wenn wir uns zunächst durch diesen anderen Menschen ergänzt fühlen. Nach einiger Zeit steigert sich die ursprüngliche Leere, und das zwingt uns in der Regel dazu, nach innen zu schauen. Wir können uns nicht in uns selbst zuhause fühlen, wenn wir in uns keinen Innenraum geschaffen haben. Das Verlangen, mit jemandem zusammenzufließen, trifft auf einen heilsamen Widerstand, und auf diesen Widerstand gilt es zu lauschen.
Sowie uns in einer zwischenmenschlichen Beziehung die eigene Individualität aufzugehen beginnt, sucht die Angst die emotionelle Liebe in Verwirrung zu bringen. Und dazu ist sie ohne Weiteres in der Lage. Mit diesem Erwachen zur eigenen Individualität ist die Angst darum bemüht, sich über die Grenze hinwegzusetzen, jenseits derer kein Zusammenfließen mehr möglich ist. Die Angst will, dass wir die unüberbrückbare Kluft vergessen, die zwischen uns und dem anderen Menschen liegt. An dieser Stelle besteht die Gefahr, dass wir uns veräußern, noch bevor wir völlig geformt sind, wie einen Blumenstrauß, der zu Boden fällt und auseinandergestreut wird. Wir suchen einen Weg aus der Isolation heraus, anstatt dass wir einen Weg in die heilige Individualität unserer eigenen Seele hinein und eine liebevolle Achtung gegenüber der Seele des anderen Menschen suchen. Das Einzige, was sich aus diesem Irrtum ergibt, sind Schmerzen und Verwirrung. In dem Maße, in dem die emotionelle Liebe intensiver wird, setzt sich die Angst ein, um die spirituelle Liebe abzuwehren. Denn diese könnte die emotionelle Liebe stützen und vertiefen, und obendrein noch neue Aufgaben und Herausforderungen mit sich bringen. Was durch emotionelle Liebe nicht erreicht werden kann, das lässt sich in der spirituellen Liebe vollbringen. Denn spirituelle Liebe besteht in der vollkommenen Vermischung zweier Geister ohne jeden Identitätsverlust. Die Angst sucht diese Vermischung verfrüht und in der falschen Sphäre auftreten zu lassen, was unfehlbar bewirken würde, dass die zwei Personen in der Emotion gefangen bleiben und sich niemals im Geiste begegnen.
Die Hitze der emotionellen Liebe steigert häufig die sexuelle Liebe; die zwischen sexueller und emotioneller Liebe in Gang gebrachte Kreislauf-Strömung kann wiederum erstickend sein. Diese Erstickung kann dadurch umgangen werden, dass die emotionelle Liebe das Element der Freundschaft zulässt. Das Zulassen der Freundschaft in einer emotionellen Liebe ist zwar noch keine direkte spirituelle Liebe, aber in deren Richtung führt es.
Wohl gibt es aber eine Form der Liebe, die sich sowohl an der emotionellen als auch an der spirituellen Liebe beteiligt. Die alten Griechen nannten sie Philia. Wenn heutzutage zwei Menschen eine sexuell-emotionale Verbindung eingehen, die sich als problematisch entfaltet, so heißt es häufig beim Beenden dieser Bindung „Lasst uns bloß Freunde sein,“ wobei man bemüht ist, die Gefühle des anderen Menschen zu schonen. Nur verrät dieses Abschiedsritual leider, dass Freundschaft zur sexuell-emotionellen Liebe niemals dazugehört hatte. Die Freundschaft bildet ein unabdingbares Bindeglied zur spirituellen Liebe. Sie ist das Einzige, was die beengende Beschränkung der Liebe auf Geschlechtlichkeit und Emotionalität verhindern kann. Ein weiterer zentral Aspekt der Freundschaft ist, dass sie zur Öffentlichkeit und zum gesellschaftlichen Leben dazugehört. So gehört die Liebe in ihrer Eigenschaft als Freundschaft zur ganzen Welt und wird nicht auf die Sphäre des Privaten beschränkt.
Zwar besteht es das Anliegen der emotionellen Liebe darin, zwei Individualitäten zu umfassen und diese paradoxerweise aus der Leere ihrer Einsamkeit und in die Fülle ihres Separatseins hineinzutreiben; aber wann immer sie mit der Freundschaft gepaart ist, wird sie zur Beschützerin des Separatseins des anderen Menschen. Rilke sagt:
[F]ür die höchste Aufgabe einer Verbindung zweier Menschen [halte ich diese]: dass einer dem andern seine Einsamkeit bewache. Denn wenn das Wesen der Gleichgültigkeit und der Menge darin besteht, keine Einsamkeit anzuerkennen, so ist Liebe und Freundschaft dazu da, fortwährend Gelegenheit zur Einsamkeit zu geben. Und nur das sind die wirklichen Gemeinsamkeiten, die rhythmisch tiefe Vereinsamungen unterbrechen…[6]
Zwei Menschen können der Seele des jeweils anderen nicht dienen, wenn sie unwissentlich miteinander und somit in eigennützigem Verhalten verstrickt sind. Wenn man die Einsamkeit eines anderen Menschen missachtet, wenn man es unterlässt, deren Wächter zu sein, so schadet das nicht nur der Beziehung: Auch die Welt nimmt daran Schaden, da die Liebe, welche das Paar allerdings heimgesucht hat, daran verhindert wird, über diese zwei und in die weitere Welt hinaus zu gelangen.
Zwar ist jeder Modus der Liebe wesensgemäß autonom. Es lässt sich aber keiner von ihnen ohne schädigende Auswirkung umgehen. Zwar bestehen wichtige Verbindungen zwischen den einzelnen Arten der Liebe, aber diese Verbindungen sind nicht hierarchischer Art – es handelt sich nicht darum, sich nach und nach von einem niedrigeren zu einem höheren Zustand der Liebe hinaufzuerheben. Die Vorstellung einer Hierarchie ist eine List der Angst; darin versteckt sie sich, als Macht und Autorität verkleidet, und erfüllt uns mit dem Gedanken, dass etwa die spirituelle Liebe eine höhere Form der Liebe sei als die sexuelle Liebe. Die spirituelle Liebe ist allerdings etwas anderes als die sexuelle Liebe; etwas Höheres ist sie aber nicht. Halten wir sie doch für etwas Höheres, so ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass die sexuelle Liebe unterdrückt wird. Außerdem erfüllt uns das Gefühl, dass wir die höheren Formen der Liebe nicht erlangen werden, ebenfalls mit Angst. Es besteht keinerlei Widerspruch darin, sich der sexuellen Liebe, der emotionellen Liebe und der spirituellen Liebe vollkommen und zu gleicher Zeit hinzugeben. Im Gegenteil: Das zu tun ist der sicherste Weg, die Seele von der Angst zu befreien.
Spirituelle Liebe
Die Angst gibt sich von je her große Mühe, unser Verständnis der Beziehung zwischen Geist und Mensch zu verwirren. Wir sehen die Welt durch unsere Augen, hören sie durch unsere Ohren, betasten sie; wir nehmen sie überhaupt dadurch wahr, dass alle Sinne sich ergänzen. Aber es steckt mehr in dem, was uns umgibt, als das, was man auf Anhieb sehen, hören, betasten kann. Von den wahrnehmbaren Eigenschaften wie etwa Hell und Dunkel, Klang oder räumlicher Tiefe abgesehen, sind wir auch von anderen, nicht sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften betroffen, wie zum Beispiel Gefühlswärme oder -kälte, unserem Vorstellungsleben, unserem Denken und Wollen. Diese Eigenschaften sind nicht sinnlich wahrnehmbar. Das Organ, durch welches wir solche Eigenschaften erleben, sowohl in anderen Menschen als auch in uns selbst, ist die Seele.
Die um uns herum befindlichen Gegenstände und Qualitäten – das uns umgebende Leben – sind nicht voneinander abgetrennt, sondern miteinander verwoben. Das Licht verwebt sich in die Dunkelheit hinein, um uns die Farben zu geben; die Wolken und der Himmel verweben sich mit der Erde; das Leben der Tiere ist mit der Landschaft vollkommen verwoben, innerhalb welcher es sich abspielt; verschiedene Seelenqualitäten wie etwa das Schaffen innerer Bilder, das Fühlen oder das Denken verweben sich miteinander. Dieses Sich-Verweben ist ontologisch dem Erscheinen jeglicher einzelner Eigenschaft vorangestellt; dieses Sich-Verweben ist es allein, was die Gestalt und den Kontext der einzelnen Eigenschaften erst bewirkt. Was den Menschen betrifft, gibt es außerdem noch die Eigenschaft der Individualität, die rein anhand der Sinneserfahrung und der Seele nicht erklärbar ist. Nicht durch die Sinneserfahrung, sondern durch unseren Geist erhalten wir Kunde von der wahren Individualität eines anderen Menschen. Jeder Mensch ist unvergleichbar – beispiellos, unerreicht, ohne seinesgleichen. Diese definierende Qualität ist nur dann zu erkennen, wenn unser Geist den Geist des anderen Menschen erfasst.
Die spirituelle Liebe kann man als eine Liebe beschreiben, die sich an den absolut wirklichen und zugleich gänzlich unsichtbaren Aspekten des Seins orientiert. Sie ist es, was uns ermöglicht, die aller-innerlichsten, geheimnisvollen Aspekte eines anderen Menschen zu lieben. Die spirituelle Liebe geht über die physische Attraktivität und sogar über Qualitäten der Seele hinaus; sie sucht alles, was diesen Menschen vollkommen einzigartig macht und ihn vor allen anderen Menschen heraushebt, die je gelebt haben oder jemals leben werden.
Sich der spirituellen Liebe bewusst zu werden erfordert Selbsterkenntnis. Der Ausdruck Selbsterkenntnis bedeutet nicht genau das, was es zu bedeuten scheint. Dieser uralte, ehrwürdige Begriff ist uns durch die Griechen überliefert und ist schriftlich festgehalten im Tempel des Apollon zu Delphi: „Erkenne dich selbst“. Diese Inschrift wurde zwar als „Suche die Selbsterkenntnis“ übersetzt, aber das Wort selbst ist mit „Geist“ gleichbedeutend. Unseren Geist können wir nicht eigentlich erkennen; wohl aber können wir die Fähigkeit ausbilden, durch den Geist zu erkennen, und diese Fähigkeit ist etwas anderes als intellektuelles Wissen. Die Selbsterkenntnis, die zur spirituellen Liebe nötig ist, ist ein Erkennen durch die Fähigkeiten des Geistes. Wer so erkennt, der aktiviert und verwirklicht den eigenen Geist; der vermag, rein dadurch zu erkennen, dass er direkt anwesend ist.
Bei der Erkenntnis durch den Geist und der Erkenntnis durch die spirituelle Liebe handelt es sich um eine und dieselbe Tätigkeit. Einen Unterschied zwischen Geist-Erkenntnis und spiritueller Liebe kann es nicht geben, denn das ist es, was der Geist tut: lieben. Das Wesen des Geistes ist das Wesen der Liebe. Egal also, was wir sonst noch unternehmen mögen: Letzten Endes kann man nur durch spirituelle Liebe den Ängsten adäquat begegnen und ihnen Einhalt gebieten.
Um einem anderen Menschen gegenüber spirituelle Liebe erleben zu können, muss man in den Bereichen der sexuellen und der emotionellen Liebe erst ein Mindestmaß an Reife besitzen. Dadurch, dass wir gelernt haben, die Sexualliebe weder zu unterdrücken noch sie willkürlich zum eigenen Vergnügen zu verschwenden, müssen wir erst zu einem körperlich angemessenen Gefäß der Liebe geworden sein. Auch müssen wir im seelischen Leben bis zu einem gewissen Grad gereift sein, indem wir die Fähigkeit erworben haben, die Liebe als Emotion zu umfangen und in dieser Weise zuzulassen, dass sie zur Bildnerin an unserem Innenleben wird. Solange wir nicht um die verschiedenen Formen der Liebe erkennend gerungen haben; solange wir nicht gefühlt haben, wie alle Formen der Liebe autonom und dennoch miteinander verwoben sind, solange wird die Angst zwischen den Lücken den Einlass finden. Ich kann zum Beispiel befürchten, dass der sexuellen Liebe eine emotionelle Komponente fehlt, oder dass die emotionelle Liebe mit der sexuellen Begierde nicht zusammenzubringen sei. Die sexuelle Liebe scheint zur spirituellen Liebe keine Beziehung zu haben. Es kann vorkommen, dass ich mich auf einen einzigen Modus der Liebe beschränke, weil ich Angst davor habe, dass wenn ich die anderen Arten der Liebe erkunden will, ich diesen einen Modus verlieren könnte. Willst du aber die Seele von der überwältigenden Angst freihalten, so musst du allen Formen der Liebe den Vortritt lassen können.
Die spirituelle Liebe hilft uns, uns den Mysterien des anderen Menschen zu öffnen. Sie will weiter nichts, als sich dem anderen Menschen so zu nähern, dass dessen Geist immer heller und heller hervorleuchtet. Novalis sagt: „Unser Geist ist Bindeglied zum vollkommen Unvergleichbaren.“ Durch unsere eigene Unvergleichbarkeit ist es, dass wir die Unvergleichbarkeit des anderen Menschen und unsere gemeinsame Einzigartigkeit wahrnehmen. In einem weiteren Aphorismus sagt Novalis „Ich bin du“.
„Ich bin du“ bedeutet nicht, dass ich mich selbst in dir finde; das wäre eine schreckliche Verzerrung von „du“ als anderer Mensch. Wenn ich mich selbst in dir fände und du dich entschiedest, mich zu verlassen, so verlöre ich allen Sinn für mich selbst als Mensch. Diese Abhängigkeit ist anders, als emotionale oder physische Abhängigkeit. In der emotionalen Abhängigkeit verlasse ich mich auf einen anderen Menschen, um Emotionalität und den Anschein eines seelischen Lebens zu erfahren. In der physischen Abhängigkeit bin ich von sexueller Erfahrung mit einem anderen Menschen abhängig, um mein eigenes sexuelles Sein zu erleben. Eine weit gravierendere Schwierigkeit entsteht, wenn ich keinen Sinn für das eigene spirituelle Dasein habe und mich dabei auf den Geist eines anderen Menschen verlasse: Ist der andere Mensch nicht mehr Teil meines Lebens, so bin ich recht eigentlich tot.
In der spirituellen Liebe lebt das Wohl des anderen Menschen in jedem Gedanken, der mir kommt, egal ob der Gedanke mit diesem Menschen direkt etwas zu tun hat oder nicht. Der geistige Ausdruck für diese Eigenschaft ist Intention. Dieser geistige Ausdruck birgt eine weit subtilere Bedeutung in sich als nur die, etwas zu beabsichtigen. Er trägt die Bedeutung, dass etwas, was man in seinen Gedanken birgt, derart echt geworden ist, dass es im wortwörtlichen Sinne anwesend ist – nicht als mir gegenüberstehend, sondern überall in mir. In der spirituellen Liebe ist das, was dergestalt echt wird, die Geist-Qualität des anderen Menschen. Diese ist es, was man in der Intention erlebt, sich rein am Wohl des anderen Menschen zu orientieren.
Der Mittelpunkt einer gelebten spirituellen Liebe im alltäglichen Leben sind die Gedanken über den anderen Menschen, die wir in uns tragen. Solche Gedanken sind anders als die, die dann entstehen, wenn wir jemanden vermissen, oder wenn wir uns an unsere gemeinsame Vergangenheit erinnern, oder wenn wir an etwas denken, was jemand gerade in diesem Moment tut. In der spirituellen Liebe denken wir nicht zwingend an den anderen Menschen; vielmehr ist der andere Mensch – zumal als Geist und ohne, dass er es überhaupt weiß – mit meiner Existenz so vollkommen verwoben, dass er in jedem Augenblick in einer Weise bei mir ist, die meine eigene individuelle Freiheit erhöht, anstatt sie zu hindern. Ich ordne diese Eigenschaft dem Bereich des Denkens zu, da im gewöhnlichen Leben es das Denken ist, welches in dem Leben des Geistes zum Ausdruck kommt. Das bedeutet nicht, dass der Inhalt des von uns Gedachten zwingend spiritueller Art wäre. Schon die Macht des Denkens an und für sich ist spiritueller Art; und mit der spirituellen Liebe wohnt der andere Mensch dieser Macht inne.
Wenn ich jemanden, den ich Liebe, anrufe und sage, dass ich an ihn denke, so hat diese Art des Denkens ein emotionales Anliegen – sie vergegenwärtigt mir jemanden, der abwesend ist. Das ist fein und gut; kann es doch meine Verbindung zur Emotion aufrechterhalten. Eine spirituelle Liebe ist es aber nicht. In der spirituellen Liebe bin ich jeden Augenblick mit dem Wohl des Geistes des anderen Menschen beschäftigt; dieses Wohl denkt in mir sich selbst, es durchsetzt meine Existenz ganz, und lässt mich dabei vollkommen frei. Diese Art der Liebe ernährt sowohl die Seele als auch den Geist des anderen Menschen. Dieser Mensch wird mehr von dem, der er eigentlich ist, und nicht mehr von dem, was ich von ihm möchte.
Die spirituelle Liebe besitzt nicht die rhythmische Periodizität, von der sowohl die sexuelle als auch die emotionelle Liebe gekennzeichnet sind. Sie tritt nicht in Wogen auf; sie ist stets gegenwärtig, sie spiegelt sich in die Emotionen und in den Körper zurück und verleiht dem Leben neue Farbe, neue Leuchtkraft. Solche Widerspiegelung kann auch Verwirrung stiften. Denn die sexuelle und die emotionelle Liebe werden von der spirituellen Liebe nicht vermindert, sondern erhöht. Und so kann es vorkommen, dass wir die spirituelle Liebe mit der sexuellen oder der emotionellen Liebe verwechseln. Vom Geist werden wir ständig ernährt, sei es über unsere Umwelt oder über unsere Beziehungen zu anderen Menschen. Insofern aber, als wir uns dieses Vorgangs nicht bewusst sind, kann es passieren, dass wir uns ausschließlich an sexuelle oder emotionelle Liebe binden und nicht erkennen, auf welche Form der Liebe diese Erhöhung eigentlich zurückzuführen ist.
Eine Besinnung auf die folgende Betrachtung von Novalis kann uns dem Wesen der spirituellen Erkenntnis und der spirituellen Liebe näherbringen:
Was man liebt, findet man überall, und sieht überall Ähnlichkeiten. Je größer die Liebe, desto weiter und mannichfaltiger diese ähnliche Welt. Meine Geliebte ist die Abbreviatur des Universums, das Universum die Elongatur meiner Geliebten. Dem Freunde der Wissenschaften bieten sie alle, Blumen und Souvenirs, für seine Geliebte.[7]
Wen die spirituelle Liebe berührt, dessen ganze Anwesenheit in der Welt ändert sich. Warum bringen wir der/dem Geliebten Geschenke dar? Als Liebesbezeigung wohl; aber sofern wir bei der Wahl eines Geschenks überhaupt Sorgfalt aufwenden, kommt es zu mehr als eine Äußerung von Gefühlswärme. Wir suchen nicht bloß etwas, was ihr gefallen und sie deshalb schmeicheln könnte, sondern wir suchen genau das Richtige; ein Geschenk nämlich, das zum Ausdruck bringt, was wir in dem Tiefsten des geliebten Menschen sehen. Wer bloß abgegriffene Klischees schenkt, bringt nur die eigene selbstbezogene Emotion zum Ausdruck
Wenn wir Blumen bringen, so müssen es genau die richtigen Blumen sein. Wenn wir ein Gedicht schreiben, so muss es die Welt als Vergleich zur Geliebten verbildlichen. Und so ändern sich dann über das Darbringen solcher sinnerfüllten Geschenke hinaus auch die Dinge, die wir jeden Tag tun. Es ändert sich die Art, wie wir morgens aufstehen, wie wir an unsere Arbeit herangehen, wir das sehen, was in der Welt geschieht. Wir entdecken vielleicht, dass wir phantasievoller denken können. Dadurch werden unsere Gedanken nicht etwa verzerrt. Im Gegenteil: Je phantasievoller wir denken, umso wahrer sind die Bilder, die wir von der Welt erhalten. Kein Aspekt der Welt kann wirklich gesehen werden, wenn er nicht durch die Augen der Liebe gesehen wird. Nur durch die Liebe ist die Welt eigentlich zu erkennen.
Wir können sicher sein, dass unsere Liebe für einen anderen Menschen an die Ebene des Geistigen gerührt hat, wenn unser Interesse für die Welt akuter, lebhafter, phantasievoller wird. So finden wir zum Beispiel, dass unsere gewohnte Art, Dinge zu tun, uns nicht mehr befriedigt; wir empfinden einen Mangel oder eine Leere dabei. Wir stellen vielleicht fest, dass unsere Arbeit uns unzufrieden lässt, sofern sie keine spirituelle Bedeutung hat. Beziehungen ohne geistige Tiefe fallen wahrscheinlich weg. Frivol verbrachte Freizeit kommt uns albern vor. Das lässt uns womöglich glauben, dass in unserem Leben sich etwas ändern muss. Fruchtbarer wäre es aber zu empfinden, dass eine Änderung bereits stattgefunden hat, und uns dazu anzuschicken, durch andere Augen das zu sehen, was wir tun. Andernfalls erschöpfen wir uns in der Fortsetzung dieser gleichen Richtung immer mehr, ohne uns aber vorstellen zu können, was wir sonst machen sollten.
Eine solche neue Art zu sehen können wir dadurch herbeiführen, dass wir die tiefe Bedeutung anerkennen, welche die Liebe für uns hat. Es kann durchaus geschehen, dass wir sie einfach stillschweigend voraussetzen, besonders dann, wenn die „romantische“ Phase, das Verliebtsein, vorüber ist. Das Ende dieser Phase ist aber eigentlich der Anfang von etwas weit Größerem: von einer Einweihung in die spirituelle Liebe.
Im Gegensatz zu dem Zusammenfließen zweier Menschen, das bei der emotionalen Liebe häufig vorkommt und welches sich zerstörerisch auswirken kann, fühlt man das Zusammenfließen zweier Geister in der spirituellen Liebe als die Qualität der Inspiration. Dante war durch die Schönheit der Beatrice inspiriert. Die Geister dieser zwei Menschen kamen zusammen, ohne dass sich für sie Schäden ergeben hätten. In ähnlicher Weise wurde Novalis durch Sophie von Kühn inspiriert, der er begegnet war, als sie erst dreizehn Jahre alt war. Sie starb einige Jahre später, aber das ganze Werk Novalis‘ von dort an wurde durch sie inspiriert. Ihr Geist war stets um ihn – in seiner Dichtung, in seinen Romanen, sogar in seiner praktischen Tätigkeit als Bergwerksingenieur. Bei Novalis sehen wir eindeutig, dass diese Ehe zweier Geister mit dem Tode nicht zu Ende geht. Novalis gab sich große Mühe, diese geistige Verbindung gegenwärtig und bewusst zu erhalten.
Eine solche Bemühung ist ein kraftvolles Mittel, der Anwesenheit der Angst und Angst in der Welt zu entgegnen. Jeder von uns kann das nach seiner eigenen Art tun. Kümmere ich mich um das geistige Schicksal derer, die ich liebe? Wie kann ich ihnen in spiritueller Weise helfen? Stehe ich zu der vollen Wirklichkeit meiner Geliebten? Setze ich mich für diese Wirklichkeit ein? In welcher Weise können wir zusammenarbeiten, um von der Wirklichkeit der Liebe in der Welt Zeugnis abzulegen? Die Antworten auf solche Fragen zu leben wirkt der Präsenz der Angst in der Welt weit effektiver entgegen, als alle äußerlichen Maßnahmen, die wir ergreifen mögen.
Jede Art der Liebe bringt Schwierigkeiten mit sich. Sie schmerzt, brennt, sorgt für Irritation, Unbehagen, hält uns nachts wach, lenkt uns tagsüber ab, und sogar dann, wenn sie uns inspiriert, tut sie dies mit einer solchen Intensität, dass wir uns an einer Macht gefesselt finden, die uns nicht loslassen wird. Sie scheint alles in unserer Seele Befindliche als Brennstoff zu verwenden, und sie intensiviert die kleine Flamme des Geistes bis dahin, dass das Feuer unkontrollierbar scheint. Unser kleines Ego, unsere Persönlichkeit kann der Feuersbrunst kaum standhalten, und uns ist, als würden wir wahnsinnig. Wir können sogar zerstört werden, wenn deren mächtige Gegenwart unbestätigt bleibt. Es kann uns unbewusst bleiben, dass wir die Flammen der Läuterung und Reinigung durchmachen, welche unentbehrlich sind, um Liebe in die Welt hereinzubringen.
Viele der heutigen Beratungs-, Therapie- und Selbsthilfe-Praktiken tun so, als wäre etwas mit uns nicht in Ordnung, wenn wir die Liebe nicht handhaben können. Aber wer kann das schon? Die Therapie ist einer Kontrolle der Intensität der Flamme nicht gewachsen; stattdessen versucht sie, uns darin zu beraten, wie wir das Feuer löschen können. Solche Therapien raten uns dazu, mit unserem Partner auszukommen, herauszufinden, was die Männer beziehungsweise was die Frauen brauchen; es wird endlos darüber geredet, der Egoismus gestärkt, sich darauf konzentriert, wie man im Sex Befriedigung findet, wie man die Zwanghaftigkeit vermeidet. Die Bemühung, in der Liebe Erfolg zu finden, gängelt nicht nur die Liebe; sie führt zur banalen Konventionalität.
Alle Versuche, die Liebe zur Anpassung an die Regeln zu zwingen, ob es sich um psychologische, um religiöse, oder um soziale Regen handelt, bezwecken die Zügelung der Liebe zu unseren eigenen Zwecken. Unser Ego versucht, die Liebe gefangen zu nehmen. Wir wollen sie für uns selbst haben, damit wir uns wohl fühlen, die angenehme Empfindung statt der Realität erleben, und mit uns selbst zufrieden sind, anstatt sie in ihrer eigenen geheimnisvollen Weise wirken zu lassen, um die Welt zu verwandeln.
Der Mensch ist ein Werkzeug der Liebe, und sie selbst muss nach eigenem Gutdünken dieses Werkzeug bilden. Daher kommt es, dass der Mensch sich immer auf ihre Seite schlagen muss, egal was er ihretwegen durchzustehen hat. Der Zweck eines solchen Läuterungsprozesses ist, den Eintritt der Liebe in die weitere Welt zu ermöglichen. Indem wir so die Sache der Liebe voranbringen, machen wir bedeutende, von Freude, Trauer, Schmerz und Entzücken begleitete Verwandlungen durch. Es kann vorkommen, dass wir den einen oder den anderen Teilaspekt dieses Läuterungsprozesses mit dessen Endziel verwechseln. Wir mögen nämlich denken, dass der höchste Sinn und Zweck der Liebe in der Welt der ist, dass zwei Menschen sich lieben; das macht einen der bedeutenden Aspekte des Läuterungsprozesses schon aus, aber nicht dessen letztendlichen Zweck. Wenn die Liebe zwischen Menschen fließt, so kann sie auch in die Welt hineinfließen. Wenn aber der Fluss der Liebe auf das beschränkt ist, was zwischen zwei Menschen sich ereignen kann, so haben wir – auch dann, wenn es sich um deren höchsten, edelsten Ausdruck handeln sollte – unwissentlich die Liebe gefesselt.
Schöpferische Liebe
Wenn die Liebe darauf beschränkt wäre, nur zwischen Menschen zu fließen, so könnte sie die Vorstöße der Angst auf den vielen oben erwähnten Gebieten nicht aufhalten. Auch in die Welt hinein muss die Liebe fließen, ja sie muss Teil der Substanz der Welt selbst werden. Derjenige Modus der Liebe mit der Macht, sowohl den Menschen wie auch die Welt umzuwandeln, ist die schöpferische Liebe. Wollen wir einen Einblick in diese Art der Liebe gewinnen, so müssen wir erst an dem Feuer der Liebe so sehr gelitten haben, dass wir die Gestaltung unseres Körpers zu ihrem Werkzeug zulassen wollen. Wir müssen das Heranbranden der sexuellen Liebe fühlen können, ohne sie weder „sanieren“ noch sie in willkürlicher Weise gebrauchen zu wollen. Letzteres soll nicht heißen, dass wir Zölibat werden müssen. Das Kennzeichen davon, die Flammen der sexuellen Liebe läuternd überstanden zu haben, ist ein Freude-Gefühl im Körper; Freude daran, ein empfindendes Wesen überhaupt zu sein. Freude an der Gegenwart aller Dinge der irdischen Welt.
Zweitens müssen wir hinlänglich die Flammen der Liebe durchlitten haben, wie diese in der Seele brennen. Fühlen wir unser Getrenntsein von denen, die wir lieben? Fühlen wir, wie dieses Getrenntsein durch die uns Liebenden beschützt und überwacht wird? Fühlen wir uns trotz dieses Getrenntseins miteinander vereinigt? Fühlen wir innere Freude an und Erstaunen vor der nie enden wollenden Seelentiefe? Fühlen wir uns dazu berufen, die Seelentiefe jener zu beschützen und zu bewachen, die wir lieben? Kennen wir überhaupt das Reich der Seele und haben es nicht mehr nötig, jemanden um eine Definition von „Seele“ zu bitten? Ferner: Durchflammt das Feuer der Liebe nicht nur unseren Körper und unsere Seele, sondern verwandelt es auch unser Denken so gründlich, dass ihre schöpferische Macht in uns ein phantasievolles Denken und Wahrnehmen inspiriert? Wann immer die diversen Arten der Liebe durch uns hindurchwirken und uns verwandeln, wird es möglich, einen Blick auch auf die schöpferische Liebe zu erhaschen.
Schöpferische Liebe wirkt in merkwürdiger, ja in eigener Weise. Zu ihrer Wesensart lässt sich kaum etwas sagen; wir können sie nur durch ihre Wirkungen erkennen. Die schöpferische Liebe wirkt in vollkommen qualitativer Art und Weise; alle andere Liebe übrigens auch, aber mit den anderen Modi kann es wenigstens einen Bezugspunkt geben, der uns auf etwas Substantielles hinweist – wie etwa das Gefühl einer starken oder aber nicht so starken Liebe, einer intensiven oder weniger intensiven Liebe. Bei der schöpferischen Liebe erzeugt auch die kleinste in die Welt hinein freigesetzte Handlung der Liebe die gleichen Ergebnisse, wie die größte. Die Liebe existiert nicht als Quantität, und so gelten bei ihr streng genommen die Kriterien „groß“ und „klein“ gar nicht. Allerdings beschreiben Groß und Klein auch Qualitäten. Wenn ich die Straße entlanglaufe und einen Augenblick anhalte, um mich mit einem Bekannten zu unterhalten, und im Verfolg unseres kleinen Gesprächs – im Bruchteil einer Sekunde – das innere Licht dieses Menschen in seinem Antlitz offenbar wird, so strömt die Liebe durch uns hindurch und ich erkenne den Geist dieses Menschen. Aber bei dieser kleinen Handlung der Liebe wird nicht nur erkannt, sondern in diesem Augenblick wird auch Liebe in die Welt hinein freigesetzt. Man stelle sich nun die alltägliche Arbeit eines Menschen wie zum Beispiel der Mutter Theresa vor. Ihre Fürsorge für die Leidenden gilt eindeutig als große Handlung der Liebe. Können wir aber sagen, dass eine kleine Handlung der Liebe in der Welt weniger bewirkt, als eine große Handlung der Liebe? Diese Frage erscheint zunächst lächerlich; steht doch wohl außer Frage, dass die große Handlung mehr ausrichtet.
Die in die Welt kommende schöpferische Liebe ist aber nicht als Ausdruck eines Ergebnisses zu messen. Deren Anliegen ist weiter nichts, als in die Welt hineinzuströmen; sie unterliegt keinerlei Urteil unsererseits darüber, was sie bewirken oder nicht bewirken darf. In den zwei oben angeführten Beispielen strömt die Liebe in die Welt. Die einen sind dazu berufen, in der einen Weise zu lieben, die anderen in anderer Weise. Zwar ist es für dein eigenes Menschsein unerlässlich, davon Kenntnis zu erlangen, in welcher Weise du zum Lieben berufen bist und dem die Treue zu halten; die eine Weise darf aber nicht als wichtiger denn die andere gelten. Wir mögen sagen, dass die durch Mutter Theresa hindurchfließende Liebe viel mehr Menschen beeinflusst, als die kleine Begegnung an der Straßenecke. Eine solche Bewertung lässt aber lediglich der Angst den freien Zutritt; sie erzeugt in uns das Gefühl, dass es nur große Seelen wie Mutter Theresa sind, die wichtige Handlungen der Liebe vollziehen. Wir können das volle Ausmaß des Liebens schlicht nicht wissen; nicht einmal Mutter Theresa konnte das. Das gesellschaftliche Ergebnis dessen, was sie tat, mag allerdings sichtbarer sein, aber die Liebe ist nicht von unmittelbar sichtbaren sozialen Ergebnissen abhängig. Die schöpferische Liebe begibt sich jenseits derer, durch die sie wirken mag, in die Welt hinaus. Und solange eine Handlung der Liebe um Selbstlosigkeit bemüht ist, so lange wird die Liebe freigesetzt, um in der Welt zu handeln.
Eine weitere Wahrheit bezüglich der schöpferischen Liebe: Je stärker die Intensität der Liebe, umso größer die Zunahme der Liebe in der Welt. Als Werkzeuge der Liebe ist es uns zwar möglich, die Intensität der Liebe wachsen oder abnehmen zu lassen, aber nur in indirekter Weise, durch einen Fokus der Aufmerksamkeit. Nicht die Liebe selbst, sondern nur unsere Aufmerksamkeit können wir fokussieren. Wenn unsere Aufmerksamkeit am stärksten ist – das heißt, wenn unsere Wahrnehmung gänzlich auf das gerichtet ist, was sich vor uns befindet; unser Körper ist entspannt, uns beschäftigt kein fremder Gedanke, keine weitere Emotion – so steigert sich die Liebe. Wenn unsere Aufmerksamkeit diffus ist, so zerstreut sich die Liebe wegen der Unzulänglichkeit des Werkzeugs. Wenn wir sagen, jemand liebt in intensiver Weise, so ist von der Qualität nicht seiner Liebe, sondern von der Qualität seiner Aufmerksamkeit die Rede.
Haben wir einmal ein wirkliches Gespür für die Autonomie der Liebe gewonnen, haben wir einmal erkannt, dass sie nicht aus unseren Kräften entsteht, so können wir unsere Sorge von der illusorischen Frage weglenken, ob ich denn genügend richtig oder stark liebe, und auf das Werkzeug hinlenken, durch welches die Liebe in die Welt kommt. Die Frage ist nicht „Was kann ich tun, um besser oder voller zu lieben?“, sondern „Was kann ich tun, um ein rechtes Gefäß zu sein, durch das die Liebe in die Welt hineingelangt?“ Die Kardinalpraktik besteht im ständigen Arbeiten daran, wahrhaftig anwesend zu sein. Diese Handlung der Aufmerksamkeit erfordert, dass wir uns aus uns selbst hinausbegeben und uns völlig auf das Herz und die Tiefe dessen einlassen, auf welches wir unsere Aufmerksamkeit richten. Wir müssen hochempfänglich für das sein, was uns begegnet, müssen uns ohne vorgefasste Meinungen und Urteile ihm dadurch nähern, dass wir es uns die Wirklichkeit offenbaren lassen. Dann tritt ein zweiter Aspekt der Handlung der Aufmerksamkeit ins Spiel: das Ringen um neue Formen, das auszudrücken, was wir in der Handlung der schöpferischen Empfänglichkeit erlebt haben.
Ein weiterer Aspekt der schöpferischen Liebe ist die Fähigkeit, vor der Liebe kapitulieren zu können, ohne uns dabei selbst zu verlieren. Kapitulieren wir blind vor der Macht der Liebe, so werden wir uns in einer kurzlebigen Ekstase verlieren. Diese Ekstase ist aber so mächtig, dass wir darauf fixiert werden, sie zu reproduzieren, ohne allerdings dabei zu durchschauen, dass es das Ego ist, das um des eigenen Vergnügens Willen die Liebe gefangen nehmen will. Andererseits haben wir nicht die Fähigkeit, unser Ego vollständig beiseitezulegen, nicht einmal nachdem wir die imaginative Erkenntnis und das Seelenleben vollkommen ausgebildet haben. Alles, was wir tun können, ist, 1) uns dessen bewusst sein, wie unser Ego versucht, die Ekstasen der Liebe einzufangen, und 2) schrittchenweise daran arbeiten, immer weniger auf dessen Anforderungen zu einzugehen. Das Ego fordert ständig, das Zentrum unseres Bewusstseins zu sein; in dieser Weise behält sie Macht für sich. Das Ego fordert ferner, in Kontrolle zu sein, und sucht sogar die Liebe zu kontrollieren. Außerdem fordert das Ego ein Gefühl der Selbstbefriedigung und Selbstwichtigkeit. An Ego-Bewusstsein an und für sich ist nichts auszusetzen; durch es gewinnen wir Interesse an der Welt. Zu Beginn aber, und lange Zeit danach, handelt es ausschließlich eigensüchtig. Wohl kann unser Ego aber zu einem wahren Diener der Liebe werden.
So kommen wir also zu einer letzten Aussage mit Bezug auf die schöpferische Liebe: Die Ergebnisse der Liebe in der Welt liegen im Reich des Unbestimmbaren, und das Üben der Liebe kann nicht auf spezifische Ergebnisse abzielen. Wenn die Liebe den Weg in die Welt findet, können wir nicht wissen, wie ihre weltverwandelnden Wirkungen sich zeigen werden. Wir können ihr Resultat nicht lenken, denn die Liebe ist völlig frei. Sogar dann, wenn durch uns die Liebe sich auf einen anderen Menschen richtet, sind deren Auswirkungen nicht messbar. Rückblickend können wir etwa sehen, dass der Lebenslauf eines anderen Menschen sich geändert hat, und dass dies mit einer selbstlosen Liebe unsererseits zu tun gehabt hat. So viele andere Faktoren sind aber mit beteiligt, dass wir nicht eigentlich wissen können, wie diese Liebe gewirkt hat. Ganz bestimmt können wir nicht in der Erwartung eines spezifischen Resultats lieben, ohne zu riskieren, dass unsere Liebe zur Manipulation wird. Das eine, dessen wir uns absolut sicher sein können, das ist, dass die Liebe, wenn sie zum Vollbringen ihres geheimnisvollen Werkes in die Welt freigesetzt wird, die Gegenwart der Angst überall verringert.
Jenseits der Angst liegt eine andere Welt. Diese neue Welt ist ganz bestimmt keine Utopie. Sie funktioniert anderen Gesetzen gemäß; sie wird uns vor völlig andere Aufgaben stellen und uns vollkommen andersartige Belohnungen in Aussicht stellen. In dieser Welt werden wir lernen, wie die Liebe im Herzen aller menschlichen Angelegenheiten walten und – statt des Atoms – zum grundlegenden Baustein des Universums werden kann.
[1] Rudolf Steiner, Die Liebe und ihre Bedeutung in der Welt. Vortrag in Zürich am 17. Dezember 1918.
[2] https://books.google.de/books?isbn=3458760148
[3] http://gutenberg.spiegel.de/buch/fragmente-i-6618/21
[4] https://books.google.de/books?id=h8ILAAAAIAAJ
[5] https://books.google.de/books?id=_kviAAAAMAAJ
[6] Aus einem Brief Rilkes an Paula Modersohn Becker
[7] https://books.google.de/books?isbn=3843029067
Kapitel VII als pdf-Datei herunterladen: Liebe vertreibt die Angst
Wir haben uns Wege zum Umwandeln des eigenen Vorstellungslebens und zum Arbeiten an der eigenen Phantasiefähigkeit angeschaut. Indem wir diese Wege gehen, lernen wir Kräfte kennen, die unsere Seele braucht, um überhaupt Lebensfähig zu sein, und durch die wir Angst ausgleichen können.
Eine weitere Kraft, die wir brauchen, um der Angst zu entgegnen, ist die Liebe. Phantasie und Liebe gehören zusammen. Ohne Liebe wird die Phantasie leicht zum mentalen Trick. Alle die in diesem Buch angegebenen Übungen erfordern ein Zentrieren der Phantasie nicht nur im Kopf, sondern hauptsächlich in der Herzgegend. Dieses Zentrieren stellt sicher, dass die Seele sich in Tandem mit der Liebe entwickelt. Ohne Phantasie wird die Liebe aber leicht zur verwirrten Sentimentalität.
Liebe und Angst sind die großen Gegensätze der Welt. Die Macht der Liebe vermag es sogar, die Erde in die Substanz der Liebe zu verwandeln. Die gesamte Erd- und Menschheitsevolution deutet darauf hin, dass sie durch die ungeheure Macht der Liebe erst in Erfüllung geht; ist die Liebe doch die einzige Macht, die das verheerende Wüten der Angst bändigen kann. Alle geistigen Traditionen schwingen – bei aller sonstigen Mannigfaltigkeit der Unterschiede – in diesem einen Thema zusammen. Die Verwandlung der Erde in einen Planeten der Liebe wird nicht von alleine geschehen. Diese Aufgabe liegt in den Händen der Menschen, denn die Werkzeuge, durch die die Liebe hindurchpulst, sind wir.[1]
Um zu überleben, verlässt sich die Angst auf unseren Widerwillen, unsere Gefühle auf den Prüfstand zu stellen. Statt unsere Gefühle zu überprüfen, bevorzugen wir oft die vage Sentimentalität, die Effekthascherei oder die Aura des Geheimnisvollen, von denen sie begleitet werden. Wir stellen uns vor, dass wenn wir unsere Gefühle zu genau unter die Lupe nehmen, die Spannung, das Drama aus unserem Leben womöglich verschwinden könnte.
Aber genauso denkbar ist es, das Mysterium des Gefühlslebens zu betreten und von seinen Subtilitäten, von seinen Nuancen, von seinem Reichtum mehr zu entdecken. Das wäre keine Verminderung des Seelenlebens, sondern eine Zunahme desselben. Die Überwindung unseres Widerwillens, die Liebe zu prüfen, ist ein unerlässlicher Schritt zur Eroberung der Angst.
Die Liebe gehört nicht ganz dem Bereich des Menschlichen an. Wir können sie nicht besitzen, nicht kontrollieren, nicht befehligen. Plato zum Beispiel verstand Liebe als einem zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen befindlichen Reich zugehörig. Die Liebe verbindet uns mit den Göttern. Laut Plato formt Sokrates eine Vorstellung von Eros als ein Daimon, als ein zwischen der spirituellen und der geistigen Welt handelndes Bindeglied. Außer dem Eros, der erotischen Liebe, existieren auch andere Arten von Liebe. Philia, auch seelische Freundschaft genannt, gehört ebenfalls zu den daimonischen Wirklichkeiten der Liebe. Die christliche Perspektive fügte agape, die selbstlose Liebe, hinzu. Wenn man die Liebe als mannigfache daimonische Wesenheiten auffasst, so ist es die Aufgabe der Menschen, die Fähigkeiten auszubilden, die sie zum Gefäß machen, durch welches die Kräfte der Liebe hindurchwirken können.
Der Eros weckt eine körperliche Anziehung in Verbindung mit phantasievoller Entdeckerlust. Die Philia weckt das Gefühl der Intimität, den Bund der Freundschaft. Agape weckt die Neigung, Dinge um anderer Menschen Willen zu tun, ohne Belohnung dafür zu erwarten. In unserer Zeit ist die differenzierte Auffassung dieser Formen von Liebe ausgestorben; sie scheinen uns weiter nichts als intellektuelle Kategorien. Der Angst ist es gelungen, die Fähigkeit zu verwirren, durch die wir unsere Gefühle klar differenzieren.
Eine Rehabilitierung des Gefühlslebens beginnt mit der Bildung einer neuen Vorstellung der Liebe. Anstatt nur die drei klassischen Kategorien der Liebe zu sehen, befähigt uns eine solche neue Vorstellung, ein vierfaches Funktionieren der Liebe zu sehen: als Sexualliebe, als emotionale Liebe, als geistige Liebe und als schöpferische Liebe. Diese vier Funktionsweisen sind allerdings mit den klassischen Kategorien eng verbunden. Wir können uns das so denken: Zu gegenwärtiger Zeit offenbart sich Eros einmal als Sexualliebe, aber in anderer Weise auch als emotionale Liebe. Philia zeigt sich anders, als die emotionale Liebe. Sie offenbart sich nämlich sowohl als emotionale Liebe wie auch als geistige Liebe. Und Agape offenbart sich als geistige Liebe, aber auch als schöpferische Liebe.
Geschlechtliche Liebe
Platos im Symposium niedergeschriebene Mythe der menschlichen Geschlechtlichkeit stellt den originalen Menschen als ein bequemes Geschöpf dar, das eine runde Form besitzt, und das in der Welt glücklich, sich selbst genug, ohne Bedürfnisse und Ambitionen vor sich her rollte. Zeus sei mit der Trägheit dieser selbstzufriedenen Wesen ungehalten geworden und habe sie mit einem Donnerkeil entzweigespalten. Jede Hälfte sucht noch heute nach ihrer anderen Hälfte, was in unserem Seelenleben als sexuelle Begierde zum Ausdruck komme. Die Liebe zeigt sich in der Menschenwelt zunächst als das drängende Bedürfnis, unseren Leib mit dem eines anderen Menschen zu vereinigen. Dieses Bedürfnis funktioniere wahllos. Wir fühlen uns von diversen Menschen angezogen; das ist weder schlimm noch unmoralisch. Eine solche Anziehung ist eine Verkündigung des Wunders unseres physischen Daseins – ja sie feiert dieses Wunder geradezu –, sofern sie im Kontext eines sozialisierten Verhaltens verläuft.
Auf sexuelle Erregung muss nicht zwingend Geschlechtsverkehr folgen. Das Aufwallen einer sexuellen Empfindung rüttelt uns wach. Wir erwachen zu einer Kraft in uns, die zwar auf unseren Körper einwirkt, die aber nicht auf rein physiologische Aspekte zu reduzieren ist. Das, was wir so spüren, ist nicht physiologischen Ursprungs, sondern der Körper bietet lediglich das Medium, durch das es hindurchwirkt.
Nehmen wir an, wir verleugnen oder unterdrücken die Gegenwart einer körperlich sich verkündigenden Liebe, und zwar aus Angst oder Schuldgefühl, oder weil wir sie als etwas „nur Körperliches“ verstehen. Haben wir da nicht die grundlegendste Äußerungsweise der Liebe verstoßen, die es überhaupt gibt? Die Liebe offenbart sich sinnlich als eine gewaltige Macht, als eine Macht, welche in fundamentalster, stärkster und unmittelbarster Weise Mensch und Mensch verbindet. Diese Verbindung ist viel differenzierter, als die genitale Geschlechtlichkeit. Die vielleicht stärkste Waffe zur Vorbeugung der Angst ist die Gefühlswärme einer körperlichen Verbindung mit anderen Menschen. Geht uns dieser Verbindungsmodus verloren, so fühlen wir uns isoliert, einsam, allen möglichen Tricks der einen oder der anderen Ausdrucksweise der Angst ausgeliefert.
Wenn man sich dieser in dem Körper fließenden Liebeskraft leichtfertig oder ungestüm nähert, wenn man sie nicht als heilige Präsenz in dem Körper auffasst, sondern nur als so viele natürliche Triebe, die Befriedigung fordern, ist es nicht so, dass wir uns ebenso, wenngleich in anderer Weise gegen die physische Gegenwart der Liebe gewendet haben? Die belebende Präsenz der Liebe im menschlichen Leib, wo sie als sexuelles Verlangen lebt, ist die Feier ihres Einzugs in die Welt. Dieses Verlangen verlässt uns nicht einmal im Alter. Ihr Rhythmus, ihre Intensität mögen variieren, aber ihre Gegenwart bleibt konstant.
Unsere Gesellschaft hegt eine zweideutige Haltung gegenüber der sinnlichen Liebe, was größten Teils auf die organisierte Religion zurückzuführen ist. Die Religion hat vielfach die körperliche Angst gefördert, indem sie die durch Sex erzeugte Seligkeit als einen Hemmschuh für unsere Hinwendung an das Göttliche verteufelt hat. Die Religion sichert ihre Autorität dadurch, dass sie die physische Welt als von dem Göttlichen vollkommen abgetrennt erklärt. Es ist aber nichts Götzendienerisches, die Sturzflut des Verlangens heilig zu halten; im Gegenteil: Gerade darin besteht unsere sinnliche Verbindung mit der göttlichen Welt. Die Unterdrückung unseres geschlechtlichen Wesens unterdrückt die Liebe in der Welt und öffnet uns dem Ansturm der Angst aller Arten.
Da wir unsere Sexualität sowohl vor uns selbst als auch vor anderen haben verbergen müssen, hat sie sich aus der Mitte unseres Wesens zurückgezogen und ist obdachlos geworden. Die starke Betonung auf Sexuelles in jeder Sphäre des modernen Lebens – in Filmen, in der Werbung, in der Musik und auf den Straßen – ist kein Zeichen einer Stärke der Sexualität, sondern es ist ein Zeichen ihrer Schwäche. Da die Sexualität eine Vetriebene ist, strampelt sie wild herum wie im Todeskampf, wie eine Macht, die völlig das Gleichgewicht verloren hat. Wenige Menschen haben so klar durchschaut, wie sehr wir in der Sexualsphäre aus dem Gleichgewicht gekommen sind, wie der Dichter Rainer Maria Rilke:
Die körperliche Wollust ist ein sinnliches Erlebnis, nicht anders als das reine Schauen oder das reine Gefühl, mit dem eine schöne Frucht die Zunge füllt; sie ist eine große, unendliche Erfahrung, die uns gegeben wird, ein Wissen von der Welt, die Fülle und Glanz alles Wissens. Und nicht, dass wir sie empfangen, ist schlecht; schlecht ist, dass fast alle diese Erfahrung missbrauchen und vergeuden und sie als Reiz an die müden Stellen ihres Lebens setzen und als Zerstreuung statt als Sammlung zu Höhepunkten.[2]
Die Verlagerung der Fülle unseres geschlechtlichen Wesens in die Enge der genitalen Sexualität lenkt nur für Augenblicke von unseren Ängsten ab; aber wenn unser Verlangen uns veranlasst, in die Fülle unseres Seins eintreten, so ist die Nähe des Göttlichen gewährleistet. In dem Maße, in dem wir die volle Anziehungskraft anderer Menschen fühlen, haben wir es nicht mehr nötig, ständig auf der Hut zu sein. Diese Auffassung der Liebe ist aber kein Allheilmittel. Die Flammen des Verlangens sind ganz bestimmt nicht geradezu gemütlich. Aber Rilke erinnert uns daran, dass Sex mehr ist, als ein rein körperlicher Drang, und dass wir ihn ferner nicht abstreifen müssen, um religiösen Angelegenheiten den Vorrang zu gewähren. Volle Kenntnis der Welt sei nicht möglich, wenn die sexuelle Begierde wie etwas Fauliges zur Seite geworfen wird. Ohne die Begierde ist das Wissen voller mentaler und intellektueller Abstraktionen und hat keinen Bezug zum lebendigen Leib der Welt. Wenn der einmal in diesem Sinne degradierte Sex in ungesunder Weise und mit Macht als eine kulturelle Zwangsvorstellung wiederkehrt, so gesellt er sich einem ungesunden Gedankenleben zu. Wir werden Zuschauer der Welt, anstatt Teilnehmer am Herzen der Realität zu sein.
Eine Erkenntnis, die durch Verlangen vollzogen wird, führt stellt eine neue Verbindung her zwischen uns und der Welt: Erkenntnis in ihrer Eigenschaft als heilende Instanz. Dieser intime Form der Erkenntnis erweckt unser Interesse für Verbindungen, für Synthesen, für Ganzheit, für eine produktive Verbindung mit anderen Menschen und der Welt, anstatt für eine analytische. Novalis ist ein weiterer Dichter, der tiefe Überlegungen zu Fragen des sinnlichen Körpers anstellte. In seinen „Blüthenstaub“-Fragmenten schreibt er:
Alle absolute Empfindung ist religiös.[3]
Der Körper soll Seele, die Seele Körper werden. Der Körper ist das Werkzeug zur Bildung und Modifikation der Welt; wir müssen also unsern Körper zum allfähigen Organ auszubilden suchen. Modifikation unseres Werkzeugs ist Modifikation der Welt.[4]
Es gibt nur einen Tempel in der Welt und das ist der menschliche Körper. Nichts ist heiliger als diese hohe Gestalt. Man berührt den Himmel, wenn man einen Menschenleib betastet.[5]
Wenn man in gesunder Weise die Liebe im Leibe lebt, hat das nichts damit zu tun, ob wir Sex haben oder enthaltsam bleiben. Und doch hat die Religion oft versucht, uns die Freiheit zu entziehen, selbst in rechter Weise mit dieser Gewalt zu ringen, indem sie den Geschlechtsakt als Sünde abgestempelt hat. In dieser Weise ließ die Religion zu, dass die Angst in das Heiligtum der Geschlechtlichkeit eindringt. Der Geschlechtstrieb ist nichts mehr und nichts weniger als eine göttliche Macht. Ihre Flammen bilden unseren Körper zu einem Organ für die Verwandlung der Welt. Als Individualitäten sind wir dafür verantwortlich, dieser Macht ein Zuhause zu geben und zuzulassen, dass sie uns zu fähigen Menschen macht.
Da die Macht der geschlechtlichen Liebe in jedem menschlichen Körper seine Zelte aufschlägt, ist es die Verantwortung jedes Einzelnen, die Härten der Schule des Lebens durchzumachen hinsichtlich der Art, wie sich diese Gewalt im konkreten Einzelfall ausgestalten will. Hier jagen allgemeine Regeln oder Gesetze den Menschen Angst ein, ob es diese zum Verklemmtsein oder zur Hemmungslosigkeit aufrufen.
Wie die Liebe konkret dem Körper des einzelnen Menschen innewohnt, das will im Einzelnen gelernt werden. Und das braucht lange Zeit. Die Individuellen Menschen unterscheiden sich ungeheuer, was die Intensität, die Rhythmen und die persönliche Wichtigkeit des Verlangens betrifft. Die richtige Beziehung zu dieser Gewalt zu finden, ist eine rein individuelle Angelegenheit, die einen hohen Grad an Geistesgegenwart und Selbstbeobachtung verlangt. Nicht selten will solche Reflektion inmitten einer Sturzflut der Leidenschaft geübt werden, die dem Anschein nach weiter nichts will, als sich zu verschenken. Besonders für junge Menschen ist Sex eine wunderschöne Schwierigkeit, die sie mit Ungeduld und Hast erfüllt. Wie anders es wäre, wenn sie verstehen würden, dass diese Schwierigkeit die Morgendämmerung der Liebeskraft im Innern ist; wenn sie von der Wichtigkeit eines vorsichtigen Umgangs mit ihr wüssten.
Schon lange bevor wir ganz Mensch sind, kündigt sich Sexuelle Begierde im Körper an. Wir werden zwar in eine menschliche Form hinein geboren, aber es bedarf mitunter der Feuersbrünste des Verlangens, damit ein Innenleben geschmiedet werden kann, durch das wir - schrittweise - in unser Menschsein hineinwachsen können. Die Bedrängnisse der Begierde sind ungezogen, ungestüm, frustrierend und fordernd. Aber es wäre falsch zu meinen, diese Formen des Andringens würden nur nach Entladung streben. Die Begierde lebt als tiefes Reservoir im Körper, um die Liebe in die Welt hineinzubringen. Zügele das Feuer; hüte die Flamme. Lasse sie ihr Werk vollbringen, dies Werk besteht darin, den Körper zu läutern. Somit schafft die Liebe einen inneren Raum, in welchem es möglich wird, das Leben der Seele mit der Herrlichkeit und Vollkommenheit des leiblichen Daseins zusammenzuweben.
Emotionelle Liebe
Die sexuelle Begierde birgt einen erheblichen unpersönlichen Anteil in sich. Es kann vorkommen, dass man sich ohne emotionale Verbindung körperlich von jemandem angezogen fühlt. Umgekehrt kann eine emotionale Verbindung bereits vor einer sexuellen Anziehung bestehen und nach dieser weiterbestehen. Emotionelle Liebe ergibt sich nicht wesensgemäß aus der sexuellen Liebe; sie ist autonom. Man sollte sie nicht als eine höhere Form der Liebe ansehen, sondern lediglich als eine andere Form, die neben und manchmal zusammen mit sonstigen Formen der Liebe existieren kann.
Der Zweck der sexuellen Liebe ist ein anderer, als der der emotionellen Liebe. Jene fließt ständig durch den Körper und entzündet dabei die Flammen der Verwandlung, welche wiederum den Körper zu einem Aufnahmegefäß machen. Dieses Gefäß kann nun nicht nur sexuelle Liebe fassen, sondern sämtliche Formen derselben. Die emotionelle Liebe hingegen besteht in einem die Seele durchfließenden Strom, der eben die Seele zum Aufnahmegefäß macht und wahre Phantasie inspiriert, welche wiederum zum heilvollen Umgang mit der Angst unerlässlich ist. Lernen wir die emotionelle Liebe zu fassen, so finden wir den reflexiven Raum, den wir zur Bildung eines bewussten Seelenlebens benötigen. Durch die emotionelle Liebe wird das Seelische zum direkten, unmittelbaren Erleben; der andere Mensch lebt nunmehr in unserer Phantasie.
Die heilige Macht der Liebe wirkt zu gleicher Zeit in zwei Seelen hinein, und zwei unter dem Einfluss der emotionellen Liebe stehende Menschen sagen, sie sind in einander verliebt, somit aneinander gebunden. Die Liebe als Emotion pendelt nicht eigentlich hin und her zwischen der einen Individualität und der anderen; sie umfasst und durchdringt beide Beteiligten gleichzeitig. Sagt die eine beteiligte Person zur anderen „Ich bin in dich verliebt“, so verkündet allein schon die Sprache, dass die Liebe nicht in einer Verbindung zweier getrennter Personen besteht, sondern dass beide im gleichen Kessel zusammensitzen. Dieser Modus der Liebe ist in sich zwar wunderschön; es kann allerdings extrem schmerzlich sein, in dieser Weise umfasst zu werden. Das Wunderschöne gehört zur Liebe; der Schmerz ist aus zwei miteinander verwandten Ursprüngen abzuleiten. Einerseits aus der Unerträglichkeit der Vorstellung, dass diese Schönheit nur vorübergehend sein könnte (was sie ja eigentlich auch nicht ist: Wandelbar ist sie schon; vergänglich aber nicht). Andererseits versuchen wir, diese erschreckende Schönheit dadurch loszuwerden, dass wir die Emotion des Verliebtseins von uns wegdrängen; scheint sie doch, unsere Individualität radikal zu bedrohen. Uns ist, als könnten wir uns selbst völlig verlieren. Dies ist die höchstpersönliche Erfahrung, dass die Liebe viel größer ist, als unsere eigene individuelle Existenz.
Die Angst sucht die emotionelle Liebe in mehrfacher Weise zu belagern. Die Angst vor dem Schmerzpotential der Liebe versucht, sich einzukeilen und so einen Fluchtimpuls auszulösen ausgerechnet vor dem, was wir uns am meisten wünschen: mit einem anderen Menschen zusammen die Liebe zu teilen. Ja die Angst kann so mächtig werden, dass sie uns die Gegenwart einer emotionellen Liebe leugnen lässt. Wenn die Liebe zu uns kommt, gilt es, einen mutigen Sprung in sie hineinzuwagen. Oscar Wild sagt, die zwei größten Schwierigkeiten in der Welt seien, das nicht zu bekommen, was man will, und das zu bekommen, was man will. Dieser dramatische Konflikt ist ein Kennzeichen des Heimgesuchtwerdens von der emotionellen Liebe. Wir befürchten, dass wir eines Morgens aufwachen und die ärgsten Zweifeln über die Wirklichkeit dessen haben, was wir für den anderen Menschen fühlen.
Die emotionelle Liebe ist zwar nicht flüchtig; wohl ist sie aber ständig im Wandel begriffen. Eines Tages ruhig, am nächsten Tag turbulent. Die Liebe kann nicht ewig gleich bleiben. Sie mag völlig verschwunden zu sein scheinen, und dann erscheint sie eines Tages ohne Vorwarnung wie eine warme Brise durch das Fenster wieder – vorausgesetzt das Fenster wurde offengelassen. Die schlimmsten Probleme scheinen dem Versuch zu entstammen, sich – zumal angesichts ihrer anscheinend instabilen Wesensart – an ihr festklammern zu wollen. Wir irren uns, wenn wir erwarten, als Folge der emotionellen Liebe glücklich zu werden. Aus dieser Liebe erwarte man bloß keinen Frieden; vielmehr ist eine große Flexibilität der Seele vonnöten, will man auf dieser turbulenten See stabil bleiben.
Emotionelle Ängste, die sich aus der Vergangenheit einer oder beider der Beteiligten zeigen, können in unseren Gefühlen Verwirrung stiften. Wenn sie schwanken oder ins Wanken geraten, können wir uns sicher sein, dass dies das Werk der Angst ist. Wenn wir für die Augenblicke des Befallenwerdens von der Angst wach sind, werden wir jedes Mal sehen, dass nicht die Emotion selbst es ist, was vom Zweifel befallen wird. Der Zweifel greift vielmehr dort an, wo wir über unsere Emotionen nachdenken. Wir können alles verlieren, wenn wir zulassen, dass unser Denken unserem Fühlen vorauseilt. Die Emotion der Liebe ist Selbstzweck; sie bedeutet nichts außer sie selbst. Insbesondere besagt sie nicht, dass ich dem anderen Menschen auf ewig verbunden sei. Ein solcher Entschluss zur Verbundenheit erfordert eine Handlung aus freier Wahl. Die Angst keilt sich an der Stelle ein, wo suggeriert wird, dass die emotionelle Liebe zwingend ein ewiges Zusammensein nach sich ziehe.
In der emotionellen Liebe fühlen wir zwar ein Verlangen, mit der anderen Person zusammenzufließen, aber solches Zusammensein ist nicht das Anliegen dieser Form der Liebe. Deren Absicht ist, uns über das wahre Wesen unseres Getrenntseins von dem anderen Menschen aufzuklären. Zu diesem Zweck zwingt sie uns dazu, dieses Getrenntsein als wahre innere Erfahrung zu entdecken. Das ist das Paradoxon der emotionellen Liebe; sie bringt uns zusammen, damit wir unser Getrenntsein entdecken. Wahres Getrenntsein ist nicht Einsamkeit, sondern ein Kennzeichen innerer Stärke, ein Kennenlernen unserer wahren Menschlichkeit. Wahres Getrenntsein ist eine Stärkung der Kapazität, sich der Angst zu stellen. Einsam fühlen wir nicht deshalb, weil uns ein Partner fehlt, sondern weil wir uns bei uns selbst nicht zuhause fühlen. Die Leere, die wir dabei erleben, kann kein anderer Mensch ausfüllen, auch wenn wir uns zunächst durch diesen anderen Menschen ergänzt fühlen. Nach einiger Zeit steigert sich die ursprüngliche Leere, und das zwingt uns in der Regel dazu, nach innen zu schauen. Wir können uns nicht in uns selbst zuhause fühlen, wenn wir in uns keinen Innenraum geschaffen haben. Das Verlangen, mit jemandem zusammenzufließen, trifft auf einen heilsamen Widerstand, und auf diesen Widerstand gilt es zu lauschen.
Sowie uns in einer zwischenmenschlichen Beziehung die eigene Individualität aufzugehen beginnt, sucht die Angst die emotionelle Liebe in Verwirrung zu bringen. Und dazu ist sie ohne Weiteres in der Lage. Mit diesem Erwachen zur eigenen Individualität ist die Angst darum bemüht, sich über die Grenze hinwegzusetzen, jenseits derer kein Zusammenfließen mehr möglich ist. Die Angst will, dass wir die unüberbrückbare Kluft vergessen, die zwischen uns und dem anderen Menschen liegt. An dieser Stelle besteht die Gefahr, dass wir uns veräußern, noch bevor wir völlig geformt sind, wie einen Blumenstrauß, der zu Boden fällt und auseinandergestreut wird. Wir suchen einen Weg aus der Isolation heraus, anstatt dass wir einen Weg in die heilige Individualität unserer eigenen Seele hinein und eine liebevolle Achtung gegenüber der Seele des anderen Menschen suchen. Das Einzige, was sich aus diesem Irrtum ergibt, sind Schmerzen und Verwirrung. In dem Maße, in dem die emotionelle Liebe intensiver wird, setzt sich die Angst ein, um die spirituelle Liebe abzuwehren. Denn diese könnte die emotionelle Liebe stützen und vertiefen, und obendrein noch neue Aufgaben und Herausforderungen mit sich bringen. Was durch emotionelle Liebe nicht erreicht werden kann, das lässt sich in der spirituellen Liebe vollbringen. Denn spirituelle Liebe besteht in der vollkommenen Vermischung zweier Geister ohne jeden Identitätsverlust. Die Angst sucht diese Vermischung verfrüht und in der falschen Sphäre auftreten zu lassen, was unfehlbar bewirken würde, dass die zwei Personen in der Emotion gefangen bleiben und sich niemals im Geiste begegnen.
Die Hitze der emotionellen Liebe steigert häufig die sexuelle Liebe; die zwischen sexueller und emotioneller Liebe in Gang gebrachte Kreislauf-Strömung kann wiederum erstickend sein. Diese Erstickung kann dadurch umgangen werden, dass die emotionelle Liebe das Element der Freundschaft zulässt. Das Zulassen der Freundschaft in einer emotionellen Liebe ist zwar noch keine direkte spirituelle Liebe, aber in deren Richtung führt es.
Wohl gibt es aber eine Form der Liebe, die sich sowohl an der emotionellen als auch an der spirituellen Liebe beteiligt. Die alten Griechen nannten sie Philia. Wenn heutzutage zwei Menschen eine sexuell-emotionale Verbindung eingehen, die sich als problematisch entfaltet, so heißt es häufig beim Beenden dieser Bindung „Lasst uns bloß Freunde sein,“ wobei man bemüht ist, die Gefühle des anderen Menschen zu schonen. Nur verrät dieses Abschiedsritual leider, dass Freundschaft zur sexuell-emotionellen Liebe niemals dazugehört hatte. Die Freundschaft bildet ein unabdingbares Bindeglied zur spirituellen Liebe. Sie ist das Einzige, was die beengende Beschränkung der Liebe auf Geschlechtlichkeit und Emotionalität verhindern kann. Ein weiterer zentral Aspekt der Freundschaft ist, dass sie zur Öffentlichkeit und zum gesellschaftlichen Leben dazugehört. So gehört die Liebe in ihrer Eigenschaft als Freundschaft zur ganzen Welt und wird nicht auf die Sphäre des Privaten beschränkt.
Zwar besteht es das Anliegen der emotionellen Liebe darin, zwei Individualitäten zu umfassen und diese paradoxerweise aus der Leere ihrer Einsamkeit und in die Fülle ihres Separatseins hineinzutreiben; aber wann immer sie mit der Freundschaft gepaart ist, wird sie zur Beschützerin des Separatseins des anderen Menschen. Rilke sagt:
[F]ür die höchste Aufgabe einer Verbindung zweier Menschen [halte ich diese]: dass einer dem andern seine Einsamkeit bewache. Denn wenn das Wesen der Gleichgültigkeit und der Menge darin besteht, keine Einsamkeit anzuerkennen, so ist Liebe und Freundschaft dazu da, fortwährend Gelegenheit zur Einsamkeit zu geben. Und nur das sind die wirklichen Gemeinsamkeiten, die rhythmisch tiefe Vereinsamungen unterbrechen…[6]
Zwei Menschen können der Seele des jeweils anderen nicht dienen, wenn sie unwissentlich miteinander und somit in eigennützigem Verhalten verstrickt sind. Wenn man die Einsamkeit eines anderen Menschen missachtet, wenn man es unterlässt, deren Wächter zu sein, so schadet das nicht nur der Beziehung: Auch die Welt nimmt daran Schaden, da die Liebe, welche das Paar allerdings heimgesucht hat, daran verhindert wird, über diese zwei und in die weitere Welt hinaus zu gelangen.
Zwar ist jeder Modus der Liebe wesensgemäß autonom. Es lässt sich aber keiner von ihnen ohne schädigende Auswirkung umgehen. Zwar bestehen wichtige Verbindungen zwischen den einzelnen Arten der Liebe, aber diese Verbindungen sind nicht hierarchischer Art – es handelt sich nicht darum, sich nach und nach von einem niedrigeren zu einem höheren Zustand der Liebe hinaufzuerheben. Die Vorstellung einer Hierarchie ist eine List der Angst; darin versteckt sie sich, als Macht und Autorität verkleidet, und erfüllt uns mit dem Gedanken, dass etwa die spirituelle Liebe eine höhere Form der Liebe sei als die sexuelle Liebe. Die spirituelle Liebe ist allerdings etwas anderes als die sexuelle Liebe; etwas Höheres ist sie aber nicht. Halten wir sie doch für etwas Höheres, so ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass die sexuelle Liebe unterdrückt wird. Außerdem erfüllt uns das Gefühl, dass wir die höheren Formen der Liebe nicht erlangen werden, ebenfalls mit Angst. Es besteht keinerlei Widerspruch darin, sich der sexuellen Liebe, der emotionellen Liebe und der spirituellen Liebe vollkommen und zu gleicher Zeit hinzugeben. Im Gegenteil: Das zu tun ist der sicherste Weg, die Seele von der Angst zu befreien.
Spirituelle Liebe
Die Angst gibt sich von je her große Mühe, unser Verständnis der Beziehung zwischen Geist und Mensch zu verwirren. Wir sehen die Welt durch unsere Augen, hören sie durch unsere Ohren, betasten sie; wir nehmen sie überhaupt dadurch wahr, dass alle Sinne sich ergänzen. Aber es steckt mehr in dem, was uns umgibt, als das, was man auf Anhieb sehen, hören, betasten kann. Von den wahrnehmbaren Eigenschaften wie etwa Hell und Dunkel, Klang oder räumlicher Tiefe abgesehen, sind wir auch von anderen, nicht sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften betroffen, wie zum Beispiel Gefühlswärme oder -kälte, unserem Vorstellungsleben, unserem Denken und Wollen. Diese Eigenschaften sind nicht sinnlich wahrnehmbar. Das Organ, durch welches wir solche Eigenschaften erleben, sowohl in anderen Menschen als auch in uns selbst, ist die Seele.
Die um uns herum befindlichen Gegenstände und Qualitäten – das uns umgebende Leben – sind nicht voneinander abgetrennt, sondern miteinander verwoben. Das Licht verwebt sich in die Dunkelheit hinein, um uns die Farben zu geben; die Wolken und der Himmel verweben sich mit der Erde; das Leben der Tiere ist mit der Landschaft vollkommen verwoben, innerhalb welcher es sich abspielt; verschiedene Seelenqualitäten wie etwa das Schaffen innerer Bilder, das Fühlen oder das Denken verweben sich miteinander. Dieses Sich-Verweben ist ontologisch dem Erscheinen jeglicher einzelner Eigenschaft vorangestellt; dieses Sich-Verweben ist es allein, was die Gestalt und den Kontext der einzelnen Eigenschaften erst bewirkt. Was den Menschen betrifft, gibt es außerdem noch die Eigenschaft der Individualität, die rein anhand der Sinneserfahrung und der Seele nicht erklärbar ist. Nicht durch die Sinneserfahrung, sondern durch unseren Geist erhalten wir Kunde von der wahren Individualität eines anderen Menschen. Jeder Mensch ist unvergleichbar – beispiellos, unerreicht, ohne seinesgleichen. Diese definierende Qualität ist nur dann zu erkennen, wenn unser Geist den Geist des anderen Menschen erfasst.
Die spirituelle Liebe kann man als eine Liebe beschreiben, die sich an den absolut wirklichen und zugleich gänzlich unsichtbaren Aspekten des Seins orientiert. Sie ist es, was uns ermöglicht, die aller-innerlichsten, geheimnisvollen Aspekte eines anderen Menschen zu lieben. Die spirituelle Liebe geht über die physische Attraktivität und sogar über Qualitäten der Seele hinaus; sie sucht alles, was diesen Menschen vollkommen einzigartig macht und ihn vor allen anderen Menschen heraushebt, die je gelebt haben oder jemals leben werden.
Sich der spirituellen Liebe bewusst zu werden erfordert Selbsterkenntnis. Der Ausdruck Selbsterkenntnis bedeutet nicht genau das, was es zu bedeuten scheint. Dieser uralte, ehrwürdige Begriff ist uns durch die Griechen überliefert und ist schriftlich festgehalten im Tempel des Apollon zu Delphi: „Erkenne dich selbst“. Diese Inschrift wurde zwar als „Suche die Selbsterkenntnis“ übersetzt, aber das Wort selbst ist mit „Geist“ gleichbedeutend. Unseren Geist können wir nicht eigentlich erkennen; wohl aber können wir die Fähigkeit ausbilden, durch den Geist zu erkennen, und diese Fähigkeit ist etwas anderes als intellektuelles Wissen. Die Selbsterkenntnis, die zur spirituellen Liebe nötig ist, ist ein Erkennen durch die Fähigkeiten des Geistes. Wer so erkennt, der aktiviert und verwirklicht den eigenen Geist; der vermag, rein dadurch zu erkennen, dass er direkt anwesend ist.
Bei der Erkenntnis durch den Geist und der Erkenntnis durch die spirituelle Liebe handelt es sich um eine und dieselbe Tätigkeit. Einen Unterschied zwischen Geist-Erkenntnis und spiritueller Liebe kann es nicht geben, denn das ist es, was der Geist tut: lieben. Das Wesen des Geistes ist das Wesen der Liebe. Egal also, was wir sonst noch unternehmen mögen: Letzten Endes kann man nur durch spirituelle Liebe den Ängsten adäquat begegnen und ihnen Einhalt gebieten.
Um einem anderen Menschen gegenüber spirituelle Liebe erleben zu können, muss man in den Bereichen der sexuellen und der emotionellen Liebe erst ein Mindestmaß an Reife besitzen. Dadurch, dass wir gelernt haben, die Sexualliebe weder zu unterdrücken noch sie willkürlich zum eigenen Vergnügen zu verschwenden, müssen wir erst zu einem körperlich angemessenen Gefäß der Liebe geworden sein. Auch müssen wir im seelischen Leben bis zu einem gewissen Grad gereift sein, indem wir die Fähigkeit erworben haben, die Liebe als Emotion zu umfangen und in dieser Weise zuzulassen, dass sie zur Bildnerin an unserem Innenleben wird. Solange wir nicht um die verschiedenen Formen der Liebe erkennend gerungen haben; solange wir nicht gefühlt haben, wie alle Formen der Liebe autonom und dennoch miteinander verwoben sind, solange wird die Angst zwischen den Lücken den Einlass finden. Ich kann zum Beispiel befürchten, dass der sexuellen Liebe eine emotionelle Komponente fehlt, oder dass die emotionelle Liebe mit der sexuellen Begierde nicht zusammenzubringen sei. Die sexuelle Liebe scheint zur spirituellen Liebe keine Beziehung zu haben. Es kann vorkommen, dass ich mich auf einen einzigen Modus der Liebe beschränke, weil ich Angst davor habe, dass wenn ich die anderen Arten der Liebe erkunden will, ich diesen einen Modus verlieren könnte. Willst du aber die Seele von der überwältigenden Angst freihalten, so musst du allen Formen der Liebe den Vortritt lassen können.
Die spirituelle Liebe hilft uns, uns den Mysterien des anderen Menschen zu öffnen. Sie will weiter nichts, als sich dem anderen Menschen so zu nähern, dass dessen Geist immer heller und heller hervorleuchtet. Novalis sagt: „Unser Geist ist Bindeglied zum vollkommen Unvergleichbaren.“ Durch unsere eigene Unvergleichbarkeit ist es, dass wir die Unvergleichbarkeit des anderen Menschen und unsere gemeinsame Einzigartigkeit wahrnehmen. In einem weiteren Aphorismus sagt Novalis „Ich bin du“.
„Ich bin du“ bedeutet nicht, dass ich mich selbst in dir finde; das wäre eine schreckliche Verzerrung von „du“ als anderer Mensch. Wenn ich mich selbst in dir fände und du dich entschiedest, mich zu verlassen, so verlöre ich allen Sinn für mich selbst als Mensch. Diese Abhängigkeit ist anders, als emotionale oder physische Abhängigkeit. In der emotionalen Abhängigkeit verlasse ich mich auf einen anderen Menschen, um Emotionalität und den Anschein eines seelischen Lebens zu erfahren. In der physischen Abhängigkeit bin ich von sexueller Erfahrung mit einem anderen Menschen abhängig, um mein eigenes sexuelles Sein zu erleben. Eine weit gravierendere Schwierigkeit entsteht, wenn ich keinen Sinn für das eigene spirituelle Dasein habe und mich dabei auf den Geist eines anderen Menschen verlasse: Ist der andere Mensch nicht mehr Teil meines Lebens, so bin ich recht eigentlich tot.
In der spirituellen Liebe lebt das Wohl des anderen Menschen in jedem Gedanken, der mir kommt, egal ob der Gedanke mit diesem Menschen direkt etwas zu tun hat oder nicht. Der geistige Ausdruck für diese Eigenschaft ist Intention. Dieser geistige Ausdruck birgt eine weit subtilere Bedeutung in sich als nur die, etwas zu beabsichtigen. Er trägt die Bedeutung, dass etwas, was man in seinen Gedanken birgt, derart echt geworden ist, dass es im wortwörtlichen Sinne anwesend ist – nicht als mir gegenüberstehend, sondern überall in mir. In der spirituellen Liebe ist das, was dergestalt echt wird, die Geist-Qualität des anderen Menschen. Diese ist es, was man in der Intention erlebt, sich rein am Wohl des anderen Menschen zu orientieren.
Der Mittelpunkt einer gelebten spirituellen Liebe im alltäglichen Leben sind die Gedanken über den anderen Menschen, die wir in uns tragen. Solche Gedanken sind anders als die, die dann entstehen, wenn wir jemanden vermissen, oder wenn wir uns an unsere gemeinsame Vergangenheit erinnern, oder wenn wir an etwas denken, was jemand gerade in diesem Moment tut. In der spirituellen Liebe denken wir nicht zwingend an den anderen Menschen; vielmehr ist der andere Mensch – zumal als Geist und ohne, dass er es überhaupt weiß – mit meiner Existenz so vollkommen verwoben, dass er in jedem Augenblick in einer Weise bei mir ist, die meine eigene individuelle Freiheit erhöht, anstatt sie zu hindern. Ich ordne diese Eigenschaft dem Bereich des Denkens zu, da im gewöhnlichen Leben es das Denken ist, welches in dem Leben des Geistes zum Ausdruck kommt. Das bedeutet nicht, dass der Inhalt des von uns Gedachten zwingend spiritueller Art wäre. Schon die Macht des Denkens an und für sich ist spiritueller Art; und mit der spirituellen Liebe wohnt der andere Mensch dieser Macht inne.
Wenn ich jemanden, den ich Liebe, anrufe und sage, dass ich an ihn denke, so hat diese Art des Denkens ein emotionales Anliegen – sie vergegenwärtigt mir jemanden, der abwesend ist. Das ist fein und gut; kann es doch meine Verbindung zur Emotion aufrechterhalten. Eine spirituelle Liebe ist es aber nicht. In der spirituellen Liebe bin ich jeden Augenblick mit dem Wohl des Geistes des anderen Menschen beschäftigt; dieses Wohl denkt in mir sich selbst, es durchsetzt meine Existenz ganz, und lässt mich dabei vollkommen frei. Diese Art der Liebe ernährt sowohl die Seele als auch den Geist des anderen Menschen. Dieser Mensch wird mehr von dem, der er eigentlich ist, und nicht mehr von dem, was ich von ihm möchte.
Die spirituelle Liebe besitzt nicht die rhythmische Periodizität, von der sowohl die sexuelle als auch die emotionelle Liebe gekennzeichnet sind. Sie tritt nicht in Wogen auf; sie ist stets gegenwärtig, sie spiegelt sich in die Emotionen und in den Körper zurück und verleiht dem Leben neue Farbe, neue Leuchtkraft. Solche Widerspiegelung kann auch Verwirrung stiften. Denn die sexuelle und die emotionelle Liebe werden von der spirituellen Liebe nicht vermindert, sondern erhöht. Und so kann es vorkommen, dass wir die spirituelle Liebe mit der sexuellen oder der emotionellen Liebe verwechseln. Vom Geist werden wir ständig ernährt, sei es über unsere Umwelt oder über unsere Beziehungen zu anderen Menschen. Insofern aber, als wir uns dieses Vorgangs nicht bewusst sind, kann es passieren, dass wir uns ausschließlich an sexuelle oder emotionelle Liebe binden und nicht erkennen, auf welche Form der Liebe diese Erhöhung eigentlich zurückzuführen ist.
Eine Besinnung auf die folgende Betrachtung von Novalis kann uns dem Wesen der spirituellen Erkenntnis und der spirituellen Liebe näherbringen:
Was man liebt, findet man überall, und sieht überall Ähnlichkeiten. Je größer die Liebe, desto weiter und mannichfaltiger diese ähnliche Welt. Meine Geliebte ist die Abbreviatur des Universums, das Universum die Elongatur meiner Geliebten. Dem Freunde der Wissenschaften bieten sie alle, Blumen und Souvenirs, für seine Geliebte.[7]
Wen die spirituelle Liebe berührt, dessen ganze Anwesenheit in der Welt ändert sich. Warum bringen wir der/dem Geliebten Geschenke dar? Als Liebesbezeigung wohl; aber sofern wir bei der Wahl eines Geschenks überhaupt Sorgfalt aufwenden, kommt es zu mehr als eine Äußerung von Gefühlswärme. Wir suchen nicht bloß etwas, was ihr gefallen und sie deshalb schmeicheln könnte, sondern wir suchen genau das Richtige; ein Geschenk nämlich, das zum Ausdruck bringt, was wir in dem Tiefsten des geliebten Menschen sehen. Wer bloß abgegriffene Klischees schenkt, bringt nur die eigene selbstbezogene Emotion zum Ausdruck
Wenn wir Blumen bringen, so müssen es genau die richtigen Blumen sein. Wenn wir ein Gedicht schreiben, so muss es die Welt als Vergleich zur Geliebten verbildlichen. Und so ändern sich dann über das Darbringen solcher sinnerfüllten Geschenke hinaus auch die Dinge, die wir jeden Tag tun. Es ändert sich die Art, wie wir morgens aufstehen, wie wir an unsere Arbeit herangehen, wir das sehen, was in der Welt geschieht. Wir entdecken vielleicht, dass wir phantasievoller denken können. Dadurch werden unsere Gedanken nicht etwa verzerrt. Im Gegenteil: Je phantasievoller wir denken, umso wahrer sind die Bilder, die wir von der Welt erhalten. Kein Aspekt der Welt kann wirklich gesehen werden, wenn er nicht durch die Augen der Liebe gesehen wird. Nur durch die Liebe ist die Welt eigentlich zu erkennen.
Wir können sicher sein, dass unsere Liebe für einen anderen Menschen an die Ebene des Geistigen gerührt hat, wenn unser Interesse für die Welt akuter, lebhafter, phantasievoller wird. So finden wir zum Beispiel, dass unsere gewohnte Art, Dinge zu tun, uns nicht mehr befriedigt; wir empfinden einen Mangel oder eine Leere dabei. Wir stellen vielleicht fest, dass unsere Arbeit uns unzufrieden lässt, sofern sie keine spirituelle Bedeutung hat. Beziehungen ohne geistige Tiefe fallen wahrscheinlich weg. Frivol verbrachte Freizeit kommt uns albern vor. Das lässt uns womöglich glauben, dass in unserem Leben sich etwas ändern muss. Fruchtbarer wäre es aber zu empfinden, dass eine Änderung bereits stattgefunden hat, und uns dazu anzuschicken, durch andere Augen das zu sehen, was wir tun. Andernfalls erschöpfen wir uns in der Fortsetzung dieser gleichen Richtung immer mehr, ohne uns aber vorstellen zu können, was wir sonst machen sollten.
Eine solche neue Art zu sehen können wir dadurch herbeiführen, dass wir die tiefe Bedeutung anerkennen, welche die Liebe für uns hat. Es kann durchaus geschehen, dass wir sie einfach stillschweigend voraussetzen, besonders dann, wenn die „romantische“ Phase, das Verliebtsein, vorüber ist. Das Ende dieser Phase ist aber eigentlich der Anfang von etwas weit Größerem: von einer Einweihung in die spirituelle Liebe.
Im Gegensatz zu dem Zusammenfließen zweier Menschen, das bei der emotionalen Liebe häufig vorkommt und welches sich zerstörerisch auswirken kann, fühlt man das Zusammenfließen zweier Geister in der spirituellen Liebe als die Qualität der Inspiration. Dante war durch die Schönheit der Beatrice inspiriert. Die Geister dieser zwei Menschen kamen zusammen, ohne dass sich für sie Schäden ergeben hätten. In ähnlicher Weise wurde Novalis durch Sophie von Kühn inspiriert, der er begegnet war, als sie erst dreizehn Jahre alt war. Sie starb einige Jahre später, aber das ganze Werk Novalis‘ von dort an wurde durch sie inspiriert. Ihr Geist war stets um ihn – in seiner Dichtung, in seinen Romanen, sogar in seiner praktischen Tätigkeit als Bergwerksingenieur. Bei Novalis sehen wir eindeutig, dass diese Ehe zweier Geister mit dem Tode nicht zu Ende geht. Novalis gab sich große Mühe, diese geistige Verbindung gegenwärtig und bewusst zu erhalten.
Eine solche Bemühung ist ein kraftvolles Mittel, der Anwesenheit der Angst und Angst in der Welt zu entgegnen. Jeder von uns kann das nach seiner eigenen Art tun. Kümmere ich mich um das geistige Schicksal derer, die ich liebe? Wie kann ich ihnen in spiritueller Weise helfen? Stehe ich zu der vollen Wirklichkeit meiner Geliebten? Setze ich mich für diese Wirklichkeit ein? In welcher Weise können wir zusammenarbeiten, um von der Wirklichkeit der Liebe in der Welt Zeugnis abzulegen? Die Antworten auf solche Fragen zu leben wirkt der Präsenz der Angst in der Welt weit effektiver entgegen, als alle äußerlichen Maßnahmen, die wir ergreifen mögen.
Jede Art der Liebe bringt Schwierigkeiten mit sich. Sie schmerzt, brennt, sorgt für Irritation, Unbehagen, hält uns nachts wach, lenkt uns tagsüber ab, und sogar dann, wenn sie uns inspiriert, tut sie dies mit einer solchen Intensität, dass wir uns an einer Macht gefesselt finden, die uns nicht loslassen wird. Sie scheint alles in unserer Seele Befindliche als Brennstoff zu verwenden, und sie intensiviert die kleine Flamme des Geistes bis dahin, dass das Feuer unkontrollierbar scheint. Unser kleines Ego, unsere Persönlichkeit kann der Feuersbrunst kaum standhalten, und uns ist, als würden wir wahnsinnig. Wir können sogar zerstört werden, wenn deren mächtige Gegenwart unbestätigt bleibt. Es kann uns unbewusst bleiben, dass wir die Flammen der Läuterung und Reinigung durchmachen, welche unentbehrlich sind, um Liebe in die Welt hereinzubringen.
Viele der heutigen Beratungs-, Therapie- und Selbsthilfe-Praktiken tun so, als wäre etwas mit uns nicht in Ordnung, wenn wir die Liebe nicht handhaben können. Aber wer kann das schon? Die Therapie ist einer Kontrolle der Intensität der Flamme nicht gewachsen; stattdessen versucht sie, uns darin zu beraten, wie wir das Feuer löschen können. Solche Therapien raten uns dazu, mit unserem Partner auszukommen, herauszufinden, was die Männer beziehungsweise was die Frauen brauchen; es wird endlos darüber geredet, der Egoismus gestärkt, sich darauf konzentriert, wie man im Sex Befriedigung findet, wie man die Zwanghaftigkeit vermeidet. Die Bemühung, in der Liebe Erfolg zu finden, gängelt nicht nur die Liebe; sie führt zur banalen Konventionalität.
Alle Versuche, die Liebe zur Anpassung an die Regeln zu zwingen, ob es sich um psychologische, um religiöse, oder um soziale Regen handelt, bezwecken die Zügelung der Liebe zu unseren eigenen Zwecken. Unser Ego versucht, die Liebe gefangen zu nehmen. Wir wollen sie für uns selbst haben, damit wir uns wohl fühlen, die angenehme Empfindung statt der Realität erleben, und mit uns selbst zufrieden sind, anstatt sie in ihrer eigenen geheimnisvollen Weise wirken zu lassen, um die Welt zu verwandeln.
Der Mensch ist ein Werkzeug der Liebe, und sie selbst muss nach eigenem Gutdünken dieses Werkzeug bilden. Daher kommt es, dass der Mensch sich immer auf ihre Seite schlagen muss, egal was er ihretwegen durchzustehen hat. Der Zweck eines solchen Läuterungsprozesses ist, den Eintritt der Liebe in die weitere Welt zu ermöglichen. Indem wir so die Sache der Liebe voranbringen, machen wir bedeutende, von Freude, Trauer, Schmerz und Entzücken begleitete Verwandlungen durch. Es kann vorkommen, dass wir den einen oder den anderen Teilaspekt dieses Läuterungsprozesses mit dessen Endziel verwechseln. Wir mögen nämlich denken, dass der höchste Sinn und Zweck der Liebe in der Welt der ist, dass zwei Menschen sich lieben; das macht einen der bedeutenden Aspekte des Läuterungsprozesses schon aus, aber nicht dessen letztendlichen Zweck. Wenn die Liebe zwischen Menschen fließt, so kann sie auch in die Welt hineinfließen. Wenn aber der Fluss der Liebe auf das beschränkt ist, was zwischen zwei Menschen sich ereignen kann, so haben wir – auch dann, wenn es sich um deren höchsten, edelsten Ausdruck handeln sollte – unwissentlich die Liebe gefesselt.
Schöpferische Liebe
Wenn die Liebe darauf beschränkt wäre, nur zwischen Menschen zu fließen, so könnte sie die Vorstöße der Angst auf den vielen oben erwähnten Gebieten nicht aufhalten. Auch in die Welt hinein muss die Liebe fließen, ja sie muss Teil der Substanz der Welt selbst werden. Derjenige Modus der Liebe mit der Macht, sowohl den Menschen wie auch die Welt umzuwandeln, ist die schöpferische Liebe. Wollen wir einen Einblick in diese Art der Liebe gewinnen, so müssen wir erst an dem Feuer der Liebe so sehr gelitten haben, dass wir die Gestaltung unseres Körpers zu ihrem Werkzeug zulassen wollen. Wir müssen das Heranbranden der sexuellen Liebe fühlen können, ohne sie weder „sanieren“ noch sie in willkürlicher Weise gebrauchen zu wollen. Letzteres soll nicht heißen, dass wir Zölibat werden müssen. Das Kennzeichen davon, die Flammen der sexuellen Liebe läuternd überstanden zu haben, ist ein Freude-Gefühl im Körper; Freude daran, ein empfindendes Wesen überhaupt zu sein. Freude an der Gegenwart aller Dinge der irdischen Welt.
Zweitens müssen wir hinlänglich die Flammen der Liebe durchlitten haben, wie diese in der Seele brennen. Fühlen wir unser Getrenntsein von denen, die wir lieben? Fühlen wir, wie dieses Getrenntsein durch die uns Liebenden beschützt und überwacht wird? Fühlen wir uns trotz dieses Getrenntseins miteinander vereinigt? Fühlen wir innere Freude an und Erstaunen vor der nie enden wollenden Seelentiefe? Fühlen wir uns dazu berufen, die Seelentiefe jener zu beschützen und zu bewachen, die wir lieben? Kennen wir überhaupt das Reich der Seele und haben es nicht mehr nötig, jemanden um eine Definition von „Seele“ zu bitten? Ferner: Durchflammt das Feuer der Liebe nicht nur unseren Körper und unsere Seele, sondern verwandelt es auch unser Denken so gründlich, dass ihre schöpferische Macht in uns ein phantasievolles Denken und Wahrnehmen inspiriert? Wann immer die diversen Arten der Liebe durch uns hindurchwirken und uns verwandeln, wird es möglich, einen Blick auch auf die schöpferische Liebe zu erhaschen.
Schöpferische Liebe wirkt in merkwürdiger, ja in eigener Weise. Zu ihrer Wesensart lässt sich kaum etwas sagen; wir können sie nur durch ihre Wirkungen erkennen. Die schöpferische Liebe wirkt in vollkommen qualitativer Art und Weise; alle andere Liebe übrigens auch, aber mit den anderen Modi kann es wenigstens einen Bezugspunkt geben, der uns auf etwas Substantielles hinweist – wie etwa das Gefühl einer starken oder aber nicht so starken Liebe, einer intensiven oder weniger intensiven Liebe. Bei der schöpferischen Liebe erzeugt auch die kleinste in die Welt hinein freigesetzte Handlung der Liebe die gleichen Ergebnisse, wie die größte. Die Liebe existiert nicht als Quantität, und so gelten bei ihr streng genommen die Kriterien „groß“ und „klein“ gar nicht. Allerdings beschreiben Groß und Klein auch Qualitäten. Wenn ich die Straße entlanglaufe und einen Augenblick anhalte, um mich mit einem Bekannten zu unterhalten, und im Verfolg unseres kleinen Gesprächs – im Bruchteil einer Sekunde – das innere Licht dieses Menschen in seinem Antlitz offenbar wird, so strömt die Liebe durch uns hindurch und ich erkenne den Geist dieses Menschen. Aber bei dieser kleinen Handlung der Liebe wird nicht nur erkannt, sondern in diesem Augenblick wird auch Liebe in die Welt hinein freigesetzt. Man stelle sich nun die alltägliche Arbeit eines Menschen wie zum Beispiel der Mutter Theresa vor. Ihre Fürsorge für die Leidenden gilt eindeutig als große Handlung der Liebe. Können wir aber sagen, dass eine kleine Handlung der Liebe in der Welt weniger bewirkt, als eine große Handlung der Liebe? Diese Frage erscheint zunächst lächerlich; steht doch wohl außer Frage, dass die große Handlung mehr ausrichtet.
Die in die Welt kommende schöpferische Liebe ist aber nicht als Ausdruck eines Ergebnisses zu messen. Deren Anliegen ist weiter nichts, als in die Welt hineinzuströmen; sie unterliegt keinerlei Urteil unsererseits darüber, was sie bewirken oder nicht bewirken darf. In den zwei oben angeführten Beispielen strömt die Liebe in die Welt. Die einen sind dazu berufen, in der einen Weise zu lieben, die anderen in anderer Weise. Zwar ist es für dein eigenes Menschsein unerlässlich, davon Kenntnis zu erlangen, in welcher Weise du zum Lieben berufen bist und dem die Treue zu halten; die eine Weise darf aber nicht als wichtiger denn die andere gelten. Wir mögen sagen, dass die durch Mutter Theresa hindurchfließende Liebe viel mehr Menschen beeinflusst, als die kleine Begegnung an der Straßenecke. Eine solche Bewertung lässt aber lediglich der Angst den freien Zutritt; sie erzeugt in uns das Gefühl, dass es nur große Seelen wie Mutter Theresa sind, die wichtige Handlungen der Liebe vollziehen. Wir können das volle Ausmaß des Liebens schlicht nicht wissen; nicht einmal Mutter Theresa konnte das. Das gesellschaftliche Ergebnis dessen, was sie tat, mag allerdings sichtbarer sein, aber die Liebe ist nicht von unmittelbar sichtbaren sozialen Ergebnissen abhängig. Die schöpferische Liebe begibt sich jenseits derer, durch die sie wirken mag, in die Welt hinaus. Und solange eine Handlung der Liebe um Selbstlosigkeit bemüht ist, so lange wird die Liebe freigesetzt, um in der Welt zu handeln.
Eine weitere Wahrheit bezüglich der schöpferischen Liebe: Je stärker die Intensität der Liebe, umso größer die Zunahme der Liebe in der Welt. Als Werkzeuge der Liebe ist es uns zwar möglich, die Intensität der Liebe wachsen oder abnehmen zu lassen, aber nur in indirekter Weise, durch einen Fokus der Aufmerksamkeit. Nicht die Liebe selbst, sondern nur unsere Aufmerksamkeit können wir fokussieren. Wenn unsere Aufmerksamkeit am stärksten ist – das heißt, wenn unsere Wahrnehmung gänzlich auf das gerichtet ist, was sich vor uns befindet; unser Körper ist entspannt, uns beschäftigt kein fremder Gedanke, keine weitere Emotion – so steigert sich die Liebe. Wenn unsere Aufmerksamkeit diffus ist, so zerstreut sich die Liebe wegen der Unzulänglichkeit des Werkzeugs. Wenn wir sagen, jemand liebt in intensiver Weise, so ist von der Qualität nicht seiner Liebe, sondern von der Qualität seiner Aufmerksamkeit die Rede.
Haben wir einmal ein wirkliches Gespür für die Autonomie der Liebe gewonnen, haben wir einmal erkannt, dass sie nicht aus unseren Kräften entsteht, so können wir unsere Sorge von der illusorischen Frage weglenken, ob ich denn genügend richtig oder stark liebe, und auf das Werkzeug hinlenken, durch welches die Liebe in die Welt kommt. Die Frage ist nicht „Was kann ich tun, um besser oder voller zu lieben?“, sondern „Was kann ich tun, um ein rechtes Gefäß zu sein, durch das die Liebe in die Welt hineingelangt?“ Die Kardinalpraktik besteht im ständigen Arbeiten daran, wahrhaftig anwesend zu sein. Diese Handlung der Aufmerksamkeit erfordert, dass wir uns aus uns selbst hinausbegeben und uns völlig auf das Herz und die Tiefe dessen einlassen, auf welches wir unsere Aufmerksamkeit richten. Wir müssen hochempfänglich für das sein, was uns begegnet, müssen uns ohne vorgefasste Meinungen und Urteile ihm dadurch nähern, dass wir es uns die Wirklichkeit offenbaren lassen. Dann tritt ein zweiter Aspekt der Handlung der Aufmerksamkeit ins Spiel: das Ringen um neue Formen, das auszudrücken, was wir in der Handlung der schöpferischen Empfänglichkeit erlebt haben.
Ein weiterer Aspekt der schöpferischen Liebe ist die Fähigkeit, vor der Liebe kapitulieren zu können, ohne uns dabei selbst zu verlieren. Kapitulieren wir blind vor der Macht der Liebe, so werden wir uns in einer kurzlebigen Ekstase verlieren. Diese Ekstase ist aber so mächtig, dass wir darauf fixiert werden, sie zu reproduzieren, ohne allerdings dabei zu durchschauen, dass es das Ego ist, das um des eigenen Vergnügens Willen die Liebe gefangen nehmen will. Andererseits haben wir nicht die Fähigkeit, unser Ego vollständig beiseitezulegen, nicht einmal nachdem wir die imaginative Erkenntnis und das Seelenleben vollkommen ausgebildet haben. Alles, was wir tun können, ist, 1) uns dessen bewusst sein, wie unser Ego versucht, die Ekstasen der Liebe einzufangen, und 2) schrittchenweise daran arbeiten, immer weniger auf dessen Anforderungen zu einzugehen. Das Ego fordert ständig, das Zentrum unseres Bewusstseins zu sein; in dieser Weise behält sie Macht für sich. Das Ego fordert ferner, in Kontrolle zu sein, und sucht sogar die Liebe zu kontrollieren. Außerdem fordert das Ego ein Gefühl der Selbstbefriedigung und Selbstwichtigkeit. An Ego-Bewusstsein an und für sich ist nichts auszusetzen; durch es gewinnen wir Interesse an der Welt. Zu Beginn aber, und lange Zeit danach, handelt es ausschließlich eigensüchtig. Wohl kann unser Ego aber zu einem wahren Diener der Liebe werden.
So kommen wir also zu einer letzten Aussage mit Bezug auf die schöpferische Liebe: Die Ergebnisse der Liebe in der Welt liegen im Reich des Unbestimmbaren, und das Üben der Liebe kann nicht auf spezifische Ergebnisse abzielen. Wenn die Liebe den Weg in die Welt findet, können wir nicht wissen, wie ihre weltverwandelnden Wirkungen sich zeigen werden. Wir können ihr Resultat nicht lenken, denn die Liebe ist völlig frei. Sogar dann, wenn durch uns die Liebe sich auf einen anderen Menschen richtet, sind deren Auswirkungen nicht messbar. Rückblickend können wir etwa sehen, dass der Lebenslauf eines anderen Menschen sich geändert hat, und dass dies mit einer selbstlosen Liebe unsererseits zu tun gehabt hat. So viele andere Faktoren sind aber mit beteiligt, dass wir nicht eigentlich wissen können, wie diese Liebe gewirkt hat. Ganz bestimmt können wir nicht in der Erwartung eines spezifischen Resultats lieben, ohne zu riskieren, dass unsere Liebe zur Manipulation wird. Das eine, dessen wir uns absolut sicher sein können, das ist, dass die Liebe, wenn sie zum Vollbringen ihres geheimnisvollen Werkes in die Welt freigesetzt wird, die Gegenwart der Angst überall verringert.
Jenseits der Angst liegt eine andere Welt. Diese neue Welt ist ganz bestimmt keine Utopie. Sie funktioniert anderen Gesetzen gemäß; sie wird uns vor völlig andere Aufgaben stellen und uns vollkommen andersartige Belohnungen in Aussicht stellen. In dieser Welt werden wir lernen, wie die Liebe im Herzen aller menschlichen Angelegenheiten walten und – statt des Atoms – zum grundlegenden Baustein des Universums werden kann.
[1] Rudolf Steiner, Die Liebe und ihre Bedeutung in der Welt. Vortrag in Zürich am 17. Dezember 1918.
[2] https://books.google.de/books?isbn=3458760148
[3] http://gutenberg.spiegel.de/buch/fragmente-i-6618/21
[4] https://books.google.de/books?id=h8ILAAAAIAAJ
[5] https://books.google.de/books?id=_kviAAAAMAAJ
[6] Aus einem Brief Rilkes an Paula Modersohn Becker
[7] https://books.google.de/books?isbn=3843029067
Kapitel VII als pdf-Datei herunterladen: Liebe vertreibt die Angst