aus Ruhe. Ganzheit als Mysterium
von Robert Sardello
Prolog: Ein Eingang
Alle spirituellen Traditionen schätzen die Ruhe. Das Daodejing spricht vom Dao als „in Ermangelung eines besseren Wortes, dem großen Weg. Es fließt, kreist, fließt und kreist. Und es hat keinen Namen“. So beschrieben ist das Dao wahrscheinlich dasselbe wie Ruhe, denn die in diesem Buch beschriebenen Strömungen der Ruhe werden in genau dieser Art vorgestellt. Meister Eckhart sagt sinngemäß von dieser Ruhe: „Die zentrale Ruhe ist das reinste Element der Seele, der Seele erhabenster Ort, der Kern, das Wesen der Seele.“ Pythagoras sagte „Lerne, stille zu sein. Lasse deinen ruhigen Verstand lauschen und absorbiere die Ruhe.“ Ruhe ist autonom. Sie liegt jenseits von uns; unsere Aufgabe ist es, das eigene Sein mit dem größeren Sein der Ruhe zu koordinieren.
Die Traditionen haben schon immer die Autonomie der Ruhe erkannt. Ruhe ist nicht etwas, was wir tun, auch ist sie keine persönliche Fähigkeit. Wir können still werden und indem wir so tun öffnet sich die Türe zur Ruhe. Krishnamurti ist derselben Auffassung: „Diese Stille, diese Ruhe ist die höchste Form der Intelligenz, welche nie persönlich ist, nie dein Eigentum oder mein Eigentum. Sie ist anonym und ist somit ganz und unbefleckt.“ Laotsu sagt von Ruhe: „Die zehntausend Dinge steigen und fallen, während das Selbst ihrer Rückkehr zuschaut. Sie wachsen und gedeihen und kehren dann zum Ursprung zurück. Das Zurückkehren zum Ursprung ist Ruhe, welche der Weg der Natur ist.“ Wovon hier als vom Selbst gesprochen wird, entspricht dem, wovon wir in dieser Schrift als die Fähigkeit der Aufmerksamkeit sprechen, die nötig ist, um die Ruhe zu finden und innerhalb ihrer bewusst zu sein. Hier eines von vielen Dingen, die Rumi zur Ruhe zu sagen hat: „Sitze still und lausche auf eine Stimme, die sagen wird, Sei noch stiller.“
Was können wir also in dieser Schrift zur Ruhe neu hinzufügen? Wäre es nicht heilvoller, sich zurückzuziehen, ein Kloster aufzusuchen, die Meister der religiösen Traditionen zu lesen? Egal welches dieser Dinge man tun würde, es wäre bei Weitem nicht so kompliziert als die Anstrengung, die Fäden dieses Buches zu verfolgen oder gar die vorgeschlagenen Praktiken aufzunehmen. Dieser komplexere Weg wird deshalb vorgeschlagen, weil – so schön wie auch wahr alles von den religiösen und spirituellen Traditionen hinsichtlich der Ruhe Gesagte auch sei – es uns nicht mehr möglich ist, auf jenen Wegen zur Ruhe zu gelangen; auf Wegen nämlich, welche die zwischen Ruhe und lärmender Welt liegende Kluft überbrücken würden. Wenn wir die lärmende Welt hinter uns lassen und ein Mönch werden würden, so wäre es eventuell möglich, mittels der religiösen Traditionen in die Ruhe hineinzukommen. Auch ist es durchaus möglich, im Rahmen einer Klausur oder eines religiösen Kultus tief in die Ruhe zu dringen; verlassen wir aber einmal diesen Rahmen, so lassen wir auch die Ruhe hinter uns, außer höchstens als süße Erinnerung. Diese Schrift bietet einen neuen Modus an, die Ruhe zu denken. Ferner bietet sie auch praktische, realistische Wege, zu einem fühlenden Empfinden der im Reich der Ruhe stattfindenden, hintergründigen Tätigkeit zu kommen. Dort, innerhalb dieses Reiches können wir es zu einem volleren Erleben dieser höchsten Form der Intelligenz bringen, in der „die zehntausend Dinge steigen und fallen, indem das Selbst ihrer Rückkehr zuschaut.“
Es gibt eine nachvollziehbare Tendenz, die Reiche der Ruhe zu beschwören, während man weitgehend außerhalb ihrer bleibt. Dieser Ansatz ist insofern von Vorteil, als dass er eine emotionale Identifikation mit der Ruhe erzeugt, ein falsches Gefühl des Teilhabens an ihr, das ohne die sorgfältige meditative Arbeit auftritt, die nötig ist, um unser Leben so umzuorientieren, dass es mit der Ruhe ständig mitschwingt. Das Meiste von dem, was über die Ruhe geschrieben wird, geht in diese Richtung: man zitiert die religiösen Traditionen und preist die persönlichen Vorteile der Zurückgezogenheit, was ja eigentlich ganz etwas Anderes ist, als den Welten der Ruhe zu begegnen. Diese Schrift durchschaut solche Tendenzen und konzentriert sich im Gegensatz zu ihnen darauf, die starke deskriptive Arbeit zu tun und zu verbreiten, die nötig ist, um mit der Ruhe einen Neubeginn zu machen und um für sich selbst zu entdecken, wozu die Ruhe imstande ist. Zu den Dingen, die man dabei lernt, gehört der Ausweg aus den Schranken der bedrückenden Natur unseres Egoismus, der ja zahllose Formen annimmt und von denen die beeindruckendste Form die ist, so zu tun, als würde einen die eigene religiöse Haltung - die man sich angelesen und womöglich so sich angeeignet hat, dass man die Erlebnisse der Mystiker und die Theorien der Theologen studiert hat - als Liebhaber der Ruhe gelten lassen.
In unserer Zeit bedarf es eines eher deskriptiven, phänomenologischen Ansatzes, denn es gilt nicht nur, verlorene Reiche neu zu entdecken, sondern es gilt zugleich auch unseren tief eingefleischten Wunsch auszuräumen, gemäß dem zu leben, was andere gesagt haben, anstatt für uns selbst innere Wahrheiten zu entdecken. Im Fördern dieser letzteren Annäherungsweise an das innere Leben verfolge ich die Inspiration der Geisteswissenschaft Rudolf Steiners, auch Anthroposophie genannt. Auch hier gilt es jedoch, auf einen wesentlichen Unterschied aufmerksam zu machen, ohne den wir genau in der Mitte der gleichen Gewohnheit landen, der wir zu entkommen suchen, nämlich von den Gedankenfrüchten anderer zu leben. Diese Schrift funktioniert anthroposophisch; das heißt, sie besteht aus dem vorsichtigen Erforschen eines Aspektes des inneren Lebens, welches so dargestellt wird, dass das Mitgeteilte von jedem zu bestätigen ist, indem er lediglich die innere Arbeit selbst in Angriff nimmt. Diese Schrift ist nicht in dem Sinne ein Werk der Anthroposophie, dass sie das verfolgt, was der Meister bereits behauptet hat und schon erhältlich ist.
Dieses Buch wird Ihnen vielmehr als eine Erfahrung dargeboten, die Ihre Beziehung zur Welt und zu allem vertieft, was innerhalb ihrer existiert. Es wird aber als Erlebnis dargeboten und nicht als Informationen, weshalb denn das Entgegennehmen desselben danach verlangt, dass Sie, während Sie lesen, auf Ihr inneres Fühlen aufmerken. Wenn Sie dieses Buch nur der Informationen halber und mit dem Gedanken lesen, dass Sie dessen Bildhaftigkeit sehen und die Bewegung der Ruhe später erleben werden, dann, „wenn Sie Zeit haben“, so werden Sie das Eingehen auf die Gelegenheit verpasst haben, die Fähigkeiten zur Entfaltung zu bringen, um eben dasselbe zu tun. Diese Schrift handelt nicht nur von Ruhe; sie ist vielmehr ein Sprechen, das aus der Ruhe hervorklingt. Um den Text in der förderlichsten Weise zu lesen, muss man willens sein, Barrieren, die von der Uhr gesetzt sind, wegzuschieben, und über Barrieren der Vorstellung hinwegzuschreiten, die von unserer gemeinsamen Kultur aufoktroyiert wurden. So schlage ich vor, dass Sie sich beim Lesen Zeit lassen, nach Art einer meditativen Praktik. In dem Fall werden Sie sodann die Feinheiten der Ruhe dergestalt in Ihnen zur Entfaltung kommen lassen, dass Sie beginnen werden, diese Qualitäten in der Welt zu bemerken.
Es ist weniger hilfreich, über die Ruhe zu lesen, als Eingänge in sie hinein zu finden. In diesem Buch befinden sich eine Reihe von Praktiken, die dabei helfen, die Ruhe als Ganzes und aber auch viele verschiedene Dimensionen derselben zu erleben. Nahezu alle diese Praktiken stammen aus einem Kurs in Sacred Service [= ‘Sakrale Dienstleistung‘], die von der School of Spiritual Psychology angeboten werden. Cheryl Sanders Sardello und ich unterrichten mit der Hilfe anderer Menschen seit fünf Jahren diesen Kurs; so sind die Praktiken erprobt, verfeinert und als nicht nur gänzlich unbedenklich, sondern auch als Leben verändernd bestätigt. Diese Praktiken sind mehr als technische Anweisungen dazu, wie man mit der Ruhe zusammen sein kann. Besser ist es, sie als spirituelle Manieren zu betrachten, als Verhaltensweisen, welche die spirituelle Anwesenheit der Ruhe in unser Leben herein einladen und unser Leben so umorientieren, dass es im Dienst an den geistigen Welten verläuft.
Eine Praktik unterscheidet sich wesentlich von einer Übung oder einer Technik. Das Anliegen einer Praktik besteht darin, neue Fähigkeiten dadurch zur Entwicklung zu bringen, dass Dimensionen und Gegenstände der Aufmerksamkeit zur Entfaltung kommen, die über die landläufigen Formen des Bewusstseins hinausgehen. Eine Übung wie zum Beispiel Gruppenarbeit mag unter bestimmten Bedingungen die momentane Erfahrung einer neuen Dimension erzeugen; es wird jedoch nicht genügend Willenskraft vorhanden sein, diese Dimension fortgesetzt zu erleben. Und Techniken neigen dazu, manipulativ zu sein, indem sie oft das Herbeiführen von etwas bezwecken, anstatt anderen zu helfen, das innerhalb der eigenen Fähigkeiten Liegende zu entdecken. Dieses ganze Buch ist eine Praktik. Schon wer sorgfältig und besinnlich liest und auf die Jagd nach Informationen verzichtet, befindet sich auf bestem Wege dahin, die neue Fähigkeit zu bilden. Es wird eine bedeutende Veränderung des Bewusstseins stattfinden. Eine jede der oben erwähnten Praktiken ist weiter nichts als ein als Hilfen gemeinter, besonderer Punkt der Betonung, der dem Verlangsamen des eigenen Schrittes sowie dem Verbleiben innerhalb des Prozesses dient, durch das diese Schrift hindurch führt.
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Silence. The Mystery of Wholeness. Bei jedem Online-Buchhandel zu erwerben.