Kapitel 1 – Partei ergreifen für die Welt
Das Feld der Tiefenpsychologie, an die hundert Jahre alt inzwischen, scheint mehr und mehr in die öffentliche Phantasie Einzug zu halten. Der Wert dieses Interesses für Seele ist enorm. Die Menschen sagen damit effektiv, dass sie einen tiefen Drang spüren, die Arbeit an und mit der Seele zu einem zentralen Aspekt ihres Alltagslebens zu machen, dass sie es nicht dabei bewenden lassen wollen, diesen Bereich den professionellen Psychotherapeuten zu überlassen, und dass sie es nicht dulden werden, in einer der Seelenqualitäten entleerten Welt zu leben.
Seele-Machen als Forschung
Seele ist ein enorm potentes Wort. Es vermag allerlei Interessen magnetartig anzuziehen; diese Interessen stehen aber in einer nur flüchtigen Beziehung zur sorgfältigen Art, in der die Disziplin der Tiefenpsychologie Seele und ihr Reich über die Jahre entwickelt hat. Bei manchen Menschen zieht Seele ein Interesse für religiöse Angelegenheiten an, die aber ignoriert wurden wegen des vorgestellten Verhältnisses der Seele zur institutionalisierten Religion und zur dogmatischen Autorität. Und für andere zieht sie das Interesse für ein Reich des Mysteriums an, für Dinge, die unerklärbar scheinen, die aber dennoch als Lebenswichtig empfunden werden. Für noch andere zieht Seele die Aussicht auf eine entweder physische oder einer psychische Heilung an.
Die Pioniere der Tiefenpsychologie waren sich dieser Faktoren mit Sicherheit bewusst, hielten aber nicht nur die religiöse und künstlerische Dimension für extrem wichtig, sondern auch eine zusätzliche: die Wissenschaft. Tiefenpsychologie hat unter anderem als Kernanliegen eine den Verhältnissen der Gegenwart angemessene Zusammenführung der uralten Einheit von Religion, Kunst und Wissenschaft. Das Heilen wurde von diesen Pionieren zwar als Nebenprodukt des Eingehens dieser Einheit aufgefasst, nicht aber als deren Raison d’Être. Die Urheber und Entwickler der Tiefenpsychologie waren zuallererst Forscher der Seele. Sie wussten, dass sie Forscher sein müssen, weil es im Wesen der Sache liegt, dass ständig Irritationen, Verwirrung, Missverständnis erzeugt werden, welche nur dadurch abzuwenden sind, dass beständige Wachsamkeit der Beobachtung ausgebildet wird.
Wenn es irgend einen Beitrag gibt, den ich zur Erweiterung der jetzt in Gang befindlichen Seelenarbeit machen kann, indem diese von den Berufspraktikern einige Unabhängigkeit gewinnt, so hoffe ich, dass ein solcher Beitrag nicht so sehr im Finden von Anwendungsweisen der Einsichten der Tiefenpsychologie besteht, als im Fördern des Interesses dafür, dass in möglichst breiter und tiefer Weise jeder ein Forscher der Seele wird. Das Forschen muss allerdings neu konzipiert werden, aus der im technologischen Sinne geführten, auf Hypothese, Theorie und Prüfung basierten Labor-Experimentieren entfernt und viel mehr als Lebensarbeit vorgestellt werden.
Die Forschung erfasst auch die Sichtweitung auf Gebiete, über die bisher noch nicht gedacht wurde; ferner und am allerbedeutendsten: sie hat nicht nur mit dem Aufdecken und der Entdeckung des schon Existenten zu tun, sondern sie geht zum Teil mit dem Erschaffen dessen einher, was entdeckt wird. Dieser Aspekt des Forschens ist für das Reich der Seele besonders charakteristisch. Hier befassen wir uns weder mit der Welt der toten Gegenstände, noch mit der Pflanzen- oder Tierwelt, wo mit den Dingen umgegangen werden kann, als wenn sie nach Naturgesetzen festgelegt wären (obwohl sie in Wahrheit das nicht sind). In der eindeutig menschlichen Welt ist vielmehr der Schöpfungsaspekt absolut nicht zu umgehen. Das heißt, Seelenforschung ist auch Seele-Machen.
Häufig beginnt Forschung damit, dass die Grenzen früherer Arbeit auf dem einen oder dem anderen Gebiet festgestellt werden. Solches Feststellen hat gewöhnlich nicht als Ziel, bisher Geleistetes zu diskreditieren, sondern lediglich Erkenntnis auf neue Gebiete auszuweiten, was oft zur Notwendigkeit einer Neukonzipierung des bisher Entwickelten führt. Solange Grenzen unbemerkt bleiben, werden nicht nur neue Bereiche nicht erschlossen, sondern es wird weiterhin auch ein bloßer Teil des Ganzen für dieses Ganze gehalten.
Das Interesse daran, die Tiefenpsychologie aus dem Praxisraum herauszunehmen und in die Welt hinein, offenbart zwei spannende Beschränkungen der Branche, wie sie bisher ausgeübt wurde. Zum Einen verfügen die Menschen über eine weit größere Kapazität, sich um das Leben der eigenen Seele zu sorgen, als die Begründer der Tiefenpsychologie sich ausmalten – was darauf zurückzuführen ist, dass deren Arbeit an der Ausbildung der Tiefenpsychologie solche Menschen im Blick hatte, die unvermögend waren, selbst sich um das Leben der eigenen Seele zu sorgen. Zum Anderen und noch wichtiger: Tiefenpsychologie hat die Notwendigkeit – auf die hin nun die Menschen handeln, die das Interesse in Seele in die Welt hinaus verlegen wollen – übersehen, sich die Welt selbst als mit Seele begabt vorzustellen. Weitere Forschung erfordert also das Vermögen, die Welt sorgsam zu beobachten, um zu erkennen, wie es kommt, dass das so ist und ferner um möglichst präzise das Verhältnis zwischen Einzelseele und Weltseele zu verstehen.
Wo es völlig der Wahrheit entspricht, dass diejenigen, die an Seele-Arbeit interessiert sind, nicht gerade nach Erfahrungen von Seele in der Außenwelt schreien (mehr oder weniger im Gefühl, dass Seelenarbeit primär dem persönlichen Wohl dient), so meine ich nichtsdestoweniger, dass dieser auf das eigene Vorteil fixierte Blick daher rührt, dass der schon ausgebildete Teil der Seelenforschung eben für das Ganze gehalten wird. Hätte die Welt aber keine – zunehmend als fehlend empfundenen – seelischen Eigenschaften, so würden wir uns damit völlig begnügen, dass die Psychologie sich weiterhin ausschließlich mit Menschen befasst, die wegen psychischer Leiden in der Welt nicht zurechtkommen. Die Menschen aber, die die ganzen Bücher lesen und die ganzen Tagungen besuchen und die Schulung der eigenen Seele aufnehmen – die sind entschieden gesund. Sagen sie nicht damit aus, dass der Faktor der Seele rapide aus der Welt entschwindet, und bekundet diese Aussage nicht zugleich die Anerkennung, dass Seele in irgendeiner Form früher da gewesen sein muss?
Die bei der Begründung der Tiefenpsychologie mit gesetzte Grenze lässt sich als ganz absichtliches und bewusstes sich-Abwenden von der Welt bezeichnen. Es gibt zwei Stellen, an denen Sigmund Freud die Welt als Problem für die Psychologie direkt anspricht. In "Die Zukunft einer Illusion" erklärt er:
"Es ist ja die Hauptaufgabe der Kultur, ihr eigentlicher Daseinsgrund, uns gegen die Natur zu verteidigen... Da sind die Elemente, die jedem menschlichen Zwang zu spotten scheinen, die Erde, die bebt, zerreißt, alles Menschliche und Menschenwerk begräbt, das Wasser, das im Aufruhr alles überflutet und ersäuft, der Sturm, der es wegbläst, da sind die Krankheiten, die wir erst seit kurzem als die Angriffe anderer Lebewesen erkennen, endlich das schmerzliche Rätsel des Todes, gegen den bisher kein Kräutlein gefunden wurde und wahrscheinlich keines gefunden werden wird. Mit diesen Gewalten steht die Natur wider uns auf, großartig, grausam, unerbittlich, rückt uns wieder unsere Schwäche und Hilflosigkeit vor Augen, der wir uns durch die Kulturarbeit zu entziehen gedachten.[1]"
Hier wird Psychologie zwar nicht direkt angesprochen, wohl aber finden wir eine vom Begründer der Tiefenpsychologie behauptete, merkwürdige Auffassung der Rolle der Zivilisation vor, sowie ein genauso merkwürdiges Bild der Naturwelt. Er legt nahe, dass die Eigenschaften der Naturwelt mit den Elementen Erde, Wasser, Luft und, statt des Feuers, mit Krankheit und Tod zu tun haben. Die Elemente werden ausschließlich in ihren zerstörerischen Aspekten und überhaupt nicht in ihren schaffenden Eigenschaften beschrieben. In einem späteren Kapitel werden wir auf die Elemente wieder zu sprechen kommen, um zu veranschaulichen, inwieweit sie die primären schöpferischen Elemente der Seele der Welt sind. Auch wird uns später die Naturwelt beschäftigen, zumal als weibliches Wesen, das Sophia, der Weisheit, der Weltseele entspricht.
Freud sieht die Kultur als Abwehr gegen die seelischen Eigenschaften der Welt an. Und während er diese Abwehr völlig unzureichend, ja eine fehlgeschlagene Sache findet, so besteht sein Ansatz zur Unterstützung der Widerstandsfähigkeit gegenüber der Welt in der Arbeit der Psychotherapie an der Ausbildung eines starken Ego-Empfindens. Freud hält es für einen notwendigen Umweg zwecks Bildung eines starken Egos, sich an die Sphäre der Seele zu wenden. So führte Freuds Abwendung von der Welt zur modernen Entdeckung des Seelenlebens, wenn auch in ganz anderer Auffassung der Seele als die in der Tradition des Altertums zu findende, in der Seele und Welt voneinander nie getrennt wurden. Heraklit zum Beispiel setzt der Seele keine Grenzen, in dem er sagt, man könne jede Straße bereisen, ohne je an einem Ort anzukommen, der ohne Seele wäre.
Während in der obigen Aussage es den Anschein hat, als würde Freud Kultur und Natur einander entgegensetzen und als dürfte Psychoanalyse als Abwendung von der Natur begriffen werden, ist es in einer anderen Aussage deutlich, dass er sich vor der ganzen Welt fürchtet:
"Gegen die gefürchtete Außenwelt kann man sich nicht anders als durch irgendeine Art der Abwendung verteidigen, wenn man diese Aufgabe für sich allein lösen will. Es gibt freilich einen anderen und besseren Weg, indem man als ein Mitglied der menschlichen Gemeinschaft mit Hilfe der von der Wissenschaft geleiteten Technik zum Angriff auf die Natur übergeht und sie menschlichem Willen unterwirft. Man arbeitet dann mit allen am Glück aller. Die interessantesten Methoden zur Leidverhütung sind aber die, die den eigenen Organismus zu beeinflussen versuchen. Endlich ist alles Leid nur Empfindung, es besteht nur, insofern wir es verspüren, und wir verspüren es nur infolge gewisser Einrichtungen unseres Organismus."[2]
Freud vertraut der Wissenschaft als hinreichende Abwehr gegen die Welt mehr als der Kultur. Wie wir jedoch in späteren Kapiteln entdecken werden: auch wenn es in der Tat die Wissenschaft gewesen sein mag, durch die die Seele der Welt verdunkelt wurde, so ist es wieder ausgerechnet die Wissenschaft, die uns – allerdings unabsichtlich – zur Möglichkeit führt, sie wiederzuentdecken. Noch wichtiger ist, dass Freud vermeint, die Psychoanalyse könne ein Weg sein nicht das menschliche Leid zu lindern, sondern Schmerzempfindungen zu betäuben. Ist der Angriff der “gefürchteten äußeren Welt” nicht zu fühlen, so sei ihr gestattet, loszuwüten; spielt er doch keine Rolle.
Dem kann aber entgegnet werden, dass der Wert der Tiefenpsychologie gerade in der Hilfe liegt, die sie uns beim Aufdecken der allerbedeutendsten Quellen des Schmerzes gibt, derjenigen nämlich, die den unterdrückten Traumata der Frühen Kindheit entstammen. Ferner kann entgegnet werden, dass durch Therapie eine ganze Menge Schmerz – eine Weile zumindest – neu durchgemacht werden soll, der unter Umständen jahrelang als ungesunde Symptome zum Ausdruck kam. Die interessante, von Freud selbst oben gemachte Andeutung ist, dass es sein könnte – aber keineswegs sein muss –, dass die Auseinandersetzung mit all dem vergangenen Schmerz mit dessen Behebung nichts zu tun hat, sondern lediglich mit dessen Betäubung. Sollte es sich nun herausstellen, dass dies zutrifft, so wären die Auswirkungen eines solchen Verfahrens auf die Welt völlig verheerend. Denn würde man taub gegenüber seelischem Schmerz, so würde man das Leiden in der Welt auch nicht fühlen. Zwar wäre es wohl möglich, das Leiden in der Welt zu betrachten und zu verurteilen, allein man vermöchte nicht mehr das Leid eines Anderen so zu fühlen, als wäre es das eigene.
Wir mögen uns sogar vorstellen können, wie zwecks Linderung des Leidens in der Welt ganze Institutionen und Industrien erstehen; kann man aber den Schmerz des Anderen nicht so empfinden, als wäre er der eigene, so würden diese Institutionen und Industrien zu einem Teil des Problems, da sie ja dazu neigen würden, auf das eigene Fortbestehen als Hilfsbranche zu beharren. In einem späteren Kapitel werde ich erneut mich damit befassen, wie wichtig es ist, in gesunder Weise den Schmerz der Welt und anderer Menschen wie den eigenen zu empfinden, um so festzustellen, ob nur an dem eigenen Schmerz zu arbeiten nicht eigentlich ein Hindernis ist, da es zu bloßer Betäubung führen könnte.
Der potentielle Problemherd der ungesehenen Hindernisse, die mit der Gründung der Psychoanalyse zugleich entstanden, beschränkt sich nicht auf die Psychotherapie. Die Psychologie Jungs, die in diesem Buch zur Stütze viel herangezogen wird, wendet sich von der Welt ab und zum Reich der Archetypen bzw. der archetypischen Imagination hin. In dieser Psychologie sind nicht wir die Leidenden; es wird unser Leiden auf die Krankhaftigkeit der Götter zurückverfolgt und nicht als nur persönliches Leiden gekennzeichnet. Für Jung und seine Anhänger ist das, worauf es ankommt, nicht die Welt, sondern die jeweils ewige Präsenz der Götter und Göttinnen, die gegenwärtig durch die Seele wirken und unser Verhalten bestimmen.
Sämtliche Formen der Psychotherapie leiden ebenfalls unter diesem Gründungsakt der Abwendung von der Welt. In Therapiesitzungen sprechen die Menschen nicht über die Hässlichkeit der Umwelt, die Zerstörung der Regenwälder, die zunehmende Kriminalität, Obdachlosigkeit, Kernwaffen, Terrorismus, Arbeitslosigkeit, die Misere im Bildungswesen, den Verlust der Schönheit in der Welt, den sauren Regen, das Ozonloch, Bosnien, Somalia oder den Nahen Osten – kurz, sie sprechen nicht über das Leiden der Seele der Welt. In der Therapie reden wir von unseren Träumen, Beziehungen, Vätern und Müttern, Depressionen, Ängsten und Verletzungen, archetypischen Gestalten, Mythen und dysfunktionalen Familiensystemen. Ich kann nicht umhin, mich zu fragen, ob hier nicht in der Tat ein bloßes Fragment für das Ganze gehalten wird.
Die Beschränkungen der Tiefenpsychologie zu hinterfragen heißt nicht unbedingt, dass das Gesamtunterfangen in Frage gestellt wird, sondern nur das Fortsetzen der gleichen Form des Unterfangens, ohne neue Bereiche und größere Dimensionen zu erforschen. Bewusstes sich-Aufmerken auf Seele ist eine wahrhaft neue Entwicklung in der Welt. Den Menschen der Vergangenheit war die Pflege der Seele Angelegenheit der Natur und des Instinktes und wurde durch Ritual, Zeremonie, Mysterienstätten, eine Erzähltradition von Geschichten, Mythen und Kunst besorgt. Aber wenn die Pflege der Seele auch natürlich war, so war sie nicht zwingend individuell bewusst, sondern eher instinktives Gruppen- oder Stammesbewusstsein. Inzwischen hat sich das Bewusstsein in die Richtung der Individualität gewandelt, sodass also auch Formen der Sorge um die Seele bewusster und individueller werden mussten. Eine neue Theorie brauchen wir nicht, sondern wir müssen den Niedergang des Elementes von Seele in der Welt durchschauen und eine Art von Seelentätigkeit entwickeln, die diesem Niedergang entgegenwirken kann. Auch müssen wir durchschauen, wie die Sorge um die Seele stets die Gefahr in sich birgt, die Welt zu vernachlässigen. Diese Vernachlässigung, die als Einschränkung anzusehen ist, ist nicht unumgänglich, wenn man einmal ein größeres Bild sehen kann.
Der Wim Wenders-Film Bis zum Ende der Welt bringt vieles von dem, was ich hier sagen möchte, in ein bemerkenswertes Bild. Die Handlung spielt kurz vor dem Jahr 2000. Es hat sich Katastrophisches ereignet: Ein die Erde umkreisender, mit großem atomarem Sprengkopf ausgerüsteter Satellit, Teil eines der Strategic Defense Initiative nicht unähnlichen Systems, hat eine Fehlfunktion und wird die Bombe auf einen nicht zu ermittelnden Ort der Erde abwerfen. Auszuschließen ist nicht, dass bei der Detonation die ganze Erde zugrunde gehen wird. Es muss entschieden werden, ob man versuchen soll, den Satellit abzuschießen, was die Bombe im Weltraum zur Detonation brächte und wobei ebenfalls die Zerstörung der Erde nicht auszuschließen ist. Während all dies vor sich geht, spielt sich ein anderes Ereignis persönlicherer Art ab und wird Hauptfokus des Films.
Ein in Australien lebender Wissenschaftler hat jahrelang an der Erfindung eines technischen Geräts gearbeitet, das seine blinde Ehefrau wieder sehend machen soll. Das Gerät funktioniert dadurch, dass es Fotoaufnahmen der Welt macht, und zwar so, dass es die Gehirneindrücke eines sehenden Menschen aufnimmt, die durch dessen Gesichtswahrnehmungen dem Gehirn mitgeteilt werden, während er etwas in der Welt ansieht. Diese Eindrücke werden dann durch ein weiteres Gerät auf das Gehirn des blinden Menschen übertragen. Das Gerät funktioniert letztlich einwandfrei und die Frau lernt das zu sehen, was ihr Sohn gesehen hat; das heißt, sie sieht die in dessen Gehirn aufgenommenen Geschehnisse. Im Lauf seines Experimentierens macht der Wissenschaftler aber nebenbei eine weitere Entdeckung: die Möglichkeit nämlich, die Nachtträume eines Menschen aufzunehmen und als Video abzuspielen. Als nun die Menschen beginnen, auf dem Videoschirm ihre Träume zu sehen, passiert etwas Außergewöhnliches. Sie werden vom Sehen der eigenen Träume süchtig, allerdings in weit stärkerem und dauerhafterem Maße, als bei jeder Drogensucht vorstellbar wäre. Der Sohn des Wissenschaftlers und dessen Liebhaberin werden komplett süchtig.
Während nun dieses vor sich geht, wird der Satellit abgeschossen. Alle elektrischen Geräte der Erde hören auf zu funktionieren. Es weiß niemand, ob dadurch das Ende der Welt signalisiert wird. Es stellt sich dann aber heraus, dass das weltweite technische Versagen nicht von Dauer war.
Die zwei Hauptbilder des Filmes sagen viel von dem aus, worauf ich hinaus will. Wir haben einerseits ein Bild der Wissenschaft und Technik und andererseits das Bild einer bestimmten Art, sich von der Welt und der seelischen Sphäre abzuwenden. Diese Bilder offenbaren Folgendes. Das Versagen des Satellits zeigt, dass wenn die Wissenschaft in rein technischer Weise und ohne Seele nach außen zur Welt hin gewandt wird, etwas sich als zerstörerisch erweist, was hilfreich und wohltuend aussieht. Wir sollten, denke ich, diesen Teil der Geschichte für ein Bild von Wissenschaft und Technik halten, und können uns das Vorkommen von ähnlich Geartetem in der Medizin, Elektrotechnik, Physik, Ökologie und allen Bereichen der Wissenschaft vorstellen. Es wies zum Beispiel ein medizinischer Bericht des Journal of the National Cancer Institute (2. Juli 1993) darauf hin, dass Kinder, die für eine bestimmte Art von Krebs eine Strahlenbehandlung bekamen, später im Leben mit 800-facher Häufigkeit andere Krebssorten bekommen, als die übrige Bevölkerung. Ein weiteres Beispiel: Das Spritzen von DDT, in den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts ein weit verbreitetes Verfahren, steht mit dem heutigen Vorkommen von Brustkrebs in starker Beziehung. Solche Berichte hört man täglich. Freud wäre wohl enttäuscht, die Ergebnisse des Angriffs von Seiten der Wissenschaft auf die Welt zu erfahren.
Noch interessanter ist das zweite der Bilder aus dem Film: es besagt, dass wenn wir uns von der Welt weg- und nach innen zur Seele hinwenden, das Ergebnis die Sucht ist. Die Menschen, die ihre Träume ansehen, merken nicht, dass sie in Selbstbespiegelung und Egoismus der schlimmsten Sorte verstrickt sind. Seele ist nicht egoistisch; versucht man aber, Seele direkt zu schauen, so birgt der Akt des Schauens den Egoismus in sich. Das Schauen ruft bei den Personen im Film starke Gefühle hervor, die aber illusorisch sind, und weil die Bilder – Szenen aus der Vergangenheit der Schauenden – die Träume zu einem Inhalt machen. In einem späteren Kapitel werden Träume in einer Weise betrachtet, die ihrem Wesen als Tätigkeit statt als Inhalt Rechnung trägt. Solange die Sphäre der Seele für irgendeine Art Inhalt gehalten wird, schauen wir uns eine andere Welt an, glauben aber, dass wir das eigene Mysterium betrachten. Ferner, solange an Seele als an einen Inhalt herangetreten wird – ob der persönlichen Vergangenheit, der Mythe und des Bildes, oder des kollektiven Unbewusstseins – , solange vermag das Leben der Seele nicht den Weg in die Welt zu finden. Dieser Teil des Films behandelt nicht nur das Traumleben: er ist vielmehr eine Metapher, ein Bild der Psychologie, wie diese sich von der Welt abwendet, um sich selbst anzusehen.
Der Film stellt aber auch die Heilung der zwei Süchtigen dar, welche die eigenen Traumbilder nicht anders als persönlicher Natur, als Selbstoffenbarung sehen können. Die Heilung der Wissenschaft allerdings wird nicht dargestellt; es wird uns nur gezeigt, wie uns hier noch eine Chance gegeben wird. Die Konzentration im Film auf die Heilung der inneren Dimension deutet an, dass die Heilung der Wissenschaft von ersterer abhängt. Der Mann und die Frau werden verschieden geheilt. Die Frau hat einen Freund, einen Romanschreiber, der sie innig liebt. Er bringt sie fort und umschließt sie in einem schützenden Raum, in dem sie einen Entzug durchmacht, der erst mit dem Leerwerden der Batterien ihres Videogerätes durchgestanden werden kann. Während dieser Zeit vollendet der Schriftsteller einen seiner Romane, an dem er schreibt, und legt das fertige Manuskript zu ihr in den Schutzraum. Aus Verzweiflung beginnt die Frau den Roman zu lesen, und bis sie zu Ende gelesen hat ist sie geheilt. So müssen wir fragen: was ist hier passiert?
Man könnte denken, dass das Lesen eines Buches auch eine Art ist, sich nach innen zu wenden. Ein Buch ist aber eine andere Form Bilder zu betrachten als die, sich selbst anzuschauen. Es ist eine imaginative Art, die Welt zu sehen. Bilder sind hier nicht etwas, was man bloß betrachtet, sondern etwas, durch das man hindurch schaut. Beim Lesen werden wir tatsächlich aus uns selbst heraus und in die Welt hineingeführt – die Welt so, wie sie wirklich ist und nicht wie wir meinen, dass sie sei – vorausgesetzt allerdings, das Buch ist sorgsam gestaltet. Wenn wir die Welt von der Warte des Alltags wahrnehmen, so ist das, was erscheint, nicht die Welt, sondern unsere Begriffe der Welt; das, von dem uns gesagt wurde, dass sie so sei – von der Wissenschaft, den Schulbüchern, von denen, die uns erzogen haben, von unseren eigenen Erfahrungen. Die Frau wird deswegen geheilt, weil ihr die Phantasie wiederhergestellt wird, und dies wiederum findet deshalb statt, weil durch das imaginative Wort eine Welt dargestellt wurde. Das Wesen des Wortes an sich ist ferner Teil dieser Heilung. Das Wort ist aktiv, bewegt, verbal – wie schon bei der Bezeichnung “das Verb” zu erkennen ist. Das imaginative Wort gibt uns Gleichnisse der Welt, nicht die Aussagen wortwörtlicher Erklärungen. Und hier wird uns ein weiterer Einblick in die möglichen Einschränkungen des sich-Einwärtswendens, von dem die Tiefenpsychologie auch als dem sich-Wenden zur Imagination hin spricht. Beim sich-Wenden nach innen lauern die Möglichkeiten des wortwörtlich-Machens der Imagination – einer wortwörtlichen Auffassung der Vergangenheit, einer wortwörtlichen Auffassung der Mythen, des Bildes, der Geschichten, der Götter.
Die Heilung des Mannes erfolgt anders; dennoch ist es wichtig, beide Heilungen als eine Handlung zu betrachten, bei der die eine Heilung die andere mit einbegreift. Der Mann hat einen Aborigine als engen Freund. Dieser bringt den Mann in die Wildnis hinaus und führt ihn in die Gesellschaft zweier alter Schamanen. Als die Nacht einbricht, legen sich die Schamanen auf die Erde schlafen. Einer der Schamanen liegt dicht zur einen Seite des Süchtigen, der andere dicht zur anderen. Am Morgen ist der Mann geheilt. Noch einmal: was ist passiert?
Diese schamanische Heilung ist in der Tat außergewöhnlich, sie ist nicht das, was man von Schamanen erwartet hätte: kein Ritual, kein Gesang, kein Tanzen, kein Gerassel, sondern einfach nur Schlafen. In einem späteren Kapitel werde ich auf Aspekte des Mysteriums vom Schlaf zu sprechen kommen. Was sich jetzt in direktem Zusammenhang mit dem sagen lässt, was im Film gebracht wird, das ist, dass die illusorische, literalisierte Vorstellung der Traumwelt, die die Sucht des Mannes verursacht, in seinen rechten Kontext zurückgeführt wird: in den Kontext des Schlafes. Die Traumpsychologie hat zu erkennen versäumt, dass der Zusammenhang des Träumens der Schlaf ist. So ist jede Traumbetrachtung, bei der man den Traum direkt angeht, ihn unter die Lupe nimmt, bei der man die Bilder zu entschlüsseln sucht, eine Abstraktion seiner aus seiner naturgegebenen Umwelt, die der Schlaf ist. Und der Schlaf ist die eine Hälfte des Rhythmus, des ganzen aus Schlafen und Wachen bestehenden Rhythmus. Der Schlaf ist erheblich mehr als ein Bewusstloswerden; der Schlaf muss als Welt, als Reich, als Landschaft, als eine bestimmte Art von Zeit und als eine bestimmte Art der Tätigkeit empfunden werden. Hier spielt sich das Träumen ab, und doch ist die Arbeit mit den Träumen so, wie sie gegenwärtig vertrieben wird, ein wenig dem ähnlich, wie wenn man versuchen würde, das Wesen eines Fisches zu bestimmen ohne das Wasser in Betracht zu ziehen. Die Schamanen heilen, indem sie die vom Manne getragenen Bilder in die Nacht zurückempfangen.
Das Erforschen des Ego
Eine zusätzliche, mit der Gründung der Tiefenpsychologie einhergehende Beschränkung, die ein aufeinander-Beziehen von Seele und Welt erschwert, hat mit dem Wesen und der Funktion des Egos zu tun. Der tiefenpsychologische Ansatz Freuds bezüglich des Egos ist gründlich anders, als der von Jung; dennoch vermag es keiner der beiden Ansätze, auf dem Weg über das Ego von der Seele zur Welt zu gelangen. Hier bleibt Freud, der Gründer der Tiefenpsychologie, in seiner Furcht vor der Welt gefangen. Hinsichtlich des Egos erklärt er:
"Dieses Stückchen lebender Substanz schwebt inmitten einer mit den stärksten Energien geladenen Außenwelt und würde von den Reizwirkungen derselben erschlagen werden, wenn es nicht mit einem Reizschutz versehen wäre... [Der Reizschutz] ist mit einem eigenen Energievorrat ausgestattet und muss vor allem bestrebt sein, die besonderen Formen der Energieumsetzung, die in ihm spielen, vor dem gleichmachenden, also zerstörenden Einfluss der übergroßen, draußen arbeitenden Energien zu bewahren."[3]
Für Freud ist das Ego unsere eigene, aus vergangener Erfahrung entwickelte, kleine Konzeption von uns selbst. Das Ego kann Freuds Sichtweise gemäß ohne Weiteres durch die gefürchtete äußere Welt zermalmt werden und hat es nötig, Abwehrmechanismen zu entwickeln, um fortlaufend sich vor dem Einfall von Seiten der Welt zu bewahren. Diese Schutzmechanismen brauchen Energie, und der Quell dieser Energie ist das Unterbewusstsein, insofern es nicht damit schon belegt ist, seine Energie auf das Zurückdrängen vergangener traumatischer Erlebnisse anzuwenden. So bringt uns das Ego nicht in die Welt hinein, sondern hält uns vor ihr zurück – durch Kompensieren, Idealisieren, Projizieren, Regression, Dissoziation, Sublimierung und etwa vierzig weitere Schutzmittel. Gege die Welt muss also – dieser Sichtweise gemäß – diese kleine Konzeption von Selbst ständig ankämpfen, um eine Erfahrung von sich aufrechtzuerhalten. Wir blicken immerzu durch eine Ego-farbene Brille in die Welt hinein. --
Für Jung ist Ego das Resultat einer Ansammlung persönlicher Erfahrungen, und er spricht von ihm als Zentrum des Bewusstseins. Bei den Jungianern ist es ein gewisses Anliegen, dass das Ego stark sei, aber da es durch die Inhalte des Unbewusstseins befallen werden kann, ergibt sich Ego-Inflation; das heißt die Jungianer befassen sich nicht mit der Welt-Seite des Daseins, sondern mit dessen Seelenseite. Auch befassen sich Analytiker damit, dass Ego sich für das Ganze des Bewusstseins hält; so suchen sie, Ego und Seele miteinander auszubalancieren. Hillman versteht unter Ego denjenigen Seelenkomplex, der sich als wortwörtlich begreift. So wird also in der Jung'schen Tiefenpsychologie Ego weitgehend in Beziehung zu Seele gesetzt; und die Frage der Welt spielt überhaupt nicht mit hinein.
Die Beschränkung in diesem wichtigen Aspekt der Tiefenpsychologie hat damit zu tun, dass der Unterschied zwischen Ego und dem, was im folgenden Kapitel als das Empfinden des Ich auseinandergesetzt wird, nicht erkannt wird. Das Ich hingegen ist nicht dasselbe wie das Ego. Ego ist Ergebnis der Vergangenheit, die Anhäufung von Erfahrung, die empirische Empfindung von sich selbst, welche gern mit dem Körper identifiziert wird. Das Ich ist niemals fixiert, hat mit der Zukunft mehr zu tun als mit der Vergangenheit, ist schöpferisch und frei und umfasst sowohl Individualität als auch Welt. Da die Tiefenpsychologie das Ich nicht erkennt, ist sie nicht in der Lage, in wirkungsvoller Weise von Seele zu Welt beziehungsweise von Welt zu Seele zu gelangen. Das Resultat ist eine enorme Verengung dessen, was Psychologie sein kann, und zwar deswegen, weil ein Element fehlt, das Einzelseele und Weltseele verbindet. Dieses verbindende Element, wie noch erkundet wird, ist das Ich.
Wenn auch Jungs Psychologie in gewisser Weise das Ich wohl anerkennt – dort wird es allerdings „das Selbst“ genannt –, hält sie dieses Selbst für weiter nichts als das Ergebnis der Individuation der Seele, welche sich wiederum aus innerer Arbeit, nicht aus Welt-Arbeit ergibt. Da hier Welt außer Acht gelassen wird, so bewegt sich, mit Jung zusammen, die Auffassung des Ich als Selbst in Richtung östlicher Spiritualität; dies obwohl Jung paradoxerweise den Christus für den Archetyp des Selbst hält. So liegt die Schlussfolgerung an der Hand, dass die Welt Maja sei.
Für die Tiefenpsychologie in ihrer bisherigen Zusammensetzung wird aufgrund der Art, in der von ihr Ego konzipiert wurde, nur einer Zeitdimension Wichtigkeit zugesprochen, nämlich der Vergangenheit. Ebenfalls steht die Auffassung von Seele nur mit der Vergangenheit in Beziehung, sowohl bei Freud als auch bei Jung. Es wird sich noch herausstellen, dass das Ich mit der Zukunft mehr zu tun hat, mehr mit dem, was wir sein können, als mit dem, was wir bisher waren. Wo das, was Jung beschäftigt, zutreffend als teleologisch verstanden wird und nicht im Sinne von Ursachen aus der Vergangenheit, die die Gegenwart und Zukunft beeinflussen, so verläuft doch seine Gerichtetheit aus der Vergangenheit in die Zukunft hinein. Ich begreife Teleologie als von der Zukunft her, statt als in die Zukunft hinein. Ich hoffe aufzuzeigen, dass Forschung in diese Richtung neuartig ist.
Abermals muss ich betonen, dass alle diese wichtigen Fragen gar nicht erst aufkommen könnten, wäre die Tiefenpsychologie nicht erst entwickelt worden. Worum ich mich bemühe ist also, die Grenzen der Disziplin zu erweitern und Hinweise für eine Neuorientierung der Forschung zu geben; mein Ziel ist es nicht, zu suggerieren, dass Tiefenpsychologie falsch wäre, sondern nur dass sie nicht etwas ist, was als Technik eingesetzt werden dürfte, weil sie nicht fertig ist. Ferner liegt es im Wesen der Tiefenpsychologie selbst, dass sie unvollendet bleibt. Sich an der Arbeit der Seele zu beteiligen heißt forschend tätig zu werden, etwas, wozu sich jeder aufgefordert fühlen möge und zu welchem jeder freien Zugang hat.
Seele und Leib
Ich muss auf den Punkt hinsichtlich der Beschränkung weiter insistieren, denn solches Insistieren ist eine Suchbewegung. Wonach ich in der Tiefenpsychologie beharrlich suche, ist die Sorge ihrerseits um die Welt. So ist der erste Teil dieses Kapitels ein Erkunden des Raumes meiner Disziplin, das Suchen nach einer Tür oder einem Fenster, um in die Außenwelt hineinzugelangen. Vielleicht ist diese Öffnung in der Art und Weise zu finden, in der die Tiefenpsychologie mit dem Körper umgeht; werden wir doch im Alltag durch unseren Körper in der Welt geortet. Wir beginnen noch einmal mit der Gründerfigur: Wie stellt sich Freud das Verhältnis zwischen Seele und Körper vor? In einer Weise ist für Freud Seele das Gleiche wie Körper zwar, allein er hält sich an einer hochmechanischen Auffassung von Körper, was ihn immer dazu veranlasst, von Psyche oder Seele als von einem Apparat zu reden. In Die Traumdeutung zum Beispiel wird von Psyche und Körper so gesprochen:
"All unsere psychische Tätigkeit geht von (inneren oder äußeren) Reizen aus und endigt in Innervationen. Somit schreiben wir dem Apparat ein sensibles und ein motorisches Ende zu; an dem sensiblen Ende befindet sich ein System, welches die Wahrnehmungen empfängt, am motorischen Ende ein anderes, welches die Schleusen der Motilität eröffnet. Der psychische Vorgang verläuft im Allgemeinen vom Wahrnehmungsende zum Motilitätsende.
Das ist aber nur die Erfüllung der uns längst vertrauten Forderung, der psychische Apparat müsse gebaut sein wie ein Reflexapparat. Der Reflexvorgang bleibt das Vorbild auch aller psychischen Leistung."[4]
Diese ausgesprochen paradoxe Aussage führt zu einer Schlussfolgerung, der nicht zu entkommen ist: Dass nämlich für Freud Körper keine Seele hat, dass nicht einmal Seele mit Seele ausgestattet ist. Bedeutet dies etwa, dass alles Welt ist? Kaum. Es bedeutet – leider! –, dass alles Mechanismus, Mechanik ist; wir alle sind Automaten und “Körper” und “Seele” lediglich zwei Wörter, die für “Reflexprozessen” einspringen. Freud ist zwar immer in seiner Funktion als Therapeut und Beobachter ein wunderbarer Tiefenpsychologe. Sowie er aber über seine Beobachtungen nachzudenken beginnt, ist er an der mechanistischen Wissenschaft des 19. Jahrhunderts vollkommen gebunden.
Bei manchen Tiefenpsychologen müssen wir mehr darauf sehen, wie sie in der Praxis arbeiten, um Seele und Körper zu einander in Beziehung zu bringen, als darauf, was sie zu dieser Beziehung zu sagen haben, weil überall – sogar in der Psychologie – die Bedeutung von Körper von der Biologie und der Medizin beherrscht wird. Dass es eine solche Beziehung gibt, steht außer Frage; Körper aber wird mehr oder weniger als Zwischenbereich verstanden, der weder zur Welt noch zur Seele gehört. Ein analytischer Psychologe etwa bringt Magengeschwüre mit seelischen Prozessen in Beziehung. Eine typische Deutung mag als die gelten, die besagt, dass ein Magengeschwür Ausdruck ist eines unterbewussten Verlangens danach, gefüttert zu werden, ein Verlangen danach, in einer unbewussten Regression in die Oralphase der Entwicklung gehätschelt und getätschelt zu werden. Der Magen reagiert auf den unbewussten Wunsch, gefüttert zu werden, indem er sich so verhält, als wenn er selbst zu verdauende Nahrung sei und so sich selbst zu verdauen beginnt, was dann zum Geschwür führt.
Diese Art der Interpretation erzählt uns höchstwahrscheinlich mehr vom reichen Phantasieleben des Interpreten als vom Menschen, der am Geschwür leidet. Zwar setzt die Interpretation in der Tat voraus, dass Körper Seele ist; die Basis für eine solche Annahme wird aber weder untersucht noch beschrieben. Außerdem reiht die Deutung eine Menge unbegründeter Annahmen aneinander – von unbewussten Wünschen, Regression, der im Unterbewussten verharrenden oralen Entwicklungsphase, von denen alle irgendwie in oder an dem Körper wirken.
Auch Frage nach der Art, inwieweit Träume Körperprozesse symbolisieren mögen, zieht weit verbreitetes Interesse auf sich. In Marc I. Baraschs The Healing Path: A Soul Approach to Illness zum Beispiel wird eine Aussage der Jung'schen Psychologin Meredith Sabini angeführt, wonach in Träumen der Zustand des Körpers durch den Zustand eines Gegenstandes, wie etwa eines Hauses oder eines Autos, symbolisiert wird. So sind die Scheinwerfer eines Autos wie die Augen, die vier Reifen wie die vier Gliedmaßen, das elektrische System wie das Nervensystem, und die Schläuche haben mit dem Blutkreislauf zu tun. Auch hier haben wir eine leider außerordentlich reduktionistische Auffassung des Körpers, was mehr als alles Andere den Mangel an Verständnis dieser Psychologin für den Körper reflektiert. Das Ineinanderweben von Seele und Körper, welches später besprochen wird, wird in ganz anderer Weise erschlossen, haben wir einmal eine Anschauung der Weltseele zur Hand. Die Beschränkung der Tiefenpsychologie auf diesem Gebiet entstammt einer Vorstellungsweise des Körpers als Entität statt als Tätigkeit, als Materie statt als Metamorphose von Seele in Stoff.
Apocalypse Now
Um auf die zu Beginn dieses Kapitels gemachte Beobachtung zurückzugreifen, muss ich fragen: Was könnte gerade jetzt in der Welt überhaupt vor sich gehen, was das Bedürfnis zeitigt, Fragen nach Seele nachzugehen? Als Erstes hatte ich vermutet, dass die Furcht eine große Rolle spielt. Alle, die in der gegenwärtigen Zeit leben, fühlen, dass alles zusammenbricht. Wenden sich die Menschen der Sorge um die Seele als letztes sich-Vorbereiten zu? Ich hege den Verdacht, dass die Furcht zwar Teil der Antwort ist, aber nur der alleroberflächliste Teil. Sorgen um die Seele tauchen in Krisenzeiten der äußeren Welt ebenso auf, wie wenn eine Einzelperson leidet. Der tiefere Aspekt erscheint aber nur, wenn die Frage weiterverfolgt wird: Es gibt allerdings eine Krise; aber warum sich an Seele wenden und nicht an die Wissenschaft, Technologie, die Führenden im Wirtschaftsleben und im Staatswesen – an etwas, was funktioniert! Das Problem ist ja, dass es eben nichts mehr gibt, was funktioniert. Und dass, wenn sich der Seele zugewendet wird nur um etwas wieder in Ordnung zu bringen, die Enttäuschung eine große sein wird.
Es ist meine Vermutung, dass die kommende Zeit nicht das Ende der Welt ist, sondern der Anbruch der weiblichen Welt. Seele wurde schon immer, zu allen Zeiten und an allen Orten, als weiblich empfunden. Ein erheblicher Aspekt des aktuellen Interesses an Seele ist, dass sie das Interesse für die Göttin koordiniert und mit ihm zusammenwirkt. Dieses Buch hat als ein zentrales Anliegen Sophia, Weisheit, Weltseele. Rudolf Steiner, der die Inspiration für dieses Buch ist, sagte im Jahr 1911 von den künftigen Zeiten:
"Wir müssen mit der Wurzel aus der Seele ausrotten Furcht und Grauen vor dem, was aus der Zukunft herandringt an den Menschen… Mit absolutem Gleichmut entgegensehen dem, was da kommen mag und nur denken: Was auch kommen mag, dass es durch die weisheitsvolle Weltenführung uns zukommt."
Das Wort „Weisheit“ bezieht sich auf die Weisheit, die Sophia, als die Sophia der Apokalypse:
"Und es zeigte sich dem schauenden Blick ein erhabengroßes Bild im Geistgebiet: ein Weib, mit der Sonne bekleidet, den Mond unter ihren Füßen, das Haupt mit der Krone der zwölf Sterne gekrönt. Und sie war schwanger und schrie in den Wehen und Schmerzen des Gebärens" (Offenb. 12: 1, 2).
Furcht ist in der Tat anwesend, aber auch das sich-Nähern von der Sophia. Sophia ist mehr als eine Göttin-Figur, ein Archetyp, eine bildhafte Gegenwart, das in Verbindung mit Frauen vorgestellte Weibliche. Spätere Kapitel werden einiges von dem darlegen, worum es bei ihr eigentlich geht, sowie auch von ihrer Weltbedeutung – ja von ihrer Bedeutung als Welt. Ich habe stark den Eindruck, dass die gefühlsmäßige Dringlichkeit, die sich hervortut, eine Vorbereitung auf eine sophianische Welt ist. Diese Vorbereitung hat es schon zweimal gegeben; jeweils mit tragischem Ausgang.
Die Verbindung der Apokalypse mit der Zahl 666 ist wohlbekannt. Trevor Ravenscroft und T. Wallace-Murphy verfolgen in ihrem Buch The Mark of the Beast die Weltgeschichte dieser Zahl, aufgrund der Forschung Rudolf Steiners. Das Jahr 666 unserer Zeitrechnung war das Gründungsjahr der Akademie von Gundishapur in Persien. Diese Akademie kam als Folge der Schließung der berühmten griechischen Akademien – allen voran die Philosophieschulen – durch Kaiser Justinian zustande, der alles vorchristliche Wissen wegfegen wollte. Die verbannten griechischen Philosophen zogen nach Persien, wo eine neue Akademie errichtet wurde. Im Laufe einiger Jahre wurde die Arbeitsrichtung dieser Akademie verändert. Ihr Anliegen war nicht mehr das, was man heute ein Anliegen von Seele und Welt nennen könnte, sondern es ging ihr nunmehr um die ersten Grundlagen für die Entwicklung der materialistischen Wissenschaft. Hier war es zum Beispiel, wo die Heilkunst – die bis dahin den Leib als Seelensubstanz begriff – anfing, in eine eher technische Medizin des menschlichen Organismus verwandelt zu werden. Hier war es auch, wo Erkenntnis der physischen Welt sich von einer als nach der Seele der Welt gerichteten zu einer nach materialistischer Physik gerichteten änderte. Das erste Auftreten von Sophia wurde vereitelt, was uns Wissenschaft gab, statt einer Einheit von Wissenschaft, Kunst und Religion.
Zweimal 666 sind 1332. Im Jahr 1332 wurde ein zweites Kommen der Sophia vereitelt. In diesem Jahr war es, dass Philip der Schöne den Sturz der Tempelritter herbeiführte. Dieser Orden widmete sich der Sophia. Die Arbeit der Tempelritter war außergewöhnlich, und wird in einem späteren Kapitel ausführlicher behandelt. Sie erfanden das Kreditsystem und verdienten dabei große Mengen von Geld, indem sie für wohlhabende Reisende Bargeld aufbewahrten, damit sie nicht riskierten, es auf der Pilgerfahrt an Banditen zu verlieren. Wenn die Reisenden einmal ihr Ziel erreichten, konnten sie ihr Geld am Zielort abheben. Es war der Anbeginn des modernen Bankwesens.
Wohl am bemerkenswertesten an den Tempelrittern ist, dass sie ihre Gewinne nie für sich beanspruchten. Sie verwendeten diese Gewinne vielmehr, um Dinge in der Welt zu machen, die seelischer Art sind – Kathedrale, Krankenhäuser, Wohlfahrtsinstitutionen, öffentliche Kunst. Der Gedanke war, in der Welt der gebauten Dinge Seele zum Ausdruck zu bringen – Gegenstände als Bild. Philip der Schöne wollte an das im Besitz der Tempelritter befindliche Geld heran, daher beschuldigte er sie der Ketzerei. Die Ritter wurden gemartert, zu falschen Geständnissen gezwungen und getötet. Wieder kam Sophia nicht zum Ausdruck als Seele in der Welt. Stattdessen wurde diese Übernahme durch Philip der eigentliche Beginn der Wirtschaft zum Profitgewinn statt zum Machen von Seele in der Welt, und jetzt haben wir eine Welt, die dominiert wird von der Auffassung von Geld als Profit.
Dreimal 666 sind 1998. Könnte dieses Jahr nicht erneut die mögliche Entwicklung einer sophianischen Welt signalisieren, zusammen mit der Krise in ihrer Entfaltung? Tiefenpsychologie gewinnt eine andere Dimension, wenn man sie von der geschichtlichen Perspektive dieser apokalyptischen Zahl betrachtet. Die Tiefenpsychologie hat eine Anschauung und Fähigkeiten entwickelt, die nötig sind, um Weltbilder zu wechseln, das Vorstellungsleben zu sensibilisieren, die potentielle Einheit von Wissenschaft, Kunst und Religion zu erwecken und, am allerwichtigsten, das Hauptaugenmerk auf dem Einzelmenschen statt auf einem System gerichtet zu halten. Dennoch ist die Tiefenpsychologie, wie sie bisher existiert, als nicht mehr als eine Vorbereitung anzusehen.
Diese Bewegung hat, was das Bringen dieser Fähigkeiten in die weitere Welt anbelangt, noch nicht einmal begonnen. Die Gefahr liegt darin, die Vorbereitung mit dem Endergebnis zu verwechseln. Die Form, die diese Gefahr ohne Weiteres annehmen könnte, wäre die, Seele als Selbstzweck anstatt um der Welt Willen zu gebrauchen. Sollte das eintreten, so würde die Furcht vor der Welt zunehmen, was dazu führen würde, dass die Apokalypse im wortwörtlichen Sinn genommen wird. Wenn Seele, Bild, Einheit und Ganzheit sich nur auf die individuelle Seele und nicht auf die ganze Welt beziehen, dann sind wir alle, was die äußere Welt angeht, Fundamentalisten. Solange Seele-Entwicklung nur hinsichtlich der Menschen und nicht der Welt vorschreitet, solange ist es eben diese Entwicklung, die zu gleicher Zeit Furcht vor der Apokalypse erzeugt. Der Kontrast zwischen dem, was man in innerer Weise erfährt und was man in der Welt findet, wird noch ärger und vom inneren Leben noch abgetrennter.
Wenn aus der ersten Möglichkeit einer sophianischen Welt sich die Grundlegung der materialistischen Wissenschaft statt der Entwicklung von Erkenntnis durch die Seele ergab, und aus der zweiten Möglichkeit die Wirtschaft aus Eigeninteresse statt für die Errichtung einer Welt von Seele, was dürfte das Ergebnis sein, wenn die dritte Möglichkeit nicht fruchtet? Stellen wir uns alle die Menschen, die in der Sphäre von Seele arbeiten, so vor, als wären sie Mitglieder einer Akademie wie Gundishapur oder einer Gruppe von Welt-Seele-Machern wie die Tempelritter. Diese Akademie bzw. Gruppe ist kein Unternehmen mehr, das an einem spezifischen Ort seinen Sitz hat; die Mitglieder sind verstreut und ihre Verbindungen unsichtbar. Dafür sind sie aber nicht weniger reell.
Wir könnten diesen Vorstellungsweg sogar fortsetzen mit der Andeutung, dass die Menschen, die heute der Arbeit mit Seele verpflichtet sind, auch in jenen früheren Zeiten und Orten zusammen waren. Jetzt sind wir in der Welt weiter verbreitet. Das Fühlen solcher unsichtbaren Bände dürfte heute die allerwichtigste Arbeit sein, die es in der Gegenwart zu leisten gibt. Alle die Bücher, die sich mit dem Thema Seele befassen und jetzt eine größere Leserschaft erreichen, dürfen als ein in die Welt hineingetaner Ruf aufgefasst werden, um die Menschen zu finden, die dieser unsichtbaren Gemeinschaft angehören. Auch ein solcher Ruf wäre ein Hinweis darauf, dass eine Krise bevorsteht, dass es schon wieder durchaus möglich ist, dass Sophia verleugnet wird.
Eine diesmalige Verleugnung wird das Erschaffen einer neuen Welt zur Folge haben, ebenso wie die zwei früheren Verleugnungen die Materielle Wissenschaft ohne Seele und die Wirtschaft ohne Imagination ergaben. Dieses Mal wird die neue Welt eine virtuelle Realität sein, die weit über das gegenwärtig Mögliche hinausgeht. Virtuelle Realität ist eine Nachahmung von Seele in der Welt; wie in einem späteren Kapitel erklärt wird, imitiert die virtuelle Realität die Phantasie, Traum, Kreativität, Innerlichkeit, dies jedoch indem sich gegen die Welt gewandt wird. Eigentlich lässt virtuelle Realität die Welt völlig unwichtig erscheinen, wird von sich selbst süchtig gemacht, indem sie Seele zu Entertainment macht, und lässt die Welt vollkommen der Ausbeutung ausgeliefert.
Die mögliche Einheit von Wissenschaft, Kunst und Religion, die von zentraler Bedeutung auch für den Impuls der Tiefenpsychologie ist, ist ebenfalls gefährdet. Dem ersten Aspekt dieser Einheit wurde geschadet, als sich Wissenschaft von der Seele der Welt abwandte. Jetzt gibt es aber auch Anzeichen davon, dass Wissenschaft und Medizin wieder Seele zu ihrem Anliegen machen. Dem zweiten Aspekt dieser Einheit wurden Schäden zugefügt, als die Kunst, in der Welt Dinge herzustellen und die Seele zum Ausdruck zu bringen, sich stattdessen dem Profitgewinn zuwandte. Es gibt viele Hinweise darauf, dass eine von wirtschaftlichen Belangen dominierte Welt jetzt am Zusammenbrechen ist. Es könnten neue Auffassungen von der Wirtschaft als Pflege der Welt erstehen. Dem dritten Aspekt dieser Einheit würden Schäden zugefügt, indem die innere Welt des Individuums für den einzigen Tempel der Seele gehalten würde. Ob wir die Aufgabe einer wahren Vorstellung der Welt aufgreifen können oder nicht, hängt davon ab, ob es möglich sein wird, auf der Vorbereitungsgrundlage der Tiefenpsychologie mit der Arbeit des Parteiergreifens für die Welt beginnen zu können.
Vom Egoismus zur Individualität
Wenn man die ungeheuren Beiträge liest, die Rudolf Steiner zum Verstehen des Wesens vom Bösen geleistet hat und daran arbeitet, sie aufzunehmen, so mag einem eine Dimension seiner Auseinandersetzungen auffallen, die sehr viel meditiert werden muss. „Die Quelle alles menschlichen Bösen“, sagt er, „ist der Egoismus.“ Folgendes äußert er zum Verhältnis zwischen dem Bösen und dem Egoismus:
* * *
Der Egoismus ist weit mehr als bloße Selbstsucht. Wir müssen einen tieferen Blick tun und nach dem Prozess fragen, das mit der Selbstsucht zu tun hat: welcher seelische und geistige Vorgang spielt damit hinein? Dem Anschein nach tun wir bloß so, als wäre sie etwas, was zum Wesen des Menschen dazugehörte und dem es entgegenzuarbeiten gälte. Aber gegen unsere Neigungen zur Selbstsucht anzuarbeiten wird nichts bringen, wenn wir nicht tiefer hineinzublicken vermögen in das, was sie in geistig/psychologischer Hinsicht herbeiführt. Egoismus hat damit zu tun, dass wir uns selbst in unserem streng irdischen Aspekt (das heißt als Wesen der Welt) Kapazitäten zuschreiben, die eigentlich in den spirituellen Dimensionen der Welt urständen und mit dieser zusammengehören. Jede Macht zum Beispiel, die ich zu haben scheine, ist nicht eigentlich die meinige. Und wenn ich an dieser Macht so festhalte, als wäre sie meine, so ist dies eine Form von Egoismus. Macht als solche gehört den geistigen Welten an. Wenn wir Macht erleben, so kommt sie uns aus den geistigen Welten zu und nicht von uns selbst. Egoismus ist ein Vorgang, der darin besteht, dass wir die Weltseele in eine Art Zentrum konsolidieren, von der wir als „ich”, als „mir” sprechen. Egoismus ist eigentlich ein Zeichen seelischer Kraft. So verstanden geht es beim Egoismus darum, dass wir aus den geistigen Welten Kapazitäten empfangen, die von der seelischen Dimension der Welt nicht separat sind, und dass wir an ihnen so festhalten, als wären sie unser Eigentum.
Es ist äußerst wichtig einzusehen, dass wir uns hier mit dem Egoismus ganz urteilsfrei auseinandersetzen. Den Egoismus beurteile ich an dieser Stelle nicht, sondern ich bemühe mich lediglich darum, ihn in seinem Funktionieren zu beschreiben. Und wenn Steiner sagt, dass Egoismus der Ursprung des Bösen sei, so meint er nicht, wir müssten dem Bösen fliehen, oder gar dass das Böse etwas Schlimmes sei. An seiner Stelle ist das Böse äußerst wichtig und notwendig. Der Gegenwart von Böse kann in rechter Weise begegnet werden, indem die Kapazitäten der Liebe zur Entfaltung gebracht werden. Dem Bösen entgegenzuwirken, indem versucht wird, es auszumerzen, erfordert selbst die Kräfte des Bösen. Mit anderen Worten: Wenn wir uns darum bemühen, das Böse zu vernichten statt dessen Gegenwart auszubalancieren, so verstärken wir dessen Anwesenheit in der Welt. Das Böse ist dazu da, damit wir die Kräfte der Liebe entwickeln können.
Immer wenn wir sagen, denken, handeln oder fühlen aus der Empfindung heraus: “ich bin dieses oder jenes” bzw. “ich habe dieses oder jenes,” stecken wir im Egoismus drinnen. Es wurde irgendeine seelische Eigenschaft gefangengenommen, was uns dazu bringt, das Gefühl zu haben, wir seien reell, von allem Anderen separat. Beim Egoismus handelt es sich darum, dass wir uns so fühlen, als gehörten wir zu uns selbst. Und es ist eigentlich eine Illusion, dass wir zu uns selbst gehören. Egoismus ist die Illusion, dass wir uns selbst gehören.
Die Stelle, wo man zur seelischen und geistigen Arbeit den Hebel ansetzen muss, ist die Schwierigkeit beim Egoismus, von uns selbst zu geben. Das ist der Weg durch den Egoismus hindurch. Er muss aber in nicht-egoistischer Weise gegangen werden. Ein erstaunliches Paradoxon. Wir müssen egoistisch sein, um den Versuch zu machen, Dinge in nicht-egoistischer Weise zu tun. Was ist der Weg aus diesem Paradoxon heraus? Der einzige Weg, hier durchzukommen: überhaupt sich dessen bewusst zu sein, dass man egoistisch ist. Der Weg durch diese Schwierigkeit hindurch ist das Bewusstsein. Wir kommen nicht durch, wenn wir versuchen, uns in direkter Weise unegoistisch zu verhalten. Die Vorstellung “ich will nicht egoistisch sein” ist hoch egoistisch. Haben wir einmal unseren eigenen Egoismus erst erkannt, so lässt sich Liebe als Ausgleich entfalten.
Egoismus ist nichts Schlimmes. Er ist sogar unvermeidbar und unumgänglich. Um zu verstehen, wie er funktioniert, muss ein Unterschied erfahren werden, nämlich der Unterschied zwischen dem Ego und dem Ich. In spirituellen Kreisen besteht eine starke Tendenz, zwischen einem “niederen Ich” und einem “höheren Ich” bzw. zwischen dem kleinen Selbst und dem großen Selbst, oder dem “niederen Ego” und dem “höheren Ego” zu unterscheiden. In dieser Weise zu unterscheiden bringt die Vorstellung und die Empfindung mit sich, dass das Höhere das Bessere sei und dass wir gut daran tun, das Niedrigere loszuwerden und den Weg zum Höheren zu finden. Diese Unterscheidung stammt in erster Linie aus der Sprache der Philosophie des New-Age; sie tritt aber überall dort auf, wo die Auffassung herrscht, dass um geistig zu sein wir das Ego abschaffen müssen. Um nicht in diese Art von Trennung hineinzufallen, die meistens zu einer Art Grundlosigkeit führt und – noch wichtiger – um phänomenologisch korrekt zu sein, ist die Einsicht wichtig, dass “Ich” und “Ego” eins und dasselbe sind. Beide drücken die Individualität unseres spirituellen Seins aus. Das “Ich” ist das geistige “Du” – da es jeden Augenblick im Prozess des ins-Dasein-Tretens aus den geistigen Welten begriffen ist. Das Ego ist einfach die andere Seite des “Ich”. Es besteht in den Ich-Erfahrungen, die wir haben und die dann als Ansammlungen aufgefasst werden. Das Ego ist die Ich-Erfahrungen, indem sie in die Vergangenheit zurücktreten und zu einer Art Filter werden, durch die wir die Welt und andere Menschen in gewohnheitsmäßiger Weise erleben. Dieses Verständnis wird uns helfen, uns auf das Bild wahrer Individualität, als der zentralen Handlung des Liebens, einzulassen, und zwar einer Art des Liebens, die die Gegenwart der Welt im Mittelpunkt behält. Die Erkundung der Individualität ist Gegenstand des nächsten Kapitels.
[1] Sigmund Freud: "Die Zukunft einer Illusion", 1927, K. 3
[2] Sigmund Freud: "Das Unbehagen in der Kultur", 1930, K. 2
[3] Sigmund Freud: "Jenseits des Lustprinzips", 1920, K. 4
[4] Sigmund Freud: "Die Traumdeutung", 1900, K. 7, Teil B.
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Das Feld der Tiefenpsychologie, an die hundert Jahre alt inzwischen, scheint mehr und mehr in die öffentliche Phantasie Einzug zu halten. Der Wert dieses Interesses für Seele ist enorm. Die Menschen sagen damit effektiv, dass sie einen tiefen Drang spüren, die Arbeit an und mit der Seele zu einem zentralen Aspekt ihres Alltagslebens zu machen, dass sie es nicht dabei bewenden lassen wollen, diesen Bereich den professionellen Psychotherapeuten zu überlassen, und dass sie es nicht dulden werden, in einer der Seelenqualitäten entleerten Welt zu leben.
Seele-Machen als Forschung
Seele ist ein enorm potentes Wort. Es vermag allerlei Interessen magnetartig anzuziehen; diese Interessen stehen aber in einer nur flüchtigen Beziehung zur sorgfältigen Art, in der die Disziplin der Tiefenpsychologie Seele und ihr Reich über die Jahre entwickelt hat. Bei manchen Menschen zieht Seele ein Interesse für religiöse Angelegenheiten an, die aber ignoriert wurden wegen des vorgestellten Verhältnisses der Seele zur institutionalisierten Religion und zur dogmatischen Autorität. Und für andere zieht sie das Interesse für ein Reich des Mysteriums an, für Dinge, die unerklärbar scheinen, die aber dennoch als Lebenswichtig empfunden werden. Für noch andere zieht Seele die Aussicht auf eine entweder physische oder einer psychische Heilung an.
Die Pioniere der Tiefenpsychologie waren sich dieser Faktoren mit Sicherheit bewusst, hielten aber nicht nur die religiöse und künstlerische Dimension für extrem wichtig, sondern auch eine zusätzliche: die Wissenschaft. Tiefenpsychologie hat unter anderem als Kernanliegen eine den Verhältnissen der Gegenwart angemessene Zusammenführung der uralten Einheit von Religion, Kunst und Wissenschaft. Das Heilen wurde von diesen Pionieren zwar als Nebenprodukt des Eingehens dieser Einheit aufgefasst, nicht aber als deren Raison d’Être. Die Urheber und Entwickler der Tiefenpsychologie waren zuallererst Forscher der Seele. Sie wussten, dass sie Forscher sein müssen, weil es im Wesen der Sache liegt, dass ständig Irritationen, Verwirrung, Missverständnis erzeugt werden, welche nur dadurch abzuwenden sind, dass beständige Wachsamkeit der Beobachtung ausgebildet wird.
Wenn es irgend einen Beitrag gibt, den ich zur Erweiterung der jetzt in Gang befindlichen Seelenarbeit machen kann, indem diese von den Berufspraktikern einige Unabhängigkeit gewinnt, so hoffe ich, dass ein solcher Beitrag nicht so sehr im Finden von Anwendungsweisen der Einsichten der Tiefenpsychologie besteht, als im Fördern des Interesses dafür, dass in möglichst breiter und tiefer Weise jeder ein Forscher der Seele wird. Das Forschen muss allerdings neu konzipiert werden, aus der im technologischen Sinne geführten, auf Hypothese, Theorie und Prüfung basierten Labor-Experimentieren entfernt und viel mehr als Lebensarbeit vorgestellt werden.
Die Forschung erfasst auch die Sichtweitung auf Gebiete, über die bisher noch nicht gedacht wurde; ferner und am allerbedeutendsten: sie hat nicht nur mit dem Aufdecken und der Entdeckung des schon Existenten zu tun, sondern sie geht zum Teil mit dem Erschaffen dessen einher, was entdeckt wird. Dieser Aspekt des Forschens ist für das Reich der Seele besonders charakteristisch. Hier befassen wir uns weder mit der Welt der toten Gegenstände, noch mit der Pflanzen- oder Tierwelt, wo mit den Dingen umgegangen werden kann, als wenn sie nach Naturgesetzen festgelegt wären (obwohl sie in Wahrheit das nicht sind). In der eindeutig menschlichen Welt ist vielmehr der Schöpfungsaspekt absolut nicht zu umgehen. Das heißt, Seelenforschung ist auch Seele-Machen.
Häufig beginnt Forschung damit, dass die Grenzen früherer Arbeit auf dem einen oder dem anderen Gebiet festgestellt werden. Solches Feststellen hat gewöhnlich nicht als Ziel, bisher Geleistetes zu diskreditieren, sondern lediglich Erkenntnis auf neue Gebiete auszuweiten, was oft zur Notwendigkeit einer Neukonzipierung des bisher Entwickelten führt. Solange Grenzen unbemerkt bleiben, werden nicht nur neue Bereiche nicht erschlossen, sondern es wird weiterhin auch ein bloßer Teil des Ganzen für dieses Ganze gehalten.
Das Interesse daran, die Tiefenpsychologie aus dem Praxisraum herauszunehmen und in die Welt hinein, offenbart zwei spannende Beschränkungen der Branche, wie sie bisher ausgeübt wurde. Zum Einen verfügen die Menschen über eine weit größere Kapazität, sich um das Leben der eigenen Seele zu sorgen, als die Begründer der Tiefenpsychologie sich ausmalten – was darauf zurückzuführen ist, dass deren Arbeit an der Ausbildung der Tiefenpsychologie solche Menschen im Blick hatte, die unvermögend waren, selbst sich um das Leben der eigenen Seele zu sorgen. Zum Anderen und noch wichtiger: Tiefenpsychologie hat die Notwendigkeit – auf die hin nun die Menschen handeln, die das Interesse in Seele in die Welt hinaus verlegen wollen – übersehen, sich die Welt selbst als mit Seele begabt vorzustellen. Weitere Forschung erfordert also das Vermögen, die Welt sorgsam zu beobachten, um zu erkennen, wie es kommt, dass das so ist und ferner um möglichst präzise das Verhältnis zwischen Einzelseele und Weltseele zu verstehen.
Wo es völlig der Wahrheit entspricht, dass diejenigen, die an Seele-Arbeit interessiert sind, nicht gerade nach Erfahrungen von Seele in der Außenwelt schreien (mehr oder weniger im Gefühl, dass Seelenarbeit primär dem persönlichen Wohl dient), so meine ich nichtsdestoweniger, dass dieser auf das eigene Vorteil fixierte Blick daher rührt, dass der schon ausgebildete Teil der Seelenforschung eben für das Ganze gehalten wird. Hätte die Welt aber keine – zunehmend als fehlend empfundenen – seelischen Eigenschaften, so würden wir uns damit völlig begnügen, dass die Psychologie sich weiterhin ausschließlich mit Menschen befasst, die wegen psychischer Leiden in der Welt nicht zurechtkommen. Die Menschen aber, die die ganzen Bücher lesen und die ganzen Tagungen besuchen und die Schulung der eigenen Seele aufnehmen – die sind entschieden gesund. Sagen sie nicht damit aus, dass der Faktor der Seele rapide aus der Welt entschwindet, und bekundet diese Aussage nicht zugleich die Anerkennung, dass Seele in irgendeiner Form früher da gewesen sein muss?
Die bei der Begründung der Tiefenpsychologie mit gesetzte Grenze lässt sich als ganz absichtliches und bewusstes sich-Abwenden von der Welt bezeichnen. Es gibt zwei Stellen, an denen Sigmund Freud die Welt als Problem für die Psychologie direkt anspricht. In "Die Zukunft einer Illusion" erklärt er:
"Es ist ja die Hauptaufgabe der Kultur, ihr eigentlicher Daseinsgrund, uns gegen die Natur zu verteidigen... Da sind die Elemente, die jedem menschlichen Zwang zu spotten scheinen, die Erde, die bebt, zerreißt, alles Menschliche und Menschenwerk begräbt, das Wasser, das im Aufruhr alles überflutet und ersäuft, der Sturm, der es wegbläst, da sind die Krankheiten, die wir erst seit kurzem als die Angriffe anderer Lebewesen erkennen, endlich das schmerzliche Rätsel des Todes, gegen den bisher kein Kräutlein gefunden wurde und wahrscheinlich keines gefunden werden wird. Mit diesen Gewalten steht die Natur wider uns auf, großartig, grausam, unerbittlich, rückt uns wieder unsere Schwäche und Hilflosigkeit vor Augen, der wir uns durch die Kulturarbeit zu entziehen gedachten.[1]"
Hier wird Psychologie zwar nicht direkt angesprochen, wohl aber finden wir eine vom Begründer der Tiefenpsychologie behauptete, merkwürdige Auffassung der Rolle der Zivilisation vor, sowie ein genauso merkwürdiges Bild der Naturwelt. Er legt nahe, dass die Eigenschaften der Naturwelt mit den Elementen Erde, Wasser, Luft und, statt des Feuers, mit Krankheit und Tod zu tun haben. Die Elemente werden ausschließlich in ihren zerstörerischen Aspekten und überhaupt nicht in ihren schaffenden Eigenschaften beschrieben. In einem späteren Kapitel werden wir auf die Elemente wieder zu sprechen kommen, um zu veranschaulichen, inwieweit sie die primären schöpferischen Elemente der Seele der Welt sind. Auch wird uns später die Naturwelt beschäftigen, zumal als weibliches Wesen, das Sophia, der Weisheit, der Weltseele entspricht.
Freud sieht die Kultur als Abwehr gegen die seelischen Eigenschaften der Welt an. Und während er diese Abwehr völlig unzureichend, ja eine fehlgeschlagene Sache findet, so besteht sein Ansatz zur Unterstützung der Widerstandsfähigkeit gegenüber der Welt in der Arbeit der Psychotherapie an der Ausbildung eines starken Ego-Empfindens. Freud hält es für einen notwendigen Umweg zwecks Bildung eines starken Egos, sich an die Sphäre der Seele zu wenden. So führte Freuds Abwendung von der Welt zur modernen Entdeckung des Seelenlebens, wenn auch in ganz anderer Auffassung der Seele als die in der Tradition des Altertums zu findende, in der Seele und Welt voneinander nie getrennt wurden. Heraklit zum Beispiel setzt der Seele keine Grenzen, in dem er sagt, man könne jede Straße bereisen, ohne je an einem Ort anzukommen, der ohne Seele wäre.
Während in der obigen Aussage es den Anschein hat, als würde Freud Kultur und Natur einander entgegensetzen und als dürfte Psychoanalyse als Abwendung von der Natur begriffen werden, ist es in einer anderen Aussage deutlich, dass er sich vor der ganzen Welt fürchtet:
"Gegen die gefürchtete Außenwelt kann man sich nicht anders als durch irgendeine Art der Abwendung verteidigen, wenn man diese Aufgabe für sich allein lösen will. Es gibt freilich einen anderen und besseren Weg, indem man als ein Mitglied der menschlichen Gemeinschaft mit Hilfe der von der Wissenschaft geleiteten Technik zum Angriff auf die Natur übergeht und sie menschlichem Willen unterwirft. Man arbeitet dann mit allen am Glück aller. Die interessantesten Methoden zur Leidverhütung sind aber die, die den eigenen Organismus zu beeinflussen versuchen. Endlich ist alles Leid nur Empfindung, es besteht nur, insofern wir es verspüren, und wir verspüren es nur infolge gewisser Einrichtungen unseres Organismus."[2]
Freud vertraut der Wissenschaft als hinreichende Abwehr gegen die Welt mehr als der Kultur. Wie wir jedoch in späteren Kapiteln entdecken werden: auch wenn es in der Tat die Wissenschaft gewesen sein mag, durch die die Seele der Welt verdunkelt wurde, so ist es wieder ausgerechnet die Wissenschaft, die uns – allerdings unabsichtlich – zur Möglichkeit führt, sie wiederzuentdecken. Noch wichtiger ist, dass Freud vermeint, die Psychoanalyse könne ein Weg sein nicht das menschliche Leid zu lindern, sondern Schmerzempfindungen zu betäuben. Ist der Angriff der “gefürchteten äußeren Welt” nicht zu fühlen, so sei ihr gestattet, loszuwüten; spielt er doch keine Rolle.
Dem kann aber entgegnet werden, dass der Wert der Tiefenpsychologie gerade in der Hilfe liegt, die sie uns beim Aufdecken der allerbedeutendsten Quellen des Schmerzes gibt, derjenigen nämlich, die den unterdrückten Traumata der Frühen Kindheit entstammen. Ferner kann entgegnet werden, dass durch Therapie eine ganze Menge Schmerz – eine Weile zumindest – neu durchgemacht werden soll, der unter Umständen jahrelang als ungesunde Symptome zum Ausdruck kam. Die interessante, von Freud selbst oben gemachte Andeutung ist, dass es sein könnte – aber keineswegs sein muss –, dass die Auseinandersetzung mit all dem vergangenen Schmerz mit dessen Behebung nichts zu tun hat, sondern lediglich mit dessen Betäubung. Sollte es sich nun herausstellen, dass dies zutrifft, so wären die Auswirkungen eines solchen Verfahrens auf die Welt völlig verheerend. Denn würde man taub gegenüber seelischem Schmerz, so würde man das Leiden in der Welt auch nicht fühlen. Zwar wäre es wohl möglich, das Leiden in der Welt zu betrachten und zu verurteilen, allein man vermöchte nicht mehr das Leid eines Anderen so zu fühlen, als wäre es das eigene.
Wir mögen uns sogar vorstellen können, wie zwecks Linderung des Leidens in der Welt ganze Institutionen und Industrien erstehen; kann man aber den Schmerz des Anderen nicht so empfinden, als wäre er der eigene, so würden diese Institutionen und Industrien zu einem Teil des Problems, da sie ja dazu neigen würden, auf das eigene Fortbestehen als Hilfsbranche zu beharren. In einem späteren Kapitel werde ich erneut mich damit befassen, wie wichtig es ist, in gesunder Weise den Schmerz der Welt und anderer Menschen wie den eigenen zu empfinden, um so festzustellen, ob nur an dem eigenen Schmerz zu arbeiten nicht eigentlich ein Hindernis ist, da es zu bloßer Betäubung führen könnte.
Der potentielle Problemherd der ungesehenen Hindernisse, die mit der Gründung der Psychoanalyse zugleich entstanden, beschränkt sich nicht auf die Psychotherapie. Die Psychologie Jungs, die in diesem Buch zur Stütze viel herangezogen wird, wendet sich von der Welt ab und zum Reich der Archetypen bzw. der archetypischen Imagination hin. In dieser Psychologie sind nicht wir die Leidenden; es wird unser Leiden auf die Krankhaftigkeit der Götter zurückverfolgt und nicht als nur persönliches Leiden gekennzeichnet. Für Jung und seine Anhänger ist das, worauf es ankommt, nicht die Welt, sondern die jeweils ewige Präsenz der Götter und Göttinnen, die gegenwärtig durch die Seele wirken und unser Verhalten bestimmen.
Sämtliche Formen der Psychotherapie leiden ebenfalls unter diesem Gründungsakt der Abwendung von der Welt. In Therapiesitzungen sprechen die Menschen nicht über die Hässlichkeit der Umwelt, die Zerstörung der Regenwälder, die zunehmende Kriminalität, Obdachlosigkeit, Kernwaffen, Terrorismus, Arbeitslosigkeit, die Misere im Bildungswesen, den Verlust der Schönheit in der Welt, den sauren Regen, das Ozonloch, Bosnien, Somalia oder den Nahen Osten – kurz, sie sprechen nicht über das Leiden der Seele der Welt. In der Therapie reden wir von unseren Träumen, Beziehungen, Vätern und Müttern, Depressionen, Ängsten und Verletzungen, archetypischen Gestalten, Mythen und dysfunktionalen Familiensystemen. Ich kann nicht umhin, mich zu fragen, ob hier nicht in der Tat ein bloßes Fragment für das Ganze gehalten wird.
Die Beschränkungen der Tiefenpsychologie zu hinterfragen heißt nicht unbedingt, dass das Gesamtunterfangen in Frage gestellt wird, sondern nur das Fortsetzen der gleichen Form des Unterfangens, ohne neue Bereiche und größere Dimensionen zu erforschen. Bewusstes sich-Aufmerken auf Seele ist eine wahrhaft neue Entwicklung in der Welt. Den Menschen der Vergangenheit war die Pflege der Seele Angelegenheit der Natur und des Instinktes und wurde durch Ritual, Zeremonie, Mysterienstätten, eine Erzähltradition von Geschichten, Mythen und Kunst besorgt. Aber wenn die Pflege der Seele auch natürlich war, so war sie nicht zwingend individuell bewusst, sondern eher instinktives Gruppen- oder Stammesbewusstsein. Inzwischen hat sich das Bewusstsein in die Richtung der Individualität gewandelt, sodass also auch Formen der Sorge um die Seele bewusster und individueller werden mussten. Eine neue Theorie brauchen wir nicht, sondern wir müssen den Niedergang des Elementes von Seele in der Welt durchschauen und eine Art von Seelentätigkeit entwickeln, die diesem Niedergang entgegenwirken kann. Auch müssen wir durchschauen, wie die Sorge um die Seele stets die Gefahr in sich birgt, die Welt zu vernachlässigen. Diese Vernachlässigung, die als Einschränkung anzusehen ist, ist nicht unumgänglich, wenn man einmal ein größeres Bild sehen kann.
Der Wim Wenders-Film Bis zum Ende der Welt bringt vieles von dem, was ich hier sagen möchte, in ein bemerkenswertes Bild. Die Handlung spielt kurz vor dem Jahr 2000. Es hat sich Katastrophisches ereignet: Ein die Erde umkreisender, mit großem atomarem Sprengkopf ausgerüsteter Satellit, Teil eines der Strategic Defense Initiative nicht unähnlichen Systems, hat eine Fehlfunktion und wird die Bombe auf einen nicht zu ermittelnden Ort der Erde abwerfen. Auszuschließen ist nicht, dass bei der Detonation die ganze Erde zugrunde gehen wird. Es muss entschieden werden, ob man versuchen soll, den Satellit abzuschießen, was die Bombe im Weltraum zur Detonation brächte und wobei ebenfalls die Zerstörung der Erde nicht auszuschließen ist. Während all dies vor sich geht, spielt sich ein anderes Ereignis persönlicherer Art ab und wird Hauptfokus des Films.
Ein in Australien lebender Wissenschaftler hat jahrelang an der Erfindung eines technischen Geräts gearbeitet, das seine blinde Ehefrau wieder sehend machen soll. Das Gerät funktioniert dadurch, dass es Fotoaufnahmen der Welt macht, und zwar so, dass es die Gehirneindrücke eines sehenden Menschen aufnimmt, die durch dessen Gesichtswahrnehmungen dem Gehirn mitgeteilt werden, während er etwas in der Welt ansieht. Diese Eindrücke werden dann durch ein weiteres Gerät auf das Gehirn des blinden Menschen übertragen. Das Gerät funktioniert letztlich einwandfrei und die Frau lernt das zu sehen, was ihr Sohn gesehen hat; das heißt, sie sieht die in dessen Gehirn aufgenommenen Geschehnisse. Im Lauf seines Experimentierens macht der Wissenschaftler aber nebenbei eine weitere Entdeckung: die Möglichkeit nämlich, die Nachtträume eines Menschen aufzunehmen und als Video abzuspielen. Als nun die Menschen beginnen, auf dem Videoschirm ihre Träume zu sehen, passiert etwas Außergewöhnliches. Sie werden vom Sehen der eigenen Träume süchtig, allerdings in weit stärkerem und dauerhafterem Maße, als bei jeder Drogensucht vorstellbar wäre. Der Sohn des Wissenschaftlers und dessen Liebhaberin werden komplett süchtig.
Während nun dieses vor sich geht, wird der Satellit abgeschossen. Alle elektrischen Geräte der Erde hören auf zu funktionieren. Es weiß niemand, ob dadurch das Ende der Welt signalisiert wird. Es stellt sich dann aber heraus, dass das weltweite technische Versagen nicht von Dauer war.
Die zwei Hauptbilder des Filmes sagen viel von dem aus, worauf ich hinaus will. Wir haben einerseits ein Bild der Wissenschaft und Technik und andererseits das Bild einer bestimmten Art, sich von der Welt und der seelischen Sphäre abzuwenden. Diese Bilder offenbaren Folgendes. Das Versagen des Satellits zeigt, dass wenn die Wissenschaft in rein technischer Weise und ohne Seele nach außen zur Welt hin gewandt wird, etwas sich als zerstörerisch erweist, was hilfreich und wohltuend aussieht. Wir sollten, denke ich, diesen Teil der Geschichte für ein Bild von Wissenschaft und Technik halten, und können uns das Vorkommen von ähnlich Geartetem in der Medizin, Elektrotechnik, Physik, Ökologie und allen Bereichen der Wissenschaft vorstellen. Es wies zum Beispiel ein medizinischer Bericht des Journal of the National Cancer Institute (2. Juli 1993) darauf hin, dass Kinder, die für eine bestimmte Art von Krebs eine Strahlenbehandlung bekamen, später im Leben mit 800-facher Häufigkeit andere Krebssorten bekommen, als die übrige Bevölkerung. Ein weiteres Beispiel: Das Spritzen von DDT, in den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts ein weit verbreitetes Verfahren, steht mit dem heutigen Vorkommen von Brustkrebs in starker Beziehung. Solche Berichte hört man täglich. Freud wäre wohl enttäuscht, die Ergebnisse des Angriffs von Seiten der Wissenschaft auf die Welt zu erfahren.
Noch interessanter ist das zweite der Bilder aus dem Film: es besagt, dass wenn wir uns von der Welt weg- und nach innen zur Seele hinwenden, das Ergebnis die Sucht ist. Die Menschen, die ihre Träume ansehen, merken nicht, dass sie in Selbstbespiegelung und Egoismus der schlimmsten Sorte verstrickt sind. Seele ist nicht egoistisch; versucht man aber, Seele direkt zu schauen, so birgt der Akt des Schauens den Egoismus in sich. Das Schauen ruft bei den Personen im Film starke Gefühle hervor, die aber illusorisch sind, und weil die Bilder – Szenen aus der Vergangenheit der Schauenden – die Träume zu einem Inhalt machen. In einem späteren Kapitel werden Träume in einer Weise betrachtet, die ihrem Wesen als Tätigkeit statt als Inhalt Rechnung trägt. Solange die Sphäre der Seele für irgendeine Art Inhalt gehalten wird, schauen wir uns eine andere Welt an, glauben aber, dass wir das eigene Mysterium betrachten. Ferner, solange an Seele als an einen Inhalt herangetreten wird – ob der persönlichen Vergangenheit, der Mythe und des Bildes, oder des kollektiven Unbewusstseins – , solange vermag das Leben der Seele nicht den Weg in die Welt zu finden. Dieser Teil des Films behandelt nicht nur das Traumleben: er ist vielmehr eine Metapher, ein Bild der Psychologie, wie diese sich von der Welt abwendet, um sich selbst anzusehen.
Der Film stellt aber auch die Heilung der zwei Süchtigen dar, welche die eigenen Traumbilder nicht anders als persönlicher Natur, als Selbstoffenbarung sehen können. Die Heilung der Wissenschaft allerdings wird nicht dargestellt; es wird uns nur gezeigt, wie uns hier noch eine Chance gegeben wird. Die Konzentration im Film auf die Heilung der inneren Dimension deutet an, dass die Heilung der Wissenschaft von ersterer abhängt. Der Mann und die Frau werden verschieden geheilt. Die Frau hat einen Freund, einen Romanschreiber, der sie innig liebt. Er bringt sie fort und umschließt sie in einem schützenden Raum, in dem sie einen Entzug durchmacht, der erst mit dem Leerwerden der Batterien ihres Videogerätes durchgestanden werden kann. Während dieser Zeit vollendet der Schriftsteller einen seiner Romane, an dem er schreibt, und legt das fertige Manuskript zu ihr in den Schutzraum. Aus Verzweiflung beginnt die Frau den Roman zu lesen, und bis sie zu Ende gelesen hat ist sie geheilt. So müssen wir fragen: was ist hier passiert?
Man könnte denken, dass das Lesen eines Buches auch eine Art ist, sich nach innen zu wenden. Ein Buch ist aber eine andere Form Bilder zu betrachten als die, sich selbst anzuschauen. Es ist eine imaginative Art, die Welt zu sehen. Bilder sind hier nicht etwas, was man bloß betrachtet, sondern etwas, durch das man hindurch schaut. Beim Lesen werden wir tatsächlich aus uns selbst heraus und in die Welt hineingeführt – die Welt so, wie sie wirklich ist und nicht wie wir meinen, dass sie sei – vorausgesetzt allerdings, das Buch ist sorgsam gestaltet. Wenn wir die Welt von der Warte des Alltags wahrnehmen, so ist das, was erscheint, nicht die Welt, sondern unsere Begriffe der Welt; das, von dem uns gesagt wurde, dass sie so sei – von der Wissenschaft, den Schulbüchern, von denen, die uns erzogen haben, von unseren eigenen Erfahrungen. Die Frau wird deswegen geheilt, weil ihr die Phantasie wiederhergestellt wird, und dies wiederum findet deshalb statt, weil durch das imaginative Wort eine Welt dargestellt wurde. Das Wesen des Wortes an sich ist ferner Teil dieser Heilung. Das Wort ist aktiv, bewegt, verbal – wie schon bei der Bezeichnung “das Verb” zu erkennen ist. Das imaginative Wort gibt uns Gleichnisse der Welt, nicht die Aussagen wortwörtlicher Erklärungen. Und hier wird uns ein weiterer Einblick in die möglichen Einschränkungen des sich-Einwärtswendens, von dem die Tiefenpsychologie auch als dem sich-Wenden zur Imagination hin spricht. Beim sich-Wenden nach innen lauern die Möglichkeiten des wortwörtlich-Machens der Imagination – einer wortwörtlichen Auffassung der Vergangenheit, einer wortwörtlichen Auffassung der Mythen, des Bildes, der Geschichten, der Götter.
Die Heilung des Mannes erfolgt anders; dennoch ist es wichtig, beide Heilungen als eine Handlung zu betrachten, bei der die eine Heilung die andere mit einbegreift. Der Mann hat einen Aborigine als engen Freund. Dieser bringt den Mann in die Wildnis hinaus und führt ihn in die Gesellschaft zweier alter Schamanen. Als die Nacht einbricht, legen sich die Schamanen auf die Erde schlafen. Einer der Schamanen liegt dicht zur einen Seite des Süchtigen, der andere dicht zur anderen. Am Morgen ist der Mann geheilt. Noch einmal: was ist passiert?
Diese schamanische Heilung ist in der Tat außergewöhnlich, sie ist nicht das, was man von Schamanen erwartet hätte: kein Ritual, kein Gesang, kein Tanzen, kein Gerassel, sondern einfach nur Schlafen. In einem späteren Kapitel werde ich auf Aspekte des Mysteriums vom Schlaf zu sprechen kommen. Was sich jetzt in direktem Zusammenhang mit dem sagen lässt, was im Film gebracht wird, das ist, dass die illusorische, literalisierte Vorstellung der Traumwelt, die die Sucht des Mannes verursacht, in seinen rechten Kontext zurückgeführt wird: in den Kontext des Schlafes. Die Traumpsychologie hat zu erkennen versäumt, dass der Zusammenhang des Träumens der Schlaf ist. So ist jede Traumbetrachtung, bei der man den Traum direkt angeht, ihn unter die Lupe nimmt, bei der man die Bilder zu entschlüsseln sucht, eine Abstraktion seiner aus seiner naturgegebenen Umwelt, die der Schlaf ist. Und der Schlaf ist die eine Hälfte des Rhythmus, des ganzen aus Schlafen und Wachen bestehenden Rhythmus. Der Schlaf ist erheblich mehr als ein Bewusstloswerden; der Schlaf muss als Welt, als Reich, als Landschaft, als eine bestimmte Art von Zeit und als eine bestimmte Art der Tätigkeit empfunden werden. Hier spielt sich das Träumen ab, und doch ist die Arbeit mit den Träumen so, wie sie gegenwärtig vertrieben wird, ein wenig dem ähnlich, wie wenn man versuchen würde, das Wesen eines Fisches zu bestimmen ohne das Wasser in Betracht zu ziehen. Die Schamanen heilen, indem sie die vom Manne getragenen Bilder in die Nacht zurückempfangen.
Das Erforschen des Ego
Eine zusätzliche, mit der Gründung der Tiefenpsychologie einhergehende Beschränkung, die ein aufeinander-Beziehen von Seele und Welt erschwert, hat mit dem Wesen und der Funktion des Egos zu tun. Der tiefenpsychologische Ansatz Freuds bezüglich des Egos ist gründlich anders, als der von Jung; dennoch vermag es keiner der beiden Ansätze, auf dem Weg über das Ego von der Seele zur Welt zu gelangen. Hier bleibt Freud, der Gründer der Tiefenpsychologie, in seiner Furcht vor der Welt gefangen. Hinsichtlich des Egos erklärt er:
"Dieses Stückchen lebender Substanz schwebt inmitten einer mit den stärksten Energien geladenen Außenwelt und würde von den Reizwirkungen derselben erschlagen werden, wenn es nicht mit einem Reizschutz versehen wäre... [Der Reizschutz] ist mit einem eigenen Energievorrat ausgestattet und muss vor allem bestrebt sein, die besonderen Formen der Energieumsetzung, die in ihm spielen, vor dem gleichmachenden, also zerstörenden Einfluss der übergroßen, draußen arbeitenden Energien zu bewahren."[3]
Für Freud ist das Ego unsere eigene, aus vergangener Erfahrung entwickelte, kleine Konzeption von uns selbst. Das Ego kann Freuds Sichtweise gemäß ohne Weiteres durch die gefürchtete äußere Welt zermalmt werden und hat es nötig, Abwehrmechanismen zu entwickeln, um fortlaufend sich vor dem Einfall von Seiten der Welt zu bewahren. Diese Schutzmechanismen brauchen Energie, und der Quell dieser Energie ist das Unterbewusstsein, insofern es nicht damit schon belegt ist, seine Energie auf das Zurückdrängen vergangener traumatischer Erlebnisse anzuwenden. So bringt uns das Ego nicht in die Welt hinein, sondern hält uns vor ihr zurück – durch Kompensieren, Idealisieren, Projizieren, Regression, Dissoziation, Sublimierung und etwa vierzig weitere Schutzmittel. Gege die Welt muss also – dieser Sichtweise gemäß – diese kleine Konzeption von Selbst ständig ankämpfen, um eine Erfahrung von sich aufrechtzuerhalten. Wir blicken immerzu durch eine Ego-farbene Brille in die Welt hinein. --
Für Jung ist Ego das Resultat einer Ansammlung persönlicher Erfahrungen, und er spricht von ihm als Zentrum des Bewusstseins. Bei den Jungianern ist es ein gewisses Anliegen, dass das Ego stark sei, aber da es durch die Inhalte des Unbewusstseins befallen werden kann, ergibt sich Ego-Inflation; das heißt die Jungianer befassen sich nicht mit der Welt-Seite des Daseins, sondern mit dessen Seelenseite. Auch befassen sich Analytiker damit, dass Ego sich für das Ganze des Bewusstseins hält; so suchen sie, Ego und Seele miteinander auszubalancieren. Hillman versteht unter Ego denjenigen Seelenkomplex, der sich als wortwörtlich begreift. So wird also in der Jung'schen Tiefenpsychologie Ego weitgehend in Beziehung zu Seele gesetzt; und die Frage der Welt spielt überhaupt nicht mit hinein.
Die Beschränkung in diesem wichtigen Aspekt der Tiefenpsychologie hat damit zu tun, dass der Unterschied zwischen Ego und dem, was im folgenden Kapitel als das Empfinden des Ich auseinandergesetzt wird, nicht erkannt wird. Das Ich hingegen ist nicht dasselbe wie das Ego. Ego ist Ergebnis der Vergangenheit, die Anhäufung von Erfahrung, die empirische Empfindung von sich selbst, welche gern mit dem Körper identifiziert wird. Das Ich ist niemals fixiert, hat mit der Zukunft mehr zu tun als mit der Vergangenheit, ist schöpferisch und frei und umfasst sowohl Individualität als auch Welt. Da die Tiefenpsychologie das Ich nicht erkennt, ist sie nicht in der Lage, in wirkungsvoller Weise von Seele zu Welt beziehungsweise von Welt zu Seele zu gelangen. Das Resultat ist eine enorme Verengung dessen, was Psychologie sein kann, und zwar deswegen, weil ein Element fehlt, das Einzelseele und Weltseele verbindet. Dieses verbindende Element, wie noch erkundet wird, ist das Ich.
Wenn auch Jungs Psychologie in gewisser Weise das Ich wohl anerkennt – dort wird es allerdings „das Selbst“ genannt –, hält sie dieses Selbst für weiter nichts als das Ergebnis der Individuation der Seele, welche sich wiederum aus innerer Arbeit, nicht aus Welt-Arbeit ergibt. Da hier Welt außer Acht gelassen wird, so bewegt sich, mit Jung zusammen, die Auffassung des Ich als Selbst in Richtung östlicher Spiritualität; dies obwohl Jung paradoxerweise den Christus für den Archetyp des Selbst hält. So liegt die Schlussfolgerung an der Hand, dass die Welt Maja sei.
Für die Tiefenpsychologie in ihrer bisherigen Zusammensetzung wird aufgrund der Art, in der von ihr Ego konzipiert wurde, nur einer Zeitdimension Wichtigkeit zugesprochen, nämlich der Vergangenheit. Ebenfalls steht die Auffassung von Seele nur mit der Vergangenheit in Beziehung, sowohl bei Freud als auch bei Jung. Es wird sich noch herausstellen, dass das Ich mit der Zukunft mehr zu tun hat, mehr mit dem, was wir sein können, als mit dem, was wir bisher waren. Wo das, was Jung beschäftigt, zutreffend als teleologisch verstanden wird und nicht im Sinne von Ursachen aus der Vergangenheit, die die Gegenwart und Zukunft beeinflussen, so verläuft doch seine Gerichtetheit aus der Vergangenheit in die Zukunft hinein. Ich begreife Teleologie als von der Zukunft her, statt als in die Zukunft hinein. Ich hoffe aufzuzeigen, dass Forschung in diese Richtung neuartig ist.
Abermals muss ich betonen, dass alle diese wichtigen Fragen gar nicht erst aufkommen könnten, wäre die Tiefenpsychologie nicht erst entwickelt worden. Worum ich mich bemühe ist also, die Grenzen der Disziplin zu erweitern und Hinweise für eine Neuorientierung der Forschung zu geben; mein Ziel ist es nicht, zu suggerieren, dass Tiefenpsychologie falsch wäre, sondern nur dass sie nicht etwas ist, was als Technik eingesetzt werden dürfte, weil sie nicht fertig ist. Ferner liegt es im Wesen der Tiefenpsychologie selbst, dass sie unvollendet bleibt. Sich an der Arbeit der Seele zu beteiligen heißt forschend tätig zu werden, etwas, wozu sich jeder aufgefordert fühlen möge und zu welchem jeder freien Zugang hat.
Seele und Leib
Ich muss auf den Punkt hinsichtlich der Beschränkung weiter insistieren, denn solches Insistieren ist eine Suchbewegung. Wonach ich in der Tiefenpsychologie beharrlich suche, ist die Sorge ihrerseits um die Welt. So ist der erste Teil dieses Kapitels ein Erkunden des Raumes meiner Disziplin, das Suchen nach einer Tür oder einem Fenster, um in die Außenwelt hineinzugelangen. Vielleicht ist diese Öffnung in der Art und Weise zu finden, in der die Tiefenpsychologie mit dem Körper umgeht; werden wir doch im Alltag durch unseren Körper in der Welt geortet. Wir beginnen noch einmal mit der Gründerfigur: Wie stellt sich Freud das Verhältnis zwischen Seele und Körper vor? In einer Weise ist für Freud Seele das Gleiche wie Körper zwar, allein er hält sich an einer hochmechanischen Auffassung von Körper, was ihn immer dazu veranlasst, von Psyche oder Seele als von einem Apparat zu reden. In Die Traumdeutung zum Beispiel wird von Psyche und Körper so gesprochen:
"All unsere psychische Tätigkeit geht von (inneren oder äußeren) Reizen aus und endigt in Innervationen. Somit schreiben wir dem Apparat ein sensibles und ein motorisches Ende zu; an dem sensiblen Ende befindet sich ein System, welches die Wahrnehmungen empfängt, am motorischen Ende ein anderes, welches die Schleusen der Motilität eröffnet. Der psychische Vorgang verläuft im Allgemeinen vom Wahrnehmungsende zum Motilitätsende.
Das ist aber nur die Erfüllung der uns längst vertrauten Forderung, der psychische Apparat müsse gebaut sein wie ein Reflexapparat. Der Reflexvorgang bleibt das Vorbild auch aller psychischen Leistung."[4]
Diese ausgesprochen paradoxe Aussage führt zu einer Schlussfolgerung, der nicht zu entkommen ist: Dass nämlich für Freud Körper keine Seele hat, dass nicht einmal Seele mit Seele ausgestattet ist. Bedeutet dies etwa, dass alles Welt ist? Kaum. Es bedeutet – leider! –, dass alles Mechanismus, Mechanik ist; wir alle sind Automaten und “Körper” und “Seele” lediglich zwei Wörter, die für “Reflexprozessen” einspringen. Freud ist zwar immer in seiner Funktion als Therapeut und Beobachter ein wunderbarer Tiefenpsychologe. Sowie er aber über seine Beobachtungen nachzudenken beginnt, ist er an der mechanistischen Wissenschaft des 19. Jahrhunderts vollkommen gebunden.
Bei manchen Tiefenpsychologen müssen wir mehr darauf sehen, wie sie in der Praxis arbeiten, um Seele und Körper zu einander in Beziehung zu bringen, als darauf, was sie zu dieser Beziehung zu sagen haben, weil überall – sogar in der Psychologie – die Bedeutung von Körper von der Biologie und der Medizin beherrscht wird. Dass es eine solche Beziehung gibt, steht außer Frage; Körper aber wird mehr oder weniger als Zwischenbereich verstanden, der weder zur Welt noch zur Seele gehört. Ein analytischer Psychologe etwa bringt Magengeschwüre mit seelischen Prozessen in Beziehung. Eine typische Deutung mag als die gelten, die besagt, dass ein Magengeschwür Ausdruck ist eines unterbewussten Verlangens danach, gefüttert zu werden, ein Verlangen danach, in einer unbewussten Regression in die Oralphase der Entwicklung gehätschelt und getätschelt zu werden. Der Magen reagiert auf den unbewussten Wunsch, gefüttert zu werden, indem er sich so verhält, als wenn er selbst zu verdauende Nahrung sei und so sich selbst zu verdauen beginnt, was dann zum Geschwür führt.
Diese Art der Interpretation erzählt uns höchstwahrscheinlich mehr vom reichen Phantasieleben des Interpreten als vom Menschen, der am Geschwür leidet. Zwar setzt die Interpretation in der Tat voraus, dass Körper Seele ist; die Basis für eine solche Annahme wird aber weder untersucht noch beschrieben. Außerdem reiht die Deutung eine Menge unbegründeter Annahmen aneinander – von unbewussten Wünschen, Regression, der im Unterbewussten verharrenden oralen Entwicklungsphase, von denen alle irgendwie in oder an dem Körper wirken.
Auch Frage nach der Art, inwieweit Träume Körperprozesse symbolisieren mögen, zieht weit verbreitetes Interesse auf sich. In Marc I. Baraschs The Healing Path: A Soul Approach to Illness zum Beispiel wird eine Aussage der Jung'schen Psychologin Meredith Sabini angeführt, wonach in Träumen der Zustand des Körpers durch den Zustand eines Gegenstandes, wie etwa eines Hauses oder eines Autos, symbolisiert wird. So sind die Scheinwerfer eines Autos wie die Augen, die vier Reifen wie die vier Gliedmaßen, das elektrische System wie das Nervensystem, und die Schläuche haben mit dem Blutkreislauf zu tun. Auch hier haben wir eine leider außerordentlich reduktionistische Auffassung des Körpers, was mehr als alles Andere den Mangel an Verständnis dieser Psychologin für den Körper reflektiert. Das Ineinanderweben von Seele und Körper, welches später besprochen wird, wird in ganz anderer Weise erschlossen, haben wir einmal eine Anschauung der Weltseele zur Hand. Die Beschränkung der Tiefenpsychologie auf diesem Gebiet entstammt einer Vorstellungsweise des Körpers als Entität statt als Tätigkeit, als Materie statt als Metamorphose von Seele in Stoff.
Apocalypse Now
Um auf die zu Beginn dieses Kapitels gemachte Beobachtung zurückzugreifen, muss ich fragen: Was könnte gerade jetzt in der Welt überhaupt vor sich gehen, was das Bedürfnis zeitigt, Fragen nach Seele nachzugehen? Als Erstes hatte ich vermutet, dass die Furcht eine große Rolle spielt. Alle, die in der gegenwärtigen Zeit leben, fühlen, dass alles zusammenbricht. Wenden sich die Menschen der Sorge um die Seele als letztes sich-Vorbereiten zu? Ich hege den Verdacht, dass die Furcht zwar Teil der Antwort ist, aber nur der alleroberflächliste Teil. Sorgen um die Seele tauchen in Krisenzeiten der äußeren Welt ebenso auf, wie wenn eine Einzelperson leidet. Der tiefere Aspekt erscheint aber nur, wenn die Frage weiterverfolgt wird: Es gibt allerdings eine Krise; aber warum sich an Seele wenden und nicht an die Wissenschaft, Technologie, die Führenden im Wirtschaftsleben und im Staatswesen – an etwas, was funktioniert! Das Problem ist ja, dass es eben nichts mehr gibt, was funktioniert. Und dass, wenn sich der Seele zugewendet wird nur um etwas wieder in Ordnung zu bringen, die Enttäuschung eine große sein wird.
Es ist meine Vermutung, dass die kommende Zeit nicht das Ende der Welt ist, sondern der Anbruch der weiblichen Welt. Seele wurde schon immer, zu allen Zeiten und an allen Orten, als weiblich empfunden. Ein erheblicher Aspekt des aktuellen Interesses an Seele ist, dass sie das Interesse für die Göttin koordiniert und mit ihm zusammenwirkt. Dieses Buch hat als ein zentrales Anliegen Sophia, Weisheit, Weltseele. Rudolf Steiner, der die Inspiration für dieses Buch ist, sagte im Jahr 1911 von den künftigen Zeiten:
"Wir müssen mit der Wurzel aus der Seele ausrotten Furcht und Grauen vor dem, was aus der Zukunft herandringt an den Menschen… Mit absolutem Gleichmut entgegensehen dem, was da kommen mag und nur denken: Was auch kommen mag, dass es durch die weisheitsvolle Weltenführung uns zukommt."
Das Wort „Weisheit“ bezieht sich auf die Weisheit, die Sophia, als die Sophia der Apokalypse:
"Und es zeigte sich dem schauenden Blick ein erhabengroßes Bild im Geistgebiet: ein Weib, mit der Sonne bekleidet, den Mond unter ihren Füßen, das Haupt mit der Krone der zwölf Sterne gekrönt. Und sie war schwanger und schrie in den Wehen und Schmerzen des Gebärens" (Offenb. 12: 1, 2).
Furcht ist in der Tat anwesend, aber auch das sich-Nähern von der Sophia. Sophia ist mehr als eine Göttin-Figur, ein Archetyp, eine bildhafte Gegenwart, das in Verbindung mit Frauen vorgestellte Weibliche. Spätere Kapitel werden einiges von dem darlegen, worum es bei ihr eigentlich geht, sowie auch von ihrer Weltbedeutung – ja von ihrer Bedeutung als Welt. Ich habe stark den Eindruck, dass die gefühlsmäßige Dringlichkeit, die sich hervortut, eine Vorbereitung auf eine sophianische Welt ist. Diese Vorbereitung hat es schon zweimal gegeben; jeweils mit tragischem Ausgang.
Die Verbindung der Apokalypse mit der Zahl 666 ist wohlbekannt. Trevor Ravenscroft und T. Wallace-Murphy verfolgen in ihrem Buch The Mark of the Beast die Weltgeschichte dieser Zahl, aufgrund der Forschung Rudolf Steiners. Das Jahr 666 unserer Zeitrechnung war das Gründungsjahr der Akademie von Gundishapur in Persien. Diese Akademie kam als Folge der Schließung der berühmten griechischen Akademien – allen voran die Philosophieschulen – durch Kaiser Justinian zustande, der alles vorchristliche Wissen wegfegen wollte. Die verbannten griechischen Philosophen zogen nach Persien, wo eine neue Akademie errichtet wurde. Im Laufe einiger Jahre wurde die Arbeitsrichtung dieser Akademie verändert. Ihr Anliegen war nicht mehr das, was man heute ein Anliegen von Seele und Welt nennen könnte, sondern es ging ihr nunmehr um die ersten Grundlagen für die Entwicklung der materialistischen Wissenschaft. Hier war es zum Beispiel, wo die Heilkunst – die bis dahin den Leib als Seelensubstanz begriff – anfing, in eine eher technische Medizin des menschlichen Organismus verwandelt zu werden. Hier war es auch, wo Erkenntnis der physischen Welt sich von einer als nach der Seele der Welt gerichteten zu einer nach materialistischer Physik gerichteten änderte. Das erste Auftreten von Sophia wurde vereitelt, was uns Wissenschaft gab, statt einer Einheit von Wissenschaft, Kunst und Religion.
Zweimal 666 sind 1332. Im Jahr 1332 wurde ein zweites Kommen der Sophia vereitelt. In diesem Jahr war es, dass Philip der Schöne den Sturz der Tempelritter herbeiführte. Dieser Orden widmete sich der Sophia. Die Arbeit der Tempelritter war außergewöhnlich, und wird in einem späteren Kapitel ausführlicher behandelt. Sie erfanden das Kreditsystem und verdienten dabei große Mengen von Geld, indem sie für wohlhabende Reisende Bargeld aufbewahrten, damit sie nicht riskierten, es auf der Pilgerfahrt an Banditen zu verlieren. Wenn die Reisenden einmal ihr Ziel erreichten, konnten sie ihr Geld am Zielort abheben. Es war der Anbeginn des modernen Bankwesens.
Wohl am bemerkenswertesten an den Tempelrittern ist, dass sie ihre Gewinne nie für sich beanspruchten. Sie verwendeten diese Gewinne vielmehr, um Dinge in der Welt zu machen, die seelischer Art sind – Kathedrale, Krankenhäuser, Wohlfahrtsinstitutionen, öffentliche Kunst. Der Gedanke war, in der Welt der gebauten Dinge Seele zum Ausdruck zu bringen – Gegenstände als Bild. Philip der Schöne wollte an das im Besitz der Tempelritter befindliche Geld heran, daher beschuldigte er sie der Ketzerei. Die Ritter wurden gemartert, zu falschen Geständnissen gezwungen und getötet. Wieder kam Sophia nicht zum Ausdruck als Seele in der Welt. Stattdessen wurde diese Übernahme durch Philip der eigentliche Beginn der Wirtschaft zum Profitgewinn statt zum Machen von Seele in der Welt, und jetzt haben wir eine Welt, die dominiert wird von der Auffassung von Geld als Profit.
Dreimal 666 sind 1998. Könnte dieses Jahr nicht erneut die mögliche Entwicklung einer sophianischen Welt signalisieren, zusammen mit der Krise in ihrer Entfaltung? Tiefenpsychologie gewinnt eine andere Dimension, wenn man sie von der geschichtlichen Perspektive dieser apokalyptischen Zahl betrachtet. Die Tiefenpsychologie hat eine Anschauung und Fähigkeiten entwickelt, die nötig sind, um Weltbilder zu wechseln, das Vorstellungsleben zu sensibilisieren, die potentielle Einheit von Wissenschaft, Kunst und Religion zu erwecken und, am allerwichtigsten, das Hauptaugenmerk auf dem Einzelmenschen statt auf einem System gerichtet zu halten. Dennoch ist die Tiefenpsychologie, wie sie bisher existiert, als nicht mehr als eine Vorbereitung anzusehen.
Diese Bewegung hat, was das Bringen dieser Fähigkeiten in die weitere Welt anbelangt, noch nicht einmal begonnen. Die Gefahr liegt darin, die Vorbereitung mit dem Endergebnis zu verwechseln. Die Form, die diese Gefahr ohne Weiteres annehmen könnte, wäre die, Seele als Selbstzweck anstatt um der Welt Willen zu gebrauchen. Sollte das eintreten, so würde die Furcht vor der Welt zunehmen, was dazu führen würde, dass die Apokalypse im wortwörtlichen Sinn genommen wird. Wenn Seele, Bild, Einheit und Ganzheit sich nur auf die individuelle Seele und nicht auf die ganze Welt beziehen, dann sind wir alle, was die äußere Welt angeht, Fundamentalisten. Solange Seele-Entwicklung nur hinsichtlich der Menschen und nicht der Welt vorschreitet, solange ist es eben diese Entwicklung, die zu gleicher Zeit Furcht vor der Apokalypse erzeugt. Der Kontrast zwischen dem, was man in innerer Weise erfährt und was man in der Welt findet, wird noch ärger und vom inneren Leben noch abgetrennter.
Wenn aus der ersten Möglichkeit einer sophianischen Welt sich die Grundlegung der materialistischen Wissenschaft statt der Entwicklung von Erkenntnis durch die Seele ergab, und aus der zweiten Möglichkeit die Wirtschaft aus Eigeninteresse statt für die Errichtung einer Welt von Seele, was dürfte das Ergebnis sein, wenn die dritte Möglichkeit nicht fruchtet? Stellen wir uns alle die Menschen, die in der Sphäre von Seele arbeiten, so vor, als wären sie Mitglieder einer Akademie wie Gundishapur oder einer Gruppe von Welt-Seele-Machern wie die Tempelritter. Diese Akademie bzw. Gruppe ist kein Unternehmen mehr, das an einem spezifischen Ort seinen Sitz hat; die Mitglieder sind verstreut und ihre Verbindungen unsichtbar. Dafür sind sie aber nicht weniger reell.
Wir könnten diesen Vorstellungsweg sogar fortsetzen mit der Andeutung, dass die Menschen, die heute der Arbeit mit Seele verpflichtet sind, auch in jenen früheren Zeiten und Orten zusammen waren. Jetzt sind wir in der Welt weiter verbreitet. Das Fühlen solcher unsichtbaren Bände dürfte heute die allerwichtigste Arbeit sein, die es in der Gegenwart zu leisten gibt. Alle die Bücher, die sich mit dem Thema Seele befassen und jetzt eine größere Leserschaft erreichen, dürfen als ein in die Welt hineingetaner Ruf aufgefasst werden, um die Menschen zu finden, die dieser unsichtbaren Gemeinschaft angehören. Auch ein solcher Ruf wäre ein Hinweis darauf, dass eine Krise bevorsteht, dass es schon wieder durchaus möglich ist, dass Sophia verleugnet wird.
Eine diesmalige Verleugnung wird das Erschaffen einer neuen Welt zur Folge haben, ebenso wie die zwei früheren Verleugnungen die Materielle Wissenschaft ohne Seele und die Wirtschaft ohne Imagination ergaben. Dieses Mal wird die neue Welt eine virtuelle Realität sein, die weit über das gegenwärtig Mögliche hinausgeht. Virtuelle Realität ist eine Nachahmung von Seele in der Welt; wie in einem späteren Kapitel erklärt wird, imitiert die virtuelle Realität die Phantasie, Traum, Kreativität, Innerlichkeit, dies jedoch indem sich gegen die Welt gewandt wird. Eigentlich lässt virtuelle Realität die Welt völlig unwichtig erscheinen, wird von sich selbst süchtig gemacht, indem sie Seele zu Entertainment macht, und lässt die Welt vollkommen der Ausbeutung ausgeliefert.
Die mögliche Einheit von Wissenschaft, Kunst und Religion, die von zentraler Bedeutung auch für den Impuls der Tiefenpsychologie ist, ist ebenfalls gefährdet. Dem ersten Aspekt dieser Einheit wurde geschadet, als sich Wissenschaft von der Seele der Welt abwandte. Jetzt gibt es aber auch Anzeichen davon, dass Wissenschaft und Medizin wieder Seele zu ihrem Anliegen machen. Dem zweiten Aspekt dieser Einheit wurden Schäden zugefügt, als die Kunst, in der Welt Dinge herzustellen und die Seele zum Ausdruck zu bringen, sich stattdessen dem Profitgewinn zuwandte. Es gibt viele Hinweise darauf, dass eine von wirtschaftlichen Belangen dominierte Welt jetzt am Zusammenbrechen ist. Es könnten neue Auffassungen von der Wirtschaft als Pflege der Welt erstehen. Dem dritten Aspekt dieser Einheit würden Schäden zugefügt, indem die innere Welt des Individuums für den einzigen Tempel der Seele gehalten würde. Ob wir die Aufgabe einer wahren Vorstellung der Welt aufgreifen können oder nicht, hängt davon ab, ob es möglich sein wird, auf der Vorbereitungsgrundlage der Tiefenpsychologie mit der Arbeit des Parteiergreifens für die Welt beginnen zu können.
Vom Egoismus zur Individualität
Wenn man die ungeheuren Beiträge liest, die Rudolf Steiner zum Verstehen des Wesens vom Bösen geleistet hat und daran arbeitet, sie aufzunehmen, so mag einem eine Dimension seiner Auseinandersetzungen auffallen, die sehr viel meditiert werden muss. „Die Quelle alles menschlichen Bösen“, sagt er, „ist der Egoismus.“ Folgendes äußert er zum Verhältnis zwischen dem Bösen und dem Egoismus:
* * *
Der Egoismus ist weit mehr als bloße Selbstsucht. Wir müssen einen tieferen Blick tun und nach dem Prozess fragen, das mit der Selbstsucht zu tun hat: welcher seelische und geistige Vorgang spielt damit hinein? Dem Anschein nach tun wir bloß so, als wäre sie etwas, was zum Wesen des Menschen dazugehörte und dem es entgegenzuarbeiten gälte. Aber gegen unsere Neigungen zur Selbstsucht anzuarbeiten wird nichts bringen, wenn wir nicht tiefer hineinzublicken vermögen in das, was sie in geistig/psychologischer Hinsicht herbeiführt. Egoismus hat damit zu tun, dass wir uns selbst in unserem streng irdischen Aspekt (das heißt als Wesen der Welt) Kapazitäten zuschreiben, die eigentlich in den spirituellen Dimensionen der Welt urständen und mit dieser zusammengehören. Jede Macht zum Beispiel, die ich zu haben scheine, ist nicht eigentlich die meinige. Und wenn ich an dieser Macht so festhalte, als wäre sie meine, so ist dies eine Form von Egoismus. Macht als solche gehört den geistigen Welten an. Wenn wir Macht erleben, so kommt sie uns aus den geistigen Welten zu und nicht von uns selbst. Egoismus ist ein Vorgang, der darin besteht, dass wir die Weltseele in eine Art Zentrum konsolidieren, von der wir als „ich”, als „mir” sprechen. Egoismus ist eigentlich ein Zeichen seelischer Kraft. So verstanden geht es beim Egoismus darum, dass wir aus den geistigen Welten Kapazitäten empfangen, die von der seelischen Dimension der Welt nicht separat sind, und dass wir an ihnen so festhalten, als wären sie unser Eigentum.
Es ist äußerst wichtig einzusehen, dass wir uns hier mit dem Egoismus ganz urteilsfrei auseinandersetzen. Den Egoismus beurteile ich an dieser Stelle nicht, sondern ich bemühe mich lediglich darum, ihn in seinem Funktionieren zu beschreiben. Und wenn Steiner sagt, dass Egoismus der Ursprung des Bösen sei, so meint er nicht, wir müssten dem Bösen fliehen, oder gar dass das Böse etwas Schlimmes sei. An seiner Stelle ist das Böse äußerst wichtig und notwendig. Der Gegenwart von Böse kann in rechter Weise begegnet werden, indem die Kapazitäten der Liebe zur Entfaltung gebracht werden. Dem Bösen entgegenzuwirken, indem versucht wird, es auszumerzen, erfordert selbst die Kräfte des Bösen. Mit anderen Worten: Wenn wir uns darum bemühen, das Böse zu vernichten statt dessen Gegenwart auszubalancieren, so verstärken wir dessen Anwesenheit in der Welt. Das Böse ist dazu da, damit wir die Kräfte der Liebe entwickeln können.
Immer wenn wir sagen, denken, handeln oder fühlen aus der Empfindung heraus: “ich bin dieses oder jenes” bzw. “ich habe dieses oder jenes,” stecken wir im Egoismus drinnen. Es wurde irgendeine seelische Eigenschaft gefangengenommen, was uns dazu bringt, das Gefühl zu haben, wir seien reell, von allem Anderen separat. Beim Egoismus handelt es sich darum, dass wir uns so fühlen, als gehörten wir zu uns selbst. Und es ist eigentlich eine Illusion, dass wir zu uns selbst gehören. Egoismus ist die Illusion, dass wir uns selbst gehören.
Die Stelle, wo man zur seelischen und geistigen Arbeit den Hebel ansetzen muss, ist die Schwierigkeit beim Egoismus, von uns selbst zu geben. Das ist der Weg durch den Egoismus hindurch. Er muss aber in nicht-egoistischer Weise gegangen werden. Ein erstaunliches Paradoxon. Wir müssen egoistisch sein, um den Versuch zu machen, Dinge in nicht-egoistischer Weise zu tun. Was ist der Weg aus diesem Paradoxon heraus? Der einzige Weg, hier durchzukommen: überhaupt sich dessen bewusst zu sein, dass man egoistisch ist. Der Weg durch diese Schwierigkeit hindurch ist das Bewusstsein. Wir kommen nicht durch, wenn wir versuchen, uns in direkter Weise unegoistisch zu verhalten. Die Vorstellung “ich will nicht egoistisch sein” ist hoch egoistisch. Haben wir einmal unseren eigenen Egoismus erst erkannt, so lässt sich Liebe als Ausgleich entfalten.
Egoismus ist nichts Schlimmes. Er ist sogar unvermeidbar und unumgänglich. Um zu verstehen, wie er funktioniert, muss ein Unterschied erfahren werden, nämlich der Unterschied zwischen dem Ego und dem Ich. In spirituellen Kreisen besteht eine starke Tendenz, zwischen einem “niederen Ich” und einem “höheren Ich” bzw. zwischen dem kleinen Selbst und dem großen Selbst, oder dem “niederen Ego” und dem “höheren Ego” zu unterscheiden. In dieser Weise zu unterscheiden bringt die Vorstellung und die Empfindung mit sich, dass das Höhere das Bessere sei und dass wir gut daran tun, das Niedrigere loszuwerden und den Weg zum Höheren zu finden. Diese Unterscheidung stammt in erster Linie aus der Sprache der Philosophie des New-Age; sie tritt aber überall dort auf, wo die Auffassung herrscht, dass um geistig zu sein wir das Ego abschaffen müssen. Um nicht in diese Art von Trennung hineinzufallen, die meistens zu einer Art Grundlosigkeit führt und – noch wichtiger – um phänomenologisch korrekt zu sein, ist die Einsicht wichtig, dass “Ich” und “Ego” eins und dasselbe sind. Beide drücken die Individualität unseres spirituellen Seins aus. Das “Ich” ist das geistige “Du” – da es jeden Augenblick im Prozess des ins-Dasein-Tretens aus den geistigen Welten begriffen ist. Das Ego ist einfach die andere Seite des “Ich”. Es besteht in den Ich-Erfahrungen, die wir haben und die dann als Ansammlungen aufgefasst werden. Das Ego ist die Ich-Erfahrungen, indem sie in die Vergangenheit zurücktreten und zu einer Art Filter werden, durch die wir die Welt und andere Menschen in gewohnheitsmäßiger Weise erleben. Dieses Verständnis wird uns helfen, uns auf das Bild wahrer Individualität, als der zentralen Handlung des Liebens, einzulassen, und zwar einer Art des Liebens, die die Gegenwart der Welt im Mittelpunkt behält. Die Erkundung der Individualität ist Gegenstand des nächsten Kapitels.
[1] Sigmund Freud: "Die Zukunft einer Illusion", 1927, K. 3
[2] Sigmund Freud: "Das Unbehagen in der Kultur", 1930, K. 2
[3] Sigmund Freud: "Jenseits des Lustprinzips", 1920, K. 4
[4] Sigmund Freud: "Die Traumdeutung", 1900, K. 7, Teil B.
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