aus "Liebe und die Seele. Der Welt eine Zukunft schaffen"
von Robert Sardello
Einleitung – Ein Einstieg
Dieses Buch handelt von der Zukunft. Jedoch bin ich kein Futurist. Ebenso wenig ist das, was folgt, eine auf Hellsehen fußende Prophezeiung oder eine aus der Auslegung aktueller Weltumstände hervorgehende Vorhersage, zwecks Erzeugung einer Vision künftiger Zeiten. Horcht man ausschließlich auf die Hellseher bzw. auf die Urheber wissenschaftlicher Vorhersagen, so nimmt sich das, was in Bälde uns bevorsteht, in der Tat arg düster aus. Aber ein bloßes Wissen von der Zukunft, egal welchen Ursprungs es ist, scheint mir aus dem Grunde herzlich wenig wichtig zu sein, weil es unvermeidbar fatalistisch ist. Der Ursprung dieses Fatalismus ist, dass das, was uns bevorsteht, vorwiegend als der eine oder der andere Inhalt gesehen wird. Die einen mögen Naturkatastrophen sehen, die anderen unglaubliche technische Errungenschaften. Egal aber, was vorhergesagt wird: wenn das Hauptaugenmerk auf einem Inhalt überhaupt ruht, so werden die schöpferischen Kräfte der Menschenseele vernachlässigt, zumal als eines der Hauptfaktoren im Erschaffen der Welt. Meinen Schwerpunkt lege ich auf die Zukunft der Seele und auf deren Begegnung mit ihr. Es sind drei wesentliche Eigenschaften, mit denen sich die Psychologien des Seelenlebens bislang nicht befasst haben, die aber das lenken und gestalten, was in diesem Buch vorgebracht wird. Die erste dieser Eigenschaften ist, dass die Seele ein ungeheuer großes Interesse für die Zukunft hat. Die zweite ist, dass sich die Seele nun nicht länger als etwas betrachten lässt, was dem unter der Bewusstseinsoberfläche vor sich Gehenden zuzuordnen ist; betreten wir doch schließlich das Alter des seelischen Bewusstseins. Und die dritte ist, dass sich die Seele nicht darauf beschränken lässt, bloß Niederschlag des menschlichen Bewusstseins zu sein. Solche Einschränkung liefert die äußere Welt den Literalismen der Wissenschaft, der Technik und der Wirtschaft aus, welche – trotz ihrer Vorteile für die Welt – nicht nur das individuelle Seelenleben ausmerzen, sondern auch die Vernichtung der Welt herbeiführen werden, wenn sie sich selbst überlassen bleiben.
Die Grundprämisse dieser Schrift ist die, dass “Seele” die imaginativen Möglichkeiten bezeichnet, die unserem Wesen innewohnen. Diese Definition von Seele richtet sich nach C. G. Jung, der den Bildern, die unsere Tag- und Nachtträume durchziehen, für den fundamentalen Funktionsmodus der Seele hielt. Jung sagt uns nicht, was die Seele ist, sondern wie sie funktioniert. Laut Jung sind auch im Wachbewusstsein stets Bilder anwesend – wenn allerdings unbewusst agierend.
Was ferner in dieser Minimaldefinition von Seele am wichtigsten ist, das ist die Tätigkeit des Imaginierens und nicht die momentanen Ergebnisse dieser fortdauernden Tätigkeit, die als Bildinhalte in Erscheinung treten. Viele Anhänger Jungs arbeiten mit Bildinhalten statt mit Bildtätigkeit und vergessen so diesen wesentlichen Unterschied zwischen Aktivität und Inhalt. Sie arbeiten zum Beispiel mit Mythen statt mit der mythischen Phantasie, oder mit dem Inhalt von Träumen statt mit deren Tätigkeit. Eine Ausnahme bildet James Hillman, der eine bemerkenswerte archetypische Psychologie geschaffen hat. Hillmans Psychologie ist C. G. Jung zwar verpflichtet, hebt aber stets den aktiven Aspekt des Seelenlebens hervor, der schon von seinem Wesen her nicht festzunageln ist. Und dennoch ist das Seelenleben exakt beschreibbar, solange man sich an Metapher, Gleichnis, Ähnlichkeit, Analogie und Stil hält, statt an der Sprache konkreter Gegenstände. Eine Betonung auf Tätigkeit statt auf Inhalt wird umso wichtiger, wenn man die Art berücksichtigt, in der die Seele in voller Bewusstheit und mit der Welt verwachsen in die Zukunft hineinwirkt.
Die Tiefenpsychologie ist aus dem Grunde ein so faszinierendes Gebiet, weil sie sich laufend wandeln muss, um den immer sich ändernden Bedürfnissen der Seele gerecht zu werden. Jung unterstrich deshalb in seiner Psychologie Archetypen, weil in einer Zeit, in der deutlich geworden war, dass das Innenleben nicht mehr aus Geschichte und Tradition gespeist wird, die Seele dennoch ihr Bedürfnis nach Wurzeln weiterhin zum Ausdruck brachte. Hillman legt deshalb sein Hauptgewicht auf Bild, Metapher, Gleichnis, Mythe, Phantasie, weil die Seele, indem nun deutlich ist, dass Kunst, Sage, Poesie und Ritus nicht mehr ernstgenommen werden und das Alltagsleben durch das Faktische usurpiert wurde, nach wie vor ihr Bedürfnis nach Kultur zum Ausdruck bringt. Das gegenwärtig sich hervortuende Bedürfnis der Seele ist sowohl tiefer wie auch breiter als Geschichte, Tradition und Kultur; dieses Bedürfnis ist das nach Liebe. Damit soll nicht gesagt werden, dass die Seele es bedarf, geliebt zu werden, sondern dass die Liebe das Wesen überhaupt der Seele ausmacht und dass dieses Wesen so, wie es in der Vergangenheit bislang sich ausdrückte, rasch am Verschwinden ist. Alle die mannigfachen und unterschiedlichen Phänomene der Seele sind Modifikationen und Umwandlungen von Liebe. Bei jedem sich-Regen seelenhafter Art, egal wie es in Erscheinung treten mag, handelt es sich um in irgendeiner Weise modifizierte Liebe. So ist es unmöglich, außer durch die Liebe zu wissen, was sich in der Seele rührt; so ist Tiefenpsychologie eine Erkenntnistheorie der Liebe. Wenn Jung sagt, Seele bezeichne die imaginativen Möglichkeiten in unserem Wesen, so können wir dies in dynamischerem Sinne hören als Bezeichnung derjenigen schaffenden Tätigkeit, die der Liebe eigen ist.
Fragt man, wie es kommt, dass Seele in Urbildern ihre Verwurzelung und in bildhaften Wirklichkeiten ihre Kultur findet, so wäre zu antworten, dass es nicht nur daher rührt, dass Urbilder sehr alt und Kultur sehr fruchtbar sind. Bei beiden hält Seele an primären Spiegelungen von sich selbst fest, die sie als schöpferisch sowohl des Universums wie auch der menschlichen Welt wiedergeben. Die Schöpfung der Menschenwelt trägt allerdings besondere Bedeutung hinsichtlich des Ganzen: die Bedeutung des Verantwortlichseins für das Schicksal des Ganzen. So sind Urbilder erste Modifikationen einer schaffenden Kraft, die viel zu innig ist, als dass sie von den mechanistischen Annahmen der Physik und der Big-Bang-Theorie zu erfassen wären. Und bildhafte Wirklichkeiten sind erste Modifikationen dieser selben schaffenden Kraft, die zu persönlich ist, als dass sie sich anhand eines unpersönlichen Evolutionsprozesses erklären ließe. Seele findet deshalb in Urbildern ihre Heimat und in Kultur ihre richtige Landschaft, weil beide Erzeugnisse der schöpferischen Kraft der Liebe sind.
Wenn wir nun das Wesen selber der Seele als Liebe und die Liebe als mehr denn Emotion, Begierde, Gefühl ansehen, so wird uns möglich, uns ins seelische Leben weiter hervorzuwagen, als wir uns je vorstellten: denn dadurch kommen wir der Realität Seele noch näher, als selbst durch den Ausdruck ihrer ersten Modifikationen in Urbild und bildhafte Realität möglich ist. Als erstes vermögen wir bei dieser neuen Sichtweise zu sehen, dass seelische Aktivität vorblickend ist, bevor sie zurückblickend ist; das heißt: die Liebe erschafft die unbekannte und dennoch völlig substanzielle Realität der Zukunft. Solange Seele empfunden werden kann, kann auch die Zukunft empfunden werden. Und wenn es einem so ist, als gäbe es keine Zukunft beziehungsweise nur eine solche, die weiter nichts ist, als eine durch ungezügelte Phantasie modifizierte Projektion der Vergangenheit anstelle des uns zu sich heranziehenden wahrhaft Neuen und Unbekannten, so bedeutet dies, dass Seele abgeschwächt worden ist.
Als Zweites impliziert eine Auffassung von Seele als Liebe, dass es sich bei ihr um eine Tätigkeit handelt, die bestrebt ist, voll bewusst zu sein und nicht hinter den Kulissen, als “das Unbewusste” etikettiert, im Dunkeln gefangen zu bleiben. Unbewusstheit gehört ganz und gar nicht zur Tätigkeit der Liebe; in der Tat: sie ist nichts weiter als die eigene Unfähigkeit, sich der vollen Wirklichkeit der Liebe zu stellen: dass diese nämlich kein Inhalt, sondern die Aktivität selbst des Bewusstseins ist. Als Drittes erschließt uns eine Auffassung von Seele als Liebe und Liebe als Aktivität – statt als Inhalt – des Bewusstseins die Realität, dass sich überall und in jedem einzelnen Ding die Außenwelt als die Erscheinung von Seele in der Welt ausdrückt.
Das Wort “Liebe” ist ein umfassendes, mit dem man gerne sorglos herumwirft und das man verwendet, um Gefühle über fast alles darzustellen. Um weiterem Missbrauch dieser Art vorzubeugen, wird in den folgenden Kapiteln dieses Wort immer in impliziter Verbindung mit Seele, ferner in Verknüpfung mit der sorgfältigen Beobachtung einer Schar von Phänomenen verwendet, durch welche diese schaffende Tätigkeit greifbar und substanziell werden kann. Sämtliche landläufigen Bedeutungen von Liebe, einschließlich sexueller Anziehung, emotionaler Anbindung, familiärer Bande und absoluter Schätzung des eigenen Selbstes werden als eher vorläufige Aspekte der primären Aufgabe, die darin besteht, in Freiheit und Verantwortlichkeit diese Kraft aufzugreifen.
Wir müssen, denke ich, unterscheiden zwischen dem sich-tragen-Lassen von der Liebe und dem Hervorbringen derselben. Wenn Liebe auch das Wesen der Seele ist, so treten wir jetzt in eine Zeit ein, in der es an uns ist, das eigene Wesen zu gebären. Alle hegen wir die Erwartung, dass wir durch eine alles umsorgende, sei es menschlichem, sei es göttlichem Walten entstammende Liebe gestützt werden. Diese Erwartung geht aber an dem Hauptpunkt vorbei, dass die unterschiedlichen Formen, in denen diese Stütze über Äonen hinweg vorhanden war, weiter nichts als eine Vorbereitung waren. Als in der menschlichen Welt die Liebe zum ersten Mal auftrat, geschah dies in Form von familiären Blutsverbindungen. Diese Form der Liebe ist nicht mehr ausschließlich wirksam; ja wenn sie als allein gültig behauptet wird, ist sie sogar schädlich, weil sie die Wirklichkeit wahrer Individualität trübt.
Als romantische Liebe entstand, zeitigte sie die Möglichkeit, sich um einen fremden Menschen ebenso stark und so voll zu sorgen, als gehörte er der eigenen Blutslinie an. Und als die Eigenliebe auftrat, brachte sie mit sich die Möglichkeit, sich in Freiheit für die Sorge um einen fremden Menschen zu entscheiden, anstatt sich vom Band der Leidenschaft lenken zu lassen; wobei diese Form der Liebe allerdings zugleich auch die Möglichkeit der Egozentrizität mitbrachte. Indes in sämtlichen dieser Erscheinungsformen der Liebe allerlei Irritationen weiterhin bestehen, sind wir, so denke ich, ans Ende des Getragenwerdens von der Liebe angelangt und müssen jetzt entdecken, wie man sie erzeugt und aus sich hervorgehen lässt.
Die Menschheit nähert sich nunmehr einer neuen Sinngebung der Liebe: die Fähigkeit, Liebe als weltgestaltende Kraft zu erschaffen. Deren Hervortreten hieße den Beginn wahrer Freiheit in dieser Sphäre, zusammen mit der – über lange Zeit zu entwickelnden – Aufgabe, es soweit zu bringen, dass man Liebe erschafft, statt bloß sich von ihr tragen zu lassen. Allein diese Neugeburt wird sehr lange Zeit brauchen. Auch wird sie sich nicht automatisch vollziehen. --
Wohl wurde in der Vergangenheit der Übergang von der einen zur anderen Form der Liebe unausweichlich, wenn keineswegs ohne Kampf vollzogen. So schildert etwa Romeo und Julia den Übergang von der Liebe der Blutsbande zur romantischen Liebe. Dieser Vorgang war nicht aufzuhalten. Nicht aber besitzt das im Erschaffen der Liebe zu vollziehende Erzeugen des eigenen Wesens die gleiche Unaufhaltbarkeit. Es ist noch offen, ob wir diese Aufgabe aufgreifen oder weiterhin versuchen werden, in frühere Modi der Liebe zurückzufallen. Der Nationalismus zum Beispiel ist ein solcher Rückfall. Und indes wir mitten drin sind, uns zu entscheiden, ob wir dieser Aufgabe gewachsen sind oder nicht, klafft eine ungeheure Abwesenheit von Liebe – und somit von Seele – in der Welt. Diese Leere bleibt allerdings nicht leer, vielmehr wird sie primär vom wissenschaftlichen, technischen und wirtschaftlichen Materialismus aufgegriffen, dem es ein Anliegen ist, eine mit Liebes- und Seelensurrogaten erfüllte Welt zu machen.
Die drei formenden Mächte der gegenwärtigen Welt – Wissenschaft, Technik und Wirtschaft – sind extrem wichtig, geben sie doch der Seele etwas, gegen das sie einen Gegendruck ausüben kann, um so ihren zentralen Platz zu beziehen, als des Weltschaffens mächtig. Wenn Ansätze zum „Seele-Machen“ suggerieren, dass diese Mächte böse seien und es beim Sichwenden an die Seele um die Suche nach einer alternativen Welt gehe, so geht es diesen Ansätzen nicht um Seele, sondern um Flucht. Die Gefahr, die beim Fehlen eines adäquaten Ausgleichs für diese drei materialistischen Sichtweisen entsteht, ist, dass wir das, was im Wesentlichen zum Revier der Seelenarbeit gehört, an diese Mächte abtreten. Für jeden Fortschritt, der in den Bereichen der Wissenschaft, Technik und Wirtschaft gemacht wird, bedarf es zweier Schritte in der Seelen-Arbeit, damit Seele nicht aus dem Blick verloren werde. Der Wissenschaft muss man mit sorgfältiger, disziplinierter Forschung und Beobachtung auch der inneren Seite der Dinge entgegentreten, und zwar müssen diese Forschung und Beobachtung der äußeren Wissenschaft ebenbürtig sein, um so Verstandeswissen um Herzenswissen zu ergänzen. Der Technik muss man Schritt für Schritt entgegentreten mit einem ihr ebenbürtigen Interesse für die Art und Weise, wie Seele in der Welt tatsächlich funktionieren kann. Die Wirtschaft muss dadurch aufgewogen werden, dass man die Pflege der Seele erlernt, damit nicht Geltung mit äußerem Besitz gleichgesetzt werde.
Die drei oben erwähnten Eigenschaften der Seele – Interesse für die Zukunft, Seele-Bewusstsein, das Orten von Seele innerhalb der Welt sowie innerhalb des individuellen Lebens – können nun als Bedürfnisse der Seele angesehen werden, die der Vorherrschaft der Wissenschaft, der Technik und der Wirtschaft entstammen. Lässt man der Technik freien Lauf, so bestimmt sie die Bedeutung und das Wesen der Zukunft. Lässt man der Wissenschaft freien Lauf, so bestimmt sie, was als gültiges Bewusstsein zählt – nämlich das Quantifizierbare, Messbare, Sichtbare. Lässt man der Wirtschaft freien Lauf, so bestimmt sie das, was in der Welt geschieht, ja sie definiert sogar das, was die Welt ausmacht. Diese Kräfte der Welt sind jetzt schon so mächtig und durchdringend, dass Widerspiegelungen der Seele in der Welt, wie zum Beispiel Tradition und Kultur, sie nicht mehr ausgleichen können. So werden sie trotz aller Anstrengungen von Seiten der Tiefenpsychologie, ihre Wichtigkeit aufrechtzuerhalten, verloren gehen.
Nur das Wesen selbst der Liebe, in konkreten und spezifischen Formen ausgearbeitet, vermag diese Weltmächte auszubalancieren. Als Erstes braucht Seele jetzt ein tiefes und unangreifbares Interesse nicht nur für das, was bewirkt hat, dass wir so sind, wie wir sind (aufgrund dessen, was uns aus der Vergangenheit zugestoßen ist), sondern vor allem für das, was wir sein können — dies ist Seele als Zukunft. Als Zweites muss Seele jetzt im vollen Tageslicht des Bewusstseins agieren, damit sie in Freiheit die Verantwortung für das Erschaffen von Liebe und somit für die Neuerschaffung des eigenen Wesens auf sich nehmen kann — Seele als Seelenbewusstsein. Und als Drittes muss Seele jetzt sich befreien aus dem eingrenzenden Verhaftetsein im bloß individuellen Leben und muss die Fähigkeit entfalten, sich selbst zu fühlen in allem, was Außenwelt ist — Seele als Welt. Diese Interessen bilden die Substanz und die Tätigkeit dieses Buches. Dessen Inhalt ist bloßes Nebenprodukt.
Dieses Werk beginnt zwar in der Tiefenpsychologie; indessen werden in ihm die Grenzen der Psychologie bis zum äußersten Rand gedrängt. Mein Anliegen ist es nicht, die Akzeptanz der Orthodoxie für mich zu gewinnen, sondern zum Ausdruck zu bringen, wie dringlich es ist, die Pforte zu finden, die zur Erschaffung einer neuen spirituellen Kultur führt. So sorgfältig wie Rudolf Steiner hat keiner artikuliert, wie eine solche Kultur aussehen könnte, und seine Einsichten sind dieses ganze Buch hindurch offenkundig. Nur: so wenig wie dieses ein Buch über Jung bzw. archetypische Psychologie ist, ebensowenig ist es ein Werk über Steiner. Es ist vielmehr der Versuch, ein Beispiel einer auf Bewusstseinsschulung basierender Arbeitsweise zu bringen, was ja die Essenz dessen ist, was Steiner der Welt dargeboten hat. Viele Menschen greifen Steiners Anthroposophie als Gedankensystem auf und wenden sie – oft religiös – in vielen Bereichen an; Steiner selbst aber war so unerbittlich im Herabsetzen von „Steinerianern“ wie Jung es war bei „Jungianern.“
Der Ansatz zur Seele-Arbeit erfordert eine Schulung des Bewusstseins; nur so kann man das erfassen, was man anhand von Beschreibungen erkennen kann, auch ohne Theorien erdenken zu müssen. An die Phänomene des Lebens der Seele kann man durchaus mit dem Bewusstsein herankommen. Sie lassen sich beschreiben, vorausgesetzt es wird dabei der Versuch gemacht, aus der Seele heraus und nicht bloß über sie zu reden. Seele ist überall um uns herum, sie ist nicht der Spezialbezirk der Träume, Mythen, der Alchemie oder der tätigen Phantasie. Wenn aber gesagt wird, wir seien überall von Seele umgeben, so heißt das, dass es nicht möglich ist, einen Standpunkt außerhalb ihrer zu finden, und also entsteht die Notwendigkeit, aus dem heraus zu sprechen, was man beobachtet. Mit anderen Worten: wenn man aus einer Seelen-Perspektiv heraus arbeitet, ist der Beobachter selbst unvermeidbar ein Aspekt dessen, was er beobachtet. Diese Art der Innigkeit ist etwas anderes als die wissenschaftliche Anerkennung der Tatsache, dass schon allein die Beobachtung eines Phänomens das beeinflusst, was beobachtet wird.
Um hier Objektivität zu gewährleisten, ist die Entfaltung einer Logik der Seele statt der kognitiven Logik vonnöten. Da die Phänomene der Seele sich immer als lebendige Bilder darstellen, hat deren Logik nichts mit dem Sprechen über Bilder zu tun, sondern ist ein Sprechen aus der Aktivität des Imaginierens heraus. Zu häufig nützt die Tiefenpsychologie Bilder, Mythen und Erzählungen entweder als erläuternde Darstellungen oder als Material, das es zu interpretieren gilt. Was hier nicht gesehen wird, das ist, dass der erläuternd darstellende bzw. interpretierende Gebrauch von Bildern auf das zu Erläuternde bzw. zu Interpretierende eine andere Logik anwendet, als die ihm wesensgemäße. Das Resultat eines so gearteten Denkens ist, dass Seele den Weg ins Zentrum niemals finden kann. Das nimmt sich in etwa so heraus, wie wenn man Geschichten erzählt bekommt über jemanden, dem man nie begegnet ist. Sind die Geschichten gut, so mag man vom Gefühl gerührt sein, als würde man die Person kennen. Aber diese Rührung der Seele ist nicht das Gleiche wie deren unmittelbare, bewusste Gegenwart. Eine sympathisch mitschwingende Seelenregung geht allzu leicht als Erkenntnis durch und kann als unglücklicher Ersatz für die unumgängliche Arbeit dienen, zu Erkenntnis aus erster Hand zu gelangen.
Seelenlogik lässt sich durch die Tatsache erkennen, dass sie synthetisiert, anstatt zu analysieren. Seelenphänomene zeichnen sich durch eine Handlung des Erkennens aus, in der das Gewahrwerden der Seele und deren Verstandenwerden völlig vereinigt sind. So kann Seele durch nichts erklärt werden, was außerhalb ihrer eigenen Erscheinungsformen liegt. Und wenn wir in die mannigfachen Erscheinungen von Seele eintreten, erklärt sich ihre jeweilige Bedeutung von selbst. Eine Bewertung dessen, was dieser simultane Akt des unmittelbaren Gewahrens und des Verstehens offenbart, ist nur auf der Grundlage anderer Kriterien möglich, als die im Bereich der kognitiven Logik zugrunde gelegten. In der kognitiven Logik ist die Kardinalfrage die, ob das Ausgesagte richtig oder falsch ist. In der Logik der Seele ist die Kardinalfrage die, ob das Vorgebrachte gesund oder krank ist. Was die Gesundheit ausmacht, ist, ob das Verstehen organisch als ganzes Wesen wirkt und dem ganzen Wesen desjenigen dient, dem solches Verstehen zuteilwird. Krankheit tritt dann auf, wenn etwas Partielles für das Ganze gehalten wird – was nicht immer leicht festzustellen ist. Manches fühlt sich sehr gut an, wovon man krank wird, also kann die Befindlichkeit, in die man durch das zu Bewertende versetzt wird, kein Bewertungsmaßstab sein.
Im Reich der Logik von Seele ist das Gesunde gewöhnlich beunruhigend. Es tritt die Notwendigkeit ein, Störendes nicht sofort abzuweisen, sondern fortzufahren, um zu sehen, ob nicht eine ganze Welt geoffenbart wird, die, in einer beständigen Manifestationsreihe auftretend, ein ganzes Bild ergibt – wenn auch diese Reihe das Bild nicht ganz ausmacht. Ein Zeichen von Gesundheit ist, dass mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet werden und dass diese Fragen nicht durch Zweifel, sondern durch die Inspiration gekennzeichnet sind, noch weiter zu gehen.
Den Charakter der Logik der Seele kann man noch anders beschreiben, nämlich vom Gesichtspunkt ihres Zweckes her. Praktische Anwendung ist die am wenigsten nützliche Form der Seelenlogik und zugleich der größte Stolperstein auf dem Weg zu einer neuartigen Erkenntnis. Was es einzusehen gilt, ist, dass Anwendung, zumindest in der Weise, wie sie gegenwärtig verstanden wird, die Neigung mit sich bringt, anderen oder der Welt etwas aufzustülpen, von dem man die Vorstellung hat, dass es wohltuend oder hilfreich ist. Anwendung dieser Art fügt der Seele den größtmöglichen Schaden zu, denn solche Anwendung ist stark beeinflusst vom Bemühen, ein Problem so effizient wie möglich anzugehen und in möglichst kurzer Zeit (und möglichst preisgünstig) Resultate zu zeitigen. Seele funktioniert aber nicht in dieser Weise; sie sorgt sich nicht im Geringsten um Effizienz, kann aber ohne Weiteres verfinstert werden, wenn in dieser Weise an sie herangetreten wird.
Wenn man vom Aspekt der praktischen Anwendung absieht, kann vom Zweck der Seelenlogik denn gesagt werden, dass sie dem Wissen über die Seele selbst dient? Auch dieser Zweck ist für den Bereich der Seele ungeeignet, hauptsächlich deshalb, weil diese Art des Wissens nichts leistet. Zwar könnte argumentiert werden, dass Psychologie eine moderne Version der uralten Praxis der Selbsterkenntnis sei und dass solche Erkenntnis in sich schon etwas ausmacht. Dennoch ist diese Form des Wissens die am zweitwenigsten brauchbare Form (nach der Anwendung), an die Seelenlogik heranzutreten. Seele ist keine Entität, sondern eine Aktivität; wenn man weiß, was sie ist, ohne sie in ihrem Funktionieren zu kennen – in ihrem Ablauf selber indem sie am Funktionieren ist –, so mag solches Wissen profund sein, es ist und bleibt dennoch abstrakt. Solches Wissen führt einen nicht in die Welt hinein, sondern im Gegenteil von ihr weg – durch das Glauben daran geweiht vielleicht, dass man den Zugang zum Bezirk des Esoterischen und Verborgenen erlangt hat, was aber höchstwahrscheinlich Furcht vor der Welt, nicht die Liebe zu ihr offenbart.
Wenn in unserer Zeit Seelen-Kenntnis nicht zugleich Welterkenntnis ist, so zerfällt Selbsterkenntnis rasch in Selbsterhebung.
Seelenlogik beginnt selbständig dazustehen, wenn sie als Modus des Schauens gesehen wird. Seele muss zu allererst bezeugt werden. Das Stehen vor und zu gleicher Zeit innerhalb der Wirklichkeit der Seele ist ein Erkenntnisweg, der dieser Sphäre gerecht wird. Die Gleichzeitigkeit von Teilhaben und Beobachten ist der Modus der Imagination, wobei es hier gilt, zwischen dem Schauen als notwendigen Anfang und dem Schauen als Erfüllung zu unterscheiden. Das Schauen alleine genügt nicht, um als Logik der Seele zu gelten; es ist lediglich das, was sie in Gang bringt. Imagination muss sich in die produktive Imagination entfalten: die positive Handlung, die darin besteht, das mitzuerschaffen, was man erschaut. Seelenlogik erschafft auch das, was gerade beobachtet wird, indem sie sowohl auf das aufmerkt, was sich darstellt, als auch auf dessen Entstehen. Diese Erkenntnisart ist die produktivste, denn sie umfasst die Erscheinungsformen von Seele, das ins-Dasein-Treten dieser Erscheinungen, und deren Ergebnisse. Diese umfassende Seelen-Logik befriedigt das in einem Akt, was sonst in Erkenntnis und Anwendung zerteilt wird und die Entstehung überhaupt ausschließt.
Was die Arbeit der Seelenlogik ausmacht, ist das Engagiertsein im Erschaffen der Fähigkeiten, die man braucht, um das Seele-Machen – nicht das schon gemachte – gewahrzuwerden. Wenn wir so vorgehen, als wäre Seele schon fertig, so sind wir dazu verurteilt, nur das zu entdecken, was wir im Voraus schon wissen. Das Eintreten in die Logik der Seele ist eine Schulung des Bewusstseins, denn für gewöhnlich vermögen wir nur bis zum Endpunkt eines fortlaufenden Vorgangs dabeizusein, und das Entstehen dieses Endpunktes wird in das Reich des Unbewusstseins verbannt. Die Vorherrschaft der Vorstellung eines separaten Reiches des Unbewusstseins in der Psychologie ist weiter nichts als ein Zeichen der Faulheit, des Wunsches zu wissen, was unterhalb der Oberfläche vor sich geht, ohne die nötige Anstrengung zu unternehmen, um herauszufinden, dass es gar nichts erst gibt, was verborgen wäre. Um diese falsche Trennung zwischen dem Bewussten und dem Unbewussten zu durchbrechen, bedarf es weiter nichts als der Übung der aktiven Konzentration der Aufmerksamkeit, verbunden mit rezeptivem Aufnehmen, das nicht einschläft, sondern dadurch produktiv in Angriff genommen wird, dass man versteht, dass auch das Empfangen eine schöpferische Handlung ist. In dieser Weise vereint sich das im Wesen rezeptive Erschauen der Seele mit gefestigter Wachsamkeit im Angesicht dessen, was sowohl wahrgenommen als auch erschaffen wird. Dieser Modus zu wissen ist Intuition, nunmehr bewusst und voll zugänglich gemacht als ein Weg, das zu erkennen, was sonst nur Gegenstand von Hypothese und Spekulation sein kann.
Die Möglichkeit der Erschaffung einer in der Wirklichkeit der Seele gegründeten, spirituellen Kultur – was Gegenstand des Restes von diesem Buch ist – diese Möglichkeit fußt einerseits auf den Beiträgen der Tiefenpsychologie und andererseits in der oben beschriebenen Schulung des Bewusstseins. Wir müssen, denke ich, mit der Welt beginnen, in der wir leben, und auf das Zurückgreifen auf vergangene Modelle spiritueller Kultur verzichten. Auch kann spirituelle Kultur nicht aus einer Idee dessen gebildet werden, was unserer Meinung nach diese Kultur im Idealfall sein müsste. Das Gerichtetsein auf die Zukunft wird aus einer in der Vergangenheit enthaltenen Perspektive gewonnen; das heißt, es wird die Vergangenheit aufgegriffen anhand der Vorstellungsmöglichkeiten, die ihr innewohnen. So wird die „Zukunft“ nicht als etwas aufgegriffen, was geschehen kann, sondern als etwas, was bereits geschieht. Dies wiederum bildet eine bedeutende Eigenschaft des Lebens der Seele eines jeden Menschen, die ganz spezifisch und vielfältig beschrieben werden kann.
Also ist es die Absicht der Seelenlogik, einerseits die Romantik, andererseits den Utopismus zu vermeiden. Der Gedanke einer spirituellen Kultur hat mit einem goldenen Zeitalter weder der Vergangenheit noch der Zukunft etwas zu tun. Spirituelle Kultur soll nicht als etwas vor uns Ausgebreitetes konzipiert werden, das eine bessere Welt bietet, als die bestehende. Sie kann nicht aus kollektiver Veränderung sich ergeben, sie ist vielmehr etwas, was sich völlig individuell ereignet. Spirituelle Kultur ist paradoxerweise nicht etwas, was wir bereits besitzen, sondern sie vollzieht sich als etwas, was man von Moment zu Moment erschaffen muss, indem man sie als Aufgabe in Angriff nimmt. Eine solche Aufgabe wird niemals für sich andauern als etwas, an dem wir behaglich anästhetisiert und wohl versorgt, partizipieren. Wir sind was wir erschaffen, und im Augenblick, in dem wir vom Machen von Seele ablassen, sind wir weniger, als wir sein könnten.
Der Kontext: Terror und Liebe
Was eine Kultur der Liebe sein könnte, wendet sich stattdessen zu einer Kultur des Terrors. Terrorismus lässt sich nicht als isoliert betrachten. Es existiert ein größerer, alles umfassender Terror, eine Krise der Zivilisation, in welcher die Seele in einer permanenten Beengtheit lebt. Einige der Kennzeichen dieser Krise sind: wild wuchernder Materialismus, gelockerte Moralität gepaart mit sturer Moralität, der Tausch von Freiheit um Willkür, die Vorherrschaft der Lüge, hemmungslose Sinnlichkeit und Ausbeutung von Menschen und Erde als “Ressourcen” durch globale Konzerne. Unter diesen Umständen lebt die Seele in beständigem Terror. Eine Untersuchung von Terrorismus außerhalb des Kontexts dieser Destabilisierung der Gesellschaft – sowohl des eigenen Landes als auch anderer, aus denen der Terrorismus hervorgeht – ist nicht möglich.
Der Zweck des Terrorismus ist, einen Weltzustand des permanenten Chaos zu produzieren, in dem die Verneinung von Geist und Seele herrscht. Eine Welt ohne Ehrfurcht, ohne Ehre, ohne Wahrheit, ohne Moral, ohne Einheit, ohne Phantasie, ohne Ideale. Die Seele ist es, die individuelle Psyche, die zu allererst in Terror lebt, weil es ihr Leben ist, das dabei ist durchgestrichen zu werden. Gewalttätige Terrorakte sind lediglich das sichtbare Siegel, der Stempel der Verneinung, die die Werte des Lebens durch die Macht des Todes ersetzt.
Das Wort Terror bedeutet “das Einflößen von Furcht.” Terror ist jedoch von einer ganz anderen Größenordnung als Furcht. Wenn wir Furcht erleben, so vermag etwas von unserer Seele darauf zu antworten, wir werden nicht völlig übermannt. Terror hingegen pflanzt Furcht in das Ganze unseres Seelenwesens ein. Er zerfrisst die Funktionen der Seele als da sind Phantasie, Kreativität, Erinnerung, Liebe, Sehnsucht, Träumen, Entschlussfähigkeit, Wollen Wünschen… und am allermeisten das innere, nicht durch organisierte Religion oder äußere Strukturen vermittelte Erleben der Gegenwart des Göttlichen.
Terror drangsaliert die Seele deshalb, weil es aus der Anwesenheit der Verneinung des Lebens keinen Ausweg gibt. Die von einem anderen Menschen angerichtete Vernichtung weitet sich über sich selbst hinaus und zieht andere mit hinein, die nicht beteiligt sind. Die Seele zieht sich unter fortdauernden Attacken dieser Art heftig zusammen, und binnen kurzem schwinden die inneren Qualitäten von Seele dahin; ja man vergisst sogar, wie diese Qualitäten überhaupt waren.
Die Seele fühlt Terror als arge Beschränkung ihres Zugangs zur inneren Anwesenheit dessen, von dem C. G. Jung als die Reiche des “Numinosen” sprach. Ein materialistischer Ausblick auf die wirtschaftliche Globalisierung einerseits und auf den Isolationismus andererseits bewirkt diese Zusammenziehung. Es lassen sich ohne Weiteres zwei Formen des Terrorismus unterscheiden. Viele Menschen in den Regionen, von denen aus am intensivsten äußere Terrorattacken gelenkt zu sein scheinen, leben einen merkwürdigen Materialismus des Geistes. Sie sind in ihrem materiellen Leben so schwer eingeschränkt, dass sie zur Vorstellung gekommen sind, sie könnten alle materiellen Gegenstände, die sie je begehren könnten, dadurch gewinnen, dass sie ihr Leben opfern und zu einem Ort, einem Himmel materieller Freuden hinfahren. Dies ist Materialismus des Geistes. Schon allein die Anwesenheit dieser Weltsicht führt eine Verkrampfung der Seele für alle herbei, denn sie ist eine anti-Seelen-Vorstellung. Im Verneinen des Reiches der Materie durch Gewalt wird gemäß dieser Ideologie ein besseres materielles Reich gewonnen.
Es gibt eine zweite, gleich mächtige Form des Materialismus, innerhalb welcher die Seele nicht am Leben bleiben kann. Diese Form kann der “Geist des Materialismus” genannt werden. Diese Weltsicht besagt, dass vollkommene Befriedigung unserer sämtlichen materiellen Begierden alles sei, was man für ein volles Leben braucht; dabei vermittelt sie die stille Botschaft, dass das Leben der Seele überflüssig sei. Seele könne weder gesehen noch gemessen werden und wenn sie überhaupt existiere, so habe sie mit dieser Welt nichts zu tun. Unsere vornehmste Wissenschaft verleugnet ebenfalls die Existenz von Seele und ist eben diesem radikalen Materialismus zuzuordnen. Das ins-Auge-Fassen dieser zwei Formen des Terrorismus der Seele ermöglicht die Einsicht, dass die permanente leise Furcht, die wir empfinden, zu allererst die Furcht der Seele vor dem eigenen Untergang ist, noch lange bevor sie die Furcht um unser physisches Dasein ist.
Die ständige Gegenwart von Terror bewirkt, dass alles, womit wir uns identifizieren, von uns gestellt und in Frage gestellt wird; könnte es doch schließlich in der nächsten Sekunde verneint werden. Wenn wir uns keiner inneren Entwicklung unterziehen, durch die wir zur Erkenntnis gelangen, dass wir in unserem innersten Wesen unendlich mehr sind als das, womit wir uns identifizieren, wird der Terror zunehmen. Ferner, indem nach und nach Terror uns des Empfindens unserer konstruierten Identität benimmt, setzt er uns den Kräften des Unbewussten aus, ohne dass wir die Mittel haben, das zu verstehen, was mit uns vor sich geht. Wenn diese Attacken auf die Seele mit der oben erwähnten, fortdauernden, durch die globalen Mächte des Terrors herbeigeführten Einengung gepaart werden, so findet eine tiefgreifende innere Verwandlung statt. Unser Selbstempfinden wird durch einen Prozess der Verdoppelung nach und nach durch ein zweites Selbst ersetzt.
Dieser Vedoppelungsprozess ist in der Forschungsarbeit zum Thema Terror im Dritten Reich von Robert J. Lifton wohl dokumentiert. Die auf Mitmenschen verübten scheußlichen Terrorakte sind auf die Anwesenheit von Terror in den Tätern selbst zurückzuführen, der als Verdoppelung manifestiert. Liftons Forschung beschreibt fünf Eigenschaften des Verdoppelungsprozesses: 1. Ein zweites Selbst bildet sich autonom neben dem Alltags-Selbst. 2. Dieses zweite Selbst entsteht als direktes Resultat des Lebens in einem fortdauernden Zustand des Terrors. 3. Das zweite Selbst verleiht dem Leben in beständiger Furcht Kohärenz. 4. Das zweite Selbst verübt inakzeptable und greuliche Taten. 5. Das Gewissen wird auf dieses zweite Selbst verlegt. So geht aus fortdauernder Furcht nicht nur die Abstumpfung hervor; sie beginnt vielmehr, die dem Terror Ausgesetzten selbst zu Terroristen zu machen, was für eine Form dies immer annehmen mag. Haben wir diesen Prozess einmal erkannt, so gilt es, die Definition von Terrorismus auf alle Handlungen zu übertragen, die eine heftige Zusammenziehung des Seelenlebens herbeiführen.
Ein Doppel hat keine Seele: Es sieht aus und handelt wie ein Mensch, kommt anderen menschlich vor, ist aber nichts Weiteres, als eine Art Automat – extrem clever, überlebensfähig, aber immer auf Kosten anderer. Bei der Verdoppelung ist es in den USA soweit gekommen, dass sie nicht als Krankheit, sondern als Kennzeichen des Erfolgs angesehen wird – für Individuen, für Konzerne, für den Staat. Der Prozess der Verdoppelung hat mit Dissoziation, multiple Persönlichkeits-, oder Borderline-Störungen nichts zu tun. Das Potential, den Sinn zu verlieren für den, der wir sind, besteht für jeden, der mit einem überwältigenden Empfinden fortdauernder Furcht lebt. Ein Leben ausschließlich mit den Bewusstseinskapazitäten, die nichts als die materielle Wirklichkeit verstehen, der Verlust der Fähigkeit zum bewussten individuellen Seelen-und Geistesleben, öffnet die Pforten zum Eintritt des Doppels.
Mit der Anwesenheit fortdauernder Furcht verlieren wir den Sinn für unsere geistige Individualität. Wenn wir uns aber der Furcht der reinen Verneinung stellen, statt auf sie bloß zu reagieren, werden wir in vollerer Art wir selbst. Wenn wir die volle Stoßkraft gänzlichen Ausgeloschenseins innerlich erleben, so werden wir in unserem Geistselbst, in dem Teil von uns selbst bewusst, der nie ausgelöscht werden kann. So vermag die Furcht, uns zum inneren Leben zu erwecken. Wir begehen einen horrenden psychologischen Fehler, wenn wir annehmen, dass Maßnahmen getroffen werden können, durch welche terrorisierte Individuen der Gesellschaft oder einem vorherigen Zustand des Wohlfühlens wiederhergestellt werden können. Eben diese Phantasie ist die terroristische Verfahrensweise des Geistes des Materialismus. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass Terror anders ist als Furcht und gänzlich andere Methoden des Therapierens erfordert. Terror nützt die Furcht, um das zu vollbringen, wonach er strebt: die völlige Vernichtung der Seele und des Geistes. Er will die Entindividualisierung des Menschen. Er will, dass Denken und Vorstellen fanatisch und Wollen despotisch und tyrannisch werden. Er will, dass Denken und Vorstellen literalistisch, eng, nüchtern, trocken und der Wille tierisch, geizig, fahrig werden. Er will, dass wir die Beziehung zu den geistigen Welten verlieren und dazu kommen, zu denken, dass es nur zwei Wirklichkeiten gibt: die materielle Welt und den Tod.
Diese zwei Urkräfte des Materialismus können nicht dadurch besiegt werden, dass die eine dazu gebraucht wird, um die andere zu bekämpfen. Nur ein Standpunkt, der zur gegenseitigen Aufhebung der zwei Urzerstörungs-Mächte führt, vermag uns aus dieser unvermeidlichen Richtung des Terrorismus hinauszuführen. Eine Welt des Terrors lässt sich nur durch eine Welt der Liebe ausbalancieren. Die Anwesenheit des Terrors offenbart aber, dass die Art der Liebe, derer man jetzt bedarf, Liebe als Macht ist, und nicht Liebe als Sentiment, Begierde, Gefühl oder religiöse Auffassung. Die Ebene, auf der an dem neuen Sinn für Liebe gearbeitet werden muss, ist eine, auf der wir den Einzelmenschen und die Kultur in ihrer Ganzheit als einheitliches Feld zu sehen vermögen. So zu arbeiten, erfordert eine vollständige Verwandlung des Bewusstseins. Wenn Sie so lesen, dass Sie es zulassen, den Fluss und die Kraft der Worte körperlich zu fühlen, anstatt dass Sie das Schreiben nur auf der intellektuellen Ebene auffassen, so wird eine solche Verwandlung in Ihnen in Gang gesetzt werden.
Love and the Soul. Creating a Future for Earth. Bei jedem Online-Buchhandel zu erwerben.
von Robert Sardello
Einleitung – Ein Einstieg
Dieses Buch handelt von der Zukunft. Jedoch bin ich kein Futurist. Ebenso wenig ist das, was folgt, eine auf Hellsehen fußende Prophezeiung oder eine aus der Auslegung aktueller Weltumstände hervorgehende Vorhersage, zwecks Erzeugung einer Vision künftiger Zeiten. Horcht man ausschließlich auf die Hellseher bzw. auf die Urheber wissenschaftlicher Vorhersagen, so nimmt sich das, was in Bälde uns bevorsteht, in der Tat arg düster aus. Aber ein bloßes Wissen von der Zukunft, egal welchen Ursprungs es ist, scheint mir aus dem Grunde herzlich wenig wichtig zu sein, weil es unvermeidbar fatalistisch ist. Der Ursprung dieses Fatalismus ist, dass das, was uns bevorsteht, vorwiegend als der eine oder der andere Inhalt gesehen wird. Die einen mögen Naturkatastrophen sehen, die anderen unglaubliche technische Errungenschaften. Egal aber, was vorhergesagt wird: wenn das Hauptaugenmerk auf einem Inhalt überhaupt ruht, so werden die schöpferischen Kräfte der Menschenseele vernachlässigt, zumal als eines der Hauptfaktoren im Erschaffen der Welt. Meinen Schwerpunkt lege ich auf die Zukunft der Seele und auf deren Begegnung mit ihr. Es sind drei wesentliche Eigenschaften, mit denen sich die Psychologien des Seelenlebens bislang nicht befasst haben, die aber das lenken und gestalten, was in diesem Buch vorgebracht wird. Die erste dieser Eigenschaften ist, dass die Seele ein ungeheuer großes Interesse für die Zukunft hat. Die zweite ist, dass sich die Seele nun nicht länger als etwas betrachten lässt, was dem unter der Bewusstseinsoberfläche vor sich Gehenden zuzuordnen ist; betreten wir doch schließlich das Alter des seelischen Bewusstseins. Und die dritte ist, dass sich die Seele nicht darauf beschränken lässt, bloß Niederschlag des menschlichen Bewusstseins zu sein. Solche Einschränkung liefert die äußere Welt den Literalismen der Wissenschaft, der Technik und der Wirtschaft aus, welche – trotz ihrer Vorteile für die Welt – nicht nur das individuelle Seelenleben ausmerzen, sondern auch die Vernichtung der Welt herbeiführen werden, wenn sie sich selbst überlassen bleiben.
Die Grundprämisse dieser Schrift ist die, dass “Seele” die imaginativen Möglichkeiten bezeichnet, die unserem Wesen innewohnen. Diese Definition von Seele richtet sich nach C. G. Jung, der den Bildern, die unsere Tag- und Nachtträume durchziehen, für den fundamentalen Funktionsmodus der Seele hielt. Jung sagt uns nicht, was die Seele ist, sondern wie sie funktioniert. Laut Jung sind auch im Wachbewusstsein stets Bilder anwesend – wenn allerdings unbewusst agierend.
Was ferner in dieser Minimaldefinition von Seele am wichtigsten ist, das ist die Tätigkeit des Imaginierens und nicht die momentanen Ergebnisse dieser fortdauernden Tätigkeit, die als Bildinhalte in Erscheinung treten. Viele Anhänger Jungs arbeiten mit Bildinhalten statt mit Bildtätigkeit und vergessen so diesen wesentlichen Unterschied zwischen Aktivität und Inhalt. Sie arbeiten zum Beispiel mit Mythen statt mit der mythischen Phantasie, oder mit dem Inhalt von Träumen statt mit deren Tätigkeit. Eine Ausnahme bildet James Hillman, der eine bemerkenswerte archetypische Psychologie geschaffen hat. Hillmans Psychologie ist C. G. Jung zwar verpflichtet, hebt aber stets den aktiven Aspekt des Seelenlebens hervor, der schon von seinem Wesen her nicht festzunageln ist. Und dennoch ist das Seelenleben exakt beschreibbar, solange man sich an Metapher, Gleichnis, Ähnlichkeit, Analogie und Stil hält, statt an der Sprache konkreter Gegenstände. Eine Betonung auf Tätigkeit statt auf Inhalt wird umso wichtiger, wenn man die Art berücksichtigt, in der die Seele in voller Bewusstheit und mit der Welt verwachsen in die Zukunft hineinwirkt.
Die Tiefenpsychologie ist aus dem Grunde ein so faszinierendes Gebiet, weil sie sich laufend wandeln muss, um den immer sich ändernden Bedürfnissen der Seele gerecht zu werden. Jung unterstrich deshalb in seiner Psychologie Archetypen, weil in einer Zeit, in der deutlich geworden war, dass das Innenleben nicht mehr aus Geschichte und Tradition gespeist wird, die Seele dennoch ihr Bedürfnis nach Wurzeln weiterhin zum Ausdruck brachte. Hillman legt deshalb sein Hauptgewicht auf Bild, Metapher, Gleichnis, Mythe, Phantasie, weil die Seele, indem nun deutlich ist, dass Kunst, Sage, Poesie und Ritus nicht mehr ernstgenommen werden und das Alltagsleben durch das Faktische usurpiert wurde, nach wie vor ihr Bedürfnis nach Kultur zum Ausdruck bringt. Das gegenwärtig sich hervortuende Bedürfnis der Seele ist sowohl tiefer wie auch breiter als Geschichte, Tradition und Kultur; dieses Bedürfnis ist das nach Liebe. Damit soll nicht gesagt werden, dass die Seele es bedarf, geliebt zu werden, sondern dass die Liebe das Wesen überhaupt der Seele ausmacht und dass dieses Wesen so, wie es in der Vergangenheit bislang sich ausdrückte, rasch am Verschwinden ist. Alle die mannigfachen und unterschiedlichen Phänomene der Seele sind Modifikationen und Umwandlungen von Liebe. Bei jedem sich-Regen seelenhafter Art, egal wie es in Erscheinung treten mag, handelt es sich um in irgendeiner Weise modifizierte Liebe. So ist es unmöglich, außer durch die Liebe zu wissen, was sich in der Seele rührt; so ist Tiefenpsychologie eine Erkenntnistheorie der Liebe. Wenn Jung sagt, Seele bezeichne die imaginativen Möglichkeiten in unserem Wesen, so können wir dies in dynamischerem Sinne hören als Bezeichnung derjenigen schaffenden Tätigkeit, die der Liebe eigen ist.
Fragt man, wie es kommt, dass Seele in Urbildern ihre Verwurzelung und in bildhaften Wirklichkeiten ihre Kultur findet, so wäre zu antworten, dass es nicht nur daher rührt, dass Urbilder sehr alt und Kultur sehr fruchtbar sind. Bei beiden hält Seele an primären Spiegelungen von sich selbst fest, die sie als schöpferisch sowohl des Universums wie auch der menschlichen Welt wiedergeben. Die Schöpfung der Menschenwelt trägt allerdings besondere Bedeutung hinsichtlich des Ganzen: die Bedeutung des Verantwortlichseins für das Schicksal des Ganzen. So sind Urbilder erste Modifikationen einer schaffenden Kraft, die viel zu innig ist, als dass sie von den mechanistischen Annahmen der Physik und der Big-Bang-Theorie zu erfassen wären. Und bildhafte Wirklichkeiten sind erste Modifikationen dieser selben schaffenden Kraft, die zu persönlich ist, als dass sie sich anhand eines unpersönlichen Evolutionsprozesses erklären ließe. Seele findet deshalb in Urbildern ihre Heimat und in Kultur ihre richtige Landschaft, weil beide Erzeugnisse der schöpferischen Kraft der Liebe sind.
Wenn wir nun das Wesen selber der Seele als Liebe und die Liebe als mehr denn Emotion, Begierde, Gefühl ansehen, so wird uns möglich, uns ins seelische Leben weiter hervorzuwagen, als wir uns je vorstellten: denn dadurch kommen wir der Realität Seele noch näher, als selbst durch den Ausdruck ihrer ersten Modifikationen in Urbild und bildhafte Realität möglich ist. Als erstes vermögen wir bei dieser neuen Sichtweise zu sehen, dass seelische Aktivität vorblickend ist, bevor sie zurückblickend ist; das heißt: die Liebe erschafft die unbekannte und dennoch völlig substanzielle Realität der Zukunft. Solange Seele empfunden werden kann, kann auch die Zukunft empfunden werden. Und wenn es einem so ist, als gäbe es keine Zukunft beziehungsweise nur eine solche, die weiter nichts ist, als eine durch ungezügelte Phantasie modifizierte Projektion der Vergangenheit anstelle des uns zu sich heranziehenden wahrhaft Neuen und Unbekannten, so bedeutet dies, dass Seele abgeschwächt worden ist.
Als Zweites impliziert eine Auffassung von Seele als Liebe, dass es sich bei ihr um eine Tätigkeit handelt, die bestrebt ist, voll bewusst zu sein und nicht hinter den Kulissen, als “das Unbewusste” etikettiert, im Dunkeln gefangen zu bleiben. Unbewusstheit gehört ganz und gar nicht zur Tätigkeit der Liebe; in der Tat: sie ist nichts weiter als die eigene Unfähigkeit, sich der vollen Wirklichkeit der Liebe zu stellen: dass diese nämlich kein Inhalt, sondern die Aktivität selbst des Bewusstseins ist. Als Drittes erschließt uns eine Auffassung von Seele als Liebe und Liebe als Aktivität – statt als Inhalt – des Bewusstseins die Realität, dass sich überall und in jedem einzelnen Ding die Außenwelt als die Erscheinung von Seele in der Welt ausdrückt.
Das Wort “Liebe” ist ein umfassendes, mit dem man gerne sorglos herumwirft und das man verwendet, um Gefühle über fast alles darzustellen. Um weiterem Missbrauch dieser Art vorzubeugen, wird in den folgenden Kapiteln dieses Wort immer in impliziter Verbindung mit Seele, ferner in Verknüpfung mit der sorgfältigen Beobachtung einer Schar von Phänomenen verwendet, durch welche diese schaffende Tätigkeit greifbar und substanziell werden kann. Sämtliche landläufigen Bedeutungen von Liebe, einschließlich sexueller Anziehung, emotionaler Anbindung, familiärer Bande und absoluter Schätzung des eigenen Selbstes werden als eher vorläufige Aspekte der primären Aufgabe, die darin besteht, in Freiheit und Verantwortlichkeit diese Kraft aufzugreifen.
Wir müssen, denke ich, unterscheiden zwischen dem sich-tragen-Lassen von der Liebe und dem Hervorbringen derselben. Wenn Liebe auch das Wesen der Seele ist, so treten wir jetzt in eine Zeit ein, in der es an uns ist, das eigene Wesen zu gebären. Alle hegen wir die Erwartung, dass wir durch eine alles umsorgende, sei es menschlichem, sei es göttlichem Walten entstammende Liebe gestützt werden. Diese Erwartung geht aber an dem Hauptpunkt vorbei, dass die unterschiedlichen Formen, in denen diese Stütze über Äonen hinweg vorhanden war, weiter nichts als eine Vorbereitung waren. Als in der menschlichen Welt die Liebe zum ersten Mal auftrat, geschah dies in Form von familiären Blutsverbindungen. Diese Form der Liebe ist nicht mehr ausschließlich wirksam; ja wenn sie als allein gültig behauptet wird, ist sie sogar schädlich, weil sie die Wirklichkeit wahrer Individualität trübt.
Als romantische Liebe entstand, zeitigte sie die Möglichkeit, sich um einen fremden Menschen ebenso stark und so voll zu sorgen, als gehörte er der eigenen Blutslinie an. Und als die Eigenliebe auftrat, brachte sie mit sich die Möglichkeit, sich in Freiheit für die Sorge um einen fremden Menschen zu entscheiden, anstatt sich vom Band der Leidenschaft lenken zu lassen; wobei diese Form der Liebe allerdings zugleich auch die Möglichkeit der Egozentrizität mitbrachte. Indes in sämtlichen dieser Erscheinungsformen der Liebe allerlei Irritationen weiterhin bestehen, sind wir, so denke ich, ans Ende des Getragenwerdens von der Liebe angelangt und müssen jetzt entdecken, wie man sie erzeugt und aus sich hervorgehen lässt.
Die Menschheit nähert sich nunmehr einer neuen Sinngebung der Liebe: die Fähigkeit, Liebe als weltgestaltende Kraft zu erschaffen. Deren Hervortreten hieße den Beginn wahrer Freiheit in dieser Sphäre, zusammen mit der – über lange Zeit zu entwickelnden – Aufgabe, es soweit zu bringen, dass man Liebe erschafft, statt bloß sich von ihr tragen zu lassen. Allein diese Neugeburt wird sehr lange Zeit brauchen. Auch wird sie sich nicht automatisch vollziehen. --
Wohl wurde in der Vergangenheit der Übergang von der einen zur anderen Form der Liebe unausweichlich, wenn keineswegs ohne Kampf vollzogen. So schildert etwa Romeo und Julia den Übergang von der Liebe der Blutsbande zur romantischen Liebe. Dieser Vorgang war nicht aufzuhalten. Nicht aber besitzt das im Erschaffen der Liebe zu vollziehende Erzeugen des eigenen Wesens die gleiche Unaufhaltbarkeit. Es ist noch offen, ob wir diese Aufgabe aufgreifen oder weiterhin versuchen werden, in frühere Modi der Liebe zurückzufallen. Der Nationalismus zum Beispiel ist ein solcher Rückfall. Und indes wir mitten drin sind, uns zu entscheiden, ob wir dieser Aufgabe gewachsen sind oder nicht, klafft eine ungeheure Abwesenheit von Liebe – und somit von Seele – in der Welt. Diese Leere bleibt allerdings nicht leer, vielmehr wird sie primär vom wissenschaftlichen, technischen und wirtschaftlichen Materialismus aufgegriffen, dem es ein Anliegen ist, eine mit Liebes- und Seelensurrogaten erfüllte Welt zu machen.
Die drei formenden Mächte der gegenwärtigen Welt – Wissenschaft, Technik und Wirtschaft – sind extrem wichtig, geben sie doch der Seele etwas, gegen das sie einen Gegendruck ausüben kann, um so ihren zentralen Platz zu beziehen, als des Weltschaffens mächtig. Wenn Ansätze zum „Seele-Machen“ suggerieren, dass diese Mächte böse seien und es beim Sichwenden an die Seele um die Suche nach einer alternativen Welt gehe, so geht es diesen Ansätzen nicht um Seele, sondern um Flucht. Die Gefahr, die beim Fehlen eines adäquaten Ausgleichs für diese drei materialistischen Sichtweisen entsteht, ist, dass wir das, was im Wesentlichen zum Revier der Seelenarbeit gehört, an diese Mächte abtreten. Für jeden Fortschritt, der in den Bereichen der Wissenschaft, Technik und Wirtschaft gemacht wird, bedarf es zweier Schritte in der Seelen-Arbeit, damit Seele nicht aus dem Blick verloren werde. Der Wissenschaft muss man mit sorgfältiger, disziplinierter Forschung und Beobachtung auch der inneren Seite der Dinge entgegentreten, und zwar müssen diese Forschung und Beobachtung der äußeren Wissenschaft ebenbürtig sein, um so Verstandeswissen um Herzenswissen zu ergänzen. Der Technik muss man Schritt für Schritt entgegentreten mit einem ihr ebenbürtigen Interesse für die Art und Weise, wie Seele in der Welt tatsächlich funktionieren kann. Die Wirtschaft muss dadurch aufgewogen werden, dass man die Pflege der Seele erlernt, damit nicht Geltung mit äußerem Besitz gleichgesetzt werde.
Die drei oben erwähnten Eigenschaften der Seele – Interesse für die Zukunft, Seele-Bewusstsein, das Orten von Seele innerhalb der Welt sowie innerhalb des individuellen Lebens – können nun als Bedürfnisse der Seele angesehen werden, die der Vorherrschaft der Wissenschaft, der Technik und der Wirtschaft entstammen. Lässt man der Technik freien Lauf, so bestimmt sie die Bedeutung und das Wesen der Zukunft. Lässt man der Wissenschaft freien Lauf, so bestimmt sie, was als gültiges Bewusstsein zählt – nämlich das Quantifizierbare, Messbare, Sichtbare. Lässt man der Wirtschaft freien Lauf, so bestimmt sie das, was in der Welt geschieht, ja sie definiert sogar das, was die Welt ausmacht. Diese Kräfte der Welt sind jetzt schon so mächtig und durchdringend, dass Widerspiegelungen der Seele in der Welt, wie zum Beispiel Tradition und Kultur, sie nicht mehr ausgleichen können. So werden sie trotz aller Anstrengungen von Seiten der Tiefenpsychologie, ihre Wichtigkeit aufrechtzuerhalten, verloren gehen.
Nur das Wesen selbst der Liebe, in konkreten und spezifischen Formen ausgearbeitet, vermag diese Weltmächte auszubalancieren. Als Erstes braucht Seele jetzt ein tiefes und unangreifbares Interesse nicht nur für das, was bewirkt hat, dass wir so sind, wie wir sind (aufgrund dessen, was uns aus der Vergangenheit zugestoßen ist), sondern vor allem für das, was wir sein können — dies ist Seele als Zukunft. Als Zweites muss Seele jetzt im vollen Tageslicht des Bewusstseins agieren, damit sie in Freiheit die Verantwortung für das Erschaffen von Liebe und somit für die Neuerschaffung des eigenen Wesens auf sich nehmen kann — Seele als Seelenbewusstsein. Und als Drittes muss Seele jetzt sich befreien aus dem eingrenzenden Verhaftetsein im bloß individuellen Leben und muss die Fähigkeit entfalten, sich selbst zu fühlen in allem, was Außenwelt ist — Seele als Welt. Diese Interessen bilden die Substanz und die Tätigkeit dieses Buches. Dessen Inhalt ist bloßes Nebenprodukt.
Dieses Werk beginnt zwar in der Tiefenpsychologie; indessen werden in ihm die Grenzen der Psychologie bis zum äußersten Rand gedrängt. Mein Anliegen ist es nicht, die Akzeptanz der Orthodoxie für mich zu gewinnen, sondern zum Ausdruck zu bringen, wie dringlich es ist, die Pforte zu finden, die zur Erschaffung einer neuen spirituellen Kultur führt. So sorgfältig wie Rudolf Steiner hat keiner artikuliert, wie eine solche Kultur aussehen könnte, und seine Einsichten sind dieses ganze Buch hindurch offenkundig. Nur: so wenig wie dieses ein Buch über Jung bzw. archetypische Psychologie ist, ebensowenig ist es ein Werk über Steiner. Es ist vielmehr der Versuch, ein Beispiel einer auf Bewusstseinsschulung basierender Arbeitsweise zu bringen, was ja die Essenz dessen ist, was Steiner der Welt dargeboten hat. Viele Menschen greifen Steiners Anthroposophie als Gedankensystem auf und wenden sie – oft religiös – in vielen Bereichen an; Steiner selbst aber war so unerbittlich im Herabsetzen von „Steinerianern“ wie Jung es war bei „Jungianern.“
Der Ansatz zur Seele-Arbeit erfordert eine Schulung des Bewusstseins; nur so kann man das erfassen, was man anhand von Beschreibungen erkennen kann, auch ohne Theorien erdenken zu müssen. An die Phänomene des Lebens der Seele kann man durchaus mit dem Bewusstsein herankommen. Sie lassen sich beschreiben, vorausgesetzt es wird dabei der Versuch gemacht, aus der Seele heraus und nicht bloß über sie zu reden. Seele ist überall um uns herum, sie ist nicht der Spezialbezirk der Träume, Mythen, der Alchemie oder der tätigen Phantasie. Wenn aber gesagt wird, wir seien überall von Seele umgeben, so heißt das, dass es nicht möglich ist, einen Standpunkt außerhalb ihrer zu finden, und also entsteht die Notwendigkeit, aus dem heraus zu sprechen, was man beobachtet. Mit anderen Worten: wenn man aus einer Seelen-Perspektiv heraus arbeitet, ist der Beobachter selbst unvermeidbar ein Aspekt dessen, was er beobachtet. Diese Art der Innigkeit ist etwas anderes als die wissenschaftliche Anerkennung der Tatsache, dass schon allein die Beobachtung eines Phänomens das beeinflusst, was beobachtet wird.
Um hier Objektivität zu gewährleisten, ist die Entfaltung einer Logik der Seele statt der kognitiven Logik vonnöten. Da die Phänomene der Seele sich immer als lebendige Bilder darstellen, hat deren Logik nichts mit dem Sprechen über Bilder zu tun, sondern ist ein Sprechen aus der Aktivität des Imaginierens heraus. Zu häufig nützt die Tiefenpsychologie Bilder, Mythen und Erzählungen entweder als erläuternde Darstellungen oder als Material, das es zu interpretieren gilt. Was hier nicht gesehen wird, das ist, dass der erläuternd darstellende bzw. interpretierende Gebrauch von Bildern auf das zu Erläuternde bzw. zu Interpretierende eine andere Logik anwendet, als die ihm wesensgemäße. Das Resultat eines so gearteten Denkens ist, dass Seele den Weg ins Zentrum niemals finden kann. Das nimmt sich in etwa so heraus, wie wenn man Geschichten erzählt bekommt über jemanden, dem man nie begegnet ist. Sind die Geschichten gut, so mag man vom Gefühl gerührt sein, als würde man die Person kennen. Aber diese Rührung der Seele ist nicht das Gleiche wie deren unmittelbare, bewusste Gegenwart. Eine sympathisch mitschwingende Seelenregung geht allzu leicht als Erkenntnis durch und kann als unglücklicher Ersatz für die unumgängliche Arbeit dienen, zu Erkenntnis aus erster Hand zu gelangen.
Seelenlogik lässt sich durch die Tatsache erkennen, dass sie synthetisiert, anstatt zu analysieren. Seelenphänomene zeichnen sich durch eine Handlung des Erkennens aus, in der das Gewahrwerden der Seele und deren Verstandenwerden völlig vereinigt sind. So kann Seele durch nichts erklärt werden, was außerhalb ihrer eigenen Erscheinungsformen liegt. Und wenn wir in die mannigfachen Erscheinungen von Seele eintreten, erklärt sich ihre jeweilige Bedeutung von selbst. Eine Bewertung dessen, was dieser simultane Akt des unmittelbaren Gewahrens und des Verstehens offenbart, ist nur auf der Grundlage anderer Kriterien möglich, als die im Bereich der kognitiven Logik zugrunde gelegten. In der kognitiven Logik ist die Kardinalfrage die, ob das Ausgesagte richtig oder falsch ist. In der Logik der Seele ist die Kardinalfrage die, ob das Vorgebrachte gesund oder krank ist. Was die Gesundheit ausmacht, ist, ob das Verstehen organisch als ganzes Wesen wirkt und dem ganzen Wesen desjenigen dient, dem solches Verstehen zuteilwird. Krankheit tritt dann auf, wenn etwas Partielles für das Ganze gehalten wird – was nicht immer leicht festzustellen ist. Manches fühlt sich sehr gut an, wovon man krank wird, also kann die Befindlichkeit, in die man durch das zu Bewertende versetzt wird, kein Bewertungsmaßstab sein.
Im Reich der Logik von Seele ist das Gesunde gewöhnlich beunruhigend. Es tritt die Notwendigkeit ein, Störendes nicht sofort abzuweisen, sondern fortzufahren, um zu sehen, ob nicht eine ganze Welt geoffenbart wird, die, in einer beständigen Manifestationsreihe auftretend, ein ganzes Bild ergibt – wenn auch diese Reihe das Bild nicht ganz ausmacht. Ein Zeichen von Gesundheit ist, dass mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet werden und dass diese Fragen nicht durch Zweifel, sondern durch die Inspiration gekennzeichnet sind, noch weiter zu gehen.
Den Charakter der Logik der Seele kann man noch anders beschreiben, nämlich vom Gesichtspunkt ihres Zweckes her. Praktische Anwendung ist die am wenigsten nützliche Form der Seelenlogik und zugleich der größte Stolperstein auf dem Weg zu einer neuartigen Erkenntnis. Was es einzusehen gilt, ist, dass Anwendung, zumindest in der Weise, wie sie gegenwärtig verstanden wird, die Neigung mit sich bringt, anderen oder der Welt etwas aufzustülpen, von dem man die Vorstellung hat, dass es wohltuend oder hilfreich ist. Anwendung dieser Art fügt der Seele den größtmöglichen Schaden zu, denn solche Anwendung ist stark beeinflusst vom Bemühen, ein Problem so effizient wie möglich anzugehen und in möglichst kurzer Zeit (und möglichst preisgünstig) Resultate zu zeitigen. Seele funktioniert aber nicht in dieser Weise; sie sorgt sich nicht im Geringsten um Effizienz, kann aber ohne Weiteres verfinstert werden, wenn in dieser Weise an sie herangetreten wird.
Wenn man vom Aspekt der praktischen Anwendung absieht, kann vom Zweck der Seelenlogik denn gesagt werden, dass sie dem Wissen über die Seele selbst dient? Auch dieser Zweck ist für den Bereich der Seele ungeeignet, hauptsächlich deshalb, weil diese Art des Wissens nichts leistet. Zwar könnte argumentiert werden, dass Psychologie eine moderne Version der uralten Praxis der Selbsterkenntnis sei und dass solche Erkenntnis in sich schon etwas ausmacht. Dennoch ist diese Form des Wissens die am zweitwenigsten brauchbare Form (nach der Anwendung), an die Seelenlogik heranzutreten. Seele ist keine Entität, sondern eine Aktivität; wenn man weiß, was sie ist, ohne sie in ihrem Funktionieren zu kennen – in ihrem Ablauf selber indem sie am Funktionieren ist –, so mag solches Wissen profund sein, es ist und bleibt dennoch abstrakt. Solches Wissen führt einen nicht in die Welt hinein, sondern im Gegenteil von ihr weg – durch das Glauben daran geweiht vielleicht, dass man den Zugang zum Bezirk des Esoterischen und Verborgenen erlangt hat, was aber höchstwahrscheinlich Furcht vor der Welt, nicht die Liebe zu ihr offenbart.
Wenn in unserer Zeit Seelen-Kenntnis nicht zugleich Welterkenntnis ist, so zerfällt Selbsterkenntnis rasch in Selbsterhebung.
Seelenlogik beginnt selbständig dazustehen, wenn sie als Modus des Schauens gesehen wird. Seele muss zu allererst bezeugt werden. Das Stehen vor und zu gleicher Zeit innerhalb der Wirklichkeit der Seele ist ein Erkenntnisweg, der dieser Sphäre gerecht wird. Die Gleichzeitigkeit von Teilhaben und Beobachten ist der Modus der Imagination, wobei es hier gilt, zwischen dem Schauen als notwendigen Anfang und dem Schauen als Erfüllung zu unterscheiden. Das Schauen alleine genügt nicht, um als Logik der Seele zu gelten; es ist lediglich das, was sie in Gang bringt. Imagination muss sich in die produktive Imagination entfalten: die positive Handlung, die darin besteht, das mitzuerschaffen, was man erschaut. Seelenlogik erschafft auch das, was gerade beobachtet wird, indem sie sowohl auf das aufmerkt, was sich darstellt, als auch auf dessen Entstehen. Diese Erkenntnisart ist die produktivste, denn sie umfasst die Erscheinungsformen von Seele, das ins-Dasein-Treten dieser Erscheinungen, und deren Ergebnisse. Diese umfassende Seelen-Logik befriedigt das in einem Akt, was sonst in Erkenntnis und Anwendung zerteilt wird und die Entstehung überhaupt ausschließt.
Was die Arbeit der Seelenlogik ausmacht, ist das Engagiertsein im Erschaffen der Fähigkeiten, die man braucht, um das Seele-Machen – nicht das schon gemachte – gewahrzuwerden. Wenn wir so vorgehen, als wäre Seele schon fertig, so sind wir dazu verurteilt, nur das zu entdecken, was wir im Voraus schon wissen. Das Eintreten in die Logik der Seele ist eine Schulung des Bewusstseins, denn für gewöhnlich vermögen wir nur bis zum Endpunkt eines fortlaufenden Vorgangs dabeizusein, und das Entstehen dieses Endpunktes wird in das Reich des Unbewusstseins verbannt. Die Vorherrschaft der Vorstellung eines separaten Reiches des Unbewusstseins in der Psychologie ist weiter nichts als ein Zeichen der Faulheit, des Wunsches zu wissen, was unterhalb der Oberfläche vor sich geht, ohne die nötige Anstrengung zu unternehmen, um herauszufinden, dass es gar nichts erst gibt, was verborgen wäre. Um diese falsche Trennung zwischen dem Bewussten und dem Unbewussten zu durchbrechen, bedarf es weiter nichts als der Übung der aktiven Konzentration der Aufmerksamkeit, verbunden mit rezeptivem Aufnehmen, das nicht einschläft, sondern dadurch produktiv in Angriff genommen wird, dass man versteht, dass auch das Empfangen eine schöpferische Handlung ist. In dieser Weise vereint sich das im Wesen rezeptive Erschauen der Seele mit gefestigter Wachsamkeit im Angesicht dessen, was sowohl wahrgenommen als auch erschaffen wird. Dieser Modus zu wissen ist Intuition, nunmehr bewusst und voll zugänglich gemacht als ein Weg, das zu erkennen, was sonst nur Gegenstand von Hypothese und Spekulation sein kann.
Die Möglichkeit der Erschaffung einer in der Wirklichkeit der Seele gegründeten, spirituellen Kultur – was Gegenstand des Restes von diesem Buch ist – diese Möglichkeit fußt einerseits auf den Beiträgen der Tiefenpsychologie und andererseits in der oben beschriebenen Schulung des Bewusstseins. Wir müssen, denke ich, mit der Welt beginnen, in der wir leben, und auf das Zurückgreifen auf vergangene Modelle spiritueller Kultur verzichten. Auch kann spirituelle Kultur nicht aus einer Idee dessen gebildet werden, was unserer Meinung nach diese Kultur im Idealfall sein müsste. Das Gerichtetsein auf die Zukunft wird aus einer in der Vergangenheit enthaltenen Perspektive gewonnen; das heißt, es wird die Vergangenheit aufgegriffen anhand der Vorstellungsmöglichkeiten, die ihr innewohnen. So wird die „Zukunft“ nicht als etwas aufgegriffen, was geschehen kann, sondern als etwas, was bereits geschieht. Dies wiederum bildet eine bedeutende Eigenschaft des Lebens der Seele eines jeden Menschen, die ganz spezifisch und vielfältig beschrieben werden kann.
Also ist es die Absicht der Seelenlogik, einerseits die Romantik, andererseits den Utopismus zu vermeiden. Der Gedanke einer spirituellen Kultur hat mit einem goldenen Zeitalter weder der Vergangenheit noch der Zukunft etwas zu tun. Spirituelle Kultur soll nicht als etwas vor uns Ausgebreitetes konzipiert werden, das eine bessere Welt bietet, als die bestehende. Sie kann nicht aus kollektiver Veränderung sich ergeben, sie ist vielmehr etwas, was sich völlig individuell ereignet. Spirituelle Kultur ist paradoxerweise nicht etwas, was wir bereits besitzen, sondern sie vollzieht sich als etwas, was man von Moment zu Moment erschaffen muss, indem man sie als Aufgabe in Angriff nimmt. Eine solche Aufgabe wird niemals für sich andauern als etwas, an dem wir behaglich anästhetisiert und wohl versorgt, partizipieren. Wir sind was wir erschaffen, und im Augenblick, in dem wir vom Machen von Seele ablassen, sind wir weniger, als wir sein könnten.
Der Kontext: Terror und Liebe
Was eine Kultur der Liebe sein könnte, wendet sich stattdessen zu einer Kultur des Terrors. Terrorismus lässt sich nicht als isoliert betrachten. Es existiert ein größerer, alles umfassender Terror, eine Krise der Zivilisation, in welcher die Seele in einer permanenten Beengtheit lebt. Einige der Kennzeichen dieser Krise sind: wild wuchernder Materialismus, gelockerte Moralität gepaart mit sturer Moralität, der Tausch von Freiheit um Willkür, die Vorherrschaft der Lüge, hemmungslose Sinnlichkeit und Ausbeutung von Menschen und Erde als “Ressourcen” durch globale Konzerne. Unter diesen Umständen lebt die Seele in beständigem Terror. Eine Untersuchung von Terrorismus außerhalb des Kontexts dieser Destabilisierung der Gesellschaft – sowohl des eigenen Landes als auch anderer, aus denen der Terrorismus hervorgeht – ist nicht möglich.
Der Zweck des Terrorismus ist, einen Weltzustand des permanenten Chaos zu produzieren, in dem die Verneinung von Geist und Seele herrscht. Eine Welt ohne Ehrfurcht, ohne Ehre, ohne Wahrheit, ohne Moral, ohne Einheit, ohne Phantasie, ohne Ideale. Die Seele ist es, die individuelle Psyche, die zu allererst in Terror lebt, weil es ihr Leben ist, das dabei ist durchgestrichen zu werden. Gewalttätige Terrorakte sind lediglich das sichtbare Siegel, der Stempel der Verneinung, die die Werte des Lebens durch die Macht des Todes ersetzt.
Das Wort Terror bedeutet “das Einflößen von Furcht.” Terror ist jedoch von einer ganz anderen Größenordnung als Furcht. Wenn wir Furcht erleben, so vermag etwas von unserer Seele darauf zu antworten, wir werden nicht völlig übermannt. Terror hingegen pflanzt Furcht in das Ganze unseres Seelenwesens ein. Er zerfrisst die Funktionen der Seele als da sind Phantasie, Kreativität, Erinnerung, Liebe, Sehnsucht, Träumen, Entschlussfähigkeit, Wollen Wünschen… und am allermeisten das innere, nicht durch organisierte Religion oder äußere Strukturen vermittelte Erleben der Gegenwart des Göttlichen.
Terror drangsaliert die Seele deshalb, weil es aus der Anwesenheit der Verneinung des Lebens keinen Ausweg gibt. Die von einem anderen Menschen angerichtete Vernichtung weitet sich über sich selbst hinaus und zieht andere mit hinein, die nicht beteiligt sind. Die Seele zieht sich unter fortdauernden Attacken dieser Art heftig zusammen, und binnen kurzem schwinden die inneren Qualitäten von Seele dahin; ja man vergisst sogar, wie diese Qualitäten überhaupt waren.
Die Seele fühlt Terror als arge Beschränkung ihres Zugangs zur inneren Anwesenheit dessen, von dem C. G. Jung als die Reiche des “Numinosen” sprach. Ein materialistischer Ausblick auf die wirtschaftliche Globalisierung einerseits und auf den Isolationismus andererseits bewirkt diese Zusammenziehung. Es lassen sich ohne Weiteres zwei Formen des Terrorismus unterscheiden. Viele Menschen in den Regionen, von denen aus am intensivsten äußere Terrorattacken gelenkt zu sein scheinen, leben einen merkwürdigen Materialismus des Geistes. Sie sind in ihrem materiellen Leben so schwer eingeschränkt, dass sie zur Vorstellung gekommen sind, sie könnten alle materiellen Gegenstände, die sie je begehren könnten, dadurch gewinnen, dass sie ihr Leben opfern und zu einem Ort, einem Himmel materieller Freuden hinfahren. Dies ist Materialismus des Geistes. Schon allein die Anwesenheit dieser Weltsicht führt eine Verkrampfung der Seele für alle herbei, denn sie ist eine anti-Seelen-Vorstellung. Im Verneinen des Reiches der Materie durch Gewalt wird gemäß dieser Ideologie ein besseres materielles Reich gewonnen.
Es gibt eine zweite, gleich mächtige Form des Materialismus, innerhalb welcher die Seele nicht am Leben bleiben kann. Diese Form kann der “Geist des Materialismus” genannt werden. Diese Weltsicht besagt, dass vollkommene Befriedigung unserer sämtlichen materiellen Begierden alles sei, was man für ein volles Leben braucht; dabei vermittelt sie die stille Botschaft, dass das Leben der Seele überflüssig sei. Seele könne weder gesehen noch gemessen werden und wenn sie überhaupt existiere, so habe sie mit dieser Welt nichts zu tun. Unsere vornehmste Wissenschaft verleugnet ebenfalls die Existenz von Seele und ist eben diesem radikalen Materialismus zuzuordnen. Das ins-Auge-Fassen dieser zwei Formen des Terrorismus der Seele ermöglicht die Einsicht, dass die permanente leise Furcht, die wir empfinden, zu allererst die Furcht der Seele vor dem eigenen Untergang ist, noch lange bevor sie die Furcht um unser physisches Dasein ist.
Die ständige Gegenwart von Terror bewirkt, dass alles, womit wir uns identifizieren, von uns gestellt und in Frage gestellt wird; könnte es doch schließlich in der nächsten Sekunde verneint werden. Wenn wir uns keiner inneren Entwicklung unterziehen, durch die wir zur Erkenntnis gelangen, dass wir in unserem innersten Wesen unendlich mehr sind als das, womit wir uns identifizieren, wird der Terror zunehmen. Ferner, indem nach und nach Terror uns des Empfindens unserer konstruierten Identität benimmt, setzt er uns den Kräften des Unbewussten aus, ohne dass wir die Mittel haben, das zu verstehen, was mit uns vor sich geht. Wenn diese Attacken auf die Seele mit der oben erwähnten, fortdauernden, durch die globalen Mächte des Terrors herbeigeführten Einengung gepaart werden, so findet eine tiefgreifende innere Verwandlung statt. Unser Selbstempfinden wird durch einen Prozess der Verdoppelung nach und nach durch ein zweites Selbst ersetzt.
Dieser Vedoppelungsprozess ist in der Forschungsarbeit zum Thema Terror im Dritten Reich von Robert J. Lifton wohl dokumentiert. Die auf Mitmenschen verübten scheußlichen Terrorakte sind auf die Anwesenheit von Terror in den Tätern selbst zurückzuführen, der als Verdoppelung manifestiert. Liftons Forschung beschreibt fünf Eigenschaften des Verdoppelungsprozesses: 1. Ein zweites Selbst bildet sich autonom neben dem Alltags-Selbst. 2. Dieses zweite Selbst entsteht als direktes Resultat des Lebens in einem fortdauernden Zustand des Terrors. 3. Das zweite Selbst verleiht dem Leben in beständiger Furcht Kohärenz. 4. Das zweite Selbst verübt inakzeptable und greuliche Taten. 5. Das Gewissen wird auf dieses zweite Selbst verlegt. So geht aus fortdauernder Furcht nicht nur die Abstumpfung hervor; sie beginnt vielmehr, die dem Terror Ausgesetzten selbst zu Terroristen zu machen, was für eine Form dies immer annehmen mag. Haben wir diesen Prozess einmal erkannt, so gilt es, die Definition von Terrorismus auf alle Handlungen zu übertragen, die eine heftige Zusammenziehung des Seelenlebens herbeiführen.
Ein Doppel hat keine Seele: Es sieht aus und handelt wie ein Mensch, kommt anderen menschlich vor, ist aber nichts Weiteres, als eine Art Automat – extrem clever, überlebensfähig, aber immer auf Kosten anderer. Bei der Verdoppelung ist es in den USA soweit gekommen, dass sie nicht als Krankheit, sondern als Kennzeichen des Erfolgs angesehen wird – für Individuen, für Konzerne, für den Staat. Der Prozess der Verdoppelung hat mit Dissoziation, multiple Persönlichkeits-, oder Borderline-Störungen nichts zu tun. Das Potential, den Sinn zu verlieren für den, der wir sind, besteht für jeden, der mit einem überwältigenden Empfinden fortdauernder Furcht lebt. Ein Leben ausschließlich mit den Bewusstseinskapazitäten, die nichts als die materielle Wirklichkeit verstehen, der Verlust der Fähigkeit zum bewussten individuellen Seelen-und Geistesleben, öffnet die Pforten zum Eintritt des Doppels.
Mit der Anwesenheit fortdauernder Furcht verlieren wir den Sinn für unsere geistige Individualität. Wenn wir uns aber der Furcht der reinen Verneinung stellen, statt auf sie bloß zu reagieren, werden wir in vollerer Art wir selbst. Wenn wir die volle Stoßkraft gänzlichen Ausgeloschenseins innerlich erleben, so werden wir in unserem Geistselbst, in dem Teil von uns selbst bewusst, der nie ausgelöscht werden kann. So vermag die Furcht, uns zum inneren Leben zu erwecken. Wir begehen einen horrenden psychologischen Fehler, wenn wir annehmen, dass Maßnahmen getroffen werden können, durch welche terrorisierte Individuen der Gesellschaft oder einem vorherigen Zustand des Wohlfühlens wiederhergestellt werden können. Eben diese Phantasie ist die terroristische Verfahrensweise des Geistes des Materialismus. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass Terror anders ist als Furcht und gänzlich andere Methoden des Therapierens erfordert. Terror nützt die Furcht, um das zu vollbringen, wonach er strebt: die völlige Vernichtung der Seele und des Geistes. Er will die Entindividualisierung des Menschen. Er will, dass Denken und Vorstellen fanatisch und Wollen despotisch und tyrannisch werden. Er will, dass Denken und Vorstellen literalistisch, eng, nüchtern, trocken und der Wille tierisch, geizig, fahrig werden. Er will, dass wir die Beziehung zu den geistigen Welten verlieren und dazu kommen, zu denken, dass es nur zwei Wirklichkeiten gibt: die materielle Welt und den Tod.
Diese zwei Urkräfte des Materialismus können nicht dadurch besiegt werden, dass die eine dazu gebraucht wird, um die andere zu bekämpfen. Nur ein Standpunkt, der zur gegenseitigen Aufhebung der zwei Urzerstörungs-Mächte führt, vermag uns aus dieser unvermeidlichen Richtung des Terrorismus hinauszuführen. Eine Welt des Terrors lässt sich nur durch eine Welt der Liebe ausbalancieren. Die Anwesenheit des Terrors offenbart aber, dass die Art der Liebe, derer man jetzt bedarf, Liebe als Macht ist, und nicht Liebe als Sentiment, Begierde, Gefühl oder religiöse Auffassung. Die Ebene, auf der an dem neuen Sinn für Liebe gearbeitet werden muss, ist eine, auf der wir den Einzelmenschen und die Kultur in ihrer Ganzheit als einheitliches Feld zu sehen vermögen. So zu arbeiten, erfordert eine vollständige Verwandlung des Bewusstseins. Wenn Sie so lesen, dass Sie es zulassen, den Fluss und die Kraft der Worte körperlich zu fühlen, anstatt dass Sie das Schreiben nur auf der intellektuellen Ebene auffassen, so wird eine solche Verwandlung in Ihnen in Gang gesetzt werden.
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