aus Die Macht der Seele. Wege zum Leben der Monatstugenden
von Robert Sardello
Die Tugend der Geduld
(Geduld wird zu Einsicht - Rudolf Steiner)
21. Oktober - 20. November
Geduld ist eine Bewusstseinsqualität des Langmuts. Soll diese Bewusstseinsqualität zu einer Verhaltensweise werden, und zwar zu einer, die Geltung hat, so muss sie erst zu einer Gewohnheit der Seele ausgebildet werden. Es kann von uns ausgeführte Handlungen geben, die wie Geduld aussehen, die aber weiter nichts sind, als uns von anderen Menschen eingeimpfte Verhaltensmuster. Solche Verhaltensmuster sind zwar nicht ohne sozialen Wert, aber man bezeichnet sie besser als Manieren denn als Tugenden. Wir wurden wohl von unseren Eltern oder in der Schule, oder in unserer religiösen Erziehung darin unterwiesen, dass Geduld ein guter Usus sei. So wertvoll aber ein solcher Brauch für unseren Umgang mit anderen Menschen sein mag: von der Tugend selbst wäre er nur die äußerste Hülse.
Der Geduld als Tugend wohnt – zumal als deren zentralster Aspekt – eine Eigenschaft inne, die man eine „reichhaltige Leere der Erwartung“ nennen kann. Wer ein wenig meditiert wird eine Strömung des Fühlens, einen Seelenstrom orten können – und zwar nicht nur gelegentlich, sondern als beständig fließende Strömung –, die diese besondere Eigenschaft des Fühlens trägt. Wie fühlt sich das an?
Unter einem bestimmten Umstand ist diese Eigenschaft nur schwer zu erfahren, wenn einem nämlich ein besonderes Lebensereignis bevorsteht und man von einer an diesem Ereignis gebundenen Stimmung der Erwartung erfüllt ist. Wenn sich etwa jemand, den man besonders lieb hat, den man aber seit langer Zeit nicht gesehen hat, zum Besuch anmeldet. So mag eine aktive Stimmung der Erwartung aufkommen, die so stark ist, dass sie die oben charakterisierte feinere, eher gegenstandslose Strömung überwältigt. Ja unser Leben mag mit allerlei kleineren Erwartungen dergestalt voll sein, dass es sogar eine gezielte Stillung des eigenen Innenlebens erfordert, damit der Strom der Geduld gefühlt werden kann.
Diese „reichhaltige Leere der Erwartung“ lässt sich als ein Gefühl der Spannung kennzeichnen, die im Inneren als ein ständiges Ziehen in zwei verschiedene Richtungen zugleich auftritt.
Man kann hier von zwei unbekannten Gewalten sprechen. Die eine davon zieht das Leben der Seele nach außen hin, sie dabei drängend, sich auszudrücken – wobei das verhüllt bleibt, was es auszudrücken gilt. Zur selben Zeit zieht eine andere, ebenfalls unbekannte Gewalt das Seelenleben nach innen hin und erzeugt dabei ein zwar unbehagliches Leiden, welches aber ohne starke Schmerzen auszuhalten ist und daher nicht als ablenkend erlebt wird. Diese fortdauernde Spannung ist der Ursprung der Fähigkeit, das Leben überhaupt innerlich zu erfahren. Eine Strömung des Lebens zieht also durch uns hindurch und wird als tatsächliches Erlebnis – nämlich als das innere Wahrnehmen dieser Spannung – von uns wahrgenommen.
So kann man die Geduld als Erfahrung des Lebens selbst beschreiben. Wir sind Geduld. So gesehen ist Geduld weit mehr als die Handlung, trotzdem man etwas erleben oder schaffen will, sich gezielt zurückzuhalten. Solche Momente bringen zum Ausdruck sowie auch zum Bewusstsein die Existenz einer tieferen, permanenten Tätigkeit; hier steht die Tugend als bewusstes Gefühl zur Verfügung.
Der Ausdruck „Leben“ ist so breit und umfassend, dass es den Anschein haben könnte, als hätten wir mit unserer Entdeckung der Geduld als „Erfahrung des Lebens selbst“ nicht besonders viel erreicht. Man muss hier bedenken, dass es um mehr als eine bloße Gegenüberstellung der Wörter „Geduld“ und „Leben“ geht. Das Leben als tatsächliche Erfahrung geht dynamisch einher; unser Leben ist ständig im Entstehen und Absterben begriffen. Es ist nicht der Fall, dass wir bloß leben oder das Leben besitzen; dass im Augenblick unserer Geburt das Leben einfach da wäre. Der Augenblick der Geburt ist lediglich als der Anfang eines Prozesses, in dem das Leben fortwährend im Entstehen und Vergehen begriffen ist. Dieser Prozess verläuft also als Spannungsvorgang zwischen der Polarität des Sterbens und des Neuentstehens.
Das, was innerhalb der Polarität des Sterbens und des neu Entstehens existiert, ist die Tugend der Geduld – allerdings unter einerVoraussetzung: die Dynamik dieser beiden Gegensätze muss ein tatsächlich gefühltes Erlebnis sein. Bei der Geduld geht es um ein genaues Erfahren der Bereiche zwischen diesen zwei Gegensätzen. Indem wir uns auf den einen oder den anderen der Gegensätze zu bewegen, entsteht eine anders geartete innere Erfahrung: nicht die des Entstehens und nicht die des Vergehens, sondern die desVerlangens. Die Richtung auf das Neuentstehen hin steigert diejenigen Bereiche des Verlangens, die mit Sinnesempfindungen und Leidenschaft verbunden sind, während die Richtung auf das Absterben zu die Sphäre des Verlangens steigert, die mit geistigen Angelegenheiten zu tun hat; am intensivsten erleben wir diese Sphäre im Verlangen nach Gott.
Eine zu stark empfundene Sehnsucht, ob in die eine oder die andere Richtung hin, bringt die Strömung der Geduld in Unruhe und macht sie zu einer zu bewältigenden Aufgabe anstatt zu einem fortdauernden, prozessualen Zustand. Das sei ganz wertfrei festgestellt. Es soll hier in keiner Weise nahegelegt werden, dass Begierden, Wünsche, Sehnsucht zu meiden seien, weder solche, die spezifisch körperlicher Art sind noch solche, die die Tendenz haben, uns vom Irdischen wegzuziehen. Wohl geht es aber bei der bewussten Pflege der Geduld als Tugend darum, dass man es zu einem Aushalten der Spannung bringt, die dann entsteht, wenn wir zwischen den Extremen des Verlangens dazwischen weilen. Warum ist es so wichtig, dieses Aushalten-Können zu fördern? Das hat vermutlich damit zu tun, dass zwischen Wünschen, Sehnsüchten und Begierden, die aufs Geistige gerichtet sind und solchen, die aufs Leibliche gehen, eine intime Beziehung obwaltet. Um diese beiden Polaritäten – die offenbar auf einander angewiesen sind – in beständiger Verbindung zueinander zu halten, wird Geduld von uns verlangt.
Ohne diese Spannung zwischen den zwei Arten des Verlangens haben wir kein Gefühlsleben – es sei denn, wir werden entweder von Religiösen Gefühlen oder vom leiblichen Fühlen und Empfinden überwältigt. Und so entsteht die Frage: wie ist es möglich, die Fähigkeit der Geduld bewusst zur Entfaltung zu bringen?
Von Zeit zu Zeit können wir uns dazu zwingen, geduldig zu sein; etwa mit einem Arbeitskollegen, mit einem Partner oder einem Kind, das ums Erlernen einer Fähigkeit ringen muss, die wir für selbstverständlich halten. Muss man sich also, wenn man sich eine beständigere Geduld aneignen will, gezielt Gewalt antun? Wenn wir uns einem anderen Menschen gegenüber zur Geduld zwingen, so heißt das für gewöhnlich, dass wir irgendein Verlangen unterdrücken. Die oben erwähnten zwei Pole des Verlangens führen dezidiert verschiedene Wertigkeiten. Diese Verschiedenheit will berücksichtigt werden, zumal hinsichtlich der Frage des Zwanges. Zwingen wir uns dazu, geduldig zu sein, zu warten, dazwischen zu stehen zwischen dem, was wir wünschen und dem, was im Augenblick ansteht, so ignorieren wir die verschiedenen Qualitäten des Verlangens, auf die es sich einzustimmen gilt. Wohl können wir uns zum Warten zwingen; die Seeleneigenschaft der Geduld werden wir dabei aber niemals fühlen.
Zwar kann das Verlangen nach Gott ebensostark werden, wie die Begierden und die Wünsche, die mit Sinnesempfindung und Leidenschaft verbunden sind; in der Regel ist es aber bei weitem nicht so ungestüm wie diese. Wenn die Erfüllung unserer sinnes- und leidenschaftsbezogenen Wünsche vereitelt wird, erleben wir normalerweise starke Ungeduld. Der Versuch, durch Zurückhalten der Begierden und Wünsche die Geduld zu fördern, kann zwar momentane Handlungen der Geduld herbeiführen, aber nicht Geduld als Tugend. Auch kann die Unterdrückung der Begierden zur falschen Bewegung auf die andere Seite der Polarität hinführen: das äußert sich als Fanatismus. Wenn in dieser Weise Begierden zurückgehalten oder unterdrückt werden, so erhöht das normalerweise die empfundene Wucht der Begierde.
Soll aber das Verlangen nach Gott zu fühlen sein – soll sie also keine bloße Glaubensangelegenheit, kein Inhalt bleiben, von dem unsere religiöse Unterweisung uns sagt, dass er vorhanden sein müsse –, so muss man sich der Tatsache des Sterbens stellen. Und zwar als Faktum und mit Gelassenheit. „Mit Gelassenheit“ heißt: von Furcht frei. Dann erst können wir fühlen, wie Gott uns zu sich hinzieht. Die Furcht, die damit einhergeht, dass wir den Tod konfrontieren, erzeugt unerbittlich ein dauerndes Ungleichgewicht unseres Verlangens, unserer Begierden und Wünsche. Die unbewältigte Furcht vor dem Tod führt zur Dominanz der Sinnes- und Leidenschaftsbezogenen Wünsche und Begierden und zum Vergessen des Verlangens nach Gott.
Mit der Entwicklung der Geduld als Seelentugend werden wir es nicht weit bringen, wenn wir uns nicht auf den Tod einlassen. In unserem Bild der Polaritäten des Verlangens besetzt der Tod seinen Platz als die Figur der Furcht. Wegen der Furcht ist es, dass wir in der Regel nicht die fortdauernde Polarität des Sterbens und Neuentstehens fühlen können. Wir sehen nicht, dass diese Furcht eine gewaltige Illusion ist. Gegen diese Illusion müssen wir ankämpfen. Wohlgemerkt: nicht der Tod ist eine Illusion, sondern dessen Stachel.
An dieser Stelle bin ich sorgfältig bestrebt, innerhalb des Feldes einer spirituellen Psychologie zu bleiben und nicht eine theologische Debatte vom Zaun brechen. Dazu ist es hilfreich, unser Ausgangsbild im Sinne zu behalten – nämlich Geduld als eine Dynamik des zwischen der Polarität des Sterbens und Entstehens fließenden, gefühlten Lebens. Es gilt, die Geduld als dynamisch und nicht als statisch zu denken. Ein solcher dynamischer Fluss bedarf der vollen Kraft beider Polaritäten. Die Furcht vor dem Tod beziehungsweise dem Sterben blockiert die Erfahrung, dass die Lebendigkeit des Lebens in der ewigen Lebendigkeit einer göttlichen Schöpfermacht urständet, an der der Tod keinen Anteil hat.
Sind wir einmal überhaupt mit dem Tode zurechtgekommen, so wird die oft mit spirituellen Angelegenheiten einhergehende Ungeduld ebenfalls deutlicher zu erleben sein; wir durchschauen so unsere große Ungeduld mit den spirituellen Reichen. Wir fragen uns, warum es so scheint, als würden unsere Gebete nicht – beziehungsweise nicht umgehend – erhört, oder nicht erhört, wie wir uns deren Erhörung vorstellen. Wir fragen uns, wie es kommt, dass wir etwa nach zehn oder mehr Jahren Arbeit an der Entwicklung einer meditativen Praxis noch immer keine deutlichen geistigen Erlebnisse haben. Wir fangen an zu entdecken, dass unser Verlangen nach Geisterfahrungen der einen oder anderen Art in der Tat ebenso stark sein kann, wie unsere Begierde nach Sinnesempfindungen und Leidenschaften.
Diese immense Spannbreite der Ungeduld kommt weitestgehend nicht in den oben klar umrissenen Formen zum Ausdruck. Vielmehr äußert sich Ungeduld in all den kleinen fortlaufenden Vorkommnissen, in denen wir mit anderen zu scharf, zu sehr auf Kritik eingestellt sind; in der Art, wie in uns Zorn aufwallt, wie wir unseren Frust äußern oder uns über uns selbst ärgern. Der Arten, wie man ungeduldig werden kann, sind unzählig viele. Aber man wird finden, dass eine jede dieser Arten eine Verbindung zu den oben beschriebenen beiden polaren Richtungen aufweist. Unsere Ungeduld ereignet sich irgendwo entlang der Dynamik zwischen spiritueller Sehnsucht und den irdischen, mit Sinnesempfindung und Leidenschaften einhergehenden körperlich-leiblichen Begierden.
Ist es nicht so, dass wir uns einen geduldigen Menschen als ruhig und heiter-gelassen vorstellen? Es ist unvorstellbar, dadurch zur Geduld zu kommen, dass man die Begierde zurückhält oder gar auszumerzen versucht; letztendlich kann aus diesem Ansatz nur Gewalt hervorgehen. Andererseits stürzt uns das ungezügelte Ausleben der Begierde in die Abgründe des Stolzes, der Eifersucht, des Zornes, der Rache – in all die Exzesse hinein, die in der Richtung der Empfindungen und der Leidenschaften liegen. So ist die Vorstellung, man könne zur Geduld gelangen, indem man sich in die Begierde voll hineinwirft, ebenso unmöglich wie die, durch Zurückhaltung der Begierde zur Geduld zu finden. Haben wir hingegen hart daran gearbeitet, mit dem Tod ins Reine zu kommen, so erscheint uns das Verlangen nach Geisterfahrung als ein Gut, vor dem wir uns nicht zurückhalten möchten. Hier lauert auf der einen Seite der Exzess des Fanatismus als spirituelle Ungeduld, und auf der anderen Seite die Ungeduld, die dann entsteht, wenn uns entgegen unserer Auffassung, dass uns Geisterfahrungen zustünden, keine solchen zuteilwerden.
So gibt es offenbar keinen anderen Weg, zur Geduld zu kommen, als indem wir die eigene Ungeduld aushalten. Und zwar ohne über uns selbst zu urteilen. Vielleicht geht es aber beim Erlangen der Geduld nicht so sehr um eine Korrekivbewegung – darum also, auf die Bremse zu treten –, als vielmehr darum, dass wir aus den eigenen Ausschweifungen lernen. Vermögen wir es überhaupt, auf das aufmerksam zu sein, was in Phasen der Ungeduld in unserer Seele vor sich geht – in egal welche Richtung diese Ungeduld geht –, so bemerken wir, dass etwas mehr vorgeht, als dass wir möglichst rasch unseren Willen durchsetzen wollen. Es wird zugleich auch etwas, eine bestimmte Bewusstseinsqualität, weggeschoben. Diese Qualität erkennen wir eher daran, dass sie abwesend ist, wenn wir einmal hastig gehandelt haben. Sie lässt sich als seine Art fruchtbarer Zeit beschreiben, die in der Seele existiert und aus ihr besteht.
Anstatt zu versuchen, in direkter Weise Geduld zu lernen, ist es wohl besser, sich auf Wege zu konzentrieren, wie man die Anwesenheit dieser Zeitqualiät fühlen kann. In diesem Fall geht es bei der Geduld um das Schützen dieser Qualität der Seelen-Zeit. Eine solche Praxis bietet uns etwas Greifbares, an dem wir arbeiten können; sonst müssten wir daran arbeiten, uns zu beschränken, sofern wir in uns die Tugend der Geduld fördern wollen. Das sich- Einschränken allein funktioniert allerdings selten als Strategie, um überhaupt irgendetwas zustande zu bringen.
Man stelle sich vor, man würde sich jemandem gegenüber ein ungeduldiges Verhalten an den Tag legen. Ich sitze etwa und schreibe, dabei versuche ich mich zu konzentrieren. Meine Partnerin betritt den Raum und unterbricht mich. Ich bemühe mich, für das Interesse zu zeigen, was sie sagt, bin aber doch gereizt. Sie verlässt den Raum, ich wende mich meiner Arbeit wieder zu, habe aber den Faden verloren und muss herumsuchen, um den kontemplativen Zustand wieder zu finden, in dem ich war. Im Augenblick, in dem mir dies gelingt, kommt sie wieder herein. Dieses Mal platze ich und schreie sei beinahe an; eine Handlung der Ungeduld, bei der es um die Körperempfindung, um eine Art Wohlgefühl geht, das einsetzt, wenn man gut ins Schreiben kommt.
Sehen wir uns ein weiteres Beispiel an, diesmal aus der anderen Richtung. Ich bin beim Meditieren und finde nicht diese Empfindung der Räumlichkeit, eine bestimmte innere Qualität, in die man sich hineinbegibt, wenn der Fluss der Meditation richtig verläuft. Ich suche immer weiter nach diesem inneren Raum, stelle dabei aber fest, dass ich ängstlich werde. Dann finde ich ihn endlich doch, werde jedoch mitten im Meditieren unzufrieden, da ich noch mehr will, wie etwa die direkte und klare Anwesenheit eines geistigen Wesens, das vor mir steht, mit mir spricht, mir in der Weise absolut klare Anweisungen gibt, wie man in den ganzen Bücher über Pop-Spiritualität darüber zu lesen ist. In Wirklichkeit ist aber gar nichts da und ich vermag nicht, bei diesem Nichts dabei zu bleiben; also breche ich die Meditation ab.
Was als Handlung der Ungeduld in diesen Beispielen wohl das Bemerkenswerte ist, das ist das Wegschieben einer ganz bestimmten inneren Erfahrungsqualität. Von dieser Qualität kann man nicht sagen, dass sie einen Inhalt hat, was jeden Versuch erschwert, diese Qualität zu beschreiben. Daher müssen wir uns in negativer Weise zunächst um eine Beschreibung bemühen: diese weggeschobene Eigenschaft lässt sich als Abwesenheit von Ego kennzeichnen. Ungeduld besteht im Wegdrängen einer Kraft beziehungsweise einer Qualität, die nicht mein Ego ist. Ungeduld besteht nicht so sehr in Egoismus, als vielmehr im Wegdrängen von allem anderen. Darin liegt die Kraft, die der Ungeduld innewohnt. Diese weggedrängte Erlebnisdimension – die gefühlte Eigenschaft, dass weit mehr zu uns gehört, als unsere kleine Auffassung von uns selbst – gibt es immer; sie ist stets vorhanden, auch in der Anwesenheit eines starken Egogefühls.
Neben unserem Egogefühl – eigentlich fühlt es sich so an, als würde es direkt unterhalb der Empfindung des Egogefühls daherströmen – befindet sich eine andere tiefe, unermessliche Strömung. Versuche ich diese Strömung zu verbildlichen, sie für einen Augenblick zum Inhalt meines Bewusstseins zu machen, so nimmt sie das Bild eines filigranen, vielfädigen Webens an. Während ferner das Egogefühl mehr in der Kopfgegend sitzt, ist diese Strömung am stärksten in der Brustregion zu fühlen. Bei letzterem Gefühl handelt es sich um die Strömung der Geduld, in die gilt es, eintauchen zu lernen, anstatt sie wegzudrängen.
Mir fällt auf, dass wann immer eine bestimmte Art des Gedankens eindringt, diese Strömung verschwindet. Dieser Gedanke ist ausnahmslos mit meiner Ungeduld jemandem gegenüber – einschließlich mir selbst – verbunden. Mir kommt etwa ein Gedanke darüber, wie mein Kollege in letzter Zeit anscheinend nicht besonders fleißig bei der Arbeit ist. Oder es fällt mir alles ein, was ich im Lauf des kommenden Monats erledigen muss. Im Augenblick, in dem solche Gedanken eindringen, wird die Strömung der Geduld weggedrängt. Versuche ich, die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, welche spezifische Bewusstseinsqualität sich geändert hat, als diese Strömung weggeschubst wurde, so sehe ich, dass es eine Eigenschaft des kontinuierlichen Segens beziehungsweise eine Art Mantel ist, die alles umhüllt, was ich denke und tue. Es ist eine Strömung des Segens, des Segnens.
Ist es unumgänglich, diesen Strom, diese Segens-Hülle zu stören, wann immer wir etwas geschafft bekommen wollen? Wenn es in der Tat so ist, dann sind unsere sämtlichen Handlungen ohne Segen. Ohne diese Segens-Strömung, diesen Strom der Geduld, entstammen unsere Handlungen, und seien sie noch so edel und hehr, einem Ego-zentrierten Bewusstsein. Der Inhalt dessen, was wir vollbringen, spielt keine Rolle: er ist Ego-zentriert, sofern diese Strömung des Fühlens beiseitegeschoben wird. Wir mögen zwar meinen, dass wir etwas Spirituelles vollbringen, da wir aus einer spirituellen Idee, einem spirituellen Motiv oder Zusammenhang heraus handeln. Wird jedoch diese Strömung unterbrochen, so führen wir weiter nichts als eine spirituelle Idee, nicht aber eine spirituelle Handlung aus. Ungeduld ist Pietätlosigkeit; sie ist ein Handeln ohne das gefühlte Vorhandensein des Geistes, ohne die innere Eigenschaft der Seele, selbst dann, wenn das, was wir tun, einen Seelen- und Geistinhalt haben mag.
Die oben beschriebene Eigenschaft des Stroms der Geduld liefert einen Hinweis mit Bezug auf die Art des Übens, die erforderlich ist, um vor diesem Strom gegenwärtig zu bleiben, und zwar trotz aller inneren wie äußeren Unterbrechungen, die daherkommen und die Fäden unseres geduldigen Webens zerreißen. Wir müssen die Gewohnheit entwickeln, zu ständigen Webern zu werden. Wer jemandem beim Stricken, Weben oder Häkeln zusieht, der sieht die Tätigkeit selbst der Geduld am Werk. Weber verrichten ihre Arbeit nicht augenscheinlich mit einem Zweck, mit einem Ziel im Sinn, auf das sie zustreben. In just dem Augenblick, in dem ein solches Ziel sich behaupten und Zweck des Webens würde, würde die Aufgabe voller Fehler werden.
Wohl mag ein Weber sich dazu anschicken, mit einem bestimmten Muster oder Entwurf im Sinne ein bestimmtes Objekt zu schaffen; die Vision ihrer Vervollständigung muss er aber recht bald beiseitelegen, um die Arbeit ausführen zu können, die im Wiederholen derselben Arbeitsgänge besteht: immer und immer wieder, tage-, wochen-, monatelang. Bei dieser Arbeit wird ein besonderer Rhythmus verwendet, der großes Können sowie ein ununterbrochenes Aufgebot an Konzentration erfordert. Besonders interessant an dieser Konzentration ist, dass sie anscheinend nicht zwingend den Intellekt beansprucht. Ich habe Menschen gesehen, die beim Zuhören langer Vorträge an einem Pullover gestrickt und offenbar alles verstanden haben, was gesprochen wurde, ja einen Auenblick hinaufblickten und ziemlich prägnante Fragen stellten. Das Weben am Webstuhl mag wohl eine noch größere Aufmerksamkeit des Verstandes als das Stricken erfordern, aber auch dieser Aufwand an Konzentration stammt nicht aus dem Intellekt. Geduld verwebt sich uns permanent ins Leben; die Tugend besteht im lauschen Lernen auf diese wunderschöne Ruhe.
Wer zusieht, wie ein Buchhalter den ganzen Tag Ziffern in seinen Kalkulationsbogen einträgt, dem könnte die Geduld wie etwas Mentales vorkommen. Zwar mag Geduld auch auf mentaler Ebene stattfinden sowie auch auf emotionaler und physischer Ebene. Die Geduld selbst geht aber aus keiner derselben hervor, vermag jedoch, sich mit allen zu verweben. Um es anders zu sagen: Geduld verwebt die multidimensionalen Aspekte unseres Wesens – die geistigen, mentalen, emotionalen und physischen. Wir erleben dann Ungeduld, wenn die eine Dimension sozusagen auf eigene Faust (ver)handeln will. Wenn zum man Beispiel bei der Arbeit mit einem Kollegen ungeduldig wird, während man ihm versucht, ein bestimmtes finanzielles Verfahren zu erklären, so werden in dem Augenblick bestimmte menschliche Dimensionen der Beziehung zurückgelassen. Vielleicht ist es in dem Moment gerade der geistige Sinn der Beziehung oder aber die emotionale Dimension, der verdunkelt wird.
Wenn wir um einer spezialisierten Funktion Willen unsere Ganzheitlichkeit beiseitelassen, wird die Situation für eine Explosion der Ungeduld reif. Ohne bestimmte Aspekte unseres Seins manchmal auszuschalten, um die von uns verlangten Aufgaben bewältigen zu können, können wir in der Welt nicht existieren. Ungeduld droht entweder dann, wenn wir Aspekte von uns selbst links liegen lassen müssen, um eine bestimmte Aufgabe auszuführen, oder wenn wir uns ans einseitige Ausführen der Aufgabe gewöhnt haben und von uns plötzlich verlangt wird, dass wir als vollständigere Menschen funktionieren.
Ein zentraler Aspekt bei Störungen, die uns entweder dann zustoßen, wenn uns wir auf eine spezialisiertere Aufgabe einstellen müssen, oder aber dann, wenn wir uns von einer solchen lösen müssen, ist die veränderte Erfahrung der Zeit. Wenn man mitten in einer Aufgabe versenkt ist, für die eine erhebliche Konzentration aufgeboten werden musste um es soweit zu bringen, dass man ausschließlich und ohne Ablenkung bei dieser Aufgabe dabei ist, und dann plötzlich von jemandem unterbrochen wird, ist es so, wie wenn die Art der Zeit, die so gewoben werden musste, dass sie zur bestimmten, anstehenden Aufgabe passt, auf einmal zusammenbrechen würde. In ähnlicher Weise braucht es einige Mühe, um aus der Zeit, die man noch vor dem Aufgreifen der Aufgabe lebte, die Zeit zu weben, die der Aufgabe eignet. Diese Übergangsstellen sind die zum ungeduldig Werden anfälligsten Punkte.
Aus dem bisher Gesagten gewinnt man den Eindruck, dass zur Entfaltung der Geduld ein Zusammenweben der verschiedenen Welten nötig ist, an denen wir ständig teilnehmen. Ein solches Zusammenweben findet statt, indem wir uns für eine Weile in die eine Welt, dann in die andere hineinbegeben, und dann vielleicht hinaus in die Welt des alltäglichen Lebens zurück. Wie können wir es zwischen den von uns erlebten Welten zu reibungsloseren und harmonischeren Beziehungen bringen?
Gewiss können wir uns vorstellen, wie jemand dadurch Geduld ausbildet, dass er lernt, in einer einzigen Erfahrungswelt zu leben. Einer solchen radikalen Einschränkung schuldet nicht nur der in ein Leben des Gebets und der Meditation übergegangene Heilige, sein Dasein, sondern auch der Workaholic. Der einzige Unterschied zwischen den Arbeitsmodi dieser zwei Menschentypen ist das jeweilige Zeiterlebnis. Wir tendieren dahin, den Workaholic so zu bewerten, dass wir sagen, ihm fehle etwas Wesentliches, während wir vom Menschen sagen, der sich ins Kloster oder in den Aschram zurückgezogen hat, dass er eine hehre und edle Wahl getroffen habe. Wir tun aber vielleicht gut daran, eine Spiritualität in Frage zu stellen, die einem Verzicht auf die wohl zentrale spirituelle Aufgabe unserer Zeit entstammt, nämlich das Ausbilden einer Flexibilität der Seele, die es einem zulässt, sich in verschiedene Welten hinein- und aus ihnen hinauszubegeben.
Die Art der Spiritualität, die sich daran hält, dass die geistigen Welten in einer einzigen Zeitlichkeit – sakraler Zeit, ewiger Zeit, zeitloser Zeit – existieren, ist eher der Vergangenheit verpflichtet, als der Gegenwart. Das Festhalten an dieser ausschließlichen Sichtweise auf spirituelle Erfahrung ist ein wohl atavistisches Verhalten, das geradezu zu einer Verstärkung des Mangels an Geduld in der Welt beiträgt. Wie wir schon festgestellt haben, entspringt Geduld keiner unserer psychischen Fähigkeiten. Zur Geduld kommen wir nicht durch den Verstand oder den Intellekt, auch nicht über die Emotionen oder auf physischen Weg. Über Geduld sind wir zwar in der Lage nachzudenken: uns in sie hineindenken können wir aber nicht. Geduld an sich scheint auch keine Emotion zu sein, wenngleich sie zur emotionalen Qualität der Gelassenheit führt. Und wenn wir versuchen, uns geduldig zu verhalten, so mögen wir zwar eine Weile das entsprechende äußere Betragen inszenieren können; einem solchen Betragen werden aber die inneren Qualitäten einer erlebten Geduld fehlen.
Dass die Geduld eine qualitativ andere Zeitlichkeit erleben lässt als die „normale“ Zeit, in der wir leben, wurde bereits festgestellt. Diese Qualität als aber als zeitlos zu beschreiben, wäre ungenau; denn außerhalb der Zeit liegt sie nicht. Es ist wohl präziser zu sagen, dass Geduld in einer anderen Zeit stattfindet, als dass es bei ihr um eine Qualität der Zeit schlechthin geht. Wenn wir geduldig sind, ist es uns, als hätten wir reichlich Zeit. Damit ist gemeint, dass die Zeit, die man mit der Uhr misst, in den Hintergrund zurück- und eine andere Zeit hervortritt. Wir erleben nunmehr die Dauer. Dauer fühlt sich an wie gewöhnliche Zeit, die ausgedehnt wurde. Wir befinden uns nach wie vor in dieser Welt, fühlen uns uns selbst und unserer gewöhnlichen Umgebung sehr nahe; wir sind nicht außerhalb des Leibes oder der Empfindung des Raumes; ja wir fühlen uns umso sicherer an dem Ort, wo wir uns gerade befinden.
In der Geduld wird die Zeit geräumig. Wenn wir in der üblichen Weise ungeduldig leben, fehlt der Zeit diese Qualität der Geräumigkeit, welche etwas ist, bei dem man spürt, dass man darinnen leben, es bewohnen kann. Die Zeit und wir stehen keineswegs miteinander auf freundlichem Fuß, und dieses Fehlen der Freundlichkeit zeigt sich als ständige Ungeduld. Die Zeit scheint nicht auszureichen, und normalerweise glauben wir, dass wenn wir eine größere Menge Zeit hätten, es um uns qualitativ anders bestellt wäre. Dem ist nicht so. Auch wenn wir mehr von dieser Zeit hätten, würden wir sie lediglich mit mehr von derselben Art der Tätigkeit ausfüllen, mit der wir uns jetzt schon beschäftigen. Entweder würde sich dadurch unsere Ungeduld nur noch mehr steigern, oder aber wir hätten Zeit übrig – die aber die gleiche Art der Zeit wäre, die schon jetzt so lästig ist, und die jetzt als Langeweile empfunden würde. Gewöhnliche Zeit, die leer ist, ist Langeweile.
So ist Dauer also anders als das Besitzen von mehr quantitativ empfundener Zeit. Dauer fühlt sich wie gedehnte Zeit an, wie Zeit, die man von innen her empfindet, anstatt von ihr herumgepresst, herumgeschoben, gnadenlos bedrängt zu werden. Wenn wir eher die Qualität der Dauer empfinden, so fühlt sich Zeit reichlich, in Überfluss vorhanden an; sie wird von einem Mantel des Segens komplett umhüllt. Das, was ich an der Tugend der Geduld mit am interessantesten finde, das ist, dass mit ihr solche Dauer-artige Qualität der Zeit in die Tätigkeiten des alltäglichen Lebens Einzug hält. Diese Qualität der Dauer kann durchaus empfunden werden, und wir empfinden sie auch; ja wir suchen sie, brauchen sie. In der Regel aber finden wir sie dadurch, dass wir unsere gewöhnlichen Tätigkeiten verlassen und in Situationen eintreten, in denen Zeit in dieser Weise eben zu erleben ist. Wir fahren in Urlaub oder warten auf das Wochenende, um uns zu erholen; nehmen das Golfspielen auf; bekommen es heraus, wie man die Zeit einfach ohne Belastung zubringt. Dann müssen wir uns aber in die Situationen zurückbegeben, in denen wir keine Zeit haben, haben uns in der Zwischenzeit jedoch keine Geduld angeeignet.
Beim Ausbilden der Geduld geht es darum, bewusst die Dauer in die Falten der nach der Uhr gemessenen Zeit hereinzuziehen. Viele geistige Gemeinplätze raten dringend dazu, ohne aber Hinweise zum konkreten Verfahren zu geben: Man solle langsam tun, den Augenblick genießen, im Moment sein und so weiter. Solche Anweisungen haben die Tendenz, mehr die Selbstbefangenheit als die Geduld zu fördern; denn die Geduld geht stets mit dem Bild eines anderen Menschen einher. Geduld ist nicht etwas, was wir einfach haben. Wir sind mit jemandem oder etwas geduldig. Wie mit allen Tugenden, so ist auch es bei der Geduld auch so, dass indem wir sie ausbilden, sie zugleich auch ein Geschenk ist, das wir anderen darbringen. Wir entwickeln Geduld und sie ist ein Geschenk, das wir anderen und der Welt anbieten. Damit die Tugend vorhanden sein kann, bedarf es beider Aspekte.
Geduld oder Ungeduld erleben wir immer im Verhältnis zu jemandem. Mit uns selbst können wir allerdings auch ungeduldig werden, aber wenn das passiert, sind wir zu Gegenständen geworden uns selbst gegenüber, zu Zuschauern, die mit dem, was wir sehen, unzufrieden sind. Das „Jemand“ braucht nicht ein anderer Mensch zu sein; auch im Verhältnis zu Geistwesen – einschließlich Gott – erleben wir Geduld beziehungsweise Ungeduld.
Dass diese Tugend eine so offensichtlich relationale Form annimmt, das kann uns der oben erwähnte Prozess des Webens lehren. Bei der Geduld findet ein ineinander-Übergehen mit dem Seelenleben eines anderen Menschen statt, und der Vorgang des Webens begreift ein solches Ineinander. Geduld zählt zu den primären kommunalen Tugenden, zumal als absolut unverzichtbar für jede Gemeinschaft. Was aber dringendst erkannt werden muss das, dass wenn wir uns geduldig respektive ungeduldig verhalten, das im Verhältnis zum Leben der Seele des anderen Menschen geschieht. Geduld segnet die Seele des anderen Menschen, während Ungeduld aggressiv eine Grenze überschreitet, indem sie der Seele des anderen Menschen das eigene Ego aufoktroyiert. Seele – so vermute ich – weiß außer durch die Dauer-artige Zeit der Geduld keine andere Weise, sich zu verhalten. Ego hingegen weiß keine andere Weise, sich zu verhalten, als durch die Hast der gewöhnlichen, nach der Uhr gemessenen Zeit.
So erzieht uns die Geduld zur Bewusstheit im eigenen Seelenleben. Hier gilt es, zwischen dem Fließen der Zeit und der gefühlten Einteilung derselben zu unterschieden; ja an dieser Stelle wird die Zeit zum Gefühl, zum Bewusstsein, dass der Rhythmus, mit dem wir uns bewegen, handeln und mit anderen Umgehen weit wichtiger ist, als der spezifische Inhalt dessen, was wir etwa tun. Mit festina lente erkannten die Alchemisten die Wichtigkeit der gefühlsmäßigen Einschätzung und Einteilung der Zeit. „Eile mit Weile“ – das war deren Devise und die Disziplin, die sie ausbildeten, um gewöhnliches Metall in Gold zu verwandeln oder, so könnten wir es sagen, um aus etwas Vergänglichem etwas zu machen, was von Dauer ist.
Sich beeilen heißt sich intensiv auf das Leben einzulassen, heißt die Einsicht, dass wir hier sind, um etwas zu vollbringen, wozu wir nur relativ kurze Zeit dazu haben. Zugleich verlangt das, was zu vollbringen der Grund unseres Hierseins ist – eine geistige Aufgabe und kein bloßes Leben, Arbeiten, eine Familie haben und so weiter –, sorgfältige Aufmerksamkeit, scharfe innere Beobachtung, die richtigen Bewegungen und Handgriffe zur rechten Zeit. Eine hastige Bewegung ohne die rechte Langsamkeit der Wahrnehmung kann zum Verlust des inneren Sinns dessen führen, was wir tun.
Eine seelisch empfundene Zeit und die alltägliche Zeit sind nicht dasselbe. Aufgabe der Geduld ist es, diese zwei Zeitlichkeiten einander anzupassen – einerseits die Langsamkeit, die Besinnung, das Brüten, das Nachdenken über die Dinge, das tief Sehen, das intensiv Fühlen; andererseits die Zeitlichkeit der Leistungserbringung, des Voranschreitens mit der Arbeit, des Übergehens zu dem, was als Nächstes dran ist, des Effektivseins und im-Leben-Stehens. Geht es bei der Ausbildung der Geduld um das Herstellen eines Rhythmus? Darum, dass man sich eine Weile nach innen begibt? Um die Abwechslung der inneren Stille und des Tiefengangs mit der Bewegung nach außen und dem Erledigen handfester Aufgaben? Ein solcher Rhythmus kann nur dann wirken, wenn die eine Phase in die andere übergeht und wenn diese Bewegung in beide Richtungen führt. Es muss sich etwas von der Stimmung der Kontemplation mit der Handlung überlappen, und von der Handlung muss etwas in die Kontemplation übergehen. Dann muss sich jede der zwei Aspekte dem anderen nach und nach so nähern, dass allmählich beide Rhythmen simultan vor sich gehen. In dem Fall wären wir dabei, „mit Weile zu eilen“.
Was vollbringt denn Geduld in der Welt? Das Emblem „Eile mit Weile“ ist in einem aus dem 16. Jahrhundert stammenden alchemistischen Kupferstich von Heinrich Khunrath zu finden. Dieser Kupferstich heißt „Labor des Alchemisten“ und ist in Khunraths klassischem Werk der Alchemie Amphitheatrum Sapientiae Aeternae (Schauplatz der ewigen allein wahren Weisheit) zu finden. Das Bild stellt das Innere eines alchemistischen Labors dar, in dem eine Reihe von Dingen sich ereignen:
Der Alchemist kniet unter einem Gebetszelt und hat zwei Bücher vor sich auf dem Altar liegen. Das eine Buch ist die Bibel, das andere ein Buch geometrischer Zeichnungen; es handelt sich bei den Zeichnungen offenbar um die Bewegungen der Himmelskörper. In der Mitte des Bildes steht im Vordergrund ein Arbeitstisch; dieser ist mit allerlei Instrumenten übersät, und mitten unter diesem Konglomerat sind drei Musikinstrumente zu unterscheiden: eine Geige, eine Harfe und etwas Mandolin-Artiges. Rechts neben dem Tisch steht auf dem Fußboden, als Quell des Feuers, ein alchemistischer Ofen. Ein auf dem Ofen befindliches Gefäß trägt die Inschrift „Eile mit Weile“. Ganz am anderen Ende des riesigen Raums, der perspektivisch gezeichnet ist, befindet sich am Fluchtpunkt eine Wölbung, über der auf einem Schild „Schlafend wache“ zu lesen ist. Ein im Rauch des Rauchgefäßes stehendes Schild weist auf die Notwendigkeit des Opferns hin. Es ist in diesem Kupferstich noch viel mehr los, aber das sind die für unsere Zwecke wesentlichsten Elemente.
Das alchemistische Labor unseres Lebens, das Werk der Verwandlung des Ego-Lebens in ein Leben der Seele, ist der Schnittpunkt des Arbeitens und des Betens. Die auf dem Tisch liegenden drei Musikinstrumente weisen darauf hin, dass die Laborarbeit, das werden Lassen der Arbeit zum Gebet, drei Aspekte unseres Wesens miteinander in Harmonie bringt: das Mentale (die Geige wird in der Kopfgegend gespielt); das Emotionale (die Harfe wird in der Region des Herzens gespielt); und das Willenshafte (die Mandoline wird in der Gegend der Stoffwechselprozesse gespielt).
Die im Emblem dargestellte Laborarbeit hat damit zu tun, das Universum als göttliches Werk zu sehen, als das im Gebet begriffene Arbeit; sie hat auch mit der Hitze des Ofens zu tun: mit der rechten Anwendung des Feuers beziehungsweise der Liebe. Es geht um eine vom Herzen gesteuerte Zeiteinteilung, die mit Geduld – ja als Geduld vorzunehmen ist. In aller Alchemie heißt es schließlich vom Ofen, dass er das Geheimnis des Werkes birgt. Mittels der Geduld leben und arbeiten wir in der Welt und mit den inneren Eigenschaften von allem in der Welt. Wir arbeiten ganzheitlich, meditativ (was die Bedeutung des Schildes „Schlafend wache“), um der Welt Willen.
Das von mir beschriebene „alchemistische Labor“ stellt dar, was Geduld in der Welt tut. Das alchemistische Labor ist das Universum als Ganzes, nur von innen erlebt. Die Leistung der Geduld ist das Ausbilden der Fähigkeit, die Welt als Seele wahrzunehmen; die ganze Welt als innere Qualitäten, die in einer ständigen Tätigkeit der Verwandlung begriffen sind.
Will man diese Welt als die geistige Welt erleben, so braucht es die Tugend der Geduld – zumal eine Änderung in der Art, wie wir die Zeit der Welt wahrnehmen – und eine Sensibilität für die Art, wie wir diese Zeit einteilen. Aus vergangenen Traditionen heraus sind wir es gewohnt, uns die geistigen Welten als woanders vorzustellen – gewiss nicht als hier, nicht in der physischen Welt. Ein solches „Woanders“ gibt es aber nicht. Woanders hinzuschauen ist ein Akt der Ungeduld, die Unfähigkeit in völliger und totaler Freude und Begierde wie in völliger und totaler spiritueller Erfüllung hierzusein. Wir erleben „hier“ deshalb nicht als die spirituelle Welt, weil uns die dazu erforderliche Geduld abgeht. Wann immer wir darum gebeten werden, langsam zu tun, in uns selbst einzukehren, mit anderen wahrhaft anwesend zu sein, ist das eine spirituelle Übung. Wir bilden uns in solchen Fällen selbst zur Geduld aus, was auch eine Selbstbildung dazu ist, diese Welt als geist- und seelenerfüllt zu erleben.
Ausdruckbare pdf-Version von Die Tugend der Geduld
Weiterlesen in Die Macht der Seele. Wege zum Leben der zwölf Monatstugenden
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von Robert Sardello
Die Tugend der Geduld
(Geduld wird zu Einsicht - Rudolf Steiner)
21. Oktober - 20. November
Geduld ist eine Bewusstseinsqualität des Langmuts. Soll diese Bewusstseinsqualität zu einer Verhaltensweise werden, und zwar zu einer, die Geltung hat, so muss sie erst zu einer Gewohnheit der Seele ausgebildet werden. Es kann von uns ausgeführte Handlungen geben, die wie Geduld aussehen, die aber weiter nichts sind, als uns von anderen Menschen eingeimpfte Verhaltensmuster. Solche Verhaltensmuster sind zwar nicht ohne sozialen Wert, aber man bezeichnet sie besser als Manieren denn als Tugenden. Wir wurden wohl von unseren Eltern oder in der Schule, oder in unserer religiösen Erziehung darin unterwiesen, dass Geduld ein guter Usus sei. So wertvoll aber ein solcher Brauch für unseren Umgang mit anderen Menschen sein mag: von der Tugend selbst wäre er nur die äußerste Hülse.
Der Geduld als Tugend wohnt – zumal als deren zentralster Aspekt – eine Eigenschaft inne, die man eine „reichhaltige Leere der Erwartung“ nennen kann. Wer ein wenig meditiert wird eine Strömung des Fühlens, einen Seelenstrom orten können – und zwar nicht nur gelegentlich, sondern als beständig fließende Strömung –, die diese besondere Eigenschaft des Fühlens trägt. Wie fühlt sich das an?
Unter einem bestimmten Umstand ist diese Eigenschaft nur schwer zu erfahren, wenn einem nämlich ein besonderes Lebensereignis bevorsteht und man von einer an diesem Ereignis gebundenen Stimmung der Erwartung erfüllt ist. Wenn sich etwa jemand, den man besonders lieb hat, den man aber seit langer Zeit nicht gesehen hat, zum Besuch anmeldet. So mag eine aktive Stimmung der Erwartung aufkommen, die so stark ist, dass sie die oben charakterisierte feinere, eher gegenstandslose Strömung überwältigt. Ja unser Leben mag mit allerlei kleineren Erwartungen dergestalt voll sein, dass es sogar eine gezielte Stillung des eigenen Innenlebens erfordert, damit der Strom der Geduld gefühlt werden kann.
Diese „reichhaltige Leere der Erwartung“ lässt sich als ein Gefühl der Spannung kennzeichnen, die im Inneren als ein ständiges Ziehen in zwei verschiedene Richtungen zugleich auftritt.
Man kann hier von zwei unbekannten Gewalten sprechen. Die eine davon zieht das Leben der Seele nach außen hin, sie dabei drängend, sich auszudrücken – wobei das verhüllt bleibt, was es auszudrücken gilt. Zur selben Zeit zieht eine andere, ebenfalls unbekannte Gewalt das Seelenleben nach innen hin und erzeugt dabei ein zwar unbehagliches Leiden, welches aber ohne starke Schmerzen auszuhalten ist und daher nicht als ablenkend erlebt wird. Diese fortdauernde Spannung ist der Ursprung der Fähigkeit, das Leben überhaupt innerlich zu erfahren. Eine Strömung des Lebens zieht also durch uns hindurch und wird als tatsächliches Erlebnis – nämlich als das innere Wahrnehmen dieser Spannung – von uns wahrgenommen.
So kann man die Geduld als Erfahrung des Lebens selbst beschreiben. Wir sind Geduld. So gesehen ist Geduld weit mehr als die Handlung, trotzdem man etwas erleben oder schaffen will, sich gezielt zurückzuhalten. Solche Momente bringen zum Ausdruck sowie auch zum Bewusstsein die Existenz einer tieferen, permanenten Tätigkeit; hier steht die Tugend als bewusstes Gefühl zur Verfügung.
Der Ausdruck „Leben“ ist so breit und umfassend, dass es den Anschein haben könnte, als hätten wir mit unserer Entdeckung der Geduld als „Erfahrung des Lebens selbst“ nicht besonders viel erreicht. Man muss hier bedenken, dass es um mehr als eine bloße Gegenüberstellung der Wörter „Geduld“ und „Leben“ geht. Das Leben als tatsächliche Erfahrung geht dynamisch einher; unser Leben ist ständig im Entstehen und Absterben begriffen. Es ist nicht der Fall, dass wir bloß leben oder das Leben besitzen; dass im Augenblick unserer Geburt das Leben einfach da wäre. Der Augenblick der Geburt ist lediglich als der Anfang eines Prozesses, in dem das Leben fortwährend im Entstehen und Vergehen begriffen ist. Dieser Prozess verläuft also als Spannungsvorgang zwischen der Polarität des Sterbens und des Neuentstehens.
Das, was innerhalb der Polarität des Sterbens und des neu Entstehens existiert, ist die Tugend der Geduld – allerdings unter einerVoraussetzung: die Dynamik dieser beiden Gegensätze muss ein tatsächlich gefühltes Erlebnis sein. Bei der Geduld geht es um ein genaues Erfahren der Bereiche zwischen diesen zwei Gegensätzen. Indem wir uns auf den einen oder den anderen der Gegensätze zu bewegen, entsteht eine anders geartete innere Erfahrung: nicht die des Entstehens und nicht die des Vergehens, sondern die desVerlangens. Die Richtung auf das Neuentstehen hin steigert diejenigen Bereiche des Verlangens, die mit Sinnesempfindungen und Leidenschaft verbunden sind, während die Richtung auf das Absterben zu die Sphäre des Verlangens steigert, die mit geistigen Angelegenheiten zu tun hat; am intensivsten erleben wir diese Sphäre im Verlangen nach Gott.
Eine zu stark empfundene Sehnsucht, ob in die eine oder die andere Richtung hin, bringt die Strömung der Geduld in Unruhe und macht sie zu einer zu bewältigenden Aufgabe anstatt zu einem fortdauernden, prozessualen Zustand. Das sei ganz wertfrei festgestellt. Es soll hier in keiner Weise nahegelegt werden, dass Begierden, Wünsche, Sehnsucht zu meiden seien, weder solche, die spezifisch körperlicher Art sind noch solche, die die Tendenz haben, uns vom Irdischen wegzuziehen. Wohl geht es aber bei der bewussten Pflege der Geduld als Tugend darum, dass man es zu einem Aushalten der Spannung bringt, die dann entsteht, wenn wir zwischen den Extremen des Verlangens dazwischen weilen. Warum ist es so wichtig, dieses Aushalten-Können zu fördern? Das hat vermutlich damit zu tun, dass zwischen Wünschen, Sehnsüchten und Begierden, die aufs Geistige gerichtet sind und solchen, die aufs Leibliche gehen, eine intime Beziehung obwaltet. Um diese beiden Polaritäten – die offenbar auf einander angewiesen sind – in beständiger Verbindung zueinander zu halten, wird Geduld von uns verlangt.
Ohne diese Spannung zwischen den zwei Arten des Verlangens haben wir kein Gefühlsleben – es sei denn, wir werden entweder von Religiösen Gefühlen oder vom leiblichen Fühlen und Empfinden überwältigt. Und so entsteht die Frage: wie ist es möglich, die Fähigkeit der Geduld bewusst zur Entfaltung zu bringen?
Von Zeit zu Zeit können wir uns dazu zwingen, geduldig zu sein; etwa mit einem Arbeitskollegen, mit einem Partner oder einem Kind, das ums Erlernen einer Fähigkeit ringen muss, die wir für selbstverständlich halten. Muss man sich also, wenn man sich eine beständigere Geduld aneignen will, gezielt Gewalt antun? Wenn wir uns einem anderen Menschen gegenüber zur Geduld zwingen, so heißt das für gewöhnlich, dass wir irgendein Verlangen unterdrücken. Die oben erwähnten zwei Pole des Verlangens führen dezidiert verschiedene Wertigkeiten. Diese Verschiedenheit will berücksichtigt werden, zumal hinsichtlich der Frage des Zwanges. Zwingen wir uns dazu, geduldig zu sein, zu warten, dazwischen zu stehen zwischen dem, was wir wünschen und dem, was im Augenblick ansteht, so ignorieren wir die verschiedenen Qualitäten des Verlangens, auf die es sich einzustimmen gilt. Wohl können wir uns zum Warten zwingen; die Seeleneigenschaft der Geduld werden wir dabei aber niemals fühlen.
Zwar kann das Verlangen nach Gott ebensostark werden, wie die Begierden und die Wünsche, die mit Sinnesempfindung und Leidenschaft verbunden sind; in der Regel ist es aber bei weitem nicht so ungestüm wie diese. Wenn die Erfüllung unserer sinnes- und leidenschaftsbezogenen Wünsche vereitelt wird, erleben wir normalerweise starke Ungeduld. Der Versuch, durch Zurückhalten der Begierden und Wünsche die Geduld zu fördern, kann zwar momentane Handlungen der Geduld herbeiführen, aber nicht Geduld als Tugend. Auch kann die Unterdrückung der Begierden zur falschen Bewegung auf die andere Seite der Polarität hinführen: das äußert sich als Fanatismus. Wenn in dieser Weise Begierden zurückgehalten oder unterdrückt werden, so erhöht das normalerweise die empfundene Wucht der Begierde.
Soll aber das Verlangen nach Gott zu fühlen sein – soll sie also keine bloße Glaubensangelegenheit, kein Inhalt bleiben, von dem unsere religiöse Unterweisung uns sagt, dass er vorhanden sein müsse –, so muss man sich der Tatsache des Sterbens stellen. Und zwar als Faktum und mit Gelassenheit. „Mit Gelassenheit“ heißt: von Furcht frei. Dann erst können wir fühlen, wie Gott uns zu sich hinzieht. Die Furcht, die damit einhergeht, dass wir den Tod konfrontieren, erzeugt unerbittlich ein dauerndes Ungleichgewicht unseres Verlangens, unserer Begierden und Wünsche. Die unbewältigte Furcht vor dem Tod führt zur Dominanz der Sinnes- und Leidenschaftsbezogenen Wünsche und Begierden und zum Vergessen des Verlangens nach Gott.
Mit der Entwicklung der Geduld als Seelentugend werden wir es nicht weit bringen, wenn wir uns nicht auf den Tod einlassen. In unserem Bild der Polaritäten des Verlangens besetzt der Tod seinen Platz als die Figur der Furcht. Wegen der Furcht ist es, dass wir in der Regel nicht die fortdauernde Polarität des Sterbens und Neuentstehens fühlen können. Wir sehen nicht, dass diese Furcht eine gewaltige Illusion ist. Gegen diese Illusion müssen wir ankämpfen. Wohlgemerkt: nicht der Tod ist eine Illusion, sondern dessen Stachel.
An dieser Stelle bin ich sorgfältig bestrebt, innerhalb des Feldes einer spirituellen Psychologie zu bleiben und nicht eine theologische Debatte vom Zaun brechen. Dazu ist es hilfreich, unser Ausgangsbild im Sinne zu behalten – nämlich Geduld als eine Dynamik des zwischen der Polarität des Sterbens und Entstehens fließenden, gefühlten Lebens. Es gilt, die Geduld als dynamisch und nicht als statisch zu denken. Ein solcher dynamischer Fluss bedarf der vollen Kraft beider Polaritäten. Die Furcht vor dem Tod beziehungsweise dem Sterben blockiert die Erfahrung, dass die Lebendigkeit des Lebens in der ewigen Lebendigkeit einer göttlichen Schöpfermacht urständet, an der der Tod keinen Anteil hat.
Sind wir einmal überhaupt mit dem Tode zurechtgekommen, so wird die oft mit spirituellen Angelegenheiten einhergehende Ungeduld ebenfalls deutlicher zu erleben sein; wir durchschauen so unsere große Ungeduld mit den spirituellen Reichen. Wir fragen uns, warum es so scheint, als würden unsere Gebete nicht – beziehungsweise nicht umgehend – erhört, oder nicht erhört, wie wir uns deren Erhörung vorstellen. Wir fragen uns, wie es kommt, dass wir etwa nach zehn oder mehr Jahren Arbeit an der Entwicklung einer meditativen Praxis noch immer keine deutlichen geistigen Erlebnisse haben. Wir fangen an zu entdecken, dass unser Verlangen nach Geisterfahrungen der einen oder anderen Art in der Tat ebenso stark sein kann, wie unsere Begierde nach Sinnesempfindungen und Leidenschaften.
Diese immense Spannbreite der Ungeduld kommt weitestgehend nicht in den oben klar umrissenen Formen zum Ausdruck. Vielmehr äußert sich Ungeduld in all den kleinen fortlaufenden Vorkommnissen, in denen wir mit anderen zu scharf, zu sehr auf Kritik eingestellt sind; in der Art, wie in uns Zorn aufwallt, wie wir unseren Frust äußern oder uns über uns selbst ärgern. Der Arten, wie man ungeduldig werden kann, sind unzählig viele. Aber man wird finden, dass eine jede dieser Arten eine Verbindung zu den oben beschriebenen beiden polaren Richtungen aufweist. Unsere Ungeduld ereignet sich irgendwo entlang der Dynamik zwischen spiritueller Sehnsucht und den irdischen, mit Sinnesempfindung und Leidenschaften einhergehenden körperlich-leiblichen Begierden.
Ist es nicht so, dass wir uns einen geduldigen Menschen als ruhig und heiter-gelassen vorstellen? Es ist unvorstellbar, dadurch zur Geduld zu kommen, dass man die Begierde zurückhält oder gar auszumerzen versucht; letztendlich kann aus diesem Ansatz nur Gewalt hervorgehen. Andererseits stürzt uns das ungezügelte Ausleben der Begierde in die Abgründe des Stolzes, der Eifersucht, des Zornes, der Rache – in all die Exzesse hinein, die in der Richtung der Empfindungen und der Leidenschaften liegen. So ist die Vorstellung, man könne zur Geduld gelangen, indem man sich in die Begierde voll hineinwirft, ebenso unmöglich wie die, durch Zurückhaltung der Begierde zur Geduld zu finden. Haben wir hingegen hart daran gearbeitet, mit dem Tod ins Reine zu kommen, so erscheint uns das Verlangen nach Geisterfahrung als ein Gut, vor dem wir uns nicht zurückhalten möchten. Hier lauert auf der einen Seite der Exzess des Fanatismus als spirituelle Ungeduld, und auf der anderen Seite die Ungeduld, die dann entsteht, wenn uns entgegen unserer Auffassung, dass uns Geisterfahrungen zustünden, keine solchen zuteilwerden.
So gibt es offenbar keinen anderen Weg, zur Geduld zu kommen, als indem wir die eigene Ungeduld aushalten. Und zwar ohne über uns selbst zu urteilen. Vielleicht geht es aber beim Erlangen der Geduld nicht so sehr um eine Korrekivbewegung – darum also, auf die Bremse zu treten –, als vielmehr darum, dass wir aus den eigenen Ausschweifungen lernen. Vermögen wir es überhaupt, auf das aufmerksam zu sein, was in Phasen der Ungeduld in unserer Seele vor sich geht – in egal welche Richtung diese Ungeduld geht –, so bemerken wir, dass etwas mehr vorgeht, als dass wir möglichst rasch unseren Willen durchsetzen wollen. Es wird zugleich auch etwas, eine bestimmte Bewusstseinsqualität, weggeschoben. Diese Qualität erkennen wir eher daran, dass sie abwesend ist, wenn wir einmal hastig gehandelt haben. Sie lässt sich als seine Art fruchtbarer Zeit beschreiben, die in der Seele existiert und aus ihr besteht.
Anstatt zu versuchen, in direkter Weise Geduld zu lernen, ist es wohl besser, sich auf Wege zu konzentrieren, wie man die Anwesenheit dieser Zeitqualiät fühlen kann. In diesem Fall geht es bei der Geduld um das Schützen dieser Qualität der Seelen-Zeit. Eine solche Praxis bietet uns etwas Greifbares, an dem wir arbeiten können; sonst müssten wir daran arbeiten, uns zu beschränken, sofern wir in uns die Tugend der Geduld fördern wollen. Das sich- Einschränken allein funktioniert allerdings selten als Strategie, um überhaupt irgendetwas zustande zu bringen.
Man stelle sich vor, man würde sich jemandem gegenüber ein ungeduldiges Verhalten an den Tag legen. Ich sitze etwa und schreibe, dabei versuche ich mich zu konzentrieren. Meine Partnerin betritt den Raum und unterbricht mich. Ich bemühe mich, für das Interesse zu zeigen, was sie sagt, bin aber doch gereizt. Sie verlässt den Raum, ich wende mich meiner Arbeit wieder zu, habe aber den Faden verloren und muss herumsuchen, um den kontemplativen Zustand wieder zu finden, in dem ich war. Im Augenblick, in dem mir dies gelingt, kommt sie wieder herein. Dieses Mal platze ich und schreie sei beinahe an; eine Handlung der Ungeduld, bei der es um die Körperempfindung, um eine Art Wohlgefühl geht, das einsetzt, wenn man gut ins Schreiben kommt.
Sehen wir uns ein weiteres Beispiel an, diesmal aus der anderen Richtung. Ich bin beim Meditieren und finde nicht diese Empfindung der Räumlichkeit, eine bestimmte innere Qualität, in die man sich hineinbegibt, wenn der Fluss der Meditation richtig verläuft. Ich suche immer weiter nach diesem inneren Raum, stelle dabei aber fest, dass ich ängstlich werde. Dann finde ich ihn endlich doch, werde jedoch mitten im Meditieren unzufrieden, da ich noch mehr will, wie etwa die direkte und klare Anwesenheit eines geistigen Wesens, das vor mir steht, mit mir spricht, mir in der Weise absolut klare Anweisungen gibt, wie man in den ganzen Bücher über Pop-Spiritualität darüber zu lesen ist. In Wirklichkeit ist aber gar nichts da und ich vermag nicht, bei diesem Nichts dabei zu bleiben; also breche ich die Meditation ab.
Was als Handlung der Ungeduld in diesen Beispielen wohl das Bemerkenswerte ist, das ist das Wegschieben einer ganz bestimmten inneren Erfahrungsqualität. Von dieser Qualität kann man nicht sagen, dass sie einen Inhalt hat, was jeden Versuch erschwert, diese Qualität zu beschreiben. Daher müssen wir uns in negativer Weise zunächst um eine Beschreibung bemühen: diese weggeschobene Eigenschaft lässt sich als Abwesenheit von Ego kennzeichnen. Ungeduld besteht im Wegdrängen einer Kraft beziehungsweise einer Qualität, die nicht mein Ego ist. Ungeduld besteht nicht so sehr in Egoismus, als vielmehr im Wegdrängen von allem anderen. Darin liegt die Kraft, die der Ungeduld innewohnt. Diese weggedrängte Erlebnisdimension – die gefühlte Eigenschaft, dass weit mehr zu uns gehört, als unsere kleine Auffassung von uns selbst – gibt es immer; sie ist stets vorhanden, auch in der Anwesenheit eines starken Egogefühls.
Neben unserem Egogefühl – eigentlich fühlt es sich so an, als würde es direkt unterhalb der Empfindung des Egogefühls daherströmen – befindet sich eine andere tiefe, unermessliche Strömung. Versuche ich diese Strömung zu verbildlichen, sie für einen Augenblick zum Inhalt meines Bewusstseins zu machen, so nimmt sie das Bild eines filigranen, vielfädigen Webens an. Während ferner das Egogefühl mehr in der Kopfgegend sitzt, ist diese Strömung am stärksten in der Brustregion zu fühlen. Bei letzterem Gefühl handelt es sich um die Strömung der Geduld, in die gilt es, eintauchen zu lernen, anstatt sie wegzudrängen.
Mir fällt auf, dass wann immer eine bestimmte Art des Gedankens eindringt, diese Strömung verschwindet. Dieser Gedanke ist ausnahmslos mit meiner Ungeduld jemandem gegenüber – einschließlich mir selbst – verbunden. Mir kommt etwa ein Gedanke darüber, wie mein Kollege in letzter Zeit anscheinend nicht besonders fleißig bei der Arbeit ist. Oder es fällt mir alles ein, was ich im Lauf des kommenden Monats erledigen muss. Im Augenblick, in dem solche Gedanken eindringen, wird die Strömung der Geduld weggedrängt. Versuche ich, die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, welche spezifische Bewusstseinsqualität sich geändert hat, als diese Strömung weggeschubst wurde, so sehe ich, dass es eine Eigenschaft des kontinuierlichen Segens beziehungsweise eine Art Mantel ist, die alles umhüllt, was ich denke und tue. Es ist eine Strömung des Segens, des Segnens.
Ist es unumgänglich, diesen Strom, diese Segens-Hülle zu stören, wann immer wir etwas geschafft bekommen wollen? Wenn es in der Tat so ist, dann sind unsere sämtlichen Handlungen ohne Segen. Ohne diese Segens-Strömung, diesen Strom der Geduld, entstammen unsere Handlungen, und seien sie noch so edel und hehr, einem Ego-zentrierten Bewusstsein. Der Inhalt dessen, was wir vollbringen, spielt keine Rolle: er ist Ego-zentriert, sofern diese Strömung des Fühlens beiseitegeschoben wird. Wir mögen zwar meinen, dass wir etwas Spirituelles vollbringen, da wir aus einer spirituellen Idee, einem spirituellen Motiv oder Zusammenhang heraus handeln. Wird jedoch diese Strömung unterbrochen, so führen wir weiter nichts als eine spirituelle Idee, nicht aber eine spirituelle Handlung aus. Ungeduld ist Pietätlosigkeit; sie ist ein Handeln ohne das gefühlte Vorhandensein des Geistes, ohne die innere Eigenschaft der Seele, selbst dann, wenn das, was wir tun, einen Seelen- und Geistinhalt haben mag.
Die oben beschriebene Eigenschaft des Stroms der Geduld liefert einen Hinweis mit Bezug auf die Art des Übens, die erforderlich ist, um vor diesem Strom gegenwärtig zu bleiben, und zwar trotz aller inneren wie äußeren Unterbrechungen, die daherkommen und die Fäden unseres geduldigen Webens zerreißen. Wir müssen die Gewohnheit entwickeln, zu ständigen Webern zu werden. Wer jemandem beim Stricken, Weben oder Häkeln zusieht, der sieht die Tätigkeit selbst der Geduld am Werk. Weber verrichten ihre Arbeit nicht augenscheinlich mit einem Zweck, mit einem Ziel im Sinn, auf das sie zustreben. In just dem Augenblick, in dem ein solches Ziel sich behaupten und Zweck des Webens würde, würde die Aufgabe voller Fehler werden.
Wohl mag ein Weber sich dazu anschicken, mit einem bestimmten Muster oder Entwurf im Sinne ein bestimmtes Objekt zu schaffen; die Vision ihrer Vervollständigung muss er aber recht bald beiseitelegen, um die Arbeit ausführen zu können, die im Wiederholen derselben Arbeitsgänge besteht: immer und immer wieder, tage-, wochen-, monatelang. Bei dieser Arbeit wird ein besonderer Rhythmus verwendet, der großes Können sowie ein ununterbrochenes Aufgebot an Konzentration erfordert. Besonders interessant an dieser Konzentration ist, dass sie anscheinend nicht zwingend den Intellekt beansprucht. Ich habe Menschen gesehen, die beim Zuhören langer Vorträge an einem Pullover gestrickt und offenbar alles verstanden haben, was gesprochen wurde, ja einen Auenblick hinaufblickten und ziemlich prägnante Fragen stellten. Das Weben am Webstuhl mag wohl eine noch größere Aufmerksamkeit des Verstandes als das Stricken erfordern, aber auch dieser Aufwand an Konzentration stammt nicht aus dem Intellekt. Geduld verwebt sich uns permanent ins Leben; die Tugend besteht im lauschen Lernen auf diese wunderschöne Ruhe.
Wer zusieht, wie ein Buchhalter den ganzen Tag Ziffern in seinen Kalkulationsbogen einträgt, dem könnte die Geduld wie etwas Mentales vorkommen. Zwar mag Geduld auch auf mentaler Ebene stattfinden sowie auch auf emotionaler und physischer Ebene. Die Geduld selbst geht aber aus keiner derselben hervor, vermag jedoch, sich mit allen zu verweben. Um es anders zu sagen: Geduld verwebt die multidimensionalen Aspekte unseres Wesens – die geistigen, mentalen, emotionalen und physischen. Wir erleben dann Ungeduld, wenn die eine Dimension sozusagen auf eigene Faust (ver)handeln will. Wenn zum man Beispiel bei der Arbeit mit einem Kollegen ungeduldig wird, während man ihm versucht, ein bestimmtes finanzielles Verfahren zu erklären, so werden in dem Augenblick bestimmte menschliche Dimensionen der Beziehung zurückgelassen. Vielleicht ist es in dem Moment gerade der geistige Sinn der Beziehung oder aber die emotionale Dimension, der verdunkelt wird.
Wenn wir um einer spezialisierten Funktion Willen unsere Ganzheitlichkeit beiseitelassen, wird die Situation für eine Explosion der Ungeduld reif. Ohne bestimmte Aspekte unseres Seins manchmal auszuschalten, um die von uns verlangten Aufgaben bewältigen zu können, können wir in der Welt nicht existieren. Ungeduld droht entweder dann, wenn wir Aspekte von uns selbst links liegen lassen müssen, um eine bestimmte Aufgabe auszuführen, oder wenn wir uns ans einseitige Ausführen der Aufgabe gewöhnt haben und von uns plötzlich verlangt wird, dass wir als vollständigere Menschen funktionieren.
Ein zentraler Aspekt bei Störungen, die uns entweder dann zustoßen, wenn uns wir auf eine spezialisiertere Aufgabe einstellen müssen, oder aber dann, wenn wir uns von einer solchen lösen müssen, ist die veränderte Erfahrung der Zeit. Wenn man mitten in einer Aufgabe versenkt ist, für die eine erhebliche Konzentration aufgeboten werden musste um es soweit zu bringen, dass man ausschließlich und ohne Ablenkung bei dieser Aufgabe dabei ist, und dann plötzlich von jemandem unterbrochen wird, ist es so, wie wenn die Art der Zeit, die so gewoben werden musste, dass sie zur bestimmten, anstehenden Aufgabe passt, auf einmal zusammenbrechen würde. In ähnlicher Weise braucht es einige Mühe, um aus der Zeit, die man noch vor dem Aufgreifen der Aufgabe lebte, die Zeit zu weben, die der Aufgabe eignet. Diese Übergangsstellen sind die zum ungeduldig Werden anfälligsten Punkte.
Aus dem bisher Gesagten gewinnt man den Eindruck, dass zur Entfaltung der Geduld ein Zusammenweben der verschiedenen Welten nötig ist, an denen wir ständig teilnehmen. Ein solches Zusammenweben findet statt, indem wir uns für eine Weile in die eine Welt, dann in die andere hineinbegeben, und dann vielleicht hinaus in die Welt des alltäglichen Lebens zurück. Wie können wir es zwischen den von uns erlebten Welten zu reibungsloseren und harmonischeren Beziehungen bringen?
Gewiss können wir uns vorstellen, wie jemand dadurch Geduld ausbildet, dass er lernt, in einer einzigen Erfahrungswelt zu leben. Einer solchen radikalen Einschränkung schuldet nicht nur der in ein Leben des Gebets und der Meditation übergegangene Heilige, sein Dasein, sondern auch der Workaholic. Der einzige Unterschied zwischen den Arbeitsmodi dieser zwei Menschentypen ist das jeweilige Zeiterlebnis. Wir tendieren dahin, den Workaholic so zu bewerten, dass wir sagen, ihm fehle etwas Wesentliches, während wir vom Menschen sagen, der sich ins Kloster oder in den Aschram zurückgezogen hat, dass er eine hehre und edle Wahl getroffen habe. Wir tun aber vielleicht gut daran, eine Spiritualität in Frage zu stellen, die einem Verzicht auf die wohl zentrale spirituelle Aufgabe unserer Zeit entstammt, nämlich das Ausbilden einer Flexibilität der Seele, die es einem zulässt, sich in verschiedene Welten hinein- und aus ihnen hinauszubegeben.
Die Art der Spiritualität, die sich daran hält, dass die geistigen Welten in einer einzigen Zeitlichkeit – sakraler Zeit, ewiger Zeit, zeitloser Zeit – existieren, ist eher der Vergangenheit verpflichtet, als der Gegenwart. Das Festhalten an dieser ausschließlichen Sichtweise auf spirituelle Erfahrung ist ein wohl atavistisches Verhalten, das geradezu zu einer Verstärkung des Mangels an Geduld in der Welt beiträgt. Wie wir schon festgestellt haben, entspringt Geduld keiner unserer psychischen Fähigkeiten. Zur Geduld kommen wir nicht durch den Verstand oder den Intellekt, auch nicht über die Emotionen oder auf physischen Weg. Über Geduld sind wir zwar in der Lage nachzudenken: uns in sie hineindenken können wir aber nicht. Geduld an sich scheint auch keine Emotion zu sein, wenngleich sie zur emotionalen Qualität der Gelassenheit führt. Und wenn wir versuchen, uns geduldig zu verhalten, so mögen wir zwar eine Weile das entsprechende äußere Betragen inszenieren können; einem solchen Betragen werden aber die inneren Qualitäten einer erlebten Geduld fehlen.
Dass die Geduld eine qualitativ andere Zeitlichkeit erleben lässt als die „normale“ Zeit, in der wir leben, wurde bereits festgestellt. Diese Qualität als aber als zeitlos zu beschreiben, wäre ungenau; denn außerhalb der Zeit liegt sie nicht. Es ist wohl präziser zu sagen, dass Geduld in einer anderen Zeit stattfindet, als dass es bei ihr um eine Qualität der Zeit schlechthin geht. Wenn wir geduldig sind, ist es uns, als hätten wir reichlich Zeit. Damit ist gemeint, dass die Zeit, die man mit der Uhr misst, in den Hintergrund zurück- und eine andere Zeit hervortritt. Wir erleben nunmehr die Dauer. Dauer fühlt sich an wie gewöhnliche Zeit, die ausgedehnt wurde. Wir befinden uns nach wie vor in dieser Welt, fühlen uns uns selbst und unserer gewöhnlichen Umgebung sehr nahe; wir sind nicht außerhalb des Leibes oder der Empfindung des Raumes; ja wir fühlen uns umso sicherer an dem Ort, wo wir uns gerade befinden.
In der Geduld wird die Zeit geräumig. Wenn wir in der üblichen Weise ungeduldig leben, fehlt der Zeit diese Qualität der Geräumigkeit, welche etwas ist, bei dem man spürt, dass man darinnen leben, es bewohnen kann. Die Zeit und wir stehen keineswegs miteinander auf freundlichem Fuß, und dieses Fehlen der Freundlichkeit zeigt sich als ständige Ungeduld. Die Zeit scheint nicht auszureichen, und normalerweise glauben wir, dass wenn wir eine größere Menge Zeit hätten, es um uns qualitativ anders bestellt wäre. Dem ist nicht so. Auch wenn wir mehr von dieser Zeit hätten, würden wir sie lediglich mit mehr von derselben Art der Tätigkeit ausfüllen, mit der wir uns jetzt schon beschäftigen. Entweder würde sich dadurch unsere Ungeduld nur noch mehr steigern, oder aber wir hätten Zeit übrig – die aber die gleiche Art der Zeit wäre, die schon jetzt so lästig ist, und die jetzt als Langeweile empfunden würde. Gewöhnliche Zeit, die leer ist, ist Langeweile.
So ist Dauer also anders als das Besitzen von mehr quantitativ empfundener Zeit. Dauer fühlt sich wie gedehnte Zeit an, wie Zeit, die man von innen her empfindet, anstatt von ihr herumgepresst, herumgeschoben, gnadenlos bedrängt zu werden. Wenn wir eher die Qualität der Dauer empfinden, so fühlt sich Zeit reichlich, in Überfluss vorhanden an; sie wird von einem Mantel des Segens komplett umhüllt. Das, was ich an der Tugend der Geduld mit am interessantesten finde, das ist, dass mit ihr solche Dauer-artige Qualität der Zeit in die Tätigkeiten des alltäglichen Lebens Einzug hält. Diese Qualität der Dauer kann durchaus empfunden werden, und wir empfinden sie auch; ja wir suchen sie, brauchen sie. In der Regel aber finden wir sie dadurch, dass wir unsere gewöhnlichen Tätigkeiten verlassen und in Situationen eintreten, in denen Zeit in dieser Weise eben zu erleben ist. Wir fahren in Urlaub oder warten auf das Wochenende, um uns zu erholen; nehmen das Golfspielen auf; bekommen es heraus, wie man die Zeit einfach ohne Belastung zubringt. Dann müssen wir uns aber in die Situationen zurückbegeben, in denen wir keine Zeit haben, haben uns in der Zwischenzeit jedoch keine Geduld angeeignet.
Beim Ausbilden der Geduld geht es darum, bewusst die Dauer in die Falten der nach der Uhr gemessenen Zeit hereinzuziehen. Viele geistige Gemeinplätze raten dringend dazu, ohne aber Hinweise zum konkreten Verfahren zu geben: Man solle langsam tun, den Augenblick genießen, im Moment sein und so weiter. Solche Anweisungen haben die Tendenz, mehr die Selbstbefangenheit als die Geduld zu fördern; denn die Geduld geht stets mit dem Bild eines anderen Menschen einher. Geduld ist nicht etwas, was wir einfach haben. Wir sind mit jemandem oder etwas geduldig. Wie mit allen Tugenden, so ist auch es bei der Geduld auch so, dass indem wir sie ausbilden, sie zugleich auch ein Geschenk ist, das wir anderen darbringen. Wir entwickeln Geduld und sie ist ein Geschenk, das wir anderen und der Welt anbieten. Damit die Tugend vorhanden sein kann, bedarf es beider Aspekte.
Geduld oder Ungeduld erleben wir immer im Verhältnis zu jemandem. Mit uns selbst können wir allerdings auch ungeduldig werden, aber wenn das passiert, sind wir zu Gegenständen geworden uns selbst gegenüber, zu Zuschauern, die mit dem, was wir sehen, unzufrieden sind. Das „Jemand“ braucht nicht ein anderer Mensch zu sein; auch im Verhältnis zu Geistwesen – einschließlich Gott – erleben wir Geduld beziehungsweise Ungeduld.
Dass diese Tugend eine so offensichtlich relationale Form annimmt, das kann uns der oben erwähnte Prozess des Webens lehren. Bei der Geduld findet ein ineinander-Übergehen mit dem Seelenleben eines anderen Menschen statt, und der Vorgang des Webens begreift ein solches Ineinander. Geduld zählt zu den primären kommunalen Tugenden, zumal als absolut unverzichtbar für jede Gemeinschaft. Was aber dringendst erkannt werden muss das, dass wenn wir uns geduldig respektive ungeduldig verhalten, das im Verhältnis zum Leben der Seele des anderen Menschen geschieht. Geduld segnet die Seele des anderen Menschen, während Ungeduld aggressiv eine Grenze überschreitet, indem sie der Seele des anderen Menschen das eigene Ego aufoktroyiert. Seele – so vermute ich – weiß außer durch die Dauer-artige Zeit der Geduld keine andere Weise, sich zu verhalten. Ego hingegen weiß keine andere Weise, sich zu verhalten, als durch die Hast der gewöhnlichen, nach der Uhr gemessenen Zeit.
So erzieht uns die Geduld zur Bewusstheit im eigenen Seelenleben. Hier gilt es, zwischen dem Fließen der Zeit und der gefühlten Einteilung derselben zu unterschieden; ja an dieser Stelle wird die Zeit zum Gefühl, zum Bewusstsein, dass der Rhythmus, mit dem wir uns bewegen, handeln und mit anderen Umgehen weit wichtiger ist, als der spezifische Inhalt dessen, was wir etwa tun. Mit festina lente erkannten die Alchemisten die Wichtigkeit der gefühlsmäßigen Einschätzung und Einteilung der Zeit. „Eile mit Weile“ – das war deren Devise und die Disziplin, die sie ausbildeten, um gewöhnliches Metall in Gold zu verwandeln oder, so könnten wir es sagen, um aus etwas Vergänglichem etwas zu machen, was von Dauer ist.
Sich beeilen heißt sich intensiv auf das Leben einzulassen, heißt die Einsicht, dass wir hier sind, um etwas zu vollbringen, wozu wir nur relativ kurze Zeit dazu haben. Zugleich verlangt das, was zu vollbringen der Grund unseres Hierseins ist – eine geistige Aufgabe und kein bloßes Leben, Arbeiten, eine Familie haben und so weiter –, sorgfältige Aufmerksamkeit, scharfe innere Beobachtung, die richtigen Bewegungen und Handgriffe zur rechten Zeit. Eine hastige Bewegung ohne die rechte Langsamkeit der Wahrnehmung kann zum Verlust des inneren Sinns dessen führen, was wir tun.
Eine seelisch empfundene Zeit und die alltägliche Zeit sind nicht dasselbe. Aufgabe der Geduld ist es, diese zwei Zeitlichkeiten einander anzupassen – einerseits die Langsamkeit, die Besinnung, das Brüten, das Nachdenken über die Dinge, das tief Sehen, das intensiv Fühlen; andererseits die Zeitlichkeit der Leistungserbringung, des Voranschreitens mit der Arbeit, des Übergehens zu dem, was als Nächstes dran ist, des Effektivseins und im-Leben-Stehens. Geht es bei der Ausbildung der Geduld um das Herstellen eines Rhythmus? Darum, dass man sich eine Weile nach innen begibt? Um die Abwechslung der inneren Stille und des Tiefengangs mit der Bewegung nach außen und dem Erledigen handfester Aufgaben? Ein solcher Rhythmus kann nur dann wirken, wenn die eine Phase in die andere übergeht und wenn diese Bewegung in beide Richtungen führt. Es muss sich etwas von der Stimmung der Kontemplation mit der Handlung überlappen, und von der Handlung muss etwas in die Kontemplation übergehen. Dann muss sich jede der zwei Aspekte dem anderen nach und nach so nähern, dass allmählich beide Rhythmen simultan vor sich gehen. In dem Fall wären wir dabei, „mit Weile zu eilen“.
Was vollbringt denn Geduld in der Welt? Das Emblem „Eile mit Weile“ ist in einem aus dem 16. Jahrhundert stammenden alchemistischen Kupferstich von Heinrich Khunrath zu finden. Dieser Kupferstich heißt „Labor des Alchemisten“ und ist in Khunraths klassischem Werk der Alchemie Amphitheatrum Sapientiae Aeternae (Schauplatz der ewigen allein wahren Weisheit) zu finden. Das Bild stellt das Innere eines alchemistischen Labors dar, in dem eine Reihe von Dingen sich ereignen:
Der Alchemist kniet unter einem Gebetszelt und hat zwei Bücher vor sich auf dem Altar liegen. Das eine Buch ist die Bibel, das andere ein Buch geometrischer Zeichnungen; es handelt sich bei den Zeichnungen offenbar um die Bewegungen der Himmelskörper. In der Mitte des Bildes steht im Vordergrund ein Arbeitstisch; dieser ist mit allerlei Instrumenten übersät, und mitten unter diesem Konglomerat sind drei Musikinstrumente zu unterscheiden: eine Geige, eine Harfe und etwas Mandolin-Artiges. Rechts neben dem Tisch steht auf dem Fußboden, als Quell des Feuers, ein alchemistischer Ofen. Ein auf dem Ofen befindliches Gefäß trägt die Inschrift „Eile mit Weile“. Ganz am anderen Ende des riesigen Raums, der perspektivisch gezeichnet ist, befindet sich am Fluchtpunkt eine Wölbung, über der auf einem Schild „Schlafend wache“ zu lesen ist. Ein im Rauch des Rauchgefäßes stehendes Schild weist auf die Notwendigkeit des Opferns hin. Es ist in diesem Kupferstich noch viel mehr los, aber das sind die für unsere Zwecke wesentlichsten Elemente.
Das alchemistische Labor unseres Lebens, das Werk der Verwandlung des Ego-Lebens in ein Leben der Seele, ist der Schnittpunkt des Arbeitens und des Betens. Die auf dem Tisch liegenden drei Musikinstrumente weisen darauf hin, dass die Laborarbeit, das werden Lassen der Arbeit zum Gebet, drei Aspekte unseres Wesens miteinander in Harmonie bringt: das Mentale (die Geige wird in der Kopfgegend gespielt); das Emotionale (die Harfe wird in der Region des Herzens gespielt); und das Willenshafte (die Mandoline wird in der Gegend der Stoffwechselprozesse gespielt).
Die im Emblem dargestellte Laborarbeit hat damit zu tun, das Universum als göttliches Werk zu sehen, als das im Gebet begriffene Arbeit; sie hat auch mit der Hitze des Ofens zu tun: mit der rechten Anwendung des Feuers beziehungsweise der Liebe. Es geht um eine vom Herzen gesteuerte Zeiteinteilung, die mit Geduld – ja als Geduld vorzunehmen ist. In aller Alchemie heißt es schließlich vom Ofen, dass er das Geheimnis des Werkes birgt. Mittels der Geduld leben und arbeiten wir in der Welt und mit den inneren Eigenschaften von allem in der Welt. Wir arbeiten ganzheitlich, meditativ (was die Bedeutung des Schildes „Schlafend wache“), um der Welt Willen.
Das von mir beschriebene „alchemistische Labor“ stellt dar, was Geduld in der Welt tut. Das alchemistische Labor ist das Universum als Ganzes, nur von innen erlebt. Die Leistung der Geduld ist das Ausbilden der Fähigkeit, die Welt als Seele wahrzunehmen; die ganze Welt als innere Qualitäten, die in einer ständigen Tätigkeit der Verwandlung begriffen sind.
Will man diese Welt als die geistige Welt erleben, so braucht es die Tugend der Geduld – zumal eine Änderung in der Art, wie wir die Zeit der Welt wahrnehmen – und eine Sensibilität für die Art, wie wir diese Zeit einteilen. Aus vergangenen Traditionen heraus sind wir es gewohnt, uns die geistigen Welten als woanders vorzustellen – gewiss nicht als hier, nicht in der physischen Welt. Ein solches „Woanders“ gibt es aber nicht. Woanders hinzuschauen ist ein Akt der Ungeduld, die Unfähigkeit in völliger und totaler Freude und Begierde wie in völliger und totaler spiritueller Erfüllung hierzusein. Wir erleben „hier“ deshalb nicht als die spirituelle Welt, weil uns die dazu erforderliche Geduld abgeht. Wann immer wir darum gebeten werden, langsam zu tun, in uns selbst einzukehren, mit anderen wahrhaft anwesend zu sein, ist das eine spirituelle Übung. Wir bilden uns in solchen Fällen selbst zur Geduld aus, was auch eine Selbstbildung dazu ist, diese Welt als geist- und seelenerfüllt zu erleben.
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