aus Die Macht der Seele. Wege zum Leben der zwölf Monatstugenden
von Robert Sardello
Die Tugend der Gelassenheit
(Zufriedenheit wird zu Gelassenheit - Rudolf Steiner)
21. September - 20. Oktober
Die Tugend der Gelassenheit
Wie ist es, im Reich der Emotionen vollkommen ausgeglichen zu sein? Gewöhnlich sind unsere emotionalen Reaktionen einseitig. Wir sind entweder fröhlich oder traurig, wütend oder freudig, ausgelassen oder verschlossen. Wenn wir nicht gerade dabei sind, zwischen diesen Polaritäten hin und her zu hüpfen, so liegt das daran, dass fast gar keine Emotion vorhanden ist. Gelassenheit bedeutet nicht die Abwesenheit emotionaler Qualitäten. Sie bedeutet nicht, sich immer gleich zu fühlen, weder heiß noch kalt. Auch ist Gelassenheit nicht mit einem Gemisch aus polar entgegengesetzten Emotionen gleichzustellen – ein wenig Zorn mit genau der richtigen Menge Liebe gemischt und einer Prise Freude abgeschmeckt.
Gelassenheit lässt sich auch nicht als Gleichgewichtszustand zwischen im voraus hergestellten Polaritäten vorstellen. Geschieht einem etwas Wunderschönes, sodass man sich überglücklich fühlt, so findet man in der eigenen Freude die Gelassenheit nicht dadurch, dass man dieses Gefühl mit genau der richtigen Menge Traurigkeit ausbalanciert. Auch wenn wir wissen, dass einem Gefühl die Vorherrschaft zu lassen zugleich den Verlust der Gelassenheit nach sich zieht. Eine solche Sichtweise erforderte von uns, dass wir von allen Gefühlen etwas vorrätig hätten und lernen könnten, in just dem richtigen Moment das zum Herstellen des Gleichgewichts benötigte Gefühl heranzuziehen. Um Emotionen in dieser Weise nach Bedarf herbeiholen zu können, müssten wir einen Standpunkt außerhalb unseres eigenen Seelenlebens beziehen. Ein distanzierter Beobachter der eigenen Emotionen könnte diese demnach im jeweils richtigen Verhältnis mischen.
Bei vielen spirituellen Praktiken führt Gelassenheit die Aufzählung der zur geistigen Entwicklung notwendigen Eigenschaften an oberster Stelle an. Oft behandeln diese Praktiken Gelassenheit als einen durch den eigenen Willen lenkbaren Zustand. Man begreift diesen, als ob er durch eine Veränderung in den Extremen der Leidenschaften zu erreichen wäre. Wir müssen Gelassenheit selbst finden, jedoch nicht als ein Ergebnis der Veränderung anderer Emotionen. Sie hat ein eigenes, von anderen emotionalen Eigenschaften unabhängiges Seelenleben.
Es scheint in diesem Zusammenhang hilfreich, sich an ein tatsächlich durchgemachtes, starkes emotionales Erlebnis zu erinnern. Angenommen ich wäre bei der Arbeit und hätte jemanden um die Erledigung einer Aufgabe gebeten. Wenn nach drei Tagen sich herausstellt, dass diese Aufgabe mangelhaft ausgeführt wurde, so steigt der Zorn in mir empor. Was würde es mir in diesem Augenblick ermöglichen, die Wucht dieses Zornes zu spüren, ohne überwältigt zu werden und ohne meiner Wut dem Kollegen gegenüber freien Lauf zu lassen? Das Ziel eines tugendhaften Verhaltens wäre in diesem Fall nicht einfach die Unterdrückung meiner Emotionen, um des sozialen Friedens willen, sondern die Einsicht, dass diesem Aufwallen des Zornes ein Quantum ungeläuterten Stoffes innewohnt, welcher sich in eine spirituelle Gabe verwandeln lässt. Gelingt es mir, diesen Zorn als eine Kraft zu fühlen, welche nicht gebraucht wird, um den anderen Menschen zu verletzen, so kann der Zorn zur einer Kraft des Engagements mit anderen werden und uns auf diese Weise helfen, die Aufmerksamkeit der Aufgabe zuzuwenden; wird er darüber hinaus zu einer das Denken schärfenden Kraft, so bin ich auf dem Weg zur Gelassenheit.
In beruflichen Situationen – besonders unserem Chef gegenüber – lernen wir rasch, nicht außer uns zu geraten. Stattdessen unterdrücken wir den Zorn, welcher sich dann auf alle möglichen Weisen – indirekt – äußert. Die Unterdrückung des Zornes ist dadurch möglich, dass wir die Kraft der Gedanken auf das anwenden, was wir erleben. In dem oben genannten Beispiel der Begegnung mit anderen Menschen in meinem Berufsleben fühle ich wohl die Kraft des Zornes, denke aber zugleich an den möglichen Verlust meines Arbeitsplatzes. Wenn ich meinem Zorn freien Lauf ließe, könnte ich ja als ein unzulänglicher Angestellter oder Vorgesetzter angesehen werden. Diese und ähnliche Erwägungen gehen mir in solchen Augenblicken durch den Kopf. Durch Gedanken allein vermögen wir es nicht, den Zorn zu dämpfen. Dies muss in einem Willensakt vollzogen werden, welcher jedoch vom Gedanken herstammt. Die Unterdrückung einer Emotion kann sich äußerlich so ausnehmen wie Gelassenheit. Aber es gibt Unterschiede, die sogar im Antlitz wahrnehmbar sind. Wer eine Emotion unterdrückt sieht gefühllos, dumpf, fast psychotisch aus. Gelassenheit sieht nicht dumpf aus, denn bei ihm handelt es sich nicht um Abwesenheit. Der gleichmütige Mensch erscheint uns beschwingt und voller Lebenskraft. Er trägt ein inneres Licht mit sich, das aus der Seele zu uns strahlt, die Augen erleuchtet und in ein engagiertes Interesse für das uns Begegnende mündet.
Rückblickend auf die Darstellung eines ungesunden Umgangs mit dem Zorn, in dem dieses Gefühl willentlich unterdrückt wird, bekommt man ein besseres Bild davon, was Gelassenheit erfordert. Wie kann man sie erlangen? Wenn man diese Tugend sucht, wo – innerlich – sucht man sie und wie?
Bei der Gelassenheit geht es darum, die Beziehungen zwischen Emotion, Denken und Wollen in ein Gleichgewicht zu bringen. Wollen wir uns in die Gelassenheit hineinfühlen, so zielt unser Bemühen darauf, eine Verbindungen zwischen diesen dreien zu fühlen. Gelassenheit ist kein bloßes Gefühl, auch kein bloßer Gedanke über ein Gefühl. Um eine Willenshandlung allein kann es sich dabei auch nicht handeln. Emotionen lassen sich nicht unmittelbar ändern, denn wir finden so gut wie keine Freiheit im Reich der Emotionen. Ist eine Emotion einmal vorhanden, so ist sie etwas, was man eben durchmacht, ob sie nun angenehm oder unangenehm ist. Unsere Emotionen haben uns, nicht wir sie. Es ist wohl nicht möglich, aus einem emotionalen Erlebnis heraus selbst zur Gelassenheit zu finden. Die Praxis dieser Tugend verlangt, dass man sich bewusst nach und nach in die Lage versetzt, die richtigen Beziehungen zwischen Emotion, Denken und Wollen zu schaffen.
Wenn wir von einer Emotion ergriffen werden, so scheint es uns, als ob diese Emotion von unserem Denken und Wollen getrennt wirkte. Tatsächlich ist es der Fall, dass in diesem Moment beide von der Emotion beherrscht werden. Ein gesunder Respekt vor der Macht unserer Emotionen steht am Anfang aller Gelassenheit. Die Emotion ist eine wesentliche Lebenskraft unserer Seele. Das Leben kontrollieren wir nicht und können es nicht kontrollieren. Wir finden uns schlicht in ihm. Auf diese Weise bildet die Lebenskraft der Emotionen den beständigen Hintergrund. Dieser ist immerzu gegenwärtig und kann zu jedem Augenblick in machtvoller Weise in den Vordergrund treten. Keine spirituelle Entwicklung, gleich welchen Umfangs, vermag diese Lebenskraft der Seele hinwegzunehmen. Jedweder spirituelle Pfad und jede spirituelle Arbeit, welche vorgeben dies zu tun, sind gefährlich, da sie die Hemmung und Unterdrückung dieser uns ständig in das Lebendige des Lebens hineintragenden Meeresflut mit der Freiheit verwechseln.
Wir können ohne weiteres Situationen erkennen, in welchen uns das Denken dominiert und diese Kraft des Denkens sogar unser Gefühlsleben beherrscht. Diesen Zustand nennen wir „verkopft sein“. Auch lässt es sich leicht erkennen, wenn jemand vom Willen beherrscht wird. Dies drückt sich als beständiges Dominieren, als Kontrolle und an-der-Macht-sein aus. Es wird aus diesem deutlich, dass die genannten drei Funktionen der Seele sich trennen und ihren eigenen Weg gehen können und dies auch gelegentlich tun. Wenn in alltäglichen Lebenssituationen nicht leichthin festzustellen ist, dass eine Funktion die anderen dominiert, so finden wir alle drei miteinander vermengt vor. Bei dieser Verbindung von Fühlen, Denken und Wollen handelt es sich aber nicht um Gelassenheit.
Die Balance dieser drei seelischen Funktionen, ohne dass eine von ihnen die Oberhand gewinnt, ist nicht Gelassenheit. Deren Vermengung führt uns zu Ausgeglichenheit, bewirkt jedoch auch, dass wir uns der Situationen nicht bewusst sind, in welchen das Denken durch unsere Emotionen beherrscht wird, bzw. in welchen die Emotionen vom Denken gehemmt werden. Auch kann die Vermengung uns zu Handlungen führen, welche aus purem Willen, unüberlegt und undurchschaut und im Innersten unser Gefühlsleben verletzend vollbracht werden. Wenn wir einfach funktionieren und in Bezug auf die drei Richtungen des Fühlen, Denken und Wollens im Gleichgewicht zu sein scheinen, leben wir nicht die Gelassenheit.
Es scheint so, dass Gelassenheit nicht geradewegs erlangt werden kann. Doch in welchem inneren Raum können wir eine Ausgewogenheit etablieren, die in sich die Eigenschaften des Aufstrebens und des geistigen Lichtes, des interessierten Engagements für die anderen und die Welt trägt? Wohl lassen sich Emotionen kontrollieren, doch wenn wir Menschen begegnen, die eine solche Kontrolle erlangt haben, so wird uns klar, dass dies nicht die Art von Beziehung ist, um welche es bei der in Frage stehenden Tugend geht. Vielleicht sollten wir uns zu einem besseren Verständnis das oben erwähnte Beispiel eines von unserer Wut dominierten Ereignisses noch einmal genauer ansehen.
Wenn wir auf einen Menschen wütend oder mit einer anderen heftigen Emotion reagieren, so ist unsere Aufmerksamkeit nicht mehr auf die vorliegende Aufgabe gerichtet. Die Emotion nimmt uns völlig in Anspruch und auch wenn sie mit der vorliegenden Situation etwas zu tun haben scheint, ist dem nicht so. Wenn ich z.B. beginne mein Gegenüber heftig anzufahren, da er nach meinem Ermessen etwas Falsches getan hat, so rückt das Schimpfen in den Vordergrund und es geht das verloren, was ansteht. Dabei sieht mich der Mensch, an dem ich meiner Wut freien Lauf lasse fassungslos an und fragt sich, was in aller Welt in mich gefahren ist. Wir haben die Unmittelbarkeit der eigentlichen Aufgabe unserer Begegnung verloren und etwas anderes hat unsere ganze Aufmerksamkeit.
Gelassenheit hat mit dem Vermögen zu tun, bei dem zu bleiben, was Sache ist. Ich möchte vorschlagen, Gelassenheit zunächst als eine an die Entwicklung der Kräfte der Aufmerksamkeit geknüpfte Fähigkeit zu verstehen, die deren Zerstreuung entgegenwirkt. Konzentriert sich unsere Aufmerksamkeit auf die Wut, so wächst und schwillt diese an und erlangt die Oberhand. Wenn die Wut in uns aufsteigt, können wir lernen, sie zu fühlen und gleichzeitig die Aufmerksamkeit auf das gerichtet zu lassen, womit wir es vor uns zu tun haben. Dieses Vermögen bildet zwar die Grundlage der Gelassenheit, genügt jedoch nicht allein, um diesen umfassend zu entwickeln.
Es lassen sich zahlreiche Situationen vorstellen, in welchen die beständige Konzentration auf die vorliegende Aufgabe nicht zu Gelassenheit führt. Die Situation könnte von Wut geprägt sein und auch das Denken muss mit in Betracht gezogen werden. Was geschieht mit dem Denken in einer Situation, die uns wütend werden lässt? Sind wir von der Wut zur Gänze beherrscht, so entschwinden unsere Gedanken. Kehren unsere Gedanken wieder zurück und die Wut ist noch gegenwärtig, so wird unser Denken von ihr eingespannt. Die Wut gebraucht den Intellekt als ihr Instrument und schlägt mit diesem um sich. Mit den anderen Emotionen, auch mit angenehmeren, geschieht im Wesentlichen das Gleiche, obwohl man bei den angenehmeren Emotionen dazu neigt, nicht wahrzunehmen, dass auch hier das eigene Denken in indirekter Weise zu einem Instrument für das Ausleben unserer Emotionen wird.
Es ist aus diesen Ausführungen deutlich geworden, dass es individuelle Variationen der Problematik gibt und es der Einsicht in jeden einzelnen Menschen bedürfte, um mit der Entwicklung der Gelassenheit als Tugend fortzufahren. Der eine Mensch muss vielleicht an der Stärkung der Fähigkeit der Aufmerksamkeit arbeiten, um beim Auftreten einer starken Emotion deren Präsenz zu fühlen, ohne der Emotion die Oberhand zu lassen. Bei einem anderen Menschen kann die Sache so liegen, dass es die Kraft des Denkens ist, welche es zu stärken gilt. Durch das Denken kann sie sich auf diese Weise von den sie bedrängenden Emotionen distanzieren, ohne diese ihre Emotionen gänzlich zurück zu lassen und sich im Denken zu verbergen.
Was bedingt die Stärkung der Fähigkeit zur Aufmerksamkeit bzw. die Stärkung unserer Denkkräfte? Wir könnten die Vorstellung entwickeln, dass diese Fähigkeiten unveränderlich sind. Wir denken und richten unsere Aufmerksamkeit auf das eine oder das andere, Schluss. Doch unseren Seelenfähigkeiten wohnt viel Beweglichkeit inne. Die unmittelbare Kraft der Emotionen können wir als ein Geschenk schätzen, welches uns darauf aufmerksam machen kann, dass unser Vermögen zu Denken und unser Vermögen der Aufmerksamkeit, dieser emotionalen Kraft nicht gewachsen sind. Wenn es scheint, als wären wir inmitten einer emotionalen Situation nicht in der Lage, überhaupt eine emotionale Reaktion zuzulassen, so ist wahrscheinlich, dass das Denkvermögen zu stark ist und wir uns von dem emotionalen Leben entfernt haben. Der Mangel an emotionaler Reaktion könnte auch als ein Hinweis verstanden werden, dass unsere Aufmerksamkeit so von den Vorgängen um uns herum in Anspruch genommen wird, dass wir die Anwesenheit von Emotionen nicht einmal bemerken.
Wenn es nicht möglich ist, die Aufmerksamkeit und das Denken entweder zu stärken oder zu mäßigen, so kann Gelassenheit nicht erreicht werden. Es handelt sich hier um das bewusste Seelenleben verhältnismäßig gesunder Menschen, in denen die zur – mindestens teilweisen – Modifizierung der Fähigkeiten nötige Flexibilität der Seele existiert. Wir betrachten das Denken zuerst.
Wenn ich von der Modifizierung des Denkens rede, so meine ich nicht, dass es der Arbeit z.B. an der Steigerung der Intelligenz gilt, falls sich diese zu schwach ist bzw. an der Dämpfung derselben, falls sie als zu stark ist. Vielmehr meine ich, dass es wichtig ist, sich mit dem Vorgang, der Tätigkeit des Denkens bekannt zu machen, indem es in uns vor sich geht. Es gilt zu lernen, sich des Denkaktes selber bewusst zu werden – was ja etwas anderes ist, als über die Dinge nachzudenken –, um Gelassenheit finden zu können.
Zu versuchen, sich des Denkens bewusst zu werden, ist ein interessanter Prozess, etwas, was nur gemacht werden kann, indem das Denken so angeschaut wird wie aus dem Augenwinkel. Der Denkakt lässt sich nicht direkt beobachten, weil die primäre Eigenschaft des Bewusstseins die ist, stets einen Gegenstand zu intendieren. Wenn wir an etwas denken, halten wir den Gegenstand, über den wir denken, für das Denken selber, was streng genommen nicht zutrifft. Der Ausdruck „intendieren“ hat damit nichts zu tun, willenshaft etwas vorzuhaben. Er beschreibt vielmehr den Umstand, dass wenn wir denken, es stets etwas gibt, über das wir dies tun. Dieser Gegenstand kann etwas sehr Konkretes und Praktisches sein, wie z.B. die Lebensmittel, die man im Laden einkaufen muss; oder er kann auch etwas sehr Abstraktes sein, etwa die Eigenschaft eines Kreises. Wir sind uns dessen bewusst, worüber wir denken; nicht sind wir uns jedoch der Tätigkeit selber des Denkens bewusst. Die Tätigkeit des Denkens ist in das, worüber wir denken, untergetaucht.
Man nehme an, man befände sich in oben erwähnter Situation, in der einen die Emotion der Wut am Arbeitsplatz überkommt. Man stellt fest, dass man die Wut unterdrücken kann, aber innen kocht sie dennoch hoch. Man wird auch bemerken, dass wenn einen diese Wut in besagter Weise überkommt, einem für eine Weile das Denken unmöglich wird und dass wenn das Denkvermögen wiederkehrt, es zum Instrument der Wut geworden ist und man nichts als schlechte Gedanken über den anderen Menschen hat. In diesem Moment versuche man sich nicht dessen, worüber gedacht wird, sondern des Denkaktes selber bewusst zu werden. Das vermag man, indem man bemerkt, dass man schlechte Gedanken über den anderen Menschen denkt. Man nehme die schlechten Gedanken nicht einfach als das Denken hin, sondern man werde gewahr, dass die Gedanken das sind, was man gerade denkt, dass sie aber der Akt des Denkens nicht sind.
Es ist möglich, zu einer Art intuitiver Empfindung zu kommen, dass das Denken den Gegenstand des Denkens schafft, auf den man sich konzentriert. Dieses Bemerken ist nicht analytisch; es ist eine Art des Bemerkens, das nur einen Augenblick braucht. Länger als diese kurze Zeit ist nicht nötig, um ein Empfinden für den Akt des Denkens zu gewinnen. Dieser Akt des Bemerkens wird nicht bleiben, aber hat man den Akt selber einmal wahrgenommen, so ist man von der Emotion der Wut befreit. In dieser Weise den Fokus verlegen zu können, ist ein großer Schritt hin zur Entwicklung der Gelassenheit.
Um einen Blick auf die Tätigkeit des Denkens erhaschen zu können, kann es notwendig sein, spezifisch auf diesen Zweck hin orientierte Übungen zu machen. Es kann sein, dass man eine Weile lernen muss, sich in freien Situationen der Meditation auf das Denken zu konzentrieren, ehe es möglich wird, in alltäglichen Angelegenheiten die Qualität des Denkaktes zu fühlen. Eine Methode, solche Denkmeditationen zu üben ist, sich täglich fünf Minuten zu nehmen und sich innerlich auf einen neutralen Gegenstand zu konzentrieren. Man stelle sich z.B. einen Bleistift vor, dann beginne man, Gedanken über den Bleistift zu bilden, die mit ihm und mit sonst nichts zu tun haben – wie etwa seine Länge, seine Farbe, woraus er besteht, wie er gebraucht wird. Man fahre damit fort, alles mit dem Bleistift Zusammenhängendes zu denken. Wenn es dann scheint, als wäre der Vorgang erschöpft, höre man auf und verharre in der Leere.
Dieses von der Geisteswissenschaft Rudolf Steiners übernommene Verfahren hilft die Fähigkeit zu entwickeln, am Denkakt „dran“ zu sein. Auch lässt sich das Gewahrwerden unseres Denkens in alltäglichen Situationen üben. Dies zu tun bringt in das, was wir jeden Tag tun, eine meditative Qualität hinein. In oben erwähntem Zustand der Wut zum Beispiel, in dem uns böse Gedanken über einen anderen Menschen kommen, können wir uns ein paar Minuten entfernen und uns Gedanken machen nicht nur darüber, was eben passiert ist, sondern über unser Denken, indem es vor sich ging. Was dabei ans Licht kommen wird, ist, dass unsere bösen Gedanken überhaupt gar keine Gedanken waren. Vielmehr werden wir sehen, dass Emotion sich als Denken getarnt hatte.
Wir konzentrieren uns einen Augenblick auf den Akt der Aufmerksamkeit, den anderen Punkt, an dem wir in der Gegenwart von starker Emotion aus der Bahn geworfen werden. Es kann sein, dass man bei der Entwicklung der Gelassenheit auch an der Aufmerksamkeit arbeiten muss. Wenn, im Beispiel, mit dem wir hier arbeiten, die Wut aufkommt und das, was dem Augenscheine nach am stärksten passiert das ist, dass wir die Verbindung mit dem verlieren, was wir gerade machen und nicht mehr schnell eben zurückfinden, so ist es hilfreich, mit dem Vorgang der Aufmerksamkeit zu arbeiten. Wahrscheinlich wird es erforderlich sein, sowohl mit dem Denken als auch mit der Aufmerksamkeit zu arbeiten. Von den beiden funktioniert die Aufmerksamkeit subtiler. Wird einem die Aufmerksamkeit durch Wut abgelenkt, so versuche man sie schnellstmöglich auf das zurückzulenken, womit man gerade beschäftigt war. Indem man das tut, kann man sich darum bemühen, sich des Aktes der Aufmerksamkeit bewusst zu sein und nicht nur dessen, auf das man aufgemerkt hatte.
Der Versuch, die Qualität der Aufmerksamkeit zu beschreiben, erfordert eine Sprache, die einem etwas ungewöhnlich vorkommen mag. Wenn wir unsere Aufmerksamkeit nach etwas in der Welt hinlenken, ist das so, als wenn etwas aus uns heraus strömt und sich an der Welt befestigt. Diese Art einer aus uns hervorströmender Kraft kann entweder eng und gebündelt oder aber auch breit und umfassend sein.
Wir tun uns äußerst schwer, die Qualität dieser Eigenschaft zu erleben, weil unsere Aufmerksamkeit nicht sehr frei ist. Die Dinge ziehen unsere Aufmerksamkeit auf sich, nehmen sie in Beschlag. Ist das einmal passiert, so wird es unmöglich, den Akt selber der Aufmerksamkeit gewahr zu werden. Die Lage der in Beschlag genommenen Aufmerksamkeit ist in dieser Welt der Technik, der Manipulation, der Medien und der Konsumentenhaltung besonders stark ausgeprägt. So bedarf es einigen Experimentierens, um sich des eben beschriebenen Stromes der Aufmerksamkeitskraft bewusst zu werden. Solches Experimentieren kann so aussehen: Man richtet die Wahrnehmungstätigkeit eines Sinnes auf einen vor einem befindlichen Gegenstand und schaltet sie bewusst abwechselnd ein und aus. Als Beispiel wende der Leser die Aufmerksamkeit vom Lesen weg und einem beliebigen Gegenstand irgendwo im Raum zu, in dem er sitzt. Er beobachte, wie die Sehkraft hinausgeht und dem Gegenstand begegnet. Dieses Hin und Her der Sehkraft ist zwar subtil, dennoch ist es etwas Gegenwärtiges, durchaus Wahrnehmbares.
Wir beginnen mit dem Sehsinn. Sehen wir uns einen alltäglichen Gegenstand an, etwas, was vor uns steht. Indem ich schreibend hier sitze, blicke ich für einen Moment auf die Lampe, die auf dem Tisch steht. Ich versuche, mir davon ein Bewusstsein zu schaffen, was in diesem Akt des Hinüberblickens geschieht. Wenn ich mich mehr auf den Akt des Blickens konzentriere, als auf das, was ich sehe, so lässt sich diese subtile Strömung fühlen, die sich von der Region meiner Augen in die Region der Lampe bewegt. Diese Strömung möchte ich nicht „Energie“ nennen; das scheint eine zu quantitative Bezeichnung für etwas eher Subtiles. Diese Strömung ist derart subtil, dass er in den Gegenstand, auf den die Aufmerksamkeit gerichtet wird, fast unmittelbar untertaucht, sodass man typischerweise sich nur des Gegenstandes und nicht der eigenen körperlichen Beziehung zu ihm bewusst ist, also dessen, was zwischen der eigenen Leiblichkeit und dem Objekt existiert. Hat man aber einmal diese Qualität erhascht, so ist sie unverkennbar und das Erkennen derselben wird der Weg dazu, die aufmerksamkeitsmäßige Beziehung zur Welt wieder herzustellen, falls sie einmal gestört ist.
Auch mittels anderer Sinne kann man üben, sich dieser seelischen Strömung bewusst zu sein. Das Hören etwa besteht nicht nur darin, dass Klang ins Ohr eintritt. Auch in der Ohrengegend lässt sich eine Aufmerksamkeitsströmung fühlen, die hinausgeht und dem sich hörbar machenden Gegenstand begegnet. In ähnlicher Weise kann man sich dessen bewusst sein, wie mit dem Tasten die Seele sich zur Peripherie des Körpers hinbewegt um der Beschaffenheit der Materie zu begegnen, die wir berührt haben.
Dadurch, dass wir mit dem Bereich der Aufmerksamkeit in der Sinnestätigkeit experimentiert haben, wird es uns möglich, zu bemerken, dass sich der Strom der Aufmerksamkeit zurückzieht, wenn unsere Aufmerksamkeit durch starke Emotion von dem abgelenkt wird, was wir gerade tun; er geht nach innen. Ferner lässt sich nicht sagen, dass die starke Emotion jetzt unsere Aufmerksamkeit in Beschlag nimmt. Überhaupt ist unser Verhältnis zu den Emotionen ein ganz anderes, als zu irgendeinem äußeren Gegenstand, auf den wir die Aufmerksamkeit richten.
Es geht bei diesem Unterschied um mehr, als bloß darum, dass Gefühle und Emotionen etwas Innerliches, Sinnesobjekte aber etwas Äußerliches sind. Es ist vielmehr so, dass wenn eine starke Emotion erlebt wird, diese nicht zum Objekt der Aufmerksamkeit wird, sondern zur Kraft der Aufmerksamkeit selber. Es ist nicht nötig, auf eine starke Emotion die Aufmerksamkeit zu lenken; sie richtet ihre Aufmerksamkeit voll und ganz auf dich. Aufgrund der Art, wie die Emotion funktioniert, ist die Tiefenpsychologie dazu gekommen, vom Aufwallen starker Emotionen als von Komplexen zu reden. Diese Psychologie macht uns darauf aufmerksam, dass die Emotion einen autonomen Charakter hat; so, als ob Emotionen lebende Wesen wären, in deren Anwesenheit wir umgekehrt zu Gegenständen von deren Aufmerksamkeit werden, und nicht zu Menschen, die in der Lage sind, anderen oder der Welt gegenüber die Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten.
Diese Vereinnahmung der Fähigkeit, der Welt Aufmerksamkeit zu schenken, scheint darauf hinzudeuten, dass es schwieriger ist, aus dieser Richtung auf Gelassenheit hinzuarbeiten, als aus der Richtung des Denkens. Wir müssen gewahrwerden, dass es nicht die anderen Menschen sind, die unsere Emotionen verursachen. Nicht andere Menschen machen uns ärgerlich, und übrigens auch nicht fröhlich. Die anderen lassen uns unsere emotionalen Komplexe wahrnehmen, nicht aber indem sie uns darauf hinweisen oder uns von ihnen erzählen, sondern indem sie sie für uns aus den Tiefen des Seelenlebens heraufholen, damit wir sie direkt erfahren können. Es ist aber ganz gewiss nicht erforderlich, sich einer Psychoanalyse zu unterziehen, um auf die zum Herbeiführen der Gelassenheit erforderliche Fähigkeit der Aufmerksamkeit zugreifen zu können.
Wird einmal der autonome Charakters einer Emotion durchschaut, so ist ein Zipfel der Fähigkeit der Aufmerksamkeit wiedererlangt, und es wird möglich, unsere Aufmerksamkeit wieder auf das vor uns Befindliche zu richten.
Diese Beschreibung des Verhältnisses zwischen Emotion und Aufmerksamkeit schildert einen Vorgang, in dem alles gleichzeitig vor sich geht. Um den Prozess zu beschreiben, musste er verlangsamt werden, um ihn gleichsam in Zeitlupe zu betrachten. Er lässt sich nicht in der soeben beschriebenen linearen Weise durchmachen. Es wurde lediglich ein seelisches Ereignis in eine eher verständliche Sprache übersetzt. Wer mit dieser Beschreibung arbeitet, wird beim Beobachten der eigenen, außerhalb der Gelassenheit befindlichen Seele also nicht das Gleiche (wie hier beschrieben) vorfinden, wohl aber wird diese Beschreibung es durchschauen helfen.
In meinen Ausführungen ist jetzt der Punkt erreicht, wo verstanden werden kann, dass Gelassenheit es mit drei seelische Faktoren zu tun hat: Emotion, Denken, Aufmerksamkeit. Man könnte auch sagen: Fühlen, Denken, Wollen. Stelle dir diese drei Seeleneigenschaften als eine Waage vor, die den Gleichgewichtszustand sucht. Es gibt bei einer Waage drei Punkte: zwei Waagschalen und den Balancepunkt. Man kann sich in der einen Schale das Denken vorstellen, in der anderen das Fühlen, und als Stützpunkt die Aufmerksamkeit. Dieses Bild der Waage geht auf die Ägypter zurück, die mit ihm das Wiegen der Seele nach dem Tode darstellten. Die Seele wird so vorgestellt, das sie in die eine Waagschale hineingelegt wird, während in die andere eine Feder hineinkommt. Wiegen die beiden sich nicht auf, so kann die Seele nicht in die geistigen Reiche weiterziehen.
Auch heute zeigt uns das Bild des Wiegens der Seele etwas in Bezug auf das, was wir machen, wenn wir diese Tugend in uns zu aktivieren suchen: wir arbeiten auf eine spirituellere Aktivität innerhalb unserer Seele hin. Die Emotionen sitzen uns als schwere Brocken in der Seele, die von Zeit zu Zeit aktiv werden und uns und auch andere anspringen. Wie gesagt, Gelassenheit besteht nicht bloß im Lernen, sie zurückzuhalten, sondern in der Erlangung einer Art teilnehmenden Blickes durch Denktätigkeit, und in der Wiederherstellung einer gesunden Verbindung zu den anstehenden Aufgaben. Wenn aber die Feder schwerer wiegen sollte als die Seele, so bedeutet das nicht, das diese den Zustand der Läuterung bereits erreicht hat, sondern dass die Emotion von der Waage gänzlich entfernt wurde, sodass die federartige Eigenschaft des Denkens auf einmal zu einer bleiernen Masse wird.
Ein weiterer Aspekt dieses Bildes des Wiegens der Seele hat mit dem Stützpunkt zu tun, dem wir die Aufmerksamkeit zugeschrieben haben. Dieser Punkt dient nicht nur als der Mittelpunkt, von dem aus das Gleichgewicht sich geltend machen kann, sondern er ist ebenfalls ein Punkt, an dem die Waage aufhängt ist. Dieser Aspekt des Bildes deutet darauf hin, dass Aufmerksamkeit mehr ist, als eine bestimmte psychologische Funktion; sie ist vielmehr eine geistige Funktion und ist so tätig auf einer anderen Ebene als Emotion und Denken. Alles bisher über die Gelassenheit Gesagte setzt den unsichtbaren, aber höchst notwendigen Faktor voraus, dass es so etwas gibt wie eine Fähigkeit, unsere Emotionen, unser Denken und unsere Aufmerksamkeit auf die Gelassenheit hin zu beobachten. Dieser Aufmerksamkeitspunkt ist für das Seelenleben nicht etwas Äußerliches, welches uns zum entkoppelten Beobachter machen würde. Aufmerksamkeit ist sowohl eine psychologische als auch eine spirituelle Funktion. In der Terminologie der spirituellen Praktiken wird dieser Aufmerksamkeitspunkt „der Zeuge“ genannt und ist die Fähigkeit, sich mit etwas völlig einlassen zu können, während man solches Engagement gleichzeitig auch beobachtet. Aufmerksamkeit besteht in dieser Dualität einer spirituellen und einer seelischen Funktion.
Der spirituelle Aspekt der Aufmerksamkeit ist allerdings subtil. Wird dieser aber nicht in sich selber entdeckt, so wird alles in Bezug auf die Gelassenheit Gesagte nicht fruchten. Um diesen Aspekt der Aufmerksamkeit in sich zu entdecken, ist es erforderlich, dass man in irgendeiner Weise meditativ tätig ist (wobei in diesem Zusammenhang keine meditative Tätigkeit besser als die anderen bewertet werden soll). In der Meditation wird die Kapazität der Aufmerksamkeit entwickelt; denn genau das ist es, was es in der Meditation zu tun gilt: die Aufmerksamkeit aufrechterhalten. Ferner: die Gegenstände der Meditation sind spiritueller Art, und so wird durch Meditation die psychologische Funktion der Aufmerksamkeit nach geistigen Angelegenheiten hin orientiert, welche nun ihrerseits in den Vorgang der Aufmerksamkeit eintreten.
Man kann sich zwei Strömungen oder Kräfte vorstellen, die tätig sind in der Imagination der Waage mit dem Aufhängungspunkt: seelische und geistige Aufmerksamkeit, der einen Waagschale, die die Emotionen enthält, und der anderen, die das Denken enthält. Aufmerksamkeit ist die höchste dieser drei psychologischen Funktionen. Die Emotionen und das Denken bestehen auf der gleichen Ebene, was bedeutet, dass wir sowohl durch Emotionen als auch durch das Denken aus dem Lot gebracht werden können. Schon als psychologische Funktion kann die Aufmerksamkeit bei der Wiederherstellung des Gleichgewichtes hilfreich sein, aber die Schwierigkeit besteht darin, dass sie dies nur dann vermag, wenn das Gleichgewicht schon gestört wurde. Durch meditative Tätigkeit beginnt die Aufmerksamkeit, den eigenen spirituellen Charakter zu erkennen. Indem das geschieht, beginnt eine Strömung spiritueller Kraft vom Aufhängungspunkt in die Emotion und das Denken hineinzufließen, sodass unsere psychologischen Funktionen nach und nach mit spirituelleren Eigenschaften durchsetzt werden. Praktisch bedeutet diese Durchsetzung, dass wir für Überfälle durch Emotionen und einseitiges Denken weniger anfällig werden. Dennoch: man macht jede auftretende Emotion vollbewusst mit und steigert das eigene Denken.
Beim Betrachten der Herstellung von Gelassenheit in der Triade Emotion, Denken, Fühlen mag es so scheinen, als wären es entweder unangenehme Emotionen oder abstraktes Kopfdenken, die uns um unsere Gelassenheit bringen können. Angenehme Emotionen aber, sowie auch einseitig konkret-materialistisches Denken stören die Gelassenheit genauso. Sie stellen uns sogar in vieler Hinsicht noch vor tiefere Schwierigkeiten, da diese Eigenschaften eher als erstrebenswert angesehen werden. Vor dem, der ständig ärgerlich herumläuft, wird man Angst haben, während der, der heiter sprudelt, eher für ausgeglichen gehalten wird. Wer abstrakt denkt, wird wahrscheinlich für komisch gehalten, während jemand, der konkret denkt, als hoch praktisch angesehen wird. Befinden wir uns in diesen letzteren Zuständen, so können die gleichen Arten von Bemühungen, wie vorhin beschrieben, auch im Finden der Gelassenheit hilfreich sein.
Während die bisherige Untersuchung beim Üben der Gelassenheit helfen kann, ist es jetzt wichtig, ein Bild davon zu vermitteln, wie sich diese Eigenschaft anfühlt. Mag scheinen, dass Gleichmäßigkeit im Emotionsleben einer Eintönigkeit der Gemütsregungen verglichen werden könnte – das kann sie aber nicht. Auch versuchen wir nicht, oberste bzw. niedrigste Grenzen des Ausdrucks der Emotion, des Denkens und der Aufmerksamkeit abzustecken, wobei alles außerhalb dieser Grenzen Befindliche für bar der Gelassenheit und außerhalb seiner Reichweite liegend zu halten.
Gelassenheit gilt deshalb als Tugend, weil durch sie spirituelle Eigenschaften in der Seele anfänglich erlebt werden. Eine Art fortdauernder innerer Ruhe resultiert aus der Ausführung dieser Tugend, egal welche äußeren Umstände obwalten mögen. Die Seele braucht solche Ruhe, um auf die Subtilität der Strömungen reagieren zu können, die den geistigen Reichen entströmen. Die Praxis dieser Tugend schafft auch eine Fähigkeit, die seelischen und geistigen Eigenschaften anderer Menschen und sogar der umliegenden Welt zu erleben. Das geschieht, weil das Seelenleben anfängt, von geistiger Tätigkeit gekennzeichnet zu werden, was heißt, dass das Interesse für rein materielle Angelegenheiten geringer wird, wobei es sich bei dieser Verringerung nicht um eine Abwendung von der physischen Welt handelt und auch nicht um die Hinwendung zu irgendeiner Askese.
Wir greifen nun lebhaft unsere Aufgaben in der Welt auf, aber jetzt mehr aus spirituellen Gründen, als um aus ihnen eigene Befriedigung zu ziehen. Wir beginnen zu erkennen, dass die Gegenwart von Emotion uns Stoff bietet, mit dem wir arbeiten und den wir immer und immer neu veredeln können.
Gelassenheit kann zur Gewohnheit werden; das bedeutet aber nicht, dass wenn wir sie einmal errungen haben, wir sie von da an besitzen. Im Gegenteil: was dabei zur Gewohnheit werden kann ist die Praxis, Zeuge zu sein der emotionalen und gedankenmäßigen Vorgänge, die beide in uns die Oberhand zu gewinnen suchen. Das Zeuge-Sein wird zum Hauptwerkzeug, mit dem die Tugend praktiziert wird. So kommen wir in die Lage, immer stärkere Emotionen zu halten, ohne dass sie uns oder die uns umgebenden Menschen nachteilig beeinflussen.
Was tut die Praxis der Gelassenheit? Sie ist einer der Prozesse der Läuterung der Seele, durch die der Schlamm vergangener emotionaler Erlebnisse nach und nach geklärt wird. So wird sie eine fortdauernde therapeutische Erfahrung im täglichen Leben. Gelassenheit läutert die Seele und bringt sie in anfängliche Verknüpfung mit dem Geist, so dass wir „von dem Ort der Seele aus“ in geistiger Art und Weise zu leben beginnen. Anstatt dass die Seele zurückgelassen wird, wie es vielfach in spirituellen Praktiken vorkommen kann; anstatt den Geist zu verlassen, wie es in mancher psychologischen Praktik vorkommen kann, hält Gelassenheit diese beiden Eigenschaften zusammen. Wir fühlen die Tiefe der Erfahrung und bleiben dabei offen, das zu empfangen, was die geistigen Welten uns zu geben haben.
Gelassenheit wird auch zu einem Geschenk, das wir anderen darbringen, und führt so eine Läuterung im Leben der Gemeinschaft herbei. Um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie Gelassenheit auf andere wirkt, mache man den Versuch, sich einen uns bekannten Menschen zu vergegenwärtigen, der an dieser Eigenschaft arbeitet, und auch, wie es sich anfühlt, in der Nähe dieses Menschen zu sein. Zunächst mag es beunruhigend sein, sich in der Anwesenheit eines so gefassten, im Gleichgewicht befindlichen, würdevollen, abgeklärten Menschen aufzuhalten. Diese Eigenschaften sind Geschenke an uns, die uns in die Lage versetzen, dass wir stolpern, tappen, zögern, und vielleicht innewerden, wie stark wir aus dem Gleichgewicht sind. Wenn es sich auch sonst nicht gerade behaglich anfühlen mag, so „außer Kontrolle“ zu sein, in der Gegenwart eines solchen Menschen fürchten wir nicht, dass solche Offenbarung unserer Seele mit ihren „Brocken“ nachteilig für uns werden könnte. Mit den zur Reinigung des Seelenlebens notwendigen alchemistischen Prozessen kann aber noch nicht einmal begonnen werden, bevor wir nicht des Ausmaßes unserer eigenen Verwirrung innewerden.
Zwar erwarten wir einen hervorquellenden Strom der Gelassenheit von jemandem, der etwa einen der therapeutischen Berufe ausübt – zumal als Hilfe für den Patienten, der sich auf der Entdeckungsreise zur eigenen Seele befindet. Umso erstaunlicher und verwandelnder für die Gemeinschaft ist es aber, wenn wir etwa bei der Arbeit auf einen solchen Gelassenheit verströmenden Menschen stoßen. Indem man am Arbeitsplatz an dieser Tugend arbeitet, kann man selbst zu jenem Arbeitskollegen werden, der in aller Stille eine Verwandlung des ganzen Betriebs herbeiführt ohne Umstrukturierung der Organisation. Eine solche Möglichkeit hat man sich allerdings in realistischer Weise vorzustellen bedeutet das Ausüben dieser Tugend doch nicht, dass bei der Arbeit alles der eigenen Wunschvorstellung gemäß zu funktionieren beginnen würde. Was wir durch das Praktizieren der Tugend des Gleichmuts in der Gemeinschaft zu vollbringen hoffen, das ist, dass wir das Arbeiten einer Gruppe von Menschen unter das Vorzeichen der geistigen Welten stellen.
Der Mensch der Gelassenheit könnte so aussehen wie jemand, dem es schwerfällt, Entscheidungen zu fällen. Wenn Emotion, Denken und Aufmerksamkeit alle gleichwertig sind, ist es in der Tat schwer, sich zu entscheiden. Gelassenheit schließt dennoch das Sich-Entscheiden nicht aus. Diese Schwierigkeit entsteht nur dann, wenn die Fähigkeit der Aufmerksamkeit eine rein psychologische Funktion bleibt und ihr zweifacher, sowohl psychologischer als auch geistiger Aspekt nicht zur Entfaltung gebracht wird. Entwickelt sich die Aufmerksamkeit aber in dieser Weise, so fallen einem Entscheidungen viel leichter und schneller, als ob uns Kräfte und Strömungen aus geistigen Reichen zu Hilfe kämen. Das für das Sich-Entscheiden-Müssen typische Zögern scheint zu verschwinden. Diese Freiheit inmitten des Sich-Entscheidens ist eines der größten Geschenke der Gelassenheit.
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von Robert Sardello
Die Tugend der Gelassenheit
(Zufriedenheit wird zu Gelassenheit - Rudolf Steiner)
21. September - 20. Oktober
Die Tugend der Gelassenheit
Wie ist es, im Reich der Emotionen vollkommen ausgeglichen zu sein? Gewöhnlich sind unsere emotionalen Reaktionen einseitig. Wir sind entweder fröhlich oder traurig, wütend oder freudig, ausgelassen oder verschlossen. Wenn wir nicht gerade dabei sind, zwischen diesen Polaritäten hin und her zu hüpfen, so liegt das daran, dass fast gar keine Emotion vorhanden ist. Gelassenheit bedeutet nicht die Abwesenheit emotionaler Qualitäten. Sie bedeutet nicht, sich immer gleich zu fühlen, weder heiß noch kalt. Auch ist Gelassenheit nicht mit einem Gemisch aus polar entgegengesetzten Emotionen gleichzustellen – ein wenig Zorn mit genau der richtigen Menge Liebe gemischt und einer Prise Freude abgeschmeckt.
Gelassenheit lässt sich auch nicht als Gleichgewichtszustand zwischen im voraus hergestellten Polaritäten vorstellen. Geschieht einem etwas Wunderschönes, sodass man sich überglücklich fühlt, so findet man in der eigenen Freude die Gelassenheit nicht dadurch, dass man dieses Gefühl mit genau der richtigen Menge Traurigkeit ausbalanciert. Auch wenn wir wissen, dass einem Gefühl die Vorherrschaft zu lassen zugleich den Verlust der Gelassenheit nach sich zieht. Eine solche Sichtweise erforderte von uns, dass wir von allen Gefühlen etwas vorrätig hätten und lernen könnten, in just dem richtigen Moment das zum Herstellen des Gleichgewichts benötigte Gefühl heranzuziehen. Um Emotionen in dieser Weise nach Bedarf herbeiholen zu können, müssten wir einen Standpunkt außerhalb unseres eigenen Seelenlebens beziehen. Ein distanzierter Beobachter der eigenen Emotionen könnte diese demnach im jeweils richtigen Verhältnis mischen.
Bei vielen spirituellen Praktiken führt Gelassenheit die Aufzählung der zur geistigen Entwicklung notwendigen Eigenschaften an oberster Stelle an. Oft behandeln diese Praktiken Gelassenheit als einen durch den eigenen Willen lenkbaren Zustand. Man begreift diesen, als ob er durch eine Veränderung in den Extremen der Leidenschaften zu erreichen wäre. Wir müssen Gelassenheit selbst finden, jedoch nicht als ein Ergebnis der Veränderung anderer Emotionen. Sie hat ein eigenes, von anderen emotionalen Eigenschaften unabhängiges Seelenleben.
Es scheint in diesem Zusammenhang hilfreich, sich an ein tatsächlich durchgemachtes, starkes emotionales Erlebnis zu erinnern. Angenommen ich wäre bei der Arbeit und hätte jemanden um die Erledigung einer Aufgabe gebeten. Wenn nach drei Tagen sich herausstellt, dass diese Aufgabe mangelhaft ausgeführt wurde, so steigt der Zorn in mir empor. Was würde es mir in diesem Augenblick ermöglichen, die Wucht dieses Zornes zu spüren, ohne überwältigt zu werden und ohne meiner Wut dem Kollegen gegenüber freien Lauf zu lassen? Das Ziel eines tugendhaften Verhaltens wäre in diesem Fall nicht einfach die Unterdrückung meiner Emotionen, um des sozialen Friedens willen, sondern die Einsicht, dass diesem Aufwallen des Zornes ein Quantum ungeläuterten Stoffes innewohnt, welcher sich in eine spirituelle Gabe verwandeln lässt. Gelingt es mir, diesen Zorn als eine Kraft zu fühlen, welche nicht gebraucht wird, um den anderen Menschen zu verletzen, so kann der Zorn zur einer Kraft des Engagements mit anderen werden und uns auf diese Weise helfen, die Aufmerksamkeit der Aufgabe zuzuwenden; wird er darüber hinaus zu einer das Denken schärfenden Kraft, so bin ich auf dem Weg zur Gelassenheit.
In beruflichen Situationen – besonders unserem Chef gegenüber – lernen wir rasch, nicht außer uns zu geraten. Stattdessen unterdrücken wir den Zorn, welcher sich dann auf alle möglichen Weisen – indirekt – äußert. Die Unterdrückung des Zornes ist dadurch möglich, dass wir die Kraft der Gedanken auf das anwenden, was wir erleben. In dem oben genannten Beispiel der Begegnung mit anderen Menschen in meinem Berufsleben fühle ich wohl die Kraft des Zornes, denke aber zugleich an den möglichen Verlust meines Arbeitsplatzes. Wenn ich meinem Zorn freien Lauf ließe, könnte ich ja als ein unzulänglicher Angestellter oder Vorgesetzter angesehen werden. Diese und ähnliche Erwägungen gehen mir in solchen Augenblicken durch den Kopf. Durch Gedanken allein vermögen wir es nicht, den Zorn zu dämpfen. Dies muss in einem Willensakt vollzogen werden, welcher jedoch vom Gedanken herstammt. Die Unterdrückung einer Emotion kann sich äußerlich so ausnehmen wie Gelassenheit. Aber es gibt Unterschiede, die sogar im Antlitz wahrnehmbar sind. Wer eine Emotion unterdrückt sieht gefühllos, dumpf, fast psychotisch aus. Gelassenheit sieht nicht dumpf aus, denn bei ihm handelt es sich nicht um Abwesenheit. Der gleichmütige Mensch erscheint uns beschwingt und voller Lebenskraft. Er trägt ein inneres Licht mit sich, das aus der Seele zu uns strahlt, die Augen erleuchtet und in ein engagiertes Interesse für das uns Begegnende mündet.
Rückblickend auf die Darstellung eines ungesunden Umgangs mit dem Zorn, in dem dieses Gefühl willentlich unterdrückt wird, bekommt man ein besseres Bild davon, was Gelassenheit erfordert. Wie kann man sie erlangen? Wenn man diese Tugend sucht, wo – innerlich – sucht man sie und wie?
Bei der Gelassenheit geht es darum, die Beziehungen zwischen Emotion, Denken und Wollen in ein Gleichgewicht zu bringen. Wollen wir uns in die Gelassenheit hineinfühlen, so zielt unser Bemühen darauf, eine Verbindungen zwischen diesen dreien zu fühlen. Gelassenheit ist kein bloßes Gefühl, auch kein bloßer Gedanke über ein Gefühl. Um eine Willenshandlung allein kann es sich dabei auch nicht handeln. Emotionen lassen sich nicht unmittelbar ändern, denn wir finden so gut wie keine Freiheit im Reich der Emotionen. Ist eine Emotion einmal vorhanden, so ist sie etwas, was man eben durchmacht, ob sie nun angenehm oder unangenehm ist. Unsere Emotionen haben uns, nicht wir sie. Es ist wohl nicht möglich, aus einem emotionalen Erlebnis heraus selbst zur Gelassenheit zu finden. Die Praxis dieser Tugend verlangt, dass man sich bewusst nach und nach in die Lage versetzt, die richtigen Beziehungen zwischen Emotion, Denken und Wollen zu schaffen.
Wenn wir von einer Emotion ergriffen werden, so scheint es uns, als ob diese Emotion von unserem Denken und Wollen getrennt wirkte. Tatsächlich ist es der Fall, dass in diesem Moment beide von der Emotion beherrscht werden. Ein gesunder Respekt vor der Macht unserer Emotionen steht am Anfang aller Gelassenheit. Die Emotion ist eine wesentliche Lebenskraft unserer Seele. Das Leben kontrollieren wir nicht und können es nicht kontrollieren. Wir finden uns schlicht in ihm. Auf diese Weise bildet die Lebenskraft der Emotionen den beständigen Hintergrund. Dieser ist immerzu gegenwärtig und kann zu jedem Augenblick in machtvoller Weise in den Vordergrund treten. Keine spirituelle Entwicklung, gleich welchen Umfangs, vermag diese Lebenskraft der Seele hinwegzunehmen. Jedweder spirituelle Pfad und jede spirituelle Arbeit, welche vorgeben dies zu tun, sind gefährlich, da sie die Hemmung und Unterdrückung dieser uns ständig in das Lebendige des Lebens hineintragenden Meeresflut mit der Freiheit verwechseln.
Wir können ohne weiteres Situationen erkennen, in welchen uns das Denken dominiert und diese Kraft des Denkens sogar unser Gefühlsleben beherrscht. Diesen Zustand nennen wir „verkopft sein“. Auch lässt es sich leicht erkennen, wenn jemand vom Willen beherrscht wird. Dies drückt sich als beständiges Dominieren, als Kontrolle und an-der-Macht-sein aus. Es wird aus diesem deutlich, dass die genannten drei Funktionen der Seele sich trennen und ihren eigenen Weg gehen können und dies auch gelegentlich tun. Wenn in alltäglichen Lebenssituationen nicht leichthin festzustellen ist, dass eine Funktion die anderen dominiert, so finden wir alle drei miteinander vermengt vor. Bei dieser Verbindung von Fühlen, Denken und Wollen handelt es sich aber nicht um Gelassenheit.
Die Balance dieser drei seelischen Funktionen, ohne dass eine von ihnen die Oberhand gewinnt, ist nicht Gelassenheit. Deren Vermengung führt uns zu Ausgeglichenheit, bewirkt jedoch auch, dass wir uns der Situationen nicht bewusst sind, in welchen das Denken durch unsere Emotionen beherrscht wird, bzw. in welchen die Emotionen vom Denken gehemmt werden. Auch kann die Vermengung uns zu Handlungen führen, welche aus purem Willen, unüberlegt und undurchschaut und im Innersten unser Gefühlsleben verletzend vollbracht werden. Wenn wir einfach funktionieren und in Bezug auf die drei Richtungen des Fühlen, Denken und Wollens im Gleichgewicht zu sein scheinen, leben wir nicht die Gelassenheit.
Es scheint so, dass Gelassenheit nicht geradewegs erlangt werden kann. Doch in welchem inneren Raum können wir eine Ausgewogenheit etablieren, die in sich die Eigenschaften des Aufstrebens und des geistigen Lichtes, des interessierten Engagements für die anderen und die Welt trägt? Wohl lassen sich Emotionen kontrollieren, doch wenn wir Menschen begegnen, die eine solche Kontrolle erlangt haben, so wird uns klar, dass dies nicht die Art von Beziehung ist, um welche es bei der in Frage stehenden Tugend geht. Vielleicht sollten wir uns zu einem besseren Verständnis das oben erwähnte Beispiel eines von unserer Wut dominierten Ereignisses noch einmal genauer ansehen.
Wenn wir auf einen Menschen wütend oder mit einer anderen heftigen Emotion reagieren, so ist unsere Aufmerksamkeit nicht mehr auf die vorliegende Aufgabe gerichtet. Die Emotion nimmt uns völlig in Anspruch und auch wenn sie mit der vorliegenden Situation etwas zu tun haben scheint, ist dem nicht so. Wenn ich z.B. beginne mein Gegenüber heftig anzufahren, da er nach meinem Ermessen etwas Falsches getan hat, so rückt das Schimpfen in den Vordergrund und es geht das verloren, was ansteht. Dabei sieht mich der Mensch, an dem ich meiner Wut freien Lauf lasse fassungslos an und fragt sich, was in aller Welt in mich gefahren ist. Wir haben die Unmittelbarkeit der eigentlichen Aufgabe unserer Begegnung verloren und etwas anderes hat unsere ganze Aufmerksamkeit.
Gelassenheit hat mit dem Vermögen zu tun, bei dem zu bleiben, was Sache ist. Ich möchte vorschlagen, Gelassenheit zunächst als eine an die Entwicklung der Kräfte der Aufmerksamkeit geknüpfte Fähigkeit zu verstehen, die deren Zerstreuung entgegenwirkt. Konzentriert sich unsere Aufmerksamkeit auf die Wut, so wächst und schwillt diese an und erlangt die Oberhand. Wenn die Wut in uns aufsteigt, können wir lernen, sie zu fühlen und gleichzeitig die Aufmerksamkeit auf das gerichtet zu lassen, womit wir es vor uns zu tun haben. Dieses Vermögen bildet zwar die Grundlage der Gelassenheit, genügt jedoch nicht allein, um diesen umfassend zu entwickeln.
Es lassen sich zahlreiche Situationen vorstellen, in welchen die beständige Konzentration auf die vorliegende Aufgabe nicht zu Gelassenheit führt. Die Situation könnte von Wut geprägt sein und auch das Denken muss mit in Betracht gezogen werden. Was geschieht mit dem Denken in einer Situation, die uns wütend werden lässt? Sind wir von der Wut zur Gänze beherrscht, so entschwinden unsere Gedanken. Kehren unsere Gedanken wieder zurück und die Wut ist noch gegenwärtig, so wird unser Denken von ihr eingespannt. Die Wut gebraucht den Intellekt als ihr Instrument und schlägt mit diesem um sich. Mit den anderen Emotionen, auch mit angenehmeren, geschieht im Wesentlichen das Gleiche, obwohl man bei den angenehmeren Emotionen dazu neigt, nicht wahrzunehmen, dass auch hier das eigene Denken in indirekter Weise zu einem Instrument für das Ausleben unserer Emotionen wird.
Es ist aus diesen Ausführungen deutlich geworden, dass es individuelle Variationen der Problematik gibt und es der Einsicht in jeden einzelnen Menschen bedürfte, um mit der Entwicklung der Gelassenheit als Tugend fortzufahren. Der eine Mensch muss vielleicht an der Stärkung der Fähigkeit der Aufmerksamkeit arbeiten, um beim Auftreten einer starken Emotion deren Präsenz zu fühlen, ohne der Emotion die Oberhand zu lassen. Bei einem anderen Menschen kann die Sache so liegen, dass es die Kraft des Denkens ist, welche es zu stärken gilt. Durch das Denken kann sie sich auf diese Weise von den sie bedrängenden Emotionen distanzieren, ohne diese ihre Emotionen gänzlich zurück zu lassen und sich im Denken zu verbergen.
Was bedingt die Stärkung der Fähigkeit zur Aufmerksamkeit bzw. die Stärkung unserer Denkkräfte? Wir könnten die Vorstellung entwickeln, dass diese Fähigkeiten unveränderlich sind. Wir denken und richten unsere Aufmerksamkeit auf das eine oder das andere, Schluss. Doch unseren Seelenfähigkeiten wohnt viel Beweglichkeit inne. Die unmittelbare Kraft der Emotionen können wir als ein Geschenk schätzen, welches uns darauf aufmerksam machen kann, dass unser Vermögen zu Denken und unser Vermögen der Aufmerksamkeit, dieser emotionalen Kraft nicht gewachsen sind. Wenn es scheint, als wären wir inmitten einer emotionalen Situation nicht in der Lage, überhaupt eine emotionale Reaktion zuzulassen, so ist wahrscheinlich, dass das Denkvermögen zu stark ist und wir uns von dem emotionalen Leben entfernt haben. Der Mangel an emotionaler Reaktion könnte auch als ein Hinweis verstanden werden, dass unsere Aufmerksamkeit so von den Vorgängen um uns herum in Anspruch genommen wird, dass wir die Anwesenheit von Emotionen nicht einmal bemerken.
Wenn es nicht möglich ist, die Aufmerksamkeit und das Denken entweder zu stärken oder zu mäßigen, so kann Gelassenheit nicht erreicht werden. Es handelt sich hier um das bewusste Seelenleben verhältnismäßig gesunder Menschen, in denen die zur – mindestens teilweisen – Modifizierung der Fähigkeiten nötige Flexibilität der Seele existiert. Wir betrachten das Denken zuerst.
Wenn ich von der Modifizierung des Denkens rede, so meine ich nicht, dass es der Arbeit z.B. an der Steigerung der Intelligenz gilt, falls sich diese zu schwach ist bzw. an der Dämpfung derselben, falls sie als zu stark ist. Vielmehr meine ich, dass es wichtig ist, sich mit dem Vorgang, der Tätigkeit des Denkens bekannt zu machen, indem es in uns vor sich geht. Es gilt zu lernen, sich des Denkaktes selber bewusst zu werden – was ja etwas anderes ist, als über die Dinge nachzudenken –, um Gelassenheit finden zu können.
Zu versuchen, sich des Denkens bewusst zu werden, ist ein interessanter Prozess, etwas, was nur gemacht werden kann, indem das Denken so angeschaut wird wie aus dem Augenwinkel. Der Denkakt lässt sich nicht direkt beobachten, weil die primäre Eigenschaft des Bewusstseins die ist, stets einen Gegenstand zu intendieren. Wenn wir an etwas denken, halten wir den Gegenstand, über den wir denken, für das Denken selber, was streng genommen nicht zutrifft. Der Ausdruck „intendieren“ hat damit nichts zu tun, willenshaft etwas vorzuhaben. Er beschreibt vielmehr den Umstand, dass wenn wir denken, es stets etwas gibt, über das wir dies tun. Dieser Gegenstand kann etwas sehr Konkretes und Praktisches sein, wie z.B. die Lebensmittel, die man im Laden einkaufen muss; oder er kann auch etwas sehr Abstraktes sein, etwa die Eigenschaft eines Kreises. Wir sind uns dessen bewusst, worüber wir denken; nicht sind wir uns jedoch der Tätigkeit selber des Denkens bewusst. Die Tätigkeit des Denkens ist in das, worüber wir denken, untergetaucht.
Man nehme an, man befände sich in oben erwähnter Situation, in der einen die Emotion der Wut am Arbeitsplatz überkommt. Man stellt fest, dass man die Wut unterdrücken kann, aber innen kocht sie dennoch hoch. Man wird auch bemerken, dass wenn einen diese Wut in besagter Weise überkommt, einem für eine Weile das Denken unmöglich wird und dass wenn das Denkvermögen wiederkehrt, es zum Instrument der Wut geworden ist und man nichts als schlechte Gedanken über den anderen Menschen hat. In diesem Moment versuche man sich nicht dessen, worüber gedacht wird, sondern des Denkaktes selber bewusst zu werden. Das vermag man, indem man bemerkt, dass man schlechte Gedanken über den anderen Menschen denkt. Man nehme die schlechten Gedanken nicht einfach als das Denken hin, sondern man werde gewahr, dass die Gedanken das sind, was man gerade denkt, dass sie aber der Akt des Denkens nicht sind.
Es ist möglich, zu einer Art intuitiver Empfindung zu kommen, dass das Denken den Gegenstand des Denkens schafft, auf den man sich konzentriert. Dieses Bemerken ist nicht analytisch; es ist eine Art des Bemerkens, das nur einen Augenblick braucht. Länger als diese kurze Zeit ist nicht nötig, um ein Empfinden für den Akt des Denkens zu gewinnen. Dieser Akt des Bemerkens wird nicht bleiben, aber hat man den Akt selber einmal wahrgenommen, so ist man von der Emotion der Wut befreit. In dieser Weise den Fokus verlegen zu können, ist ein großer Schritt hin zur Entwicklung der Gelassenheit.
Um einen Blick auf die Tätigkeit des Denkens erhaschen zu können, kann es notwendig sein, spezifisch auf diesen Zweck hin orientierte Übungen zu machen. Es kann sein, dass man eine Weile lernen muss, sich in freien Situationen der Meditation auf das Denken zu konzentrieren, ehe es möglich wird, in alltäglichen Angelegenheiten die Qualität des Denkaktes zu fühlen. Eine Methode, solche Denkmeditationen zu üben ist, sich täglich fünf Minuten zu nehmen und sich innerlich auf einen neutralen Gegenstand zu konzentrieren. Man stelle sich z.B. einen Bleistift vor, dann beginne man, Gedanken über den Bleistift zu bilden, die mit ihm und mit sonst nichts zu tun haben – wie etwa seine Länge, seine Farbe, woraus er besteht, wie er gebraucht wird. Man fahre damit fort, alles mit dem Bleistift Zusammenhängendes zu denken. Wenn es dann scheint, als wäre der Vorgang erschöpft, höre man auf und verharre in der Leere.
Dieses von der Geisteswissenschaft Rudolf Steiners übernommene Verfahren hilft die Fähigkeit zu entwickeln, am Denkakt „dran“ zu sein. Auch lässt sich das Gewahrwerden unseres Denkens in alltäglichen Situationen üben. Dies zu tun bringt in das, was wir jeden Tag tun, eine meditative Qualität hinein. In oben erwähntem Zustand der Wut zum Beispiel, in dem uns böse Gedanken über einen anderen Menschen kommen, können wir uns ein paar Minuten entfernen und uns Gedanken machen nicht nur darüber, was eben passiert ist, sondern über unser Denken, indem es vor sich ging. Was dabei ans Licht kommen wird, ist, dass unsere bösen Gedanken überhaupt gar keine Gedanken waren. Vielmehr werden wir sehen, dass Emotion sich als Denken getarnt hatte.
Wir konzentrieren uns einen Augenblick auf den Akt der Aufmerksamkeit, den anderen Punkt, an dem wir in der Gegenwart von starker Emotion aus der Bahn geworfen werden. Es kann sein, dass man bei der Entwicklung der Gelassenheit auch an der Aufmerksamkeit arbeiten muss. Wenn, im Beispiel, mit dem wir hier arbeiten, die Wut aufkommt und das, was dem Augenscheine nach am stärksten passiert das ist, dass wir die Verbindung mit dem verlieren, was wir gerade machen und nicht mehr schnell eben zurückfinden, so ist es hilfreich, mit dem Vorgang der Aufmerksamkeit zu arbeiten. Wahrscheinlich wird es erforderlich sein, sowohl mit dem Denken als auch mit der Aufmerksamkeit zu arbeiten. Von den beiden funktioniert die Aufmerksamkeit subtiler. Wird einem die Aufmerksamkeit durch Wut abgelenkt, so versuche man sie schnellstmöglich auf das zurückzulenken, womit man gerade beschäftigt war. Indem man das tut, kann man sich darum bemühen, sich des Aktes der Aufmerksamkeit bewusst zu sein und nicht nur dessen, auf das man aufgemerkt hatte.
Der Versuch, die Qualität der Aufmerksamkeit zu beschreiben, erfordert eine Sprache, die einem etwas ungewöhnlich vorkommen mag. Wenn wir unsere Aufmerksamkeit nach etwas in der Welt hinlenken, ist das so, als wenn etwas aus uns heraus strömt und sich an der Welt befestigt. Diese Art einer aus uns hervorströmender Kraft kann entweder eng und gebündelt oder aber auch breit und umfassend sein.
Wir tun uns äußerst schwer, die Qualität dieser Eigenschaft zu erleben, weil unsere Aufmerksamkeit nicht sehr frei ist. Die Dinge ziehen unsere Aufmerksamkeit auf sich, nehmen sie in Beschlag. Ist das einmal passiert, so wird es unmöglich, den Akt selber der Aufmerksamkeit gewahr zu werden. Die Lage der in Beschlag genommenen Aufmerksamkeit ist in dieser Welt der Technik, der Manipulation, der Medien und der Konsumentenhaltung besonders stark ausgeprägt. So bedarf es einigen Experimentierens, um sich des eben beschriebenen Stromes der Aufmerksamkeitskraft bewusst zu werden. Solches Experimentieren kann so aussehen: Man richtet die Wahrnehmungstätigkeit eines Sinnes auf einen vor einem befindlichen Gegenstand und schaltet sie bewusst abwechselnd ein und aus. Als Beispiel wende der Leser die Aufmerksamkeit vom Lesen weg und einem beliebigen Gegenstand irgendwo im Raum zu, in dem er sitzt. Er beobachte, wie die Sehkraft hinausgeht und dem Gegenstand begegnet. Dieses Hin und Her der Sehkraft ist zwar subtil, dennoch ist es etwas Gegenwärtiges, durchaus Wahrnehmbares.
Wir beginnen mit dem Sehsinn. Sehen wir uns einen alltäglichen Gegenstand an, etwas, was vor uns steht. Indem ich schreibend hier sitze, blicke ich für einen Moment auf die Lampe, die auf dem Tisch steht. Ich versuche, mir davon ein Bewusstsein zu schaffen, was in diesem Akt des Hinüberblickens geschieht. Wenn ich mich mehr auf den Akt des Blickens konzentriere, als auf das, was ich sehe, so lässt sich diese subtile Strömung fühlen, die sich von der Region meiner Augen in die Region der Lampe bewegt. Diese Strömung möchte ich nicht „Energie“ nennen; das scheint eine zu quantitative Bezeichnung für etwas eher Subtiles. Diese Strömung ist derart subtil, dass er in den Gegenstand, auf den die Aufmerksamkeit gerichtet wird, fast unmittelbar untertaucht, sodass man typischerweise sich nur des Gegenstandes und nicht der eigenen körperlichen Beziehung zu ihm bewusst ist, also dessen, was zwischen der eigenen Leiblichkeit und dem Objekt existiert. Hat man aber einmal diese Qualität erhascht, so ist sie unverkennbar und das Erkennen derselben wird der Weg dazu, die aufmerksamkeitsmäßige Beziehung zur Welt wieder herzustellen, falls sie einmal gestört ist.
Auch mittels anderer Sinne kann man üben, sich dieser seelischen Strömung bewusst zu sein. Das Hören etwa besteht nicht nur darin, dass Klang ins Ohr eintritt. Auch in der Ohrengegend lässt sich eine Aufmerksamkeitsströmung fühlen, die hinausgeht und dem sich hörbar machenden Gegenstand begegnet. In ähnlicher Weise kann man sich dessen bewusst sein, wie mit dem Tasten die Seele sich zur Peripherie des Körpers hinbewegt um der Beschaffenheit der Materie zu begegnen, die wir berührt haben.
Dadurch, dass wir mit dem Bereich der Aufmerksamkeit in der Sinnestätigkeit experimentiert haben, wird es uns möglich, zu bemerken, dass sich der Strom der Aufmerksamkeit zurückzieht, wenn unsere Aufmerksamkeit durch starke Emotion von dem abgelenkt wird, was wir gerade tun; er geht nach innen. Ferner lässt sich nicht sagen, dass die starke Emotion jetzt unsere Aufmerksamkeit in Beschlag nimmt. Überhaupt ist unser Verhältnis zu den Emotionen ein ganz anderes, als zu irgendeinem äußeren Gegenstand, auf den wir die Aufmerksamkeit richten.
Es geht bei diesem Unterschied um mehr, als bloß darum, dass Gefühle und Emotionen etwas Innerliches, Sinnesobjekte aber etwas Äußerliches sind. Es ist vielmehr so, dass wenn eine starke Emotion erlebt wird, diese nicht zum Objekt der Aufmerksamkeit wird, sondern zur Kraft der Aufmerksamkeit selber. Es ist nicht nötig, auf eine starke Emotion die Aufmerksamkeit zu lenken; sie richtet ihre Aufmerksamkeit voll und ganz auf dich. Aufgrund der Art, wie die Emotion funktioniert, ist die Tiefenpsychologie dazu gekommen, vom Aufwallen starker Emotionen als von Komplexen zu reden. Diese Psychologie macht uns darauf aufmerksam, dass die Emotion einen autonomen Charakter hat; so, als ob Emotionen lebende Wesen wären, in deren Anwesenheit wir umgekehrt zu Gegenständen von deren Aufmerksamkeit werden, und nicht zu Menschen, die in der Lage sind, anderen oder der Welt gegenüber die Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten.
Diese Vereinnahmung der Fähigkeit, der Welt Aufmerksamkeit zu schenken, scheint darauf hinzudeuten, dass es schwieriger ist, aus dieser Richtung auf Gelassenheit hinzuarbeiten, als aus der Richtung des Denkens. Wir müssen gewahrwerden, dass es nicht die anderen Menschen sind, die unsere Emotionen verursachen. Nicht andere Menschen machen uns ärgerlich, und übrigens auch nicht fröhlich. Die anderen lassen uns unsere emotionalen Komplexe wahrnehmen, nicht aber indem sie uns darauf hinweisen oder uns von ihnen erzählen, sondern indem sie sie für uns aus den Tiefen des Seelenlebens heraufholen, damit wir sie direkt erfahren können. Es ist aber ganz gewiss nicht erforderlich, sich einer Psychoanalyse zu unterziehen, um auf die zum Herbeiführen der Gelassenheit erforderliche Fähigkeit der Aufmerksamkeit zugreifen zu können.
Wird einmal der autonome Charakters einer Emotion durchschaut, so ist ein Zipfel der Fähigkeit der Aufmerksamkeit wiedererlangt, und es wird möglich, unsere Aufmerksamkeit wieder auf das vor uns Befindliche zu richten.
Diese Beschreibung des Verhältnisses zwischen Emotion und Aufmerksamkeit schildert einen Vorgang, in dem alles gleichzeitig vor sich geht. Um den Prozess zu beschreiben, musste er verlangsamt werden, um ihn gleichsam in Zeitlupe zu betrachten. Er lässt sich nicht in der soeben beschriebenen linearen Weise durchmachen. Es wurde lediglich ein seelisches Ereignis in eine eher verständliche Sprache übersetzt. Wer mit dieser Beschreibung arbeitet, wird beim Beobachten der eigenen, außerhalb der Gelassenheit befindlichen Seele also nicht das Gleiche (wie hier beschrieben) vorfinden, wohl aber wird diese Beschreibung es durchschauen helfen.
In meinen Ausführungen ist jetzt der Punkt erreicht, wo verstanden werden kann, dass Gelassenheit es mit drei seelische Faktoren zu tun hat: Emotion, Denken, Aufmerksamkeit. Man könnte auch sagen: Fühlen, Denken, Wollen. Stelle dir diese drei Seeleneigenschaften als eine Waage vor, die den Gleichgewichtszustand sucht. Es gibt bei einer Waage drei Punkte: zwei Waagschalen und den Balancepunkt. Man kann sich in der einen Schale das Denken vorstellen, in der anderen das Fühlen, und als Stützpunkt die Aufmerksamkeit. Dieses Bild der Waage geht auf die Ägypter zurück, die mit ihm das Wiegen der Seele nach dem Tode darstellten. Die Seele wird so vorgestellt, das sie in die eine Waagschale hineingelegt wird, während in die andere eine Feder hineinkommt. Wiegen die beiden sich nicht auf, so kann die Seele nicht in die geistigen Reiche weiterziehen.
Auch heute zeigt uns das Bild des Wiegens der Seele etwas in Bezug auf das, was wir machen, wenn wir diese Tugend in uns zu aktivieren suchen: wir arbeiten auf eine spirituellere Aktivität innerhalb unserer Seele hin. Die Emotionen sitzen uns als schwere Brocken in der Seele, die von Zeit zu Zeit aktiv werden und uns und auch andere anspringen. Wie gesagt, Gelassenheit besteht nicht bloß im Lernen, sie zurückzuhalten, sondern in der Erlangung einer Art teilnehmenden Blickes durch Denktätigkeit, und in der Wiederherstellung einer gesunden Verbindung zu den anstehenden Aufgaben. Wenn aber die Feder schwerer wiegen sollte als die Seele, so bedeutet das nicht, das diese den Zustand der Läuterung bereits erreicht hat, sondern dass die Emotion von der Waage gänzlich entfernt wurde, sodass die federartige Eigenschaft des Denkens auf einmal zu einer bleiernen Masse wird.
Ein weiterer Aspekt dieses Bildes des Wiegens der Seele hat mit dem Stützpunkt zu tun, dem wir die Aufmerksamkeit zugeschrieben haben. Dieser Punkt dient nicht nur als der Mittelpunkt, von dem aus das Gleichgewicht sich geltend machen kann, sondern er ist ebenfalls ein Punkt, an dem die Waage aufhängt ist. Dieser Aspekt des Bildes deutet darauf hin, dass Aufmerksamkeit mehr ist, als eine bestimmte psychologische Funktion; sie ist vielmehr eine geistige Funktion und ist so tätig auf einer anderen Ebene als Emotion und Denken. Alles bisher über die Gelassenheit Gesagte setzt den unsichtbaren, aber höchst notwendigen Faktor voraus, dass es so etwas gibt wie eine Fähigkeit, unsere Emotionen, unser Denken und unsere Aufmerksamkeit auf die Gelassenheit hin zu beobachten. Dieser Aufmerksamkeitspunkt ist für das Seelenleben nicht etwas Äußerliches, welches uns zum entkoppelten Beobachter machen würde. Aufmerksamkeit ist sowohl eine psychologische als auch eine spirituelle Funktion. In der Terminologie der spirituellen Praktiken wird dieser Aufmerksamkeitspunkt „der Zeuge“ genannt und ist die Fähigkeit, sich mit etwas völlig einlassen zu können, während man solches Engagement gleichzeitig auch beobachtet. Aufmerksamkeit besteht in dieser Dualität einer spirituellen und einer seelischen Funktion.
Der spirituelle Aspekt der Aufmerksamkeit ist allerdings subtil. Wird dieser aber nicht in sich selber entdeckt, so wird alles in Bezug auf die Gelassenheit Gesagte nicht fruchten. Um diesen Aspekt der Aufmerksamkeit in sich zu entdecken, ist es erforderlich, dass man in irgendeiner Weise meditativ tätig ist (wobei in diesem Zusammenhang keine meditative Tätigkeit besser als die anderen bewertet werden soll). In der Meditation wird die Kapazität der Aufmerksamkeit entwickelt; denn genau das ist es, was es in der Meditation zu tun gilt: die Aufmerksamkeit aufrechterhalten. Ferner: die Gegenstände der Meditation sind spiritueller Art, und so wird durch Meditation die psychologische Funktion der Aufmerksamkeit nach geistigen Angelegenheiten hin orientiert, welche nun ihrerseits in den Vorgang der Aufmerksamkeit eintreten.
Man kann sich zwei Strömungen oder Kräfte vorstellen, die tätig sind in der Imagination der Waage mit dem Aufhängungspunkt: seelische und geistige Aufmerksamkeit, der einen Waagschale, die die Emotionen enthält, und der anderen, die das Denken enthält. Aufmerksamkeit ist die höchste dieser drei psychologischen Funktionen. Die Emotionen und das Denken bestehen auf der gleichen Ebene, was bedeutet, dass wir sowohl durch Emotionen als auch durch das Denken aus dem Lot gebracht werden können. Schon als psychologische Funktion kann die Aufmerksamkeit bei der Wiederherstellung des Gleichgewichtes hilfreich sein, aber die Schwierigkeit besteht darin, dass sie dies nur dann vermag, wenn das Gleichgewicht schon gestört wurde. Durch meditative Tätigkeit beginnt die Aufmerksamkeit, den eigenen spirituellen Charakter zu erkennen. Indem das geschieht, beginnt eine Strömung spiritueller Kraft vom Aufhängungspunkt in die Emotion und das Denken hineinzufließen, sodass unsere psychologischen Funktionen nach und nach mit spirituelleren Eigenschaften durchsetzt werden. Praktisch bedeutet diese Durchsetzung, dass wir für Überfälle durch Emotionen und einseitiges Denken weniger anfällig werden. Dennoch: man macht jede auftretende Emotion vollbewusst mit und steigert das eigene Denken.
Beim Betrachten der Herstellung von Gelassenheit in der Triade Emotion, Denken, Fühlen mag es so scheinen, als wären es entweder unangenehme Emotionen oder abstraktes Kopfdenken, die uns um unsere Gelassenheit bringen können. Angenehme Emotionen aber, sowie auch einseitig konkret-materialistisches Denken stören die Gelassenheit genauso. Sie stellen uns sogar in vieler Hinsicht noch vor tiefere Schwierigkeiten, da diese Eigenschaften eher als erstrebenswert angesehen werden. Vor dem, der ständig ärgerlich herumläuft, wird man Angst haben, während der, der heiter sprudelt, eher für ausgeglichen gehalten wird. Wer abstrakt denkt, wird wahrscheinlich für komisch gehalten, während jemand, der konkret denkt, als hoch praktisch angesehen wird. Befinden wir uns in diesen letzteren Zuständen, so können die gleichen Arten von Bemühungen, wie vorhin beschrieben, auch im Finden der Gelassenheit hilfreich sein.
Während die bisherige Untersuchung beim Üben der Gelassenheit helfen kann, ist es jetzt wichtig, ein Bild davon zu vermitteln, wie sich diese Eigenschaft anfühlt. Mag scheinen, dass Gleichmäßigkeit im Emotionsleben einer Eintönigkeit der Gemütsregungen verglichen werden könnte – das kann sie aber nicht. Auch versuchen wir nicht, oberste bzw. niedrigste Grenzen des Ausdrucks der Emotion, des Denkens und der Aufmerksamkeit abzustecken, wobei alles außerhalb dieser Grenzen Befindliche für bar der Gelassenheit und außerhalb seiner Reichweite liegend zu halten.
Gelassenheit gilt deshalb als Tugend, weil durch sie spirituelle Eigenschaften in der Seele anfänglich erlebt werden. Eine Art fortdauernder innerer Ruhe resultiert aus der Ausführung dieser Tugend, egal welche äußeren Umstände obwalten mögen. Die Seele braucht solche Ruhe, um auf die Subtilität der Strömungen reagieren zu können, die den geistigen Reichen entströmen. Die Praxis dieser Tugend schafft auch eine Fähigkeit, die seelischen und geistigen Eigenschaften anderer Menschen und sogar der umliegenden Welt zu erleben. Das geschieht, weil das Seelenleben anfängt, von geistiger Tätigkeit gekennzeichnet zu werden, was heißt, dass das Interesse für rein materielle Angelegenheiten geringer wird, wobei es sich bei dieser Verringerung nicht um eine Abwendung von der physischen Welt handelt und auch nicht um die Hinwendung zu irgendeiner Askese.
Wir greifen nun lebhaft unsere Aufgaben in der Welt auf, aber jetzt mehr aus spirituellen Gründen, als um aus ihnen eigene Befriedigung zu ziehen. Wir beginnen zu erkennen, dass die Gegenwart von Emotion uns Stoff bietet, mit dem wir arbeiten und den wir immer und immer neu veredeln können.
Gelassenheit kann zur Gewohnheit werden; das bedeutet aber nicht, dass wenn wir sie einmal errungen haben, wir sie von da an besitzen. Im Gegenteil: was dabei zur Gewohnheit werden kann ist die Praxis, Zeuge zu sein der emotionalen und gedankenmäßigen Vorgänge, die beide in uns die Oberhand zu gewinnen suchen. Das Zeuge-Sein wird zum Hauptwerkzeug, mit dem die Tugend praktiziert wird. So kommen wir in die Lage, immer stärkere Emotionen zu halten, ohne dass sie uns oder die uns umgebenden Menschen nachteilig beeinflussen.
Was tut die Praxis der Gelassenheit? Sie ist einer der Prozesse der Läuterung der Seele, durch die der Schlamm vergangener emotionaler Erlebnisse nach und nach geklärt wird. So wird sie eine fortdauernde therapeutische Erfahrung im täglichen Leben. Gelassenheit läutert die Seele und bringt sie in anfängliche Verknüpfung mit dem Geist, so dass wir „von dem Ort der Seele aus“ in geistiger Art und Weise zu leben beginnen. Anstatt dass die Seele zurückgelassen wird, wie es vielfach in spirituellen Praktiken vorkommen kann; anstatt den Geist zu verlassen, wie es in mancher psychologischen Praktik vorkommen kann, hält Gelassenheit diese beiden Eigenschaften zusammen. Wir fühlen die Tiefe der Erfahrung und bleiben dabei offen, das zu empfangen, was die geistigen Welten uns zu geben haben.
Gelassenheit wird auch zu einem Geschenk, das wir anderen darbringen, und führt so eine Läuterung im Leben der Gemeinschaft herbei. Um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie Gelassenheit auf andere wirkt, mache man den Versuch, sich einen uns bekannten Menschen zu vergegenwärtigen, der an dieser Eigenschaft arbeitet, und auch, wie es sich anfühlt, in der Nähe dieses Menschen zu sein. Zunächst mag es beunruhigend sein, sich in der Anwesenheit eines so gefassten, im Gleichgewicht befindlichen, würdevollen, abgeklärten Menschen aufzuhalten. Diese Eigenschaften sind Geschenke an uns, die uns in die Lage versetzen, dass wir stolpern, tappen, zögern, und vielleicht innewerden, wie stark wir aus dem Gleichgewicht sind. Wenn es sich auch sonst nicht gerade behaglich anfühlen mag, so „außer Kontrolle“ zu sein, in der Gegenwart eines solchen Menschen fürchten wir nicht, dass solche Offenbarung unserer Seele mit ihren „Brocken“ nachteilig für uns werden könnte. Mit den zur Reinigung des Seelenlebens notwendigen alchemistischen Prozessen kann aber noch nicht einmal begonnen werden, bevor wir nicht des Ausmaßes unserer eigenen Verwirrung innewerden.
Zwar erwarten wir einen hervorquellenden Strom der Gelassenheit von jemandem, der etwa einen der therapeutischen Berufe ausübt – zumal als Hilfe für den Patienten, der sich auf der Entdeckungsreise zur eigenen Seele befindet. Umso erstaunlicher und verwandelnder für die Gemeinschaft ist es aber, wenn wir etwa bei der Arbeit auf einen solchen Gelassenheit verströmenden Menschen stoßen. Indem man am Arbeitsplatz an dieser Tugend arbeitet, kann man selbst zu jenem Arbeitskollegen werden, der in aller Stille eine Verwandlung des ganzen Betriebs herbeiführt ohne Umstrukturierung der Organisation. Eine solche Möglichkeit hat man sich allerdings in realistischer Weise vorzustellen bedeutet das Ausüben dieser Tugend doch nicht, dass bei der Arbeit alles der eigenen Wunschvorstellung gemäß zu funktionieren beginnen würde. Was wir durch das Praktizieren der Tugend des Gleichmuts in der Gemeinschaft zu vollbringen hoffen, das ist, dass wir das Arbeiten einer Gruppe von Menschen unter das Vorzeichen der geistigen Welten stellen.
Der Mensch der Gelassenheit könnte so aussehen wie jemand, dem es schwerfällt, Entscheidungen zu fällen. Wenn Emotion, Denken und Aufmerksamkeit alle gleichwertig sind, ist es in der Tat schwer, sich zu entscheiden. Gelassenheit schließt dennoch das Sich-Entscheiden nicht aus. Diese Schwierigkeit entsteht nur dann, wenn die Fähigkeit der Aufmerksamkeit eine rein psychologische Funktion bleibt und ihr zweifacher, sowohl psychologischer als auch geistiger Aspekt nicht zur Entfaltung gebracht wird. Entwickelt sich die Aufmerksamkeit aber in dieser Weise, so fallen einem Entscheidungen viel leichter und schneller, als ob uns Kräfte und Strömungen aus geistigen Reichen zu Hilfe kämen. Das für das Sich-Entscheiden-Müssen typische Zögern scheint zu verschwinden. Diese Freiheit inmitten des Sich-Entscheidens ist eines der größten Geschenke der Gelassenheit.
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