- aus Die Macht der Seele. Wege zum Leben der Monatstugenden
von Robert Sardello
Die Tugend der Höflichkeit
(Höflichkeit wird zu Herzenstakt - Rudolf Steiner)
21. August - 20. September
Höflichkeit fügt zum Kreis der Tugenden als Ganzes etwas extrem Wichtiges hinzu. Sie bewahrt unsere Fantasie davor, in die Höhen hinaufzuschweben, die nichts zu tun haben mit unserem Alltagsleben, mit unseren fortlaufenden Beziehungen mit anderen oder mit den weltlichen Ereignissen, die uns eigentlich die meiste Zeit beschäftigen. Es kann unsere Vorstellung der Tugenden von der Illusion der Erhabenheit infiziert werden. Höflichkeit ist die Tugend, welche dieser Illusion einen Riegel vorschiebt und die Tätigkeit der Tugenden ins Herz der kleinsten Handlungen unseres Lebens hineinverlagert.
Alle Tugend, kann man sagen, beginnt mit der Aufforderung: „Seid höflich zu einander.“ Diese Handlung hält das Außerordentliche mit dem Gewöhnlichen zusammen; deren Ausführung stellt alle Menschen in den großen Reigen der Tugenden hinein. So ist Höflichkeit eine Handlung, die es zu untersuchen lohnt, auf die es wert ist, sich zu besinnen und zu meditieren, um ihren wesentlichen Charakter zu sehen. Ferner ist sie eine Tat, die es wert ist, in richtiger und gesunder Weise zu tun. Wenn wir es schwer finden, uns einem anderen Menschen mit Ehrfurcht zu nähern, so wird auch das Ausführen der anderen Tugenden ganz bestimmt unmöglich sein.
Ohne die Hilfe einiger vermittelnder Verhaltensformen, die unsere Verbindungen mit anderen Menschen erleichtern, kann es schwer sein, mit einander auskommen; solche Formen bringen Augenblicke der Freude in die funktionalen und mondänen Aspekte des Lebens herein und glätten die rauen Stellen, wo Reibungspotential besteht. Wenn also die Höflichkeit fehlt, müssen Regeln eingeführt werden, um das zu leisten, was Aufgabe der Tugend ist. In der funktionalen Welt unserer Arbeit zum Beispiel gibt es normalerweise äußere Bestimmungen. Diese geben Verhaltensweisen vor, welche anderen Menschen gegenüber als akzeptabel beziehungsweise nicht akzeptabel gelten. Konzerne, Firmen, Schulen, sogar auch karitative Unternehmen fördern inzwischen interne Fortbildungen, die einen gebührend respektvollen Umgang mit anderen pflegen sollen. Solche Fortbildungen befassen sich mit Themen wie zum Beispiel Rassenbeziehungen, sexuelles Verhalten und Umgang mit Kunden.
Das Vorhandensein solcher Fortbildungen deutet auf das Fehlen der Tugend der Höflichkeit in der Welt. Zum Umgang mit dieser Tugend werden wir nicht erzogen. Während es durchaus wichtig ist und oft zu einer Gesinnungswandel und dem Abbau von Vorurteilen beiträgt, wenn man im späteren Leben eine Erziehung zu guten Manieren hinzufügt, bietet das letzten Endes unzureichend Ersatz für weit tiefere Seelenqualitäten. Ferner, da eine solche Erziehung als Training auftritt, als „Know-how“-Workshops, verkommen sie leicht zu einer Art Konditionierung, die auf externe Druckmittel oder aber externe Belohnungen angewiesen sind, damit sie auch nach Beendigung der Fortbildung fortdauern.
Höflichkeit beinhaltet mehr als nur einen Verhaltenskodex. Wann immer versucht wird, Verhaltensnormen für die tieferen Qualitäten der Tugend einstehen zu lassen, ist es leicht festzustellen, dass die tieferen seelischen Eigenschaften nicht erreicht wurden. Es lässt sich eine aus gebührenden Handlungen bestehende Überlagerung wahrnehmen, während die Tiefe der den Kodex umsetzenden Menschen verschleiert bleibt. Am Arbeitsplatz etwa merkt man ohne weiteres, wenn die Menschen in Verhaltensweisen unterwiesen worden sind. Alle führen ihre Anweisungen getreu aus und eine äußerliche Achtung anderen gegenüber ist offenkundig; das hat aber die Tendenz, die Menschen zu abstrakten Funktionären zu machen. Eine Arbeitsstätte, wo Verhaltenstraining stattgefunden hat, strahlt eine Unheimlichkeit aus, und zwar deswegen, weil der Geist dieser Menschen so gut wie ausgeschaltet wurde beziehungsweise nur geringfügig durch eine Schicht mechanistischen Verhaltens hindurchschimmert. Menschen verschiedener Rassen, Geschlechter, Hintergründe und Geschichten mögen zwar so aussehen, als würden sie wunderbar zusammenarbeiten, aber sie haben ein Kunststoff-Aussehen an sich, oder sie nehmen alle den „Look“ des Unternehmens an, für das sie arbeiten.
Wenn wir beobachten, wie heutzutage eine Art Pseudo-Tugend der Höflichkeit in die Welt kommt, wird offenbar, dass die echte Tugend nicht auszuführen ist, wenn sie an den beteiligten Personen vorbei ist. Öfters können sogar zwei Deckschichten wahrgenommen werden. Es gibt die eine Schicht, die wir die Konzernschicht nennen könnten, bei der die Menschen das Aussehen des Unternehmens annehmen, für das sie arbeiten. Auf dieser ersten, kollektiven Schicht oben drauf sitzt eine zweite Schicht, die aus den Spuren einer abstrakten Fortbildung besteht, in der vermittelt werden soll, wie man sich so benimmt, dass man innerhalb der Verhaltensregeln des Arbeitsplatzes bleibt. Die Wahrnehmung dieser Schichten kann sehr beunruhigend sein, denn häufig ist unter der Oberfläche dieses aufoktroyierten Benehmens weiter nichts zu sehen.
Obige Beobachtungen richten sich zwar darauf, wie in der Arbeitswelt ein Surrogat für die Höflichkeit inszeniert wird, aber es ist nicht schwer zu sehen, dass auch in vielen anderen Aspekten des Alltagslebens eine ähnliche Surrogathandlung vor sich geht. Verhaltensgrundsätzen wird vom Kindergarten bis hin zum Studium Geltung verschafft. Trotz verschärfter Gesetze wird es zunehmend schwerer Höflichkeitsformen hinsichtlich des Straßenverkehrs in Kraft zu setzen. Verhaltensregeln steuern auch öffentliche Veranstaltungen wie Stadtrat-Versammlungen und Gemeinschaftszusammenkünfte. Solche Normen sind wichtig und notwendig, wo auch immer sie vorkommen. Die Schwierigkeit rührt aber davon her, dass solche äußeren Regeln zunehmend die individuelle Tugend der Höflichkeit ersetzen. Der Mangel an dieser Tugend ist nicht durch Regulierung auszugleichen, und indem in solcher Weise für Ersatz gesorgt wird, wird individuelle Fürsorge mit kollektivem Verhalten ausgewechselt.
Ein Zyniker könnte antworten, dass es egal sei, ob anständiges Verhalten anderen gegenüber als Regelsache oder aus innerem Verlangen stattfindet, da in beiden Fällen dasselbe herauskommt, nämlich eine ordnungsgemäß funktionierende Sozialsphäre. Ich habe bereits dargelegt, inwiefern sich kollektive Anpassung der Art sowie dem Wesen nach von individueller Initiative unterscheidet. Ich habe mehrere zwar kleine Arbeitsstätten erlebt, bei denen aber statt äußeren Verhaltensregeln Höflichkeit den zwischenmenschlichen Verkehr steuert. Aus der Perspektive des Zuschauers sehen solche Stätten ungezügelt und chaotisch aus. Von innen her aber – und solange es ein Ideal gibt, für das ein solcher Ort steht – sind die Menschen viel wirksamer und schöpferischer, als in einer „sozial gesteuerten“ Umgebung. Arbeitsstätten der ersteren Art sind die Ausnahme.
Organisationen jeglicher Art – vom großen Konzern hin zur gemeinnützigen Diensteinrichtung – pflegen sich vor der Individualität zu fürchten, hüten sich davor, ihre selbstempfundene Bedürftigkeit nach kollektiven Verhaltensregeln zu lockern oder gar loszulassen. So will ich als Erstes eine phänomenologische Beschreibung der Tugend der Höflichkeit bringen, die deutlich machen soll, dass das, was diese Tugend in die Welt hereinbringt, allein durch äußere Organisation niemals in Erscheinung treten kann.
Wir handeln nicht im Alleingang, und die Sphären unseres gegenseitigen Umgangs geraten öfters miteinander in Konflikt. Dadurch entsteht unvermeidbar Reibung und oft Reizung und Ärger. Unsere individuellen Anliegen passen, wenn überhaupt, nur selten mit denen anderer zusammen. Wir stellen fest, dass wir auch dann einander missverstehen, wenn wir identische Ideale oder Ziele haben, sogar wenn wir miteinander zusammen arbeiten, um im Dienst der Welt zu stehen. Ist es nicht hochinteressant, dass unser erster Impuls nicht der ist, miteinander im Gleichschritt zu gehen und unsere Pflichten gemeinsam auszuführen? Um kooperatives Zusammenarbeiten einfach und spontan zu ermöglichen, müsste das vergessen oder ignoriert werden, was Individualität ausmacht (was auch immer man darunter verstehen mag). Im Gegensatz zur kollektiven Kooperation, die man etwa bei Bienen oder Ameisen sieht, richten wir im Nu kooperative Handlungen übel zu, indem wir unsere Alleinstellungsmerkmale in alles hinein behaupten, was wir tun.
Diese charakteristische Individualität des Ausdrucks macht zwar eine wesentliche Dimension des Menschseins aus und kann ohne weiteres in Richtung Egoismus hinführen. Es geht dabei aber nicht ausschließlich darum, auf Kosten anderer das zu bekommen was ich will. Wenn man tiefer schaut, sieht man dieses Phänomen als Ausdruck eines Bemühens, aus diesem Problem heraus zu leben: Wie ist die Erfüllung des eigenen persönlichen Schicksals möglich, solange man von lauter Menschen umgeben ist, die um dasselbe bemüht sind, wobei erschwerend hinzukommt, dass das Schicksal jedes Menschen einzigartig ist? Wie bringt man das zusammen?
Wenn die missliche Lage spürbar wird, dass man das eigene Schicksal mitten unter anderen Menschen finden muss, die ebendies tun müssen, dann ist Höflichkeit gefragt. Die Tugend hat mit dem Erkennen und Anerkennen von etwas jenseits des Egoismus eines anderen Menschen zu tun. Wenn wir wahrhaft tugendhaft sind (anstatt bloß Sozialgewohnheiten auszuführen), so tun wir mehr als uns zurückzunehmen, damit das Ego des anderen Menschen glänzen kann. Worin aber dieses „mehr“ besteht, muss gesucht werden; es liegt nicht offen auf der Hand. Es gilt, eine gewisse Fähigkeit zu erwerben, dieses „mehr“ zu sehen, und zwar dem voraus, wie und als was der andere Mensch sich gibt. Sehe ich andere ausschließlich in ihren äußerlichsten Aspekten, so sehe ich nur die Ego-Dimension dieser Personen. Wenn ich zurücktrete, um dieser Person mehr Raum zur Selbstdarstellung zu lassen, so lässt sich das nicht Höflichkeit nennen.
Alles, was in Bezug auf Verhaltensregeln gesagt wurde, hat mit dem Schaffen von Bedingungen zu tun, unter denen Menschen in sozialfähiger Weise eng zusammenarbeiten und -leben können unter Beibehaltung eines gesunden Sinnes für die Ego-Ebene des seelischen Lebens. Ein äußerlich reguliertes Leben gestattet den breiten Massen einen Umgang miteinander, unter dem ein Mindestmaß an Rücksicht und Achtung gewährleistet ist. Das regulierte Leben erlaubt uns, unseren Pflichten weitgehend ungehindert nachzugehen; es geht aber nicht tiefer, als bis zum Ego und der Anerkennung der Ego-Identität.
Inwiefern unterscheidet sich Höflichkeit von bloß gutem Sozialbetragen? Damit eine Handlung höflich sein kann, muss in unserer Seele der Wille frei erstehen, anderen Platz zu gewähren. Eine solche Handlung ist nichts, was gefordert, nicht einmal etwas, was erwartet werden kann. Höflichkeit geht über soziale Förmlichkeit hinaus. Wir besitzen die Kapazität, in anderen das Gute zu erkennen, und just diese Eigenschaft des Guten ist es, die wir in der Höflichkeit ehren. Das von uns erkannte Gute hat nichts zu tun mit dem, was dieser Mensch getan hat. Diese Art von Ehre verlangt nicht viel an Wahrnehmungsfähigkeiten.
Einem Menschen gegenüber, der ehrenhaft gehandelt hat und für irgendeine Errungenschaft anerkannt wird oder eine ehrenvolle Stelle innehat, geht Höflichkeit leicht von der Hand. Es ist nicht ganz so leicht, auf der Straße auf einen Fremden zuzugehen und mit ihm so umzugehen wie mit einer ehrwürdigen öffentlichen Person. Noch schwerer fällt es, bei der Arbeit jemanden so zu behandeln, mit dem wir uns etwa in Konkurrenz fühlen oder über den wir uns ärgern, weil wir mit ihm zusammen arbeiten müssen.
Jemandem Ehre zu bezeigen heißt effektiv, sich vor diesem Menschen zu verneigen. Das Wort „Höflichkeit“ entstand ursprünglich als Ausdruck für geziemendes Betragen zu Hof, vor der Hoheit. Es wurde anerkannt, dass jemand mit einem königlichen Titel der irdische Repräsentant von etwas Größerem, von etwas göttlicher Natur war. Lange Zeit galt der König oder die Königin als göttlichen Wesens. In späteren Epochen galt nicht die Person, wohl aber das Amt als göttlich. Sich vor dem Menschen verneigen hieß, dessen heiliges Amt anzuerkennen. Um in unserer jetzigen Zeit einem anderen Menschen Höflichkeit zu bezeigen, müssen wir dessen Seelenwesen erkennen. Wir treten zurück, halten uns zurück, damit dem Seelenwesen, das die andere Person ist, Raum gelassen wird, um sich selbst auszudrücken. Damit aber diese Handlung die Tugend der Höflichkeit und kein bloßes äußeres Verhalten sein kann, müssen wir das Seelenwesen des anderen Menschen auch wahrnehmen können.
Wenn die Fähigkeit, das Seelenwesen des anderen Menschen zu erkennen, die zentrale Voraussetzung der Höflichkeit ist, so ist das mit einer dem Leben der Seele innewohnenden Schwierigkeit verbunden. In der Tradition der Tiefenpsychologie wird Seele nur in ihrer Eigenschaft als Impulsiererin des individuellen Daseins berücksichtigt. Diese Vorstellung von Seele – als gänzlich individueller Daseinsfaktor – ist seit Platon über Aristoteles, Thomas von Aquin und Descartes, bis zum heutigen Tag in jeder Philosophie zu finden. So ist also die Vorstellung von Seele als etwas völlig Individuelles eine sehr starke.
Das Studium der Psyche, was ja die wortwörtliche Bedeutung von „Psychologie“ ist, galt allerdings nicht ursprünglich, wie diese, dem Sitz des Selbst und dem Zentrum der Persönlichkeit. In der Ilias des Homer zum Beispiel bedeutet „Psyche“ (ψυχη) „Atem“, was sich auf Leben und Seele bezieht. Die Psyche war die Seele, welche in die Person hineingeatmet wurde, und zwar durch das Leben und die Liebe anderer – durch die Familie, den Stamm und durch diejenigen, für die die Psyche die Verantwortung tragen sollte; letzten Endes durch den Geist des Universums. Jungs Psychologie und ihre weitere Entwicklung in der analytischen Psychologie begreift Psyche als durch die Götter in den Menschen hineingehauchte Seele. Die frühere Verwendung von „Psyche“ ging noch weiter und schloss auch Mitmenschen in diejenigen mit ein, die Seele einhauchen. Psyche war ein Geschenk von anderen. Erst später erhielt dieses Wort die Bedeutung als Sitz der privaten Persönlichkeit.
Die Auffassung unserer Seele als durch andere erzeugt und auch die Auffassung der Seele anderer als dadurch erzeugt, dass sie als seelische Präsenz behandelt werden, ist ein Zentralaspekt der Tugend der Höflichkeit in ihrem tiefsten Sinn. Zu einer seelischen Auffassung der Höflichkeit können wir es nicht bringen, wenn unser Ausgangspunkt eine Vorstellung der Seele als privat und ohne Beziehung zu anderen ist. Die eigene Seele ist es, welche – vorausgesetzt sie ist dem anderen Menschen gegenüber völlig offen – das Leben der Seele in die andere Person hineinatmet. Seele erzeugt sich nicht selbst, auch wird sie nicht ausschließlich von den Göttern (beziehungsweise in der Begrifflichkeit der modernen Psychologie: von den Archetypen) erzeugt.
Die Metapher, dass die Seele in andere „hineingeatmet“ wird, vermittelt die Bedeutung, dass unser Seelenleben kein Selbsterzeugnis ist. Die eigene Seele mache ich nicht, auch aktualisiere ich sie nicht. Das Seelensein, von dem meine Individualität kennzeichnet ist, wird von dem Guten hervorgebracht, das der anderen Person innewohnt. Das wiederum ist etwas, was das mir innewohnende Gute für andere Menschen tut. Das Schenken von Seele geschieht nur durch Beziehungen, die offen und liebevoll sind. Dieses Schenken von Seele kann aber verlorengehen.
Wir können diese Ebene unseres Daseins völlig vergessen und können mit unseren Beziehungen zu anderen so umgehen, als gäbe es keine Seele. Gerät diese Daseinsebene als Kultur in Vergessenheit, so müssen äußere Gesetze und Regeln für die Wertschätzung herhalten, die sonst von selbst da wäre. Diese Daseinsebene können wir nicht direkt wieder herstellen, denn sie entzieht sich unserem direkten Zugriff. Was wir aber tun können, ist uns die Voraussetzungen bewusst machen, unter denen das Seelenleben stattfindet, das zwischen uns selbst und anderen erzeugt wird. Höflichkeit ist eine dieser Voraussetzungen, und zwar eine primäre.
Wie bei allen Tugenden ist es auch bei der Höflichkeit wichtig, sie uns nicht als etwas vorzustellen, was unserem Menschsein äußerlich hinzugefügt wird. Vielmehr müssen wir sie uns vorstellen als eine Voraussetzung zum Menschsein überhaupt. Die Vorstellung, dass es Eigenschaften gibt, die unser Menschsein gewährleisten, ist für die Höflichkeit noch unabdingbarer, als für die anderen Tugenden. Das kommt daher, dass es so leicht ist, Höflichkeit für eine soziale Verzierung zu halten, für etwas, was das Leben genießbarer, erträglicher macht. In der gegenwärtigen Welt wird sie gerne für etwas Elitäres gehalten. Wir müssen als Erstes daran arbeiten, uns von dieser landläufigen Auffassung der Höflichkeit zu befreien.
Die Handlung der Höflichkeit schafft den Raum, den psychischen Platz, innerhalb dessen das Wahrnehmen des Seelenwesens vollzogen werden kann, welches den anderen Menschen ausmacht. Und innerhalb eben dieses Raumes drückt zugleich auch der andere Mensch sein eigenes Sein aus. Was bedeutet das aber? Dass Höflichkeit bemüht ist, sich von begrifflich-vorstellungsmäßigen Auffassungen des anderen Menschen zu distanzieren. Für gewöhnlich sehen wir nicht die anderen Menschen, sind nicht wahrhaft anwesend vor ihnen in ihrem radikalen anders-Sein. Auch wenn wir uns nicht dessen bewusst sind, nehmen wir andere Menschen durch konzeptuelles Verständnis wahr.
Wir sehen jemanden etwa als Lehrer oder als Mutter oder als Kind oder als Chef, als Liebhaber, Freund, als jede Menge unzählbarer Kategorien, die unsere Wahrnehmungen in irgendein Ordnungsschema hineinbringen. Dieses Ordnen, welches uns unbekannt vor sich geht, verbirgt, verdeckt, verschleiert das Geheimnis, das der andere Mensch ist. Dieses Ordnen verleiht uns zwar die Empfindung, dass wir den anderen Menschen kennen; dabei wissen wir nur etwas über ihn, und dieses „Wissen über“ verdrängt das Erkennen des anderen Menschen selbst. Direkt, unmittelbar den anderen zu kennen ist eigentlich nicht möglich – wenigstens nicht im Sinne, in dem dies normalerweise gemeint ist. Den anderen tatsächlich zu kennen besteht darin, dass man es zum Eintritt in den unaussprechlichen Raum von dessen Geheimnis bringt.
Zunächst können wir uns die Höflichkeit so vorstellen: Wir gewähren dem anderen Menschen den Raum, als undurchschaubar, unbegreiflich, unkontrollierbar, unverwertbar da zu sein. Sich dem anderen Menschen so zu nähern ist von unserem gewöhnlichen Ichbewusstsein aus nicht möglich. Dieses Bewusstsein kategorisiert sofort, versucht Kontrolle zu gewinnen, Macht zu ergreifen, Selbstidentität zu sichern. Dieser letzte Aspekt ist sehr wichtig, denn er legt nahe, dass wenn wir vor der grundsätzlichen Undurchschaubarkeit unseres Gegenübers stehen, wir zu gleicher Zeit auch uns in eben dieses Reich des unergründlich-Seins hineinstürzen; dort sind wir sogar uns selbst unergründlich.
Diese Vorstellungsart, mit jemandem eine Beziehung einzugehen, in der sowohl der andere als auch man selbst fundamental unergründlich ist, mag weit entfernt scheinen von unserer Vorstellung einer gewöhnlichen Höflichkeitsbezeigung. Für jemanden die Tür aufhalten; sich zurücknehmen und jemand anderen (aus)reden lassen, anstatt sofort einzutreten und den Platz einzunehmen; für einen Augenblick völlig an dem anderen orientiert zu sein: all das hat scheinbar wenig zu tun mit diesem tieferen Grund des Mysteriums des anderen Menschen. Man verfehlt ja die potenzielle, in einer Handlung der Höflichkeit mögliche Erfahrungstiefe, wenn diese Handlungen auf weiter nichts als angelernte „gute Umgangsformen“ basieren. Wenn es aber möglich ist, mitten in solchen Handlungen den Sekundenbruchteil zuzulassen, in dem wir zu jemandem Güte bezeigen, so lässt sich auch in den einfachsten zwischenmenschlichen Handlungen ein sich Ereignendes wahrnehmen, das viel, viel mehr ist, als ein bloß angelernter Benimm.
Die Eigenschaft der Höflichkeit, in dieser Tiefe als Wahrnehmung des Mysteriums des anderen Menschen erfasst, hält man in gegenwärtiger Zeit für völlig überflüssig. In einem Leben, das von Wissenschaft, Technik, Funktionalität und materiellen Gegenständen bestimmt ist, scheint die Hauptsache zu sein, dass man direkt zur nächsten Aufgabe voranschreitet. Für Qualitäten ohne vordergründige Funktionalität gibt es keine Zeit. Zeit ist zu kostbar, als dass man es sich leisten könnte, im Geheimnis anderer oder unser selbst sich zu sonnen. Keine Zeit für solchen Luxus.
Man kann kein Plädoyer für die Höflichkeit daraus machen, dass man sagt, sie käme uns selbst zugute, und wir haben es im Befriedigen der eigenen Bedürfnisse viel zu weit gebracht, als dass wir auch nur ein Bisschen dieses Könnens zugunsten der Ehrung des Seelenwesens anderer aufopfern würden, wenn für uns selbst nichts dabei herausspringt. Mir ist es hierbei nicht um die Behauptung einer zynischen Sichtweise zu tun; ich will bloß die faktischen Umstände des gegenwärtigen Kulturlebens im Sinne behalten und auch darauf aufmerksam machen, was für eine Ungeheuerlichkeit auch nur der Andeutung ist, dass Höflichkeit das Beiseitelegen der Bedürfnisse des eigenen Selbst erfordert. Aber so wahr es auch sein mag, dass wir nichts von der Anstrengung haben, uns selbst zurückzuhalten, existiert dennoch ein grundlegendes Verlangen danach, gerade das zu tun. Und dieses Verlangen will untersucht werden.
Höflichkeit feiert die grundlegende Würde der Person, dessen, was es heißt, eine Person zu sein. Wir stellen für einen Augenblick die eigenen Angelegenheiten zurück, aber nicht um die Angelegenheiten der anderen Person zu würdigen, sondern um diese Person als Person zu ehren. Höflichkeit wirkt allerdings anderen Gesetzen gemäß als denen des funktionalen Lebens. Höflichkeit geht auf Umwegen, sie verschwendet Zeit, sie verweilt, zögert, lässt sich mit dem Extravaganten, dem Überflüssigen ein. Höflichkeit geht diese Umwege, weil das Leben selbst wesensgemäß in diesen scheinbar belanglosen Eigenschaften besteht. Das Leben verläuft niemals direkt von A nach B. Das Leben selbst gleicht eher den Bewegungen eines Rituals, eines improvisierten Rituals, in dem alles was wir tun hoch sinnvoll, hoch symbolisch ist, auch wenn es den Anschein haben mag, als würden wir verloren umherwandern.
Man versuche, sich vorzustellen, wie schwer unser Seelenwesen sich mit dem Dasein in dieser Welt abplagen muss. Hat doch Seele in der geistigen Welt ihre Heimat; dort weiß Seele, sich zurechtzufinden. Hier in dieser Welt muss es immer ein Gefühl der Fremdheit geben, egal wie lange Seele unseren Leib und die Welt bewohnt hat. Wenn uns jemand auch die geringste Höflichkeit entgegenbringt, ist es so, als würde sich unsere Seele für einen Augenblick entspannen, als würde sie getröstet und als ein Geistwesen anerkannt, das ein klein Wenig verloren ist; ja in dieser hoch materialistischen Welt kann Seele nicht anders, als ständig verwirrt zu sein. Höflichkeit sagt, wenn auch für den kleinsten Moment: „Ich anerkenne dich. Willkommen in dieser Welt. Ich bin durch deine Anwesenheit hier tief beehrt. Ich danke dir für dein Opfer, in die Welt gekommen zu sein. Du bringst eine Empfindung des Heiligen mit dir mit, und das schenkt mir das Gefühl, ganz zu sein und erinnert mich daran, dass ich auch ein seelisches Wesen bin.“ Das ist Höflichkeit als alltägliche Ehrfurcht, als Religion ohne Mauern.
Ohne solche Alltagsehrfurcht ist unser demokratisches Leben, in dem alles die Eigenschaft besitzt, allem anderen gleich zu sein, weiter nichts als aufgedrängte Ordnung, die ein jeden Augenblick ausbrechen wollendes, in den Seitenflügeln revoltierendes Chaos im Zaum hält. Man erinnere sich an die griechische Tragödie Die Bacchae von Euripides. Dies Stück spielt in einer durch Strukturen überkontrollierten Welt. König Pentheus ist ganz Ordnung und Struktur, und das Ergebnis dieses Überzugs der Rigidität ist, dass Dionysos durchbricht und sein Recht einfordert. Da Leichtigkeit, Erneuerung, Regeneration aus der saturnhaften Vorgehensweise ausgeschlossen wird, bei der alles strengstens nach Regeln und Gesetzen verläuft, kehrt Dionysos mit Gewalt, Blut und Chaos sich rächend zurück. Ein Leben ohne die Tugend der Höflichkeit – in dieser tiefen Weise gefühlt und nicht bloß als sauberer, oberflächlicher, auf derselben Ebene wie andere Funktionalitäten ausgeführter Verhaltensstil – wird immer strukturierter und wehrt dabei die radikalen Kräfte der Erneuerung und Regeneration ab.
Hier also mit dem inneren Bild der Erneuerung und der Regeneration beginnen wir eine Vorstellung von dem zu bekommen, was die Welt der Höflichkeit uns bietet. Was einem so vorkommen mag wie eine Abweichung vom Fortschritt, von der Effizienz, der Produktivität, dem Produkt, ist eigentlich das Allerwichtigste, um das Leben in all seiner Komplexität und Vielschichtigkeit erfahren.
Um die Höflichkeit in ihrer ganzen Tiefe verstehen zu können, muss man einsehen, dass auch diese Tugend nicht etwas ist, was wir vorgeformt in eine Situation hineinbringen und dann umsetzten. Da das Wesen der Höflichkeit so deutlich mit der Gegenwart des anderen Menschen zu tun hat, unterstreicht sie einen unverzichtbaren Zug aller Tugenden: Wir bilden sie nicht als Gewohnheiten aus, sondern als Fähigkeiten unseres Wesens.
Der Unterschied zwischen einer Fähigkeit und einer Gewohnheit ist, dass jene nur als eine Art Schema oder Orientierungshilfe, als offene Möglichkeit existiert, während eine Gewohnheit in einem spezifischen Inhalt besteht. Uns kann der Inhalt guter Manieren beigebracht werden: wie man sich in der Anwesenheit einer Dame verhält, wie man am Esstisch sitzt, wann man reden, wann man schweigen soll. Einmal gelernt, machen diese Inhalte eine Handlungsgewohnheit aus, die dem zwischenmenschlichen Umgang eine gewisse Schönheit verleiht. Höflichkeit besteht nicht in solchen vorbestimmten Inhalten, die wir in Situationen hineinimportieren. Wir können eine Kapazität für Höflichkeit ausbilden, und diese Kapazität besteht darin, vor dem unaussprechlichen Anderssein des anderen Menschen gegenwärtig zu sein, sich diesem Anderssein zu stellen. Wenn uns das Geheimnis der anderen Person aufgeht, so ist Höflichkeit gegenwärtig. Von daher sind also die Formen, in denen die Tugend sich äußert, keine vorherbestimmten; sie werden aber für die Augenblicke solcher Öffnungen genau das Richtige sein.
Hier ein Beispiel: Neulich fuhr ich wie üblich zur Post in die Stadt. An diesem bestimmten Tag aber zeigten sich die ersten richtigen Anzeichen des Frühlings. Der Himmel war vom reinsten Tiefblau, einem Blau, das bis in die Unendlichkeit ging. Am frühen Morgen waren drei große Truthähne in unseren Garten hineinstolziert. Als der größte dieser drei Vögel in der Sonne ging, zeigte sein Gefieder einen kupfernen Schimmer. Sowie diese das Gelände verließen, erschien ein Rotfuchs, der nach dem eigenen Schwanz jagte, vermutlich in der Annahme, dass es sich dabei um ein anderes Geschöpf handle. Ein Goldzeisig spazierte durch das Gras. All diese Schönheit klang innerlich in mir nach, als ich in der Stadt ankam. Die Treppe zum Postamt hinaufsteigend, atmete ich die Schönheit dieses Tages noch ein, als gerade ein älterer Herr zum Haupteingang herauskam. Da trat ich, wie ich in solchen Situationen zu tun pflege, einen Schritt zurück und hielt ihm die Tür auf. Er sah mir direkt in die Augen und sprach ein einfaches „Danke“. Seine Ausdrucksweise machte mich betroffen. Sie versetzte mich in den gegenwärtigen Moment hinein. Nicht dass ich ihm die Tür aufhielt war es, was die Handlung der Höflichkeit ausmachte; sein „Danke“ war es, was tätige Höflichkeit war.
In diesem Bruchteil einer Sekunde war sein „anders-Sein“ durchbrochen, hatte die Vorstellung auseinandergenommen, in der ich gerade wohnte und ermöglichte mir für einen Augenblick das Erleben der wunderbaren Fremdheit nicht dieses Fremden, sondern des Seelen-Seins, das diese Person ist. Sein rötliches Gesicht, seine graugelockten Haare, seine sanft-beherzte Art, das Blau seiner Augen, das noch tiefer als der Himmel war an diesem Tag, leben noch immer in mir weiter. Sonderbar die Wirkung dieser Person, den ich nicht kenne, dem ich aber in einem Moment seiner Höflichkeit begegnete.
Ist Höflichkeit ausschließlich solchen momentanen Zeitpunkten vorbehalten, in denen die alltägliche Funktionalität unseres Lebens durchbrochen wird, oder geht es auch, diese Tugend in der Zeit auszudehnen? Vielleicht sollten wir nicht so gierig sein, länger am Stück in der Sphäre der Höflichkeit weilen zu wollen. Andererseits sind vielleicht die (punktuellen) Eindrücke der Höflichkeit, die wir am besten kennen, weiter nichts als impressionistische Szenen einer Welt, zu der wir den vollen Zutritt gewinnen können, wenn wir nur die dazu erforderliche Disziplin entdecken.
Worin besteht also die Höflichkeit als Disziplin beziehungsweise als Übungsfeld? Es scheint um die Steigerung unseres Vermögens zu gehen, Vorgänge zu bemerken, die anders sind als der unmittelbare Inhalt einer Handlung der Höflichkeit. Damit ist nicht gemeint, dass man hinter diesem Inhalt oder unter ihm suchen sollte, als wenn dort etwas verborgen läge. Diese Vorstellung lädt uns dazu ein, Interpreten unserer alltäglichen Beziehungen mit anderen Menschen zu sein, was uns ja noch weiter von der Unmittelbarkeit des Augenblicks entfernen würde. Nein: das, was außer dem Inhalt vor sich geht, ist ja gerade im Sichtbaren zu finden. Um aber das finden zu können brauchen wir eine uns zunächst fremdartige, wenn nicht sogar uns widerstrebende Haltung. Wir müssen in Freiheit einen radikal empfangenden Standpunkt anderen gegenüber einnehmen, einen Standpunkt, in dem wir uns dem anderen Menschen schutzlos ausliefern.
Wir können nur dadurch dem anderen Menschen gegenüber radikal offen sein, dass wir uns selbst vergessen und uns – in einer allerdings ganz bestimmten Weise – dem anderen Menschen preisgeben, und zwar so, dass wir uns selbst nicht verlieren, sondern finden. So sich preiszugeben, dass man sich eben findet: das ist es, was man tut, indem man sich dem anderen Menschen in einer Handlung der Höflichkeit schutzlos ausliefert.
Sich selbst in dieser Weise auszuliefern bedeutet keineswegs Verlust des Bewusstseins; im Gegenteil: es tritt dabei eine Steigerung des Bewusstseins ein. Auch ist nicht vom ichlos-Werden die Rede. Sich dem anderen Menschen in der Handlung der Höflichkeit schutzlos auszuliefern bedeutet stattdessen, dass wir uns in radikale Nähe zur anderen Person begeben. In dieser Stellung radikaler Nähe ruft die Güte der anderen Person die Handlung der Höflichkeit heraus, die wir als Anerkennung dieser Güte dann vollbringen. Ich denke im Voraus nicht darüber nach; ich erzeuge die Handlung nicht von alleine; sie wird aus mir hervorgerufen, aber nur unter dieser Bedingung der radikalen Nähe. Natürlich ist es möglich und kommt durchaus vor, dass eine Handlung dieser Art zur Sprache, zum Begriff und zum formellen Verhalten schematisiert wird. In solchem Falle aber ist Höflichkeit auf dem Weg, zur Gewohnheit und von dort aus völlig ausgeschaltet zu werden.
„Radikale Nähe“ ist ein Schlüsselbegriff, den wir erweitern müssen und auch eine Handlung, die wir beschreiben müssen. Bei radikaler Nähe ist es nicht so, dass wir etwa aus uns selbst heraustreten, das Ich gleichsam hinter uns lassen und mit der anderen Person mehr oder weniger zusammenschmelzen. Radikale Nähe ist der Ort und ist der Modus, in dem unser Dasein zur Deckung kommt mit der Tätigkeit selbst unseres Seelen-Seins in dessen normalem und gewöhnlichem Zustand. Radikale Nähe ist der primäre Zustand, in dem man in der Welt mit anderen Menschen ein Seelenwesen ist. Folglich geht es bei der radikalen Nähe nicht um ein eigentliches Ausführen, sondern um ein Üben des aufmerksamen Gegenwärtigseins vor dieser primären Stufe des Seelen-Seins. In Seele zu sein in der Anwesenheit anderer Menschen: das ist Höflichkeit.
Der beste Zugang zum Erleben einer radikalen Nähe könnte durchaus das Aufgreifen eben jener förmlichen Handlungen der Höflichkeit sein, die als gutes soziales Benehmen gelten. Diesen Handlungen muss man aber eine neue Qualität des Bewusstseins entgegenbringen. Man kann sich diese gewöhnlichen Handlungen der Höflichkeit als magische Handlungen denken, die das Eintreten der radikalen Nähe fördern, aber keine intellektuell beherrschte Fertigkeiten sind, sondern als sinnlich wahrnehmbare, greifbare Wirklichkeit, als ein leibliches Wissen, das schon vor dem intellektuellen Wissen auftritt. Die schlichte Wahrheit ist, dass Höflichkeit eine leibliche Handlung ist, deren Bedeutung ganz und gar in der Handlung selbst besteht. Die Handlung der Höflichkeit an sich beabsichtigt nichts; ja sie ist eine Handlung, die sich geradezu entgegen einer jeden Leistungsabsicht ereignet. Höflichkeit führe nicht etwa die Achtung der anderen Person herbei; sie ist diese Achtung selbst. So ist es also nur in der Handlung selbst, dass wir die radikale Nähe des Gegenübers erleben können. Die Handlung führt diese Nähe nicht herbei, sondern deckt sie auf.
Die formalen Handlungen der Höflichkeit, die Benimmregeln, die wir tatsächlich üben und lernen können, kann man sich als sekundäre Handlungen der Höflichkeit denken. Dann sind sie die äußeren Bewegungen, welche eine primäre Handlung der Höflichkeit aufdecken – sofern sie in einer Vorstellung und einer Haltung der Offenheit ausgeführt werden. Diese primäre Handlung der Höflichkeit besteht darin, dass ich das Seelen-Sein des anderen in radikaler Nähe zu meinem eigenen Seelen-Sein zulasse. Was dann aufgedeckt wird, sind nicht zwei getrennte Seelen, sondern zwei Wesen, die in einer Seelensubstanz sind. Das Ausführen von Höflichkeit und das Empfangen ihrer sind zwei Polaritäten, die notwendig sind, um die äußerst radikale Tatsache aufzudecken, dass Seele nicht an erster Stelle „in uns“ – in jedem einzelnen von uns vollständig darinnen – ist, sondern dass wir beide gemeinsam in einer Seelen-Substanz sind.
Die Handlung der Höflichkeit deckt den Skandal auf, dass Seele überhaupt nur dann anwesend ist, wenn zwei oder mehr Menschen in radikaler Nähe zusammen – wirklich zusammen – sind. Es ist schon eine Art Skandal, dieses ontologische Fundament von Seele zu durchschauen. Normalerweise meint man, Seele sei das, was uns zu Einzelmenschen macht, sie sei die Substanz, die jeden von uns zu der einzigartigen Person macht, die wir sind. Die Vorstellung, dass Seele in dieser Weise von der Gegenwart anderer abhängt, kann wie ein Skandal wirken. Sind wir denn nicht wenigstens potenziell in uns selbst ganz und vollständig? Es gibt durchaus eine Form, in der Seele in der Tat als individual manifestiert; diese landläufigere Auffassung von Seele ist „Seele in Seele“. Wir müssen aber mit anderen – eben in Seele – existieren, bevor wir die Individualität der eigenen Seele erfahren können. Was hier als die Handlung der Höflichkeit beschrieben wurde, ist die Seele, die von der individuellen Seele vorausgesetzt wird.
Ein klares Beispiel dessen, was ich meine, dürfte in der Psychotherapie zu sehen sein. Wenn wir die Fachbegriffe der Psychotherapie beiseitelassen und uns die Handlung der Therapie an sich ansehen, so zeigt sich ein deutliches Bild einer in der Zeit ausgedehnten Höflichkeit: In der Psychotherapie findet ein solches Sein-in-Seele durch radikale Nähe zwischen Therapeut und Klient statt. Das wiederum führt beim Klienten die Möglichkeit herbei, die eigene Einzelseele zu finden. Es ist durchaus interessant, in dieser Weise Psychotherapie unter der Rubrik der Höflichkeit zu sehen.
Wenn ich immerzu am Analysieren bin, schließe ich die Möglichkeit aus, mich auf die Höflichkeit einzulassen. Auf dem Weg zur Höflichkeit – wie zum Beispiel bei der Psychotherapie – ist es leicht, im Analysieren steckenzubleiben. Im alltäglichen Leben nimmt diese Art der Intellektualität auch andere Formen an. Im Umgang mit anderen Menschen etwa könnte ich in der Frage hängen bleiben, was das Richtige zu tun ist: Soll ich für die andere Person dieses, oder soll ich jenes tun? Was wäre wohl das Beste?
Oben heißt es, dass Höflichkeit es mit dem Weg des Kleinen zu tun hat. Dieser kleine Weg muss aber mit Phantasie begangen werden; passiert das nicht, so wird „klein“ wortwörtlich, und der „Weg des Kleinen“ verfällt in Eigenschaften der Beharrlichkeit und Sorge um Details. Das sind zwar durchaus positive Eigenschaften, aber nur dann, wenn sie mit einer Empfindung der Ganzheit einhergehen. Sonst wird Höflichkeit zu einer Fülle hohler Manieren, zur Sorge darum, die Dinge richtig, statt mitfühlend zu machen.
Diese kleinste der Tugenden, Höflichkeit, entpuppt sich als die Tugend, die alle die Tugenden zu einer Sache kommunaler Seelen-Sorge macht. Fehlte diese Tugend, so wäre die Ausführung der anderen Tugenden nur auf die Entwicklung der eigenen Einzelseele ausgerichtet, ohne mit anderen Menschen viel zu tun oder diese als Anliegen zu haben. Werden hingegen die anderen Tugenden um Höflichkeit ergänzt, so besteht ein starkes Empfinden der Gemeinschaft. Wenn wir dieses Gemeinschaftsempfinden erfahren, so ist dies der Nachhall, das Nachklingen der radikalen Natur der Höflichkeit.
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