aus Die Macht der Seele. Wege zum Leben der Monatstugenden
von Robert Sardello
Die Tugend der Selbstlosigkeit
(Selbstlosigkeit wird zu Katharsis - Rudolf Steiner)
21. Juni - 20. Juli
Aristoteles bezeichnete die Tugend als Mittelwert zwischen den Extremen des emotionellen Lebens. Das ist eine nützliche Formulierung insofern, als sie klarstellt, dass Tugend nicht der Inhalt unseres Tuns ist, sondern eine Art, etwas zu tun. Tugend gibt es niemals um der Tugend Willen, sondern sie ist das Anliegen der Seele, alles, egal was wir tun, zu einer spirituellen Angelegenheit zu machen, die aber völlig weltlich bleibt.
So lässt sich von mir zum Beispiel jede Aufgabe, jede Beziehung, sogar jede Idee selbstlos aufnehmen. Wenn ich mich einerseits einfach weggebe, so ist das keine Selbstlosigkeit, sondern ich lasse mich selbst im Stich. Wenn ich mich andererseits nur schütze und ständig sicherstelle, dass ich etwas habe von dem, was ich tue, so ist das Egoismus. Selbstlosigkeit ist der emotionelle Mittelwert dieser Extreme.
Ein Ansatz um die Selbstlosigkeit zu begreifen ist das sorgfältige Beschreiben der Extreme der Selbstaufgabe und des Egoismus; so bleiben wir dicht am dynamischen Charakter der Tugend. Es ist zum Beispiel sehr hilfreich einzusehen, dass wenn wir eine Neigung zur Selbstaufgabe oder den Drang zum Egoismus verspüren, das eine Chance ist, uns in die Richtung der Selbstlosigkeit zu entwickeln. Unseren Hang zur Selbstaufgabe brauchen wir: den Wunsch, uns ohne Zurückhaltung anderen Menschen hinzugeben (zwar nicht im wortwörtlichen Sinn, aber schon entgegen dem alltäglichen Gefühl, durch das wir von solchem Sichhingeben zurückgehalten werden). Unsere unaufhörliche Selbstbezogenheit brauchen wir auch, diese ständig uns zusetzende Selbstinflation, die uns jeden Augenblick ins Zentrum sowie in die Peripherie des Universums stellt.
Ohne diese penetranten emotionellen Qualitäten, die uns alles Andere als ein spirituelles Selbstgefühl vermitteln, ist zur Selbstlosigkeit nicht zu finden. Selbstlosigkeit ist nicht dadurch zu erlangen, dass wir diese lästigen Ablenkungen vom geistgemäßen Leben loswerden. Unsere Tugend besteht darin, wie wir es hinbekommen, mit ihnen in intimerem Kontakt zu leben – ohne in sie hineinzurutschen, auch ohne sie zurückzuweisen oder zu bereuen, dass sie sich immer und immer wieder unser bemächtigen, sondern im Streben nach dem Mittelwert.
Selbstaufgabe ähnelt der Selbstlosigkeit sehr. Gar keinen Selbstsinn zu haben oder aber diesen Selbstsinn abzutreten, ist nicht das, was ein Leben in der Tugend ausmacht; mit anderen Worten bedeutet Selbstlosigkeit – trotz der wortwörtlichen Bedeutung des Wortes – nicht, kein Selbst oder kein Ich zu haben. Die Logik dieser Einschätzung ist zwar ohne weiteres nachvollziehbar, und dennoch werden Selbstlosigkeit und Selbstaufgabe in der eigentlichen Lebenspraxis oft verwechselt. Manchmal besteht sogar die Auffassung, dass die Liebe zu einem anderen Menschen in einem Akt der Selbstaufgabe bestehe, in dem man sich selbst diesem anderen Menschen restlos überlässt, und zwar nicht nur als momentane Liebeshandlung, sondern auf Dauer.
Das Erlangen eines tatsächlichen Gefühls für die Tugend erfordert, dass man diese Tendenz zur völligen Selbstaufgabe empfindet. Eine solche Tendenz existiert in jedem von uns. Wenn wir eine solche Tendenz – als Impuls, als Drang, als Verlangen – nicht spüren oder nicht spüren können, so liegt das daran, dass sie mit ihrem Gegenteil, dem Egoismus, als eine Polarität zusammen existiert. Bei hinlänglicher Stärke dieses anderen Pols vermag man nicht seine Abhängigkeit von dem Gegenpol der Selbstlosigkeit zu durchschauen. Kann doch der Egoismus in einem inneren Kampf just gegen die Furcht vor der Selbstaufgabe bestehen. Um dieses Verhältnis anders zu formulieren: Extremer Egoismus ist weiter nichts als eine Facette der Selbstaufgabe. Können Sie das wohl nachvollziehen? Machen Sie sich das Ausmaß des Egoismus klar, den es braucht um diesen Gedanken zu fassen: „Ich kann und will mich voll und ganz weggeben“ – an irgendeinen Menschen, irgendein Ideal, irgendein Projekt. Der Anteil des Egoismus bleibt aber still, im Hintergrund, er funktioniert als der Gegensatz, ohne den solche Einseitigkeit nicht bestehen kann.
Um eine wahre und exakte Vorstellung von Selbstaufgabe und Egoismus bilden zu können muss man sich eines Urteils über diese Eigenschaften enthalten. Sie sind nichts Schlimmes. Jeder Versuch hingegen, solche Neigungen loszuwerden, wird nur die Möglichkeit zerstreuen, eine Verbindung zur Tugend der Selbstlosigkeit zu finden. Diese beiden Eigenschaften sind die vorgegebenen Polaritäten, die ein Seelenleben überhaupt erst ermöglichen. Sie sind die Impulse, die eine Entfaltung des Seelenlebens voraussetzt. Jeder dieser Impulse für sich gibt in uns einen Ton des Missbehagens, und wenn die zwei zusammenkommen ebenso. Die erste Aufgabe auf dem Weg zur Selbstlosigkeit besteht darin, dieses Missbehagen zu empfinden, was nicht anders geht, als indem man in der Vorstellung diese beiden Pole zu einander in ein Spannungsverhältnis bringt; man bemühe sich dabei, den einen Pol nicht ohne ein begleitendes Bewusstsein des anderen Pols da sein zu lassen. Werden nämlich die Gegensätze auseinandergespalten, so kann der Weg zurück zu einer Entwicklungsmöglichkeit für die Tugend der Selbstlosigkeit ein langer sein.
Das Unbehagen – das so zu erzeugen ist, dass man bewusst im Spannungsverhältnis dieser Gegensätze lebt – ist der Initialimpuls zur Selbstlosigkeit. Den spezifischen Charakter dieses Unbehagens kann man als eine emotionale Selbsterstickung beschreiben: egal wo wir uns hinwenden, finden wir uns mit uns selbst konfrontiert. Wir spüren, dass es etwas anderes oder jemand anderen geben muss, dem unser Interesse gelten kann. Würde nicht dieser Zustand der Erstickung zusammen mit der Hoffnungslosigkeit, die sich auf kurz oder lang einstellen muss, in irgend einer Schicht unseres Daseins existieren, so hätten wir keine Möglichkeit zur Alternative zu finden, zur anderen Ausrichtung, die wir Selbstlosigkeit nennen.
Eine typische Form dieses Aufspaltens der Polarität in die einzelnen Gegensätze tritt in zwischenmenschlichen Beziehungen auf. Häufig trägt einer der Partner in einer Beziehung die eine Polarität, der andere Partner die andere. Der eine Partner lebt in seinen Handlungen die Selbstaufgabe aus, während der andere Partner der Egoismus auslebt. Da aber unter diesen Umständen die Polarität nicht im individuellen Seelenleben vorhanden (und somit nicht zu fühlen) ist, ergibt sich eine Art destruktiver Stasis. Man bedarf der jeweils anderen Person, um überhaupt von einem Leben der Seele etwas zu spüren; diese andere Person ist aber die Trägerin dieser Ergänzung, und so ist kein Impuls zu einer Entwicklung zu spüren. Nur die Reibung an der anderen Person ist zu empfinden. „Warum bist du so egoistisch?“ heißt es vom Inhaber der Position der Selbstaufgabe. „Warum bist du mir nicht total untergeben?“ fragt derjenige, der den Platz des Egoismus besetzt.
So oder ähnlich spielen sich die Gefühle ab zwischen Menschen, die ein einseitiges Seelenleben führen. Unzählige Formen nehmen solche Gefühle an, sie haben aber immer diese ihnen zu Grunde liegende Dynamik. Unter diesen Umständen besteht zwischen den Individuen eine emotionale Bedürftigkeit zusammen mit großem Konflikt. Ferner herrscht ein beiderseitiges Bestreben, von dem anderen wegzukommen, aber zugleich eine tiefe Furcht, dass die Beziehung enden könnte.
Die erste Regung in Richtung Selbstlosigkeit tritt dann ein, wenn wir in uns das polare Spannungsverhältnis zwischen Selbstaufgabe und Egoismus gewahr werden, zusammen mit dem Umstand, dass die eine nicht ohne die andere existiert. Selbstlosigkeit besteht in einer Metamorphose dieser dynamischen Polarität. Bei der Selbstlosigkeit geht es stark um das Gefühlsleben. Die drei Bezeichnungen „Selbstaufgabe“, „Egoismus“, „Selbstlosigkeit“ sind zwar Wörter ohne besonders starke Gefühlstöne. Aber um die Metamorphose in die Selbstlosigkeit zu verstehen, kommt man nicht umhin, mit dem Gefühlston der zwei polaren Extreme zu beginnen.
Selbstaufgabe enthält zunächst ein ekstatisches Gefühl, die Stimmungsqualität eines Lebens am äußersten Rand, einen Hauch unglaublicher Freiheit, des Zurücklassens aller Bürden und Erschwernisse der Vergangenheit, eines ganz neuen, frischen Lebensstarts. Ein weiterer Aspekt der Gefühlseigenschaft der Selbstaufgabe ist die bemerkenswerte Sensibilität, die aus einem Leben entsteht, das frei von der Zurückhaltung ist, der man den Sinn für Selbstreflexivität verdankt. Ein Leben in der Unmittelbarkeit des Fühlens und der Sinne bringt in uns ein gesteigertes Gefühl des am-Leben-Seins, aber auch der Verwundbarkeit hervor. Begierde lebt dabei auf, und das macht uns rastlos und wandelbar und schürt das Verlangen nach immer mehr Gefühlen und Reizen. Alle diese Gefühlseigenschaften bringen mit sich tiefe Kapazitäten der Empfänglichkeit, denn nichts wird zurückgehalten. Eine solche Empfänglichkeit kann überwältigend sein, da kein echtes Sichverschenken, sondern nur Selbstaufgabe stattgefunden hat. So lauert lautlos im Hintergrund ein klaffendes Loch, so ist eine unausfüllbare Leere zu fühlen.
Um die Metamorphose solcher Verwundbarkeit in Selbstlosigkeit zu ermöglichen, hebe man sie, und zwar zusammen mit der sie begleitenden, tiefen Schmerzhaftigkeit, den geistigen Reichen entgegen. Das nämlich vermag, emotionelle Empfindsamkeit in praktische Mystik zu verwandeln.
Eine idealistische Auffassung der Spiritualität hemmt oft das praktische Ausführen der Spiritualität, weil wir sie uns zu erhaben vorgestellt haben. Bei den Tugenden gilt das Gleiche. Der hier verwendete Übungsansatz geht davon aus, dass wir die eigenen Schwächen sind und nicht davon, dass wir einen Weg finden müssen aus ihnen heraus und zu etwas Vollkommenerem hin. So besteht denn die Spiritualität, das heißt das Üben einer Tugend, im Finden eines rechten Verhältnisses zu unseren Mängeln, unseren Fehlern, unseren Unzulänglichkeiten. Das rechte Verhältnis zu unseren Unvollkommenheiten ist weit fruchtbarer, als das Streben nach Vollkommenheit.
Egoismus, zumal als polarer Gegensatz zur Selbstaufgabe, bedeutet ein Festhalten an sich selbst, dabei wird das Gefühlsleben vom Selbstgefühl beherrscht. egoismus ist Ausdruck einer Furcht vor dem Nichtsein; daher müssen wir uns selbst fühlen, damit wir wissen, dass es uns gibt. Wir hängen an dem Egoismus und tun allerlei um ihn zu fördern, da das uns ein Empfinden davon gibt, dass wir wer sind. Auch alle Empfindsamkeiten, die auf Selbstaufgabe hinweisen, kennzeichnen den Egoismus, nur in anderer Weise. Bei letzterem werden die Empfindsamkeiten zum Erhalt des begehrten (Selbst-) Gefühls eingesetzt, dass man wirklich existiert. Selbstgefühl verleiht uns das körperliche Erlebnis des Daseins; identifizieren wir uns doch normalerweise mit dem eigenen Körper. Mit dem Egoismus ist dies umso mehr der Fall.
Um dieses so nötige Gefühl des Existierens jetzt und auch künftighin erleben zu können, bewahrt und steigert sich das Selbstgefühl fortdauernd. Es ist für ein besseres Verständnis der der Tugend der Selbstlosigkeit vielleicht nützlich, die Polarität zur Selbstaufgabe als „Selbstbezogenheit“, besser noch als „Selbstsucht“ statt als „Egoismus“ zu bezeichnen.
Wie kann sich nun aus dieser Polarität der Selbstsucht und Selbstaufgabe die Tugend der Selbstlosigkeit gebären? Es geht dabei nicht um einen mathematischen Mittelwert zwischen den zwei Extremen; nicht darum also, etwas Selbstaufgabe – aber nicht zu viel davon – zu fühlen, auch nicht darum, bis zu einem bestimmten – aber nicht zu hohen – Grad Selbstsucht zu fühlen. Tugend als Mittelwert zwischen zwei Extremen besteht nicht in einem solchen Balancierakt. Es gilt vielmehr, in jede dieser zwei Polaritäten tiefer hineinzublicken, um ein Element zu finden, das beiden, und aber auch der Tugend selbst, gemeinsam ist.
Bei diesem gemeinsamen Element handelt es sich um die Kapazität zu nähren. Sowohl Selbstaufgabe als auch Selbstsucht besitzen eine Kernkomponente des aktiven Nährens – ob es, wegen der großen Empfänglichkeit, um ein Nähren anderer geht, oder um ein Selbstnähren (das Selbstgefühl ist ja im Wesentlichen nichts anderes als eine Form des Bemühens, sich selbst zu nähren). Nun aber die Hauptschwierigkeit, die diesen beiden Richtungen des Nährens innewohnt: Mit beiden Richtungen geht große Unruhe einher. Und solche Unruhe erschwert ein Wahrnehmen dieses nährenden Aspektes. Wenn aber der nährende Aspekt nicht wahrzunehmen ist, so kann er nicht bewusst aufgegriffen und zur Selbstlosigkeit weitergebildet werden.
Die emotionale Unruhe der Extreme der Selbstaufgabe und Selbstsucht äußert sich als ein zwanghaftes Bedürfnis nach Gefühlserlebnissen, das entweder durch lebhafte Empfänglichkeit für die Gefühle anderer zu befriedigen ist, oder aber durch intensives Erleben des eigenen Selbstgefühls. Diese Zwanghaftigkeit schränkt nun die Kapazität zum Nähren erheblich ein, da diese zerrüttet und zersetzt wird im Konflikt zwischen dem Verlangen, selbstlos zu nähren und anderen eine echte Hilfe zu sein und dem Bedürfnis, nur eine möglichst intensive Beteiligung an der Gefühlswelt zu empfinden.
Was in dieses „Bedürfnis nach Gefühlserlebnissen“ eigentlich gesucht wird, ist nicht irgendein beliebiges Fühlen. Es ist auch etwas, was tiefer sitzt, als das Fühlen des eigenen Daseins. Ferner sitzt es tiefer auch als das Fühlen des Daseins eines anderen Menschen, als ginge es um das eigene Dasein – wenngleich das ein Symptom für Selbstlosigkeit ohne Fokus ist. Das Bedürfnis, um das es hierbei geht, ist so stark wie das Bedürfnis nach Speise, wenn wir hungern: wir verlangen nach einem Fühlen der tatsächlichen Präsenz eines Göttlichen, eines Heiligen. Wir sehnen uns nach mehr als der bloßen Idee des Heiligen; unsere Knochen selbst schmachten danach, ein Heiliges handgreiflich zu erleben.
Das Bedürfnis nach diesem Erlebnis hat seinen Sitz an einem schwierigen Ort: nämlich in uns selbst. Dennoch können diese Schwächen der Selbstaufgabe und der Selbstsucht uns durchaus zur Richtung der Selbstlosigkeit orientieren. Die Voraussetzung dazu ist, dass wir zur Sinnlosigkeit beider Polaritäten erwachen und lernen, die Polaritäten zusammenzuhalten und das entsprechende Unbehagen auszuhalten. Dann müssen wir nur noch beginnen, umherzuschauen.
Selbstsucht und Selbstaufgabe haben wir nun beschrieben, auch haben wir erklärt, wie man mit ihnen so arbeiten kann, dass man in sich Selbstlosigkeit erweckt. So hat sich ein anfängliches Bild dieser Tugend ergeben. Von diesem Bild aus wollen wir weitergehen und über die Tugend selbst etwas sagen. Um eine Vorstellung dieser Tugend aufzubauen, ist es vielleicht hilfreich, sie umzubennenen: Selbstlosigkeit, die in der Welt umgesetzt wird, ist Dienen. Dieses Wort schafft bestimmt so viele Rätsel wie das Wort „Selbstlosigkeit“. Aber es geht darum, den Sinn für diese Tugend zu vertiefen. Die bei „Selbstlosigkeit“ vermittelte eher persönliche, individuelle Bedeutung muss gesteigert werden zu einem umfassenderen Sicheinlassen auf die Welt, auf die Kultur, auf andere Menschen. Deshalb lohnt es sich, ein neues, frisches Verständnis für dieses abgegriffene Wort „Dienen“ zu erwerben.
Es ist außerordentlich schwer, an diese vertiefte Selbstlosigkeit heranzukommen. Das liegt an der Vorherrschaft einer bestimmten Auffassung davon, was Dienen in der Welt überhaupt ausmacht. Dienstleistung ist zu einer riesigen Geldangelegenheit geworden. Da es nun allgemeiner Brauch ist, sich dafür entlohnen zu lassen, dass man anderen Menschen dient, wird es immer schwerer, sich vorzustellen, wie Dienen als selbstlose Tätigkeit denn möglich ist; es hat keinen Platz mehr in der kollektiven Imagination. Obendrein gibt es nur wenige Formen in unserer Kultur, die der Praxis der Selbstlosigkeit dienen. Bei den Menschen, die den Wunsch haben, die Fähigkeit des selbstlosen Dienens zu lernen, droht die Notwendigkeit, einen Lebensunterhalt zu verdienen, wie eine große, dunkle Wolke und überschattet sofort die freie Ausübung der Selbstlosigkeit. Es sieht so aus, wie wenn alle Selbstlosigkeit in finanziellen Rahmenbedingungen eingespannt wäre.
Auch wenn selbstlose Handlungen innerhalb eines finanziellen Zusammenhangs ohne weiteres vorstellbar sind, wird dieser Zusammenhang durch die Sachzwänge der Produktivität, der Effizienz, des Gewinns immer enger und enger gepresst. Wir erwarten nun Vergütung für alles Hilfreiche, das wir für andere leisten. Diese Erwartungshaltung, für Dinge Geld bekommen zu wollen, die wir für andere tun, hat auch in Bereichen Platz ergriffen, die früher davon ausgenommen waren, wie zum Beispiel das religiöse Leben, gemeinnützige Institutionen, Krankenhäuser und sämtliche Hilfsorganisationen. Selbstlos zu sein ist weder produktiv noch effizient noch gewinnbringend; für das materialistische Auge bringt es nichts hervor, und solange kulturelle Strukturen die Ausübung dieser Tugend nicht mehr unterstützen, mündet jeder noch so resolute individuelle Helferwille in der Regel in die Konfrontation mit finanzieller Härte.
Und das wiederauflebende Interesse für ehrenamtliche Tätigkeit? Viele Menschen bieten ihre Dienste an – Hausbau für andere, die Versorgung älterer Menschen mit Essen, Freiwilligendienst im Krankenhaus. Man bedenke nur, wieviel die Kirchen tun. Sind diese Bemühungen etwa keine Beispiele der Selbstlosigkeit? Keine dieser Bemühungen ist im Geringsten zu verachten; alle sind zu loben, und diese guten Werke sind noch nicht in die Wirtschaftssphäre eingezogen worden.
Selbstlos ist es freilich nicht, wenn wir anderen gemäß dem helfen, von dem wir meinen, dass sie es brauchen. Wenn eine Gruppe bestimmt, dass Geringverdienende kostengünstige Behausung brauchen und sich dazu anschickt, für solche Menschen Häuser zu bauen, gibt diese Gruppe anderen Menschen etwas, von dem sie meint, dass sie es bräuchten. Es ist auch nicht abzustreiten, dass solche Menschen kostengünstige Behausung benötigen. Nur: diese guten Werke mögen für manche selbstlos sein, für andere nicht. Ob eine Handlung tugendhaft ist oder nicht, hängt nicht vom Inhalt dieser Handlung ab, sondern von der Art und Weise, wie sie ausgeführt wird. Die institutionellen Strukturen von Hilfsorganisationen verbergen meistens unser eigenes Bedürfnis, die von uns wahrgenommenen Bedürfnisse anderer zu befriedigen. Unser Bedürfnis bleibt dabei undurchschaut, deshalb scheint die Handlung selbstlos zu sein. Wenn ich sage, ich helfe anderen, weil ich so viel habe und etwas zurückgeben will, so ist das nicht selbstlos. Ich bekomme doch etwas für meine helfende Handlung. Selbstlosigkeit ist etwas Anderes als diese durchaus gütigen und wichtigen Handlungen für andere Menschen.
Beim Betrachten dieser Lage der Tugend in der Kultur geht es mir nicht darum zu zeigen, inwiefern das Ausführen der Tugend nahezu unmöglich ist; mein Ziel ist vielmehr, so auf dieses Phänomen zu blicken, dass gerade durch die Linse einer solchen kulturellen Unklarheit die Vorzüge dieser Tugend klarer zu sehen sind. Der Umstand zum Beispiel, dass Selbstlosigkeit nicht gut einzuordnen ist in der von uns gehegten wirtschaftlichen Weltanschauung, zeigt als Erstes, dass Selbstlosigkeit eine Qualität der Zeit ist. Selbstlosigkeit verlangt, dass wir auf jede von uns selbst besetzte Zeit verzichten und stattdessen die Zeit derer bewohnen, denen wir dienen. Selbstlosigkeit besteht nicht einfach darin, dass ich jemand Bedürftigem von meiner Zeit schenke. In Selbstlosigkeit begeben wir in die Zeit des Anderen hinein.
So muss zum Beispiel eine Mutter die Zeit des Säuglings beziehungsweise des Kindes lernen. Diese Zeit ist eine zyklisch-wiederkehrende, in der man es liebt, immer und immer wieder eine Sache zu wiederholen, ohne ein Ergebnis zu erwarten. An die Selbstlosigkeit kommt es nahe dran, wenn ich von mir aus mich in einen zeitlichen Rahmen hineinbegebe, der nicht mein eigener ist. Der Arzt eignet sich die Zeit an, in der der Patient lebt, nämlich die Zeit des Schmerzes und des Leidens, um mit seinen Patienten zusammen in diese Zeitqualität einzutreten. Der Lehrer lernt die Rhythmen, innerhalb derer die Kinder leben und lernen.
Wir brauchen nur in unserer Vorstellung alle die dienenden Berufe durchzugehen und die Zeitqualität der Menschen vorzustellen, denen in diesen Berufen geholfen wird; dann können wir in der Tat feststellen, dass Selbstlosigkeit die Fähigkeit voraussetzt, die ungeheure Flexibilität der erlebten Zeit vorstellen zu können. Diese Fähigkeit müsste man also ausbilden, um Selbstlos sein zu können. Die Dienstleistungsindustrieen, indem sie einem Wirtschaftsmodell folgen, ignorieren dieses Element völlig und verflachen die Zeit zu einer einfachen, messbaren Dimension. Die gelebte Zeit hingegen dehnt sich und zieht sich zusammen, und Selbstlosigkeit ist als das Leben in der ausgedehnten Zeit zu verstehen.
Jeder spürt, wie sich die Zeit zusammenzieht; es scheint, als hätten wir immer weniger davon. So müssten wir im Suchen nach dem Atem der Freiheit auf die Selbstlosigkeit nur so losstürzen. Man muss doch Freude empfinden, wenn man mit anderen Menschen Zeit verbringt, und nicht das Gefühl haben müssen, dass es einem dabei Geld kostet. Wie der chinesische Weise Lin Yu Tang einmal sagte: “Wenn du einen vollkommen nutzlosen Nachmittag in einer vollkommen nutzlosen Weise zubringen kannst, so hast du gelernt, wie man lebt.“ Ich glaube nicht, dass dieser Meister die Tugend der Faulheit loben will. Dessen Spruch macht uns auf den Wert der Freiheit von den eigenen Sorgen aufmerksam, und in unserer Zeit macht er uns auf den Wert einer Zeit aufmerksam, die davon frei ist, eine käufliche Ware zu sein. Auch legt dieser Spruch nahe, dass wenn wir Selbstlosigkeit nicht ausüben, wir nicht wirklich leben.
Das Verhältnis zwischen Selbstlosigkeit und Zeit ist weit intimer als der Umstand, dass diese Tugend reichlich Zeit braucht, um als Handlung eine Wirkung zu haben. Selbstlos zu sein heißt nichts Geringeres, als jemand anderem die Substanz selber der eigenen Zeit zu schenken. Was bedeutet aber eine solche Vorstellung? Wir sprechen davon, jemandem unsere Zeit zu schenken. Und in der Tat: ab der Zeit, zu der bemerkt wurde, dass man beim Dienen anderen Menschen die eigene Zeit schenkt, wurde die Zeit zur verhandelbaren Ware. Das war der Anfang der „Dienstleistungsära“ und der Verbreitung der Dienstleistungsindustrien. Diese Zeit aber – die Zeit, die zur Wirtschaftsware wurde – ist ein bloßes Surrogat, ein Doppelgänger unserer eigenen Zeitsubstanz, der Grundsubstanz unseres Seelenlebens, die zwar geschenkt, aber nie quantifiziert, gekauft oder vertrieben werden kann. Die kommodifizerte Zeit besteht aus abrechenbaren Stunden, der gestoppen Zeit, die mit Patienten zusammen verbracht wird, mit Gebühren, die gegen Dienstleistungen erhobenen werden. In dieser Zeit kann Selbstlosigkeit nicht funktionieren.
Was ist die Zeit der Seele? Die Seele selbst muss man sich als die Tätigkeit der Zeit vorstellen, und nicht bloß als innere Erfahrungen, die außerhalb der Zeit zu existieren scheinen. Seele, als Zeit, umfasst nicht nur unsere sämtlichen individuellen Erfahrungen der Vergangenheit, sondern auch die kollektive Vergangenheit der ganzen Menschheit sowie unsere sämtlichen individuellen Vergangenheiten über viele Leben hin. Aber Seele ist auch die temporale Aktivität, die die ganze Zukunft als offene Möglichkeit umfasst, Zukunft als das „Noch-Nicht“, und dennoch als das in jedem Moment Erlebte, und zwar als Vorwegnahme, als Warten, Hoffen, Sehnen, Erwartung, Begehren, Wollen, Wünschen. Seele ist auch die fortdauernde Erfahrung der persönlichen und der erweiterten Vergangenheit in ihrer Überlappung mit der persönlichen und der erweiterten Zukunft. Der Schnittpunkt ist aber unser gewöhnlicher, normaler Sinn für die Gegenwart, der Schauplatz unseres Bewusstseins. Ja dieser Schnittpunkt definiert geradezu das Bewusstsein. Bewusstsein ist die Überlappung des Zeitstroms der Vergangenheit mit dem Zeitstrom der Zukunft.
Wenn also die Frage akut wird, was es braucht, um in gegenwärtigen Zeitverhältnissen selbstlos zu sein, so stellt diese Auffassung des Lebens der Seele als Zeit eine sinnvolle Antwort in Aussicht. Jeder von uns weiß, wie es ist, in der Nähe von jemandem zu sein, der irgend einen Grad von Selbstlosigkeit an den Tag legt. Die Zeit tut sich auf, wird zu einer Öffnung, nimmt Geräumigkeit an. In dieser Geräumigkeit kann die Phantasie aufblühen, die Sachen lassen sich von allen möglichen Perspektiven sehen, eine heilige Dimension ist fühlbar. Das alles, weil dir jemand seine Zeit geschenkt hat. Diese Qualitäten fliegen in dem Moment zum Fenster hinaus, wenn jemand sagt „Ich kann Ihnen fünf Minuten geben“; sie werden auch verhindert, wenn man weiß, dass jede Minute, die man in Anspruch nimmt beziehungsweise verbraucht, in Rechnung gestellt wird.
Ein weiterer kultureller Faktor, der die Ausübung von Selbstlosigkeit verhindert, ist ebenso zentral wie die kommodifizierte Zeit. Auch diesen Faktor werde ich so behandeln, dass ich ihn etwas vom Wesen der Selbstlosigkeit offenbaren lasse, anstatt Kritik an ihm zu üben. Handlungen, die sonst selbstlos wären, verlieren ihre Selbstlosigkeit, weil sie nicht in der Unmittelbarkeit einer Beziehung verrichtet werden, sondern durch irgendeine Gerätschaft vermittelt werden.
Die Selbstlosigkeit einer Handlung des Heilens zum Beispiel kann durch die Instrumentalität von allerlei Maschinen vereitelt werden, die sich zwischen den dienenden Akt des Arztes und den empfangenden Patienten schieben. Oder die selbstlose Dimension der Handlung des Unterrichtens wird durch die Instrumentalität der Computer im Klassenzimmer abgewehrt, oder durch beliebig weitere Arten von Geräten, von denen die Pädagogik geplagt wird. Diese Instrumentalität kommt auch in Form von Regeln und Gesetzen, den Bestimmungen, die es in jedem dienenden Beruf gibt. Oder auch in Form von Bewilligungsauflagen, Kompetenzkontrollen, Leistungsmäßstäben, Ergebniskontrollen. Oder sie kann die Form von „professionellen“ Kenntnissen annehmen.
Es gibt haufenweise legitime Argumente, die zugunsten der Instrumentalität angeführt werden könnten. Was ich hier sage geht nicht gegen das Einsetzen von Vermittlungsapparaten zwischen einer Handlung der Selbstlosigkeit und dem Empfänger derselben. Ich will darauf aufmerksam machen, was Instrumentalität tut, und das wird einen so wesentlichen wie bisher unbekannten Aspekt der Tugend der Selbstlosigkeit beleuchten.
So entsteht zum Beispiel, wenn irgendein Apparat zwischen den Dienenden und den Gedienten geschoben wird, leicht die Erwartung, dass der Apparat selbst ein Ergebnis herbeiführen soll. Wir verlieben uns daher in Apparate. In einer seltsamen Weise wirkt ja ein Apparat völlig selbstlos, wobei streng genommen die Verwendung dieses Ausdrucks als Bezeichnung eines Geräts ein Missbrauch des Begriffs dieser Tugend ist. Die Instrumentalität ermöglicht eine Art Ersatz-Selbstlosigkeit; sie importiert ein Element der Objektivität in jede offensichtliche Handlung der Selbstlosigkeit im Versuch abzusichern, dass die Handlung von keinen persönlichen Wünschen, Mustern, Interessen tingiert ist.
Technologie tut häufig für uns, wozu wir als Individuen noch keine Fähigkeiten besitzen. Hier meine ich nicht die Leistungsfähigkeit der Technik. Wir können nicht mit unserem Intellekt so schnell und exakt rechnen wie ein Computer. Wir können mit unseren Sinnen nicht in den Magen eines Menschen hineinblicken. Wir besitzen Technologien, die solche Leistungen zu erbringen vermögen. Es gibt aber einen anderen, unsichtbareren Aspekt der Technologie, an die wir innerlich noch nicht heranreichen: sie erwartet für ihre Handlungen keine Gegenleistung. Wir können vom nahezu allgegenwärtigen Eingreifen der Instrumentalität in dienende Handlungen lernen, dass die Tugend der Selbstlosigkeit nur dann wirkungsvoll ist, wenn sie in instrumenteller Weise ausgeführt wird. Instrumentalität muss aber neu konzipiert werden, in Seele wieder eingefügt werden. Instrumentalität ist nämlich etwas, was wir aus eigenen Seelenkräften heraus lernen und verehren können, sowohl als etwas, was wir tun, wie auch als etwas, was wir sind. Wenn ich selbstlos handle, bin ich Instrument einer geistigen Absicht.
Die Schwierigkeit bei der Technologie, zumal als Ersatzselbstlosigkeit, ist die: Wenn wir solche Geräte besitzen, können wir die Notwendigkeit, eine innere Qualität der Selbstlosigkeit auszubilden, leicht aus dem Auge verlieren. Es lässt sich zum Beispiel ohne Schwierigkeit ein narzisstischer, egoistischer, selbstsüchtiger Arzt vorstellen, der dennoch brillant und ein großer Könner ist, der es versteht, die modernsten medizinischen Apparate in bemerkenswert hilfreicher Weise einzusetzen. Es wird durch technische Instrumentalität eine Art Selbstlosigkeit herbeigeführt, die dem Patienten wahrhaft dient. In einer solchen Situation herrscht allerdings auch sehr viel Illusion. Die „Selbstlosigkeit“ dieser Geräte kann nur solche Veränderungen bewirken, die dem Niveau des eigenen – eben technologischen – Wesens angemessen sind; das heißt, die „Selbstlosigkeit“ der Technologie vermag nur technische Veränderungen herbeizuführen.
Medizinische Instrumentalität zum Beispiel kann eine wertvolle Hilfe sein in der Diagnostik und der Behandlung von Krankheit – eine Heilung kann sie aber niemals produzieren. Wird diese Beschränkung übersehen, dann geben wir uns mit der Beseitigung der Krankheitssymptome zufrieden und verlieren ganz aus dem Blick, dass es eine solche Realität wie das Heilen überhaupt gibt. Das Heilen verlangt mehr als Symptombeseitigung. Es verlangt nämlich, dass ein Individuum zum Instrument werde, durch das eine Wiederherstellung der Seele des kranken Menschen stattfindet. Überall dort, wo durch das Eingreifen technologischer Instrumentalität eine Art Ersatz-Selbstlosigkeit entsteht, wurde das Element der Seele außen vor gelassen.
Es könnte so scheinen, als wenn Selbstlosigkeit dadurch erzeugt würde, dass wir uns selbst sozusagen aus dem Geschehen ausschalten, damit etwas stattfindet kann, was von unserem Dazwischenkommen frei ist. Das ist aber die Sichtweise einer – allerdings vorzüglichen – technologischen Selbstlosigkeit, die durch physische Instrumente zustande gebracht wurde. Das Praktizieren der Tugend schaltet uns nicht aus dem Geschehen aus, sondern fügt uns noch mehr in es hinein – insofern, als dass mehr von uns selbst bei der Situation vorhanden sein muss, als sonst verlangt wird. Wir müssen in unseren Sinnen wach und bewusst sein; wir müssen auch in unserem Gefühlsleben und im Leben unseres Geistes so wach und so bewusst sein wie möglich. Das Arbeiten, um diese Qualitäten im Geschehen ins Spiel zu bringen, kann weit hilfreicher sein, als das Arbeiten daran, unser egoisches Selbstbild aus dem Geschehen zu entfernen.
Das Eingreifen der Instrumentalität als Faktor im Hervorbringen und zugleich aber auch im Ausschalten der Selbstlosigkeit deutet auf einen weiteren, wesentlichen Aspekt der Selbstlosigkeit hin. Dass Instrumente eine Art Surrogat-Selbstlosigkeit erzeugen, zeigt, dass wenn wir die Tugend der Selbstlosigkeit direkt und unmittelbar ausführen, wir zur Gerät geworden sind, das durch andere Menschen benutzt wird. Aber wir werden nicht zu technischen Geräten, leblosen Geräten, Geräten ohne Seele und Geist. Zu welcher Art der Instrumentalität werden wir also im Ausführen der Selbstlosigkeit gerufen?
In Selbstlosigkeit handeln wir im Auftrag schaffender und heilender Mächte, die nicht uns gehören, sondern den geistigen Welten. Bei dieser Tugend wirken solche Kräfte nicht deshalb durch uns hindurch, weil wir gelernt haben, gleichsam aus dem Weg zu bleiben; der bemerkenswerte Charakter dieser Tugend besteht vielmehr darin, dass sie durch die Individualität unseres Charakters hindurchwirkt, durch unsere seelischen Eigenschaften, durch unsere Eigentümlichkeiten, anstatt an ihnen vorbei. In dieser Weise ist Selbstlosigkeit nie etwas Abstraktes. Da wir nur dann selbstlos sein können, wenn wir wir selbst sind, so wissen wir sehr wahrscheinlich nicht immer, wann wir echt selbstlos sind und wann nicht. Es wäre einfältig, Selbstlosigkeit zu verstehen als das Tun von etwas, für das wir keine Entschädigung erwarten. Diese Definition ist zu abstrakt.
Es ist besonders wichtig, das Verhältnis zwischen der Tugend der Selbstlosigkeit und dem Ego zu untersuchen. Wenn wir zur Selbstlosigkeit kommen wollen, dürfen wir uns nicht über das Ego hinwegsetzen. Selbstlosigkeit erfordert geradezu die Gegenwart unseres Egos, aber es muss eine Gegenwart sein, die von vollständiger Verletzbarkeit gekennzeichnet ist. Das Selbstlosigkeitssurrogat, von dem oben die Rede ist, ist insofern mangelhaft, als dass es diese unentbehrliche Ego-Verwundbarkeit weglässt, zumal im Verfolg der Einmischung der Instrumentalität, was die Scheinmöglichkeit entstehen lässt, anderen zu helfen, ohne selbst etwas fühlen zu müssen. Wahre Selbstlosigkeit kann nur durch Verwundbarkeit erstehen. Wir halten bewusst mit unseren Gedanken, Meinungen, Voreingenommenheiten, emotionalen Reaktionen, mit unserem Wissen, unseren Ratschlägen, unseren Erfahrungen, unserem Gelehrtentum zurück, um dem anderen Menschen gegenüber radikal Empfänglich zu sein; das ist Selbstlosigkeit. Die Frage hier ist aber: Was ermöglicht uns die Orientierung in diese Richtung hin? Es scheint, als müssten wir unser Ego gegen sich selbst einsetzen. Geht das überhaupt?
In Selbstlosigkeit funktioniert das Ego als alles, was es nicht ist. Wir nähern uns anderen Menschen schutzlos, unbewacht, wehrlos, ohne Deckung, nackt. Es mag vielleicht denkbar sein, dass wir in solcher Weise geistig anwesend sein können, dass wir kurzfristig die Sorgen unseres Egos beiseitelegen und gemäß höheren Motiven funktionieren. Viel schwerer denkbar ist es aber, wie dies geschehen könnte ohne die Ausschaltung unseres gewöhnlichen, alltäglichen selbstbezogenen, ziemlich egoistischen Seins. Wenn wir das aber nicht können, so gibt es keine Verwundbarkeit und die so erlangte Selbstlosigkeit wird sehr wahrscheinlich illusorisch sein.
Allein schon der Versuch, in vorstellbar alltäglichstem Sinne etwas Selbstloses zu tun – und nicht erst nachdem man erhebliche innere spirituelle Disziplin auf sich nimmt oder eine spirituelle Praxis ergreift – bietet eine Strömung auf, die über das Ego hinausgeht und diese Handlung des Egos auf eine höhere Ebene hebt. Die Anfangsphasen der Selbstlosigkeit kann man so ansehen, wie wenn man sich in eine geistigere Sphäre hinauf wuchten würde, was dadurch bewerkstelligt wird, dass man so tut, als würde man aus dem Reich des Geistes heraus handeln. Das „als ob“ ist hier wichtig: Bei unseren gewöhnlichen und mondänen Interaktionen mit anderen Menschen geht es um ein „Spielen“, geistig zu sein. Was ein solches Spiel nach sich zieht, ist eine neue Art des Fühlens, das wir nicht als dem Egobewusstsein zugehörig kennen. Wir fühlen uns spirituell – eine neue und interessante Sorte des Vergnügens, was das Ego betrifft. Dieses vergnügliche Gefühl öffnet das Ego ein wenig, ermöglicht es uns, ein bisschen weniger auf Verteidigung aus, ein bisschen verwundbarer zu sein.
Hört sich das manipulativ an, wie das Gegenteil zu dem, was man im Umgang mit den Tugenden erwarten würde? Vielleicht schon. Aber Selbstlosigkeit könnte wohl die allermenschlichste der ganzen Tugenden sein. Die am schmerzlichsten ist sie mit Sicherheit, denn sie arbeitet sich eben hier im Grabenkrieg unseres weniger als engelhaften Menschseins heraus. Folglich gibt es eine starke Tendenz, ein illusorisches Bild dieser Tugend zu machen, indem man sie sich als hochspirituelle Tugend vorstellt, die nur von angehenden Eingeweihten ausgeübt werden kann, die ungeheure Strapazen auf sich genommen haben, um sich von allen Resten des Egoismus zu befreien. So ist es nicht. Wir bringen uns um die Praktikalität der Tugend, wenn wir sie aus dem Alltäglichen entfernen und sie zu etwas fälschlicherweise Außergewöhnlichem machen.
Weil Selbstlosigkeit mit unserem Egobewusstsein eng zusammen funktioniert, kann der soeben beschriebene Vorgang leicht nach hinten losgehen, und tut laufend genau das. Das „gute“ Gefühl, das aus einer auch nur kleinen Handlung der Selbstlosigkeit entspringt, das Spiel, etwas zu sein, an das wir eigentlich noch nicht heranreichen, kann zum persönlichen Gewinn eingesetzt werden. In einem Zustand der Offenheit anderen gegenüber stellen wir fest, dass auch sie uns gegenüber offen und verwundbar werden. Die Möglichkeit tritt auf, Verwundbarkeit als List zu verwenden, um von anderen das zu bekommen, was wir wollen. Die Möglichkeit, uns als weit spiritueller zu fühlen als andere, tritt ebenfalls auf. Was für ein riskantes Unterfangen!
Das Risiko ist nicht zu minimieren; aber das Wesen der Strömung, die in Gang kommt, wenn man spielt, selbstlos zu sein, lässt sich ebenso wenig ignorieren. Sowie die Handlung des Spielens mit der Tugend aufhört und die von ausgeführten, vermeintlich selbstlosen Handlungen ausschließlich unserer Selbstvergrößerung dienen sollen, wirkt die Strömung nicht mehr. Die besondere Art des seelischen Vergnügens, das dann entsteht, wenn man sich innerhalb der spirituellen Strömung befindet, hört auf. Indem wir diese nun zur Pseudoselbstlosigkeit gewordene Tätigkeit fortsetzen, nehmen andere wahr – wenn auch nur unterbewusst –, dass diese Handlung eindeutig nicht das ist, was sie zu sein scheint.
Die Tugend der Selbstlosigkeit ist als Tugend ja selbst verwundbar. Ist sie doch auf Praktiken unserer gewöhnlichsten Verhaltensebenen angewiesen, um uns einen Geschmack einer anderen Daseinsschicht zu vermitteln. Sie liefert sich der Gefahr des missverstanden Werdens voll aus. Wir können uns diese Tugend als lebendiges Wesen vorstellen, das in der Hoffnung lebt, dass wir Menschen uns für dieses seltsame Gefühl eines seelischen Vergnügens interessieren werden, dem wir dann begegnen, wenn wir uns ein wenig öffnen und uns stärker dahin orientieren, vor dem anderen Menschen voll und aufrichtig anwesend zu sein. Sollten wir einmal feststellen, dass diese Freude uns unerwartet trifft und für einen Moment durch die Schutzmechanismen unseres Egos dringt, so ist das eine Öffnung zum Weiterentwickeln der Tugend.
Ich stelle mir gern die Selbstlosigkeit als die „gewöhnliche“ Tugend vor und habe mich hier um die Bildung einer hierzu passenden Vorstellung bemüht. Da ich nun untersucht habe, wie diese Tugend in einer Welt der Technik verborgen wird, gleichzeitig aber auch, inwieweit eben diese technologische Welt uns das Wesen der Tugend offenbart, kann ich jetzt zu einer drängenden Frage zurückkommen. Ist es in einer von rein wirtschaftlichen Motivationen getriebenen Welt möglich, die Tugend der Selbstlosigkeit wiederzugewinnen? Gibt es überhaupt noch die Möglichkeit, selbstlos zu dienen? Früher gab es kulturelle Strukturen, die ausdrücklich zum Fördern der Ausübung dieser Tugend da waren. Jetzt könnte – könnte es sein, dass diese Tugend nicht mehr im umgebenden Schutz solcher Strukturen gelebt werden kann. Wir müssen jetzt verstärkt den „kleinen Pfad“ der Selbstlosigkeit suchen. Nicht große Handlungen der Selbstlosigkeit, nicht Institutionen, die auf die Ausführung dieser Tugend fußen und an ihr orientiert sind. Und schon gar keine mehr oder weniger körper- und ichlos herumwehenden Geschöpfe, die restlos und so gut wie unsichtbar im Interesse anderer handeln.
Heutzutage kann schon als selbstlos gelten, wenn man daran arbeitet, in einer abstumpfenden Welt selber nicht abzustumpfen. Es darf als selbstlos gelten, wenn wir es durch innere Arbeit schaffen, in einer entschieden entkörperten Welt verkörpert zu bleiben. Allein schon die Handlung, mit dem inneren Leben der Seele in Verbindung zu bleiben, oder ein echtes Leben im Geist zu haben, das wir unser eigen nennen und nicht von außen aufgestülpt bekommen – solche Handlungen sind der Anfang der Selbstlosigkeit.
Wir mögen uns die Selbstlosigkeit als die ruhigste aller Tugenden vorstellen; sie geht unsichtbar, unhörbar vor sich; dem Blick entzogen, für andere nicht offenbar. Vielleicht braucht die Tugend diese Art der Unsichtbarkeit; vielleicht lässt sie sich nicht gerne sehen. Wenn wir sehen, wie Handlungen der Selbstlosigkeit an den Tag gelegt werden, kann es häufig sein, dass es sich dabei um eine Art Literalisierung der Tugend handelt, um ihre Entfernung aus der seelischen Sphäre, die ja der einzige Ort ist, wo sie gedeihen kann. Und wenn eine solche offenbare Handlung keine Literalisierung ist, wird sie letztlich doch zu einer solchen, weil sie Aufmerksamkeit auf sich zieht und somit zu einem Gegenstand wird, über den berichtet, der sentimentalisiert, idolisiert werden kenn.
Selbstlosigkeit, wenn aus ihr ein Projekt gemacht wird, ragt zu deutlich in die Welt hinein und lässt sich spielend von der Welt gefangen nehmen. Da ergibt sich eine besondere Schwierigkeit. Diejenigen, die mit einer offenbaren zur-Schau-Stellung dieser Tugend zu tun haben, bemerken es nicht, wenn sich ihrer ins Reich der Selbstsucht hinein bemächtigt wurde. Als selbstlos anerkannt zu werden ist vielleicht die schwerste Prüfung dieser Tugend.
Die andere, schwierigste Prüfung für die Tugend der Selbstlosigkeit ist, wenn wir für unsere Selbstlosigkeit keine Anerkennung erhalten. Wir müssten völlig ichlos geworden sein, wenn es uns egal wäre, ob andere – und insbesondere die, denen solche Handlungen helfen – unsere Selbstlosigkeit zu schätzen wissen oder nicht. Unser Ego empfindet große Freude daran, zu sagen „Oh, das macht ja nichts.“ Wenn uns nicht die Befriedigung zuteil wird, dieses „Abtun“ dessen zu zeigen, was wir getan haben – diese köstliche Befriedigung der Steigerung der Selbstlosigkeit durch die Erklärung, dass das, was wir getan haben, in der Tat selbstlos ist und wir dafür nichts haben wollen –, so fühlen wir uns ziemlich verletzt.
Die Prüfungen dieser Tugend sind, wie es scheint, die Ausübung selber der Tugend. Wer diese Prüfungen nicht scharf und ständig fühlen kann, hat höchstwahrscheinlich für sich eine Position der Überlegenheit eingenommen, eine Position, die dem Wesen selbst der Tugend vollkommen antithetisch entgegensteht. Wir können uns die Selbstlosigkeit als die langsamste aller Tugenden denken – oder vielleicht sind umgekehrt wir diejenigen, die am langsamsten sind, uns ihr anzupassen.
Ausdruckbare pdf-Version von Die Tugend der Selbstlosigkeit
Weiterlesen in Die Macht von Seele. Wege zum Leben der zwölf Monatstugenden
The Power of Soul. Living the Twelve Virtues ist bei Goldenstone Press zu erwerben.
von Robert Sardello
Die Tugend der Selbstlosigkeit
(Selbstlosigkeit wird zu Katharsis - Rudolf Steiner)
21. Juni - 20. Juli
Aristoteles bezeichnete die Tugend als Mittelwert zwischen den Extremen des emotionellen Lebens. Das ist eine nützliche Formulierung insofern, als sie klarstellt, dass Tugend nicht der Inhalt unseres Tuns ist, sondern eine Art, etwas zu tun. Tugend gibt es niemals um der Tugend Willen, sondern sie ist das Anliegen der Seele, alles, egal was wir tun, zu einer spirituellen Angelegenheit zu machen, die aber völlig weltlich bleibt.
So lässt sich von mir zum Beispiel jede Aufgabe, jede Beziehung, sogar jede Idee selbstlos aufnehmen. Wenn ich mich einerseits einfach weggebe, so ist das keine Selbstlosigkeit, sondern ich lasse mich selbst im Stich. Wenn ich mich andererseits nur schütze und ständig sicherstelle, dass ich etwas habe von dem, was ich tue, so ist das Egoismus. Selbstlosigkeit ist der emotionelle Mittelwert dieser Extreme.
Ein Ansatz um die Selbstlosigkeit zu begreifen ist das sorgfältige Beschreiben der Extreme der Selbstaufgabe und des Egoismus; so bleiben wir dicht am dynamischen Charakter der Tugend. Es ist zum Beispiel sehr hilfreich einzusehen, dass wenn wir eine Neigung zur Selbstaufgabe oder den Drang zum Egoismus verspüren, das eine Chance ist, uns in die Richtung der Selbstlosigkeit zu entwickeln. Unseren Hang zur Selbstaufgabe brauchen wir: den Wunsch, uns ohne Zurückhaltung anderen Menschen hinzugeben (zwar nicht im wortwörtlichen Sinn, aber schon entgegen dem alltäglichen Gefühl, durch das wir von solchem Sichhingeben zurückgehalten werden). Unsere unaufhörliche Selbstbezogenheit brauchen wir auch, diese ständig uns zusetzende Selbstinflation, die uns jeden Augenblick ins Zentrum sowie in die Peripherie des Universums stellt.
Ohne diese penetranten emotionellen Qualitäten, die uns alles Andere als ein spirituelles Selbstgefühl vermitteln, ist zur Selbstlosigkeit nicht zu finden. Selbstlosigkeit ist nicht dadurch zu erlangen, dass wir diese lästigen Ablenkungen vom geistgemäßen Leben loswerden. Unsere Tugend besteht darin, wie wir es hinbekommen, mit ihnen in intimerem Kontakt zu leben – ohne in sie hineinzurutschen, auch ohne sie zurückzuweisen oder zu bereuen, dass sie sich immer und immer wieder unser bemächtigen, sondern im Streben nach dem Mittelwert.
Selbstaufgabe ähnelt der Selbstlosigkeit sehr. Gar keinen Selbstsinn zu haben oder aber diesen Selbstsinn abzutreten, ist nicht das, was ein Leben in der Tugend ausmacht; mit anderen Worten bedeutet Selbstlosigkeit – trotz der wortwörtlichen Bedeutung des Wortes – nicht, kein Selbst oder kein Ich zu haben. Die Logik dieser Einschätzung ist zwar ohne weiteres nachvollziehbar, und dennoch werden Selbstlosigkeit und Selbstaufgabe in der eigentlichen Lebenspraxis oft verwechselt. Manchmal besteht sogar die Auffassung, dass die Liebe zu einem anderen Menschen in einem Akt der Selbstaufgabe bestehe, in dem man sich selbst diesem anderen Menschen restlos überlässt, und zwar nicht nur als momentane Liebeshandlung, sondern auf Dauer.
Das Erlangen eines tatsächlichen Gefühls für die Tugend erfordert, dass man diese Tendenz zur völligen Selbstaufgabe empfindet. Eine solche Tendenz existiert in jedem von uns. Wenn wir eine solche Tendenz – als Impuls, als Drang, als Verlangen – nicht spüren oder nicht spüren können, so liegt das daran, dass sie mit ihrem Gegenteil, dem Egoismus, als eine Polarität zusammen existiert. Bei hinlänglicher Stärke dieses anderen Pols vermag man nicht seine Abhängigkeit von dem Gegenpol der Selbstlosigkeit zu durchschauen. Kann doch der Egoismus in einem inneren Kampf just gegen die Furcht vor der Selbstaufgabe bestehen. Um dieses Verhältnis anders zu formulieren: Extremer Egoismus ist weiter nichts als eine Facette der Selbstaufgabe. Können Sie das wohl nachvollziehen? Machen Sie sich das Ausmaß des Egoismus klar, den es braucht um diesen Gedanken zu fassen: „Ich kann und will mich voll und ganz weggeben“ – an irgendeinen Menschen, irgendein Ideal, irgendein Projekt. Der Anteil des Egoismus bleibt aber still, im Hintergrund, er funktioniert als der Gegensatz, ohne den solche Einseitigkeit nicht bestehen kann.
Um eine wahre und exakte Vorstellung von Selbstaufgabe und Egoismus bilden zu können muss man sich eines Urteils über diese Eigenschaften enthalten. Sie sind nichts Schlimmes. Jeder Versuch hingegen, solche Neigungen loszuwerden, wird nur die Möglichkeit zerstreuen, eine Verbindung zur Tugend der Selbstlosigkeit zu finden. Diese beiden Eigenschaften sind die vorgegebenen Polaritäten, die ein Seelenleben überhaupt erst ermöglichen. Sie sind die Impulse, die eine Entfaltung des Seelenlebens voraussetzt. Jeder dieser Impulse für sich gibt in uns einen Ton des Missbehagens, und wenn die zwei zusammenkommen ebenso. Die erste Aufgabe auf dem Weg zur Selbstlosigkeit besteht darin, dieses Missbehagen zu empfinden, was nicht anders geht, als indem man in der Vorstellung diese beiden Pole zu einander in ein Spannungsverhältnis bringt; man bemühe sich dabei, den einen Pol nicht ohne ein begleitendes Bewusstsein des anderen Pols da sein zu lassen. Werden nämlich die Gegensätze auseinandergespalten, so kann der Weg zurück zu einer Entwicklungsmöglichkeit für die Tugend der Selbstlosigkeit ein langer sein.
Das Unbehagen – das so zu erzeugen ist, dass man bewusst im Spannungsverhältnis dieser Gegensätze lebt – ist der Initialimpuls zur Selbstlosigkeit. Den spezifischen Charakter dieses Unbehagens kann man als eine emotionale Selbsterstickung beschreiben: egal wo wir uns hinwenden, finden wir uns mit uns selbst konfrontiert. Wir spüren, dass es etwas anderes oder jemand anderen geben muss, dem unser Interesse gelten kann. Würde nicht dieser Zustand der Erstickung zusammen mit der Hoffnungslosigkeit, die sich auf kurz oder lang einstellen muss, in irgend einer Schicht unseres Daseins existieren, so hätten wir keine Möglichkeit zur Alternative zu finden, zur anderen Ausrichtung, die wir Selbstlosigkeit nennen.
Eine typische Form dieses Aufspaltens der Polarität in die einzelnen Gegensätze tritt in zwischenmenschlichen Beziehungen auf. Häufig trägt einer der Partner in einer Beziehung die eine Polarität, der andere Partner die andere. Der eine Partner lebt in seinen Handlungen die Selbstaufgabe aus, während der andere Partner der Egoismus auslebt. Da aber unter diesen Umständen die Polarität nicht im individuellen Seelenleben vorhanden (und somit nicht zu fühlen) ist, ergibt sich eine Art destruktiver Stasis. Man bedarf der jeweils anderen Person, um überhaupt von einem Leben der Seele etwas zu spüren; diese andere Person ist aber die Trägerin dieser Ergänzung, und so ist kein Impuls zu einer Entwicklung zu spüren. Nur die Reibung an der anderen Person ist zu empfinden. „Warum bist du so egoistisch?“ heißt es vom Inhaber der Position der Selbstaufgabe. „Warum bist du mir nicht total untergeben?“ fragt derjenige, der den Platz des Egoismus besetzt.
So oder ähnlich spielen sich die Gefühle ab zwischen Menschen, die ein einseitiges Seelenleben führen. Unzählige Formen nehmen solche Gefühle an, sie haben aber immer diese ihnen zu Grunde liegende Dynamik. Unter diesen Umständen besteht zwischen den Individuen eine emotionale Bedürftigkeit zusammen mit großem Konflikt. Ferner herrscht ein beiderseitiges Bestreben, von dem anderen wegzukommen, aber zugleich eine tiefe Furcht, dass die Beziehung enden könnte.
Die erste Regung in Richtung Selbstlosigkeit tritt dann ein, wenn wir in uns das polare Spannungsverhältnis zwischen Selbstaufgabe und Egoismus gewahr werden, zusammen mit dem Umstand, dass die eine nicht ohne die andere existiert. Selbstlosigkeit besteht in einer Metamorphose dieser dynamischen Polarität. Bei der Selbstlosigkeit geht es stark um das Gefühlsleben. Die drei Bezeichnungen „Selbstaufgabe“, „Egoismus“, „Selbstlosigkeit“ sind zwar Wörter ohne besonders starke Gefühlstöne. Aber um die Metamorphose in die Selbstlosigkeit zu verstehen, kommt man nicht umhin, mit dem Gefühlston der zwei polaren Extreme zu beginnen.
Selbstaufgabe enthält zunächst ein ekstatisches Gefühl, die Stimmungsqualität eines Lebens am äußersten Rand, einen Hauch unglaublicher Freiheit, des Zurücklassens aller Bürden und Erschwernisse der Vergangenheit, eines ganz neuen, frischen Lebensstarts. Ein weiterer Aspekt der Gefühlseigenschaft der Selbstaufgabe ist die bemerkenswerte Sensibilität, die aus einem Leben entsteht, das frei von der Zurückhaltung ist, der man den Sinn für Selbstreflexivität verdankt. Ein Leben in der Unmittelbarkeit des Fühlens und der Sinne bringt in uns ein gesteigertes Gefühl des am-Leben-Seins, aber auch der Verwundbarkeit hervor. Begierde lebt dabei auf, und das macht uns rastlos und wandelbar und schürt das Verlangen nach immer mehr Gefühlen und Reizen. Alle diese Gefühlseigenschaften bringen mit sich tiefe Kapazitäten der Empfänglichkeit, denn nichts wird zurückgehalten. Eine solche Empfänglichkeit kann überwältigend sein, da kein echtes Sichverschenken, sondern nur Selbstaufgabe stattgefunden hat. So lauert lautlos im Hintergrund ein klaffendes Loch, so ist eine unausfüllbare Leere zu fühlen.
Um die Metamorphose solcher Verwundbarkeit in Selbstlosigkeit zu ermöglichen, hebe man sie, und zwar zusammen mit der sie begleitenden, tiefen Schmerzhaftigkeit, den geistigen Reichen entgegen. Das nämlich vermag, emotionelle Empfindsamkeit in praktische Mystik zu verwandeln.
Eine idealistische Auffassung der Spiritualität hemmt oft das praktische Ausführen der Spiritualität, weil wir sie uns zu erhaben vorgestellt haben. Bei den Tugenden gilt das Gleiche. Der hier verwendete Übungsansatz geht davon aus, dass wir die eigenen Schwächen sind und nicht davon, dass wir einen Weg finden müssen aus ihnen heraus und zu etwas Vollkommenerem hin. So besteht denn die Spiritualität, das heißt das Üben einer Tugend, im Finden eines rechten Verhältnisses zu unseren Mängeln, unseren Fehlern, unseren Unzulänglichkeiten. Das rechte Verhältnis zu unseren Unvollkommenheiten ist weit fruchtbarer, als das Streben nach Vollkommenheit.
Egoismus, zumal als polarer Gegensatz zur Selbstaufgabe, bedeutet ein Festhalten an sich selbst, dabei wird das Gefühlsleben vom Selbstgefühl beherrscht. egoismus ist Ausdruck einer Furcht vor dem Nichtsein; daher müssen wir uns selbst fühlen, damit wir wissen, dass es uns gibt. Wir hängen an dem Egoismus und tun allerlei um ihn zu fördern, da das uns ein Empfinden davon gibt, dass wir wer sind. Auch alle Empfindsamkeiten, die auf Selbstaufgabe hinweisen, kennzeichnen den Egoismus, nur in anderer Weise. Bei letzterem werden die Empfindsamkeiten zum Erhalt des begehrten (Selbst-) Gefühls eingesetzt, dass man wirklich existiert. Selbstgefühl verleiht uns das körperliche Erlebnis des Daseins; identifizieren wir uns doch normalerweise mit dem eigenen Körper. Mit dem Egoismus ist dies umso mehr der Fall.
Um dieses so nötige Gefühl des Existierens jetzt und auch künftighin erleben zu können, bewahrt und steigert sich das Selbstgefühl fortdauernd. Es ist für ein besseres Verständnis der der Tugend der Selbstlosigkeit vielleicht nützlich, die Polarität zur Selbstaufgabe als „Selbstbezogenheit“, besser noch als „Selbstsucht“ statt als „Egoismus“ zu bezeichnen.
Wie kann sich nun aus dieser Polarität der Selbstsucht und Selbstaufgabe die Tugend der Selbstlosigkeit gebären? Es geht dabei nicht um einen mathematischen Mittelwert zwischen den zwei Extremen; nicht darum also, etwas Selbstaufgabe – aber nicht zu viel davon – zu fühlen, auch nicht darum, bis zu einem bestimmten – aber nicht zu hohen – Grad Selbstsucht zu fühlen. Tugend als Mittelwert zwischen zwei Extremen besteht nicht in einem solchen Balancierakt. Es gilt vielmehr, in jede dieser zwei Polaritäten tiefer hineinzublicken, um ein Element zu finden, das beiden, und aber auch der Tugend selbst, gemeinsam ist.
Bei diesem gemeinsamen Element handelt es sich um die Kapazität zu nähren. Sowohl Selbstaufgabe als auch Selbstsucht besitzen eine Kernkomponente des aktiven Nährens – ob es, wegen der großen Empfänglichkeit, um ein Nähren anderer geht, oder um ein Selbstnähren (das Selbstgefühl ist ja im Wesentlichen nichts anderes als eine Form des Bemühens, sich selbst zu nähren). Nun aber die Hauptschwierigkeit, die diesen beiden Richtungen des Nährens innewohnt: Mit beiden Richtungen geht große Unruhe einher. Und solche Unruhe erschwert ein Wahrnehmen dieses nährenden Aspektes. Wenn aber der nährende Aspekt nicht wahrzunehmen ist, so kann er nicht bewusst aufgegriffen und zur Selbstlosigkeit weitergebildet werden.
Die emotionale Unruhe der Extreme der Selbstaufgabe und Selbstsucht äußert sich als ein zwanghaftes Bedürfnis nach Gefühlserlebnissen, das entweder durch lebhafte Empfänglichkeit für die Gefühle anderer zu befriedigen ist, oder aber durch intensives Erleben des eigenen Selbstgefühls. Diese Zwanghaftigkeit schränkt nun die Kapazität zum Nähren erheblich ein, da diese zerrüttet und zersetzt wird im Konflikt zwischen dem Verlangen, selbstlos zu nähren und anderen eine echte Hilfe zu sein und dem Bedürfnis, nur eine möglichst intensive Beteiligung an der Gefühlswelt zu empfinden.
Was in dieses „Bedürfnis nach Gefühlserlebnissen“ eigentlich gesucht wird, ist nicht irgendein beliebiges Fühlen. Es ist auch etwas, was tiefer sitzt, als das Fühlen des eigenen Daseins. Ferner sitzt es tiefer auch als das Fühlen des Daseins eines anderen Menschen, als ginge es um das eigene Dasein – wenngleich das ein Symptom für Selbstlosigkeit ohne Fokus ist. Das Bedürfnis, um das es hierbei geht, ist so stark wie das Bedürfnis nach Speise, wenn wir hungern: wir verlangen nach einem Fühlen der tatsächlichen Präsenz eines Göttlichen, eines Heiligen. Wir sehnen uns nach mehr als der bloßen Idee des Heiligen; unsere Knochen selbst schmachten danach, ein Heiliges handgreiflich zu erleben.
Das Bedürfnis nach diesem Erlebnis hat seinen Sitz an einem schwierigen Ort: nämlich in uns selbst. Dennoch können diese Schwächen der Selbstaufgabe und der Selbstsucht uns durchaus zur Richtung der Selbstlosigkeit orientieren. Die Voraussetzung dazu ist, dass wir zur Sinnlosigkeit beider Polaritäten erwachen und lernen, die Polaritäten zusammenzuhalten und das entsprechende Unbehagen auszuhalten. Dann müssen wir nur noch beginnen, umherzuschauen.
Selbstsucht und Selbstaufgabe haben wir nun beschrieben, auch haben wir erklärt, wie man mit ihnen so arbeiten kann, dass man in sich Selbstlosigkeit erweckt. So hat sich ein anfängliches Bild dieser Tugend ergeben. Von diesem Bild aus wollen wir weitergehen und über die Tugend selbst etwas sagen. Um eine Vorstellung dieser Tugend aufzubauen, ist es vielleicht hilfreich, sie umzubennenen: Selbstlosigkeit, die in der Welt umgesetzt wird, ist Dienen. Dieses Wort schafft bestimmt so viele Rätsel wie das Wort „Selbstlosigkeit“. Aber es geht darum, den Sinn für diese Tugend zu vertiefen. Die bei „Selbstlosigkeit“ vermittelte eher persönliche, individuelle Bedeutung muss gesteigert werden zu einem umfassenderen Sicheinlassen auf die Welt, auf die Kultur, auf andere Menschen. Deshalb lohnt es sich, ein neues, frisches Verständnis für dieses abgegriffene Wort „Dienen“ zu erwerben.
Es ist außerordentlich schwer, an diese vertiefte Selbstlosigkeit heranzukommen. Das liegt an der Vorherrschaft einer bestimmten Auffassung davon, was Dienen in der Welt überhaupt ausmacht. Dienstleistung ist zu einer riesigen Geldangelegenheit geworden. Da es nun allgemeiner Brauch ist, sich dafür entlohnen zu lassen, dass man anderen Menschen dient, wird es immer schwerer, sich vorzustellen, wie Dienen als selbstlose Tätigkeit denn möglich ist; es hat keinen Platz mehr in der kollektiven Imagination. Obendrein gibt es nur wenige Formen in unserer Kultur, die der Praxis der Selbstlosigkeit dienen. Bei den Menschen, die den Wunsch haben, die Fähigkeit des selbstlosen Dienens zu lernen, droht die Notwendigkeit, einen Lebensunterhalt zu verdienen, wie eine große, dunkle Wolke und überschattet sofort die freie Ausübung der Selbstlosigkeit. Es sieht so aus, wie wenn alle Selbstlosigkeit in finanziellen Rahmenbedingungen eingespannt wäre.
Auch wenn selbstlose Handlungen innerhalb eines finanziellen Zusammenhangs ohne weiteres vorstellbar sind, wird dieser Zusammenhang durch die Sachzwänge der Produktivität, der Effizienz, des Gewinns immer enger und enger gepresst. Wir erwarten nun Vergütung für alles Hilfreiche, das wir für andere leisten. Diese Erwartungshaltung, für Dinge Geld bekommen zu wollen, die wir für andere tun, hat auch in Bereichen Platz ergriffen, die früher davon ausgenommen waren, wie zum Beispiel das religiöse Leben, gemeinnützige Institutionen, Krankenhäuser und sämtliche Hilfsorganisationen. Selbstlos zu sein ist weder produktiv noch effizient noch gewinnbringend; für das materialistische Auge bringt es nichts hervor, und solange kulturelle Strukturen die Ausübung dieser Tugend nicht mehr unterstützen, mündet jeder noch so resolute individuelle Helferwille in der Regel in die Konfrontation mit finanzieller Härte.
Und das wiederauflebende Interesse für ehrenamtliche Tätigkeit? Viele Menschen bieten ihre Dienste an – Hausbau für andere, die Versorgung älterer Menschen mit Essen, Freiwilligendienst im Krankenhaus. Man bedenke nur, wieviel die Kirchen tun. Sind diese Bemühungen etwa keine Beispiele der Selbstlosigkeit? Keine dieser Bemühungen ist im Geringsten zu verachten; alle sind zu loben, und diese guten Werke sind noch nicht in die Wirtschaftssphäre eingezogen worden.
Selbstlos ist es freilich nicht, wenn wir anderen gemäß dem helfen, von dem wir meinen, dass sie es brauchen. Wenn eine Gruppe bestimmt, dass Geringverdienende kostengünstige Behausung brauchen und sich dazu anschickt, für solche Menschen Häuser zu bauen, gibt diese Gruppe anderen Menschen etwas, von dem sie meint, dass sie es bräuchten. Es ist auch nicht abzustreiten, dass solche Menschen kostengünstige Behausung benötigen. Nur: diese guten Werke mögen für manche selbstlos sein, für andere nicht. Ob eine Handlung tugendhaft ist oder nicht, hängt nicht vom Inhalt dieser Handlung ab, sondern von der Art und Weise, wie sie ausgeführt wird. Die institutionellen Strukturen von Hilfsorganisationen verbergen meistens unser eigenes Bedürfnis, die von uns wahrgenommenen Bedürfnisse anderer zu befriedigen. Unser Bedürfnis bleibt dabei undurchschaut, deshalb scheint die Handlung selbstlos zu sein. Wenn ich sage, ich helfe anderen, weil ich so viel habe und etwas zurückgeben will, so ist das nicht selbstlos. Ich bekomme doch etwas für meine helfende Handlung. Selbstlosigkeit ist etwas Anderes als diese durchaus gütigen und wichtigen Handlungen für andere Menschen.
Beim Betrachten dieser Lage der Tugend in der Kultur geht es mir nicht darum zu zeigen, inwiefern das Ausführen der Tugend nahezu unmöglich ist; mein Ziel ist vielmehr, so auf dieses Phänomen zu blicken, dass gerade durch die Linse einer solchen kulturellen Unklarheit die Vorzüge dieser Tugend klarer zu sehen sind. Der Umstand zum Beispiel, dass Selbstlosigkeit nicht gut einzuordnen ist in der von uns gehegten wirtschaftlichen Weltanschauung, zeigt als Erstes, dass Selbstlosigkeit eine Qualität der Zeit ist. Selbstlosigkeit verlangt, dass wir auf jede von uns selbst besetzte Zeit verzichten und stattdessen die Zeit derer bewohnen, denen wir dienen. Selbstlosigkeit besteht nicht einfach darin, dass ich jemand Bedürftigem von meiner Zeit schenke. In Selbstlosigkeit begeben wir in die Zeit des Anderen hinein.
So muss zum Beispiel eine Mutter die Zeit des Säuglings beziehungsweise des Kindes lernen. Diese Zeit ist eine zyklisch-wiederkehrende, in der man es liebt, immer und immer wieder eine Sache zu wiederholen, ohne ein Ergebnis zu erwarten. An die Selbstlosigkeit kommt es nahe dran, wenn ich von mir aus mich in einen zeitlichen Rahmen hineinbegebe, der nicht mein eigener ist. Der Arzt eignet sich die Zeit an, in der der Patient lebt, nämlich die Zeit des Schmerzes und des Leidens, um mit seinen Patienten zusammen in diese Zeitqualität einzutreten. Der Lehrer lernt die Rhythmen, innerhalb derer die Kinder leben und lernen.
Wir brauchen nur in unserer Vorstellung alle die dienenden Berufe durchzugehen und die Zeitqualität der Menschen vorzustellen, denen in diesen Berufen geholfen wird; dann können wir in der Tat feststellen, dass Selbstlosigkeit die Fähigkeit voraussetzt, die ungeheure Flexibilität der erlebten Zeit vorstellen zu können. Diese Fähigkeit müsste man also ausbilden, um Selbstlos sein zu können. Die Dienstleistungsindustrieen, indem sie einem Wirtschaftsmodell folgen, ignorieren dieses Element völlig und verflachen die Zeit zu einer einfachen, messbaren Dimension. Die gelebte Zeit hingegen dehnt sich und zieht sich zusammen, und Selbstlosigkeit ist als das Leben in der ausgedehnten Zeit zu verstehen.
Jeder spürt, wie sich die Zeit zusammenzieht; es scheint, als hätten wir immer weniger davon. So müssten wir im Suchen nach dem Atem der Freiheit auf die Selbstlosigkeit nur so losstürzen. Man muss doch Freude empfinden, wenn man mit anderen Menschen Zeit verbringt, und nicht das Gefühl haben müssen, dass es einem dabei Geld kostet. Wie der chinesische Weise Lin Yu Tang einmal sagte: “Wenn du einen vollkommen nutzlosen Nachmittag in einer vollkommen nutzlosen Weise zubringen kannst, so hast du gelernt, wie man lebt.“ Ich glaube nicht, dass dieser Meister die Tugend der Faulheit loben will. Dessen Spruch macht uns auf den Wert der Freiheit von den eigenen Sorgen aufmerksam, und in unserer Zeit macht er uns auf den Wert einer Zeit aufmerksam, die davon frei ist, eine käufliche Ware zu sein. Auch legt dieser Spruch nahe, dass wenn wir Selbstlosigkeit nicht ausüben, wir nicht wirklich leben.
Das Verhältnis zwischen Selbstlosigkeit und Zeit ist weit intimer als der Umstand, dass diese Tugend reichlich Zeit braucht, um als Handlung eine Wirkung zu haben. Selbstlos zu sein heißt nichts Geringeres, als jemand anderem die Substanz selber der eigenen Zeit zu schenken. Was bedeutet aber eine solche Vorstellung? Wir sprechen davon, jemandem unsere Zeit zu schenken. Und in der Tat: ab der Zeit, zu der bemerkt wurde, dass man beim Dienen anderen Menschen die eigene Zeit schenkt, wurde die Zeit zur verhandelbaren Ware. Das war der Anfang der „Dienstleistungsära“ und der Verbreitung der Dienstleistungsindustrien. Diese Zeit aber – die Zeit, die zur Wirtschaftsware wurde – ist ein bloßes Surrogat, ein Doppelgänger unserer eigenen Zeitsubstanz, der Grundsubstanz unseres Seelenlebens, die zwar geschenkt, aber nie quantifiziert, gekauft oder vertrieben werden kann. Die kommodifizerte Zeit besteht aus abrechenbaren Stunden, der gestoppen Zeit, die mit Patienten zusammen verbracht wird, mit Gebühren, die gegen Dienstleistungen erhobenen werden. In dieser Zeit kann Selbstlosigkeit nicht funktionieren.
Was ist die Zeit der Seele? Die Seele selbst muss man sich als die Tätigkeit der Zeit vorstellen, und nicht bloß als innere Erfahrungen, die außerhalb der Zeit zu existieren scheinen. Seele, als Zeit, umfasst nicht nur unsere sämtlichen individuellen Erfahrungen der Vergangenheit, sondern auch die kollektive Vergangenheit der ganzen Menschheit sowie unsere sämtlichen individuellen Vergangenheiten über viele Leben hin. Aber Seele ist auch die temporale Aktivität, die die ganze Zukunft als offene Möglichkeit umfasst, Zukunft als das „Noch-Nicht“, und dennoch als das in jedem Moment Erlebte, und zwar als Vorwegnahme, als Warten, Hoffen, Sehnen, Erwartung, Begehren, Wollen, Wünschen. Seele ist auch die fortdauernde Erfahrung der persönlichen und der erweiterten Vergangenheit in ihrer Überlappung mit der persönlichen und der erweiterten Zukunft. Der Schnittpunkt ist aber unser gewöhnlicher, normaler Sinn für die Gegenwart, der Schauplatz unseres Bewusstseins. Ja dieser Schnittpunkt definiert geradezu das Bewusstsein. Bewusstsein ist die Überlappung des Zeitstroms der Vergangenheit mit dem Zeitstrom der Zukunft.
Wenn also die Frage akut wird, was es braucht, um in gegenwärtigen Zeitverhältnissen selbstlos zu sein, so stellt diese Auffassung des Lebens der Seele als Zeit eine sinnvolle Antwort in Aussicht. Jeder von uns weiß, wie es ist, in der Nähe von jemandem zu sein, der irgend einen Grad von Selbstlosigkeit an den Tag legt. Die Zeit tut sich auf, wird zu einer Öffnung, nimmt Geräumigkeit an. In dieser Geräumigkeit kann die Phantasie aufblühen, die Sachen lassen sich von allen möglichen Perspektiven sehen, eine heilige Dimension ist fühlbar. Das alles, weil dir jemand seine Zeit geschenkt hat. Diese Qualitäten fliegen in dem Moment zum Fenster hinaus, wenn jemand sagt „Ich kann Ihnen fünf Minuten geben“; sie werden auch verhindert, wenn man weiß, dass jede Minute, die man in Anspruch nimmt beziehungsweise verbraucht, in Rechnung gestellt wird.
Ein weiterer kultureller Faktor, der die Ausübung von Selbstlosigkeit verhindert, ist ebenso zentral wie die kommodifizierte Zeit. Auch diesen Faktor werde ich so behandeln, dass ich ihn etwas vom Wesen der Selbstlosigkeit offenbaren lasse, anstatt Kritik an ihm zu üben. Handlungen, die sonst selbstlos wären, verlieren ihre Selbstlosigkeit, weil sie nicht in der Unmittelbarkeit einer Beziehung verrichtet werden, sondern durch irgendeine Gerätschaft vermittelt werden.
Die Selbstlosigkeit einer Handlung des Heilens zum Beispiel kann durch die Instrumentalität von allerlei Maschinen vereitelt werden, die sich zwischen den dienenden Akt des Arztes und den empfangenden Patienten schieben. Oder die selbstlose Dimension der Handlung des Unterrichtens wird durch die Instrumentalität der Computer im Klassenzimmer abgewehrt, oder durch beliebig weitere Arten von Geräten, von denen die Pädagogik geplagt wird. Diese Instrumentalität kommt auch in Form von Regeln und Gesetzen, den Bestimmungen, die es in jedem dienenden Beruf gibt. Oder auch in Form von Bewilligungsauflagen, Kompetenzkontrollen, Leistungsmäßstäben, Ergebniskontrollen. Oder sie kann die Form von „professionellen“ Kenntnissen annehmen.
Es gibt haufenweise legitime Argumente, die zugunsten der Instrumentalität angeführt werden könnten. Was ich hier sage geht nicht gegen das Einsetzen von Vermittlungsapparaten zwischen einer Handlung der Selbstlosigkeit und dem Empfänger derselben. Ich will darauf aufmerksam machen, was Instrumentalität tut, und das wird einen so wesentlichen wie bisher unbekannten Aspekt der Tugend der Selbstlosigkeit beleuchten.
So entsteht zum Beispiel, wenn irgendein Apparat zwischen den Dienenden und den Gedienten geschoben wird, leicht die Erwartung, dass der Apparat selbst ein Ergebnis herbeiführen soll. Wir verlieben uns daher in Apparate. In einer seltsamen Weise wirkt ja ein Apparat völlig selbstlos, wobei streng genommen die Verwendung dieses Ausdrucks als Bezeichnung eines Geräts ein Missbrauch des Begriffs dieser Tugend ist. Die Instrumentalität ermöglicht eine Art Ersatz-Selbstlosigkeit; sie importiert ein Element der Objektivität in jede offensichtliche Handlung der Selbstlosigkeit im Versuch abzusichern, dass die Handlung von keinen persönlichen Wünschen, Mustern, Interessen tingiert ist.
Technologie tut häufig für uns, wozu wir als Individuen noch keine Fähigkeiten besitzen. Hier meine ich nicht die Leistungsfähigkeit der Technik. Wir können nicht mit unserem Intellekt so schnell und exakt rechnen wie ein Computer. Wir können mit unseren Sinnen nicht in den Magen eines Menschen hineinblicken. Wir besitzen Technologien, die solche Leistungen zu erbringen vermögen. Es gibt aber einen anderen, unsichtbareren Aspekt der Technologie, an die wir innerlich noch nicht heranreichen: sie erwartet für ihre Handlungen keine Gegenleistung. Wir können vom nahezu allgegenwärtigen Eingreifen der Instrumentalität in dienende Handlungen lernen, dass die Tugend der Selbstlosigkeit nur dann wirkungsvoll ist, wenn sie in instrumenteller Weise ausgeführt wird. Instrumentalität muss aber neu konzipiert werden, in Seele wieder eingefügt werden. Instrumentalität ist nämlich etwas, was wir aus eigenen Seelenkräften heraus lernen und verehren können, sowohl als etwas, was wir tun, wie auch als etwas, was wir sind. Wenn ich selbstlos handle, bin ich Instrument einer geistigen Absicht.
Die Schwierigkeit bei der Technologie, zumal als Ersatzselbstlosigkeit, ist die: Wenn wir solche Geräte besitzen, können wir die Notwendigkeit, eine innere Qualität der Selbstlosigkeit auszubilden, leicht aus dem Auge verlieren. Es lässt sich zum Beispiel ohne Schwierigkeit ein narzisstischer, egoistischer, selbstsüchtiger Arzt vorstellen, der dennoch brillant und ein großer Könner ist, der es versteht, die modernsten medizinischen Apparate in bemerkenswert hilfreicher Weise einzusetzen. Es wird durch technische Instrumentalität eine Art Selbstlosigkeit herbeigeführt, die dem Patienten wahrhaft dient. In einer solchen Situation herrscht allerdings auch sehr viel Illusion. Die „Selbstlosigkeit“ dieser Geräte kann nur solche Veränderungen bewirken, die dem Niveau des eigenen – eben technologischen – Wesens angemessen sind; das heißt, die „Selbstlosigkeit“ der Technologie vermag nur technische Veränderungen herbeizuführen.
Medizinische Instrumentalität zum Beispiel kann eine wertvolle Hilfe sein in der Diagnostik und der Behandlung von Krankheit – eine Heilung kann sie aber niemals produzieren. Wird diese Beschränkung übersehen, dann geben wir uns mit der Beseitigung der Krankheitssymptome zufrieden und verlieren ganz aus dem Blick, dass es eine solche Realität wie das Heilen überhaupt gibt. Das Heilen verlangt mehr als Symptombeseitigung. Es verlangt nämlich, dass ein Individuum zum Instrument werde, durch das eine Wiederherstellung der Seele des kranken Menschen stattfindet. Überall dort, wo durch das Eingreifen technologischer Instrumentalität eine Art Ersatz-Selbstlosigkeit entsteht, wurde das Element der Seele außen vor gelassen.
Es könnte so scheinen, als wenn Selbstlosigkeit dadurch erzeugt würde, dass wir uns selbst sozusagen aus dem Geschehen ausschalten, damit etwas stattfindet kann, was von unserem Dazwischenkommen frei ist. Das ist aber die Sichtweise einer – allerdings vorzüglichen – technologischen Selbstlosigkeit, die durch physische Instrumente zustande gebracht wurde. Das Praktizieren der Tugend schaltet uns nicht aus dem Geschehen aus, sondern fügt uns noch mehr in es hinein – insofern, als dass mehr von uns selbst bei der Situation vorhanden sein muss, als sonst verlangt wird. Wir müssen in unseren Sinnen wach und bewusst sein; wir müssen auch in unserem Gefühlsleben und im Leben unseres Geistes so wach und so bewusst sein wie möglich. Das Arbeiten, um diese Qualitäten im Geschehen ins Spiel zu bringen, kann weit hilfreicher sein, als das Arbeiten daran, unser egoisches Selbstbild aus dem Geschehen zu entfernen.
Das Eingreifen der Instrumentalität als Faktor im Hervorbringen und zugleich aber auch im Ausschalten der Selbstlosigkeit deutet auf einen weiteren, wesentlichen Aspekt der Selbstlosigkeit hin. Dass Instrumente eine Art Surrogat-Selbstlosigkeit erzeugen, zeigt, dass wenn wir die Tugend der Selbstlosigkeit direkt und unmittelbar ausführen, wir zur Gerät geworden sind, das durch andere Menschen benutzt wird. Aber wir werden nicht zu technischen Geräten, leblosen Geräten, Geräten ohne Seele und Geist. Zu welcher Art der Instrumentalität werden wir also im Ausführen der Selbstlosigkeit gerufen?
In Selbstlosigkeit handeln wir im Auftrag schaffender und heilender Mächte, die nicht uns gehören, sondern den geistigen Welten. Bei dieser Tugend wirken solche Kräfte nicht deshalb durch uns hindurch, weil wir gelernt haben, gleichsam aus dem Weg zu bleiben; der bemerkenswerte Charakter dieser Tugend besteht vielmehr darin, dass sie durch die Individualität unseres Charakters hindurchwirkt, durch unsere seelischen Eigenschaften, durch unsere Eigentümlichkeiten, anstatt an ihnen vorbei. In dieser Weise ist Selbstlosigkeit nie etwas Abstraktes. Da wir nur dann selbstlos sein können, wenn wir wir selbst sind, so wissen wir sehr wahrscheinlich nicht immer, wann wir echt selbstlos sind und wann nicht. Es wäre einfältig, Selbstlosigkeit zu verstehen als das Tun von etwas, für das wir keine Entschädigung erwarten. Diese Definition ist zu abstrakt.
Es ist besonders wichtig, das Verhältnis zwischen der Tugend der Selbstlosigkeit und dem Ego zu untersuchen. Wenn wir zur Selbstlosigkeit kommen wollen, dürfen wir uns nicht über das Ego hinwegsetzen. Selbstlosigkeit erfordert geradezu die Gegenwart unseres Egos, aber es muss eine Gegenwart sein, die von vollständiger Verletzbarkeit gekennzeichnet ist. Das Selbstlosigkeitssurrogat, von dem oben die Rede ist, ist insofern mangelhaft, als dass es diese unentbehrliche Ego-Verwundbarkeit weglässt, zumal im Verfolg der Einmischung der Instrumentalität, was die Scheinmöglichkeit entstehen lässt, anderen zu helfen, ohne selbst etwas fühlen zu müssen. Wahre Selbstlosigkeit kann nur durch Verwundbarkeit erstehen. Wir halten bewusst mit unseren Gedanken, Meinungen, Voreingenommenheiten, emotionalen Reaktionen, mit unserem Wissen, unseren Ratschlägen, unseren Erfahrungen, unserem Gelehrtentum zurück, um dem anderen Menschen gegenüber radikal Empfänglich zu sein; das ist Selbstlosigkeit. Die Frage hier ist aber: Was ermöglicht uns die Orientierung in diese Richtung hin? Es scheint, als müssten wir unser Ego gegen sich selbst einsetzen. Geht das überhaupt?
In Selbstlosigkeit funktioniert das Ego als alles, was es nicht ist. Wir nähern uns anderen Menschen schutzlos, unbewacht, wehrlos, ohne Deckung, nackt. Es mag vielleicht denkbar sein, dass wir in solcher Weise geistig anwesend sein können, dass wir kurzfristig die Sorgen unseres Egos beiseitelegen und gemäß höheren Motiven funktionieren. Viel schwerer denkbar ist es aber, wie dies geschehen könnte ohne die Ausschaltung unseres gewöhnlichen, alltäglichen selbstbezogenen, ziemlich egoistischen Seins. Wenn wir das aber nicht können, so gibt es keine Verwundbarkeit und die so erlangte Selbstlosigkeit wird sehr wahrscheinlich illusorisch sein.
Allein schon der Versuch, in vorstellbar alltäglichstem Sinne etwas Selbstloses zu tun – und nicht erst nachdem man erhebliche innere spirituelle Disziplin auf sich nimmt oder eine spirituelle Praxis ergreift – bietet eine Strömung auf, die über das Ego hinausgeht und diese Handlung des Egos auf eine höhere Ebene hebt. Die Anfangsphasen der Selbstlosigkeit kann man so ansehen, wie wenn man sich in eine geistigere Sphäre hinauf wuchten würde, was dadurch bewerkstelligt wird, dass man so tut, als würde man aus dem Reich des Geistes heraus handeln. Das „als ob“ ist hier wichtig: Bei unseren gewöhnlichen und mondänen Interaktionen mit anderen Menschen geht es um ein „Spielen“, geistig zu sein. Was ein solches Spiel nach sich zieht, ist eine neue Art des Fühlens, das wir nicht als dem Egobewusstsein zugehörig kennen. Wir fühlen uns spirituell – eine neue und interessante Sorte des Vergnügens, was das Ego betrifft. Dieses vergnügliche Gefühl öffnet das Ego ein wenig, ermöglicht es uns, ein bisschen weniger auf Verteidigung aus, ein bisschen verwundbarer zu sein.
Hört sich das manipulativ an, wie das Gegenteil zu dem, was man im Umgang mit den Tugenden erwarten würde? Vielleicht schon. Aber Selbstlosigkeit könnte wohl die allermenschlichste der ganzen Tugenden sein. Die am schmerzlichsten ist sie mit Sicherheit, denn sie arbeitet sich eben hier im Grabenkrieg unseres weniger als engelhaften Menschseins heraus. Folglich gibt es eine starke Tendenz, ein illusorisches Bild dieser Tugend zu machen, indem man sie sich als hochspirituelle Tugend vorstellt, die nur von angehenden Eingeweihten ausgeübt werden kann, die ungeheure Strapazen auf sich genommen haben, um sich von allen Resten des Egoismus zu befreien. So ist es nicht. Wir bringen uns um die Praktikalität der Tugend, wenn wir sie aus dem Alltäglichen entfernen und sie zu etwas fälschlicherweise Außergewöhnlichem machen.
Weil Selbstlosigkeit mit unserem Egobewusstsein eng zusammen funktioniert, kann der soeben beschriebene Vorgang leicht nach hinten losgehen, und tut laufend genau das. Das „gute“ Gefühl, das aus einer auch nur kleinen Handlung der Selbstlosigkeit entspringt, das Spiel, etwas zu sein, an das wir eigentlich noch nicht heranreichen, kann zum persönlichen Gewinn eingesetzt werden. In einem Zustand der Offenheit anderen gegenüber stellen wir fest, dass auch sie uns gegenüber offen und verwundbar werden. Die Möglichkeit tritt auf, Verwundbarkeit als List zu verwenden, um von anderen das zu bekommen, was wir wollen. Die Möglichkeit, uns als weit spiritueller zu fühlen als andere, tritt ebenfalls auf. Was für ein riskantes Unterfangen!
Das Risiko ist nicht zu minimieren; aber das Wesen der Strömung, die in Gang kommt, wenn man spielt, selbstlos zu sein, lässt sich ebenso wenig ignorieren. Sowie die Handlung des Spielens mit der Tugend aufhört und die von ausgeführten, vermeintlich selbstlosen Handlungen ausschließlich unserer Selbstvergrößerung dienen sollen, wirkt die Strömung nicht mehr. Die besondere Art des seelischen Vergnügens, das dann entsteht, wenn man sich innerhalb der spirituellen Strömung befindet, hört auf. Indem wir diese nun zur Pseudoselbstlosigkeit gewordene Tätigkeit fortsetzen, nehmen andere wahr – wenn auch nur unterbewusst –, dass diese Handlung eindeutig nicht das ist, was sie zu sein scheint.
Die Tugend der Selbstlosigkeit ist als Tugend ja selbst verwundbar. Ist sie doch auf Praktiken unserer gewöhnlichsten Verhaltensebenen angewiesen, um uns einen Geschmack einer anderen Daseinsschicht zu vermitteln. Sie liefert sich der Gefahr des missverstanden Werdens voll aus. Wir können uns diese Tugend als lebendiges Wesen vorstellen, das in der Hoffnung lebt, dass wir Menschen uns für dieses seltsame Gefühl eines seelischen Vergnügens interessieren werden, dem wir dann begegnen, wenn wir uns ein wenig öffnen und uns stärker dahin orientieren, vor dem anderen Menschen voll und aufrichtig anwesend zu sein. Sollten wir einmal feststellen, dass diese Freude uns unerwartet trifft und für einen Moment durch die Schutzmechanismen unseres Egos dringt, so ist das eine Öffnung zum Weiterentwickeln der Tugend.
Ich stelle mir gern die Selbstlosigkeit als die „gewöhnliche“ Tugend vor und habe mich hier um die Bildung einer hierzu passenden Vorstellung bemüht. Da ich nun untersucht habe, wie diese Tugend in einer Welt der Technik verborgen wird, gleichzeitig aber auch, inwieweit eben diese technologische Welt uns das Wesen der Tugend offenbart, kann ich jetzt zu einer drängenden Frage zurückkommen. Ist es in einer von rein wirtschaftlichen Motivationen getriebenen Welt möglich, die Tugend der Selbstlosigkeit wiederzugewinnen? Gibt es überhaupt noch die Möglichkeit, selbstlos zu dienen? Früher gab es kulturelle Strukturen, die ausdrücklich zum Fördern der Ausübung dieser Tugend da waren. Jetzt könnte – könnte es sein, dass diese Tugend nicht mehr im umgebenden Schutz solcher Strukturen gelebt werden kann. Wir müssen jetzt verstärkt den „kleinen Pfad“ der Selbstlosigkeit suchen. Nicht große Handlungen der Selbstlosigkeit, nicht Institutionen, die auf die Ausführung dieser Tugend fußen und an ihr orientiert sind. Und schon gar keine mehr oder weniger körper- und ichlos herumwehenden Geschöpfe, die restlos und so gut wie unsichtbar im Interesse anderer handeln.
Heutzutage kann schon als selbstlos gelten, wenn man daran arbeitet, in einer abstumpfenden Welt selber nicht abzustumpfen. Es darf als selbstlos gelten, wenn wir es durch innere Arbeit schaffen, in einer entschieden entkörperten Welt verkörpert zu bleiben. Allein schon die Handlung, mit dem inneren Leben der Seele in Verbindung zu bleiben, oder ein echtes Leben im Geist zu haben, das wir unser eigen nennen und nicht von außen aufgestülpt bekommen – solche Handlungen sind der Anfang der Selbstlosigkeit.
Wir mögen uns die Selbstlosigkeit als die ruhigste aller Tugenden vorstellen; sie geht unsichtbar, unhörbar vor sich; dem Blick entzogen, für andere nicht offenbar. Vielleicht braucht die Tugend diese Art der Unsichtbarkeit; vielleicht lässt sie sich nicht gerne sehen. Wenn wir sehen, wie Handlungen der Selbstlosigkeit an den Tag gelegt werden, kann es häufig sein, dass es sich dabei um eine Art Literalisierung der Tugend handelt, um ihre Entfernung aus der seelischen Sphäre, die ja der einzige Ort ist, wo sie gedeihen kann. Und wenn eine solche offenbare Handlung keine Literalisierung ist, wird sie letztlich doch zu einer solchen, weil sie Aufmerksamkeit auf sich zieht und somit zu einem Gegenstand wird, über den berichtet, der sentimentalisiert, idolisiert werden kenn.
Selbstlosigkeit, wenn aus ihr ein Projekt gemacht wird, ragt zu deutlich in die Welt hinein und lässt sich spielend von der Welt gefangen nehmen. Da ergibt sich eine besondere Schwierigkeit. Diejenigen, die mit einer offenbaren zur-Schau-Stellung dieser Tugend zu tun haben, bemerken es nicht, wenn sich ihrer ins Reich der Selbstsucht hinein bemächtigt wurde. Als selbstlos anerkannt zu werden ist vielleicht die schwerste Prüfung dieser Tugend.
Die andere, schwierigste Prüfung für die Tugend der Selbstlosigkeit ist, wenn wir für unsere Selbstlosigkeit keine Anerkennung erhalten. Wir müssten völlig ichlos geworden sein, wenn es uns egal wäre, ob andere – und insbesondere die, denen solche Handlungen helfen – unsere Selbstlosigkeit zu schätzen wissen oder nicht. Unser Ego empfindet große Freude daran, zu sagen „Oh, das macht ja nichts.“ Wenn uns nicht die Befriedigung zuteil wird, dieses „Abtun“ dessen zu zeigen, was wir getan haben – diese köstliche Befriedigung der Steigerung der Selbstlosigkeit durch die Erklärung, dass das, was wir getan haben, in der Tat selbstlos ist und wir dafür nichts haben wollen –, so fühlen wir uns ziemlich verletzt.
Die Prüfungen dieser Tugend sind, wie es scheint, die Ausübung selber der Tugend. Wer diese Prüfungen nicht scharf und ständig fühlen kann, hat höchstwahrscheinlich für sich eine Position der Überlegenheit eingenommen, eine Position, die dem Wesen selbst der Tugend vollkommen antithetisch entgegensteht. Wir können uns die Selbstlosigkeit als die langsamste aller Tugenden denken – oder vielleicht sind umgekehrt wir diejenigen, die am langsamsten sind, uns ihr anzupassen.
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Weiterlesen in Die Macht von Seele. Wege zum Leben der zwölf Monatstugenden
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