aus Die Macht der Seele. Wege zum Leben der Monatstugenden
von Robert Sardello
Die Tugend des Gleichgewichts
(Gleichgewicht wird zu Fortschritt - Rudolf Steiner)
21. April - 20. Mai
Das Wort „Gleichgewicht“ bezeichnet das, was man erlebt, wenn man zwischen zwei Polaritäten einen Mittelpunkt, einen Angelpunkt findet. Wir bemühen uns zum Beispiel, das Gleichgewicht zu finden zwischen Arbeit und Erholung, zwischen Denken und Fühlen, oder zwischen den vielen miteinander konkurrierenden Faktoren in unserem Leben. In vielen Fällen nehmen sich solche Polaritäten wie unvereinbare Gegensätze aus, die wir beide im Leben wertschätzen.
Ein Mittelpunkt des Gleichgewichts aber, als Vorstellung, überdeckt die geistige Wesensart eines Mittelpunktes an sich. Da hört es sich so an, als wenn es nur darum ginge, Gegensätze für gleichwertig zu erachten und sich beiden Seiten der Polarität widmen zu können: Ich bin dann im Gleichgewicht, wenn mir meine Arbeit wichtig ist, wenn ich aber nicht zulasse, dass sie mein Privatleben vereinnahmt. Ich bin dann im Gleichgewicht, wenn ich einer karitativen Tätigkeit meine Zeit schenke, um die Zeit auszugleichen, die ich verbringe, um Geld zu verdienen.
Eine solche Vorstellung wirft aber genau so viele Fragen auf, als sie zu beantworten scheint. Welche Instanz in uns kann wissen, wo ein Mittelpunkt zwischen zwei Qualitäten zu finden ist – beziehungsweise was diesen Mittelpunkt ausmacht –, wenn beide dieser Qualitäten womöglich so unermesslich und komplex sind, dass deren Grenzen nicht annähernd präzise zu wissen sind?
Der Ausdruck „Gleichgewicht“ wird gewöhnlich als ein quantitativer Begriff aufgefasst, wie der Gleichgewichtspunkt zwischen zwei Gewichten, die in den beiden Schalen einer Waage liegen. Das Gleichgewicht als Tugend ist in diesem Sinne ein Punkt des Äquilibriums zwischen zwei oder mehr Lebensanforderungen. Gut ist es allerdings, wenn man die eigenen Lebensanliegen und Lebensaufgaben so verteilen kann, dass nicht einige wenige davon auf Kosten der anderen verfolgt werden; aber Gleichgewicht als Tugend ist etwas anderes, und zwar deshalb, weil hier die Dimension der Seele im Spiel ist.
Seele versteht sich stets als ein „dazwischen-Sein“ – zwischen Geist und Stoff, zwischen Idee und Handlung, zwischen zwei äußerst verschiedenen Qualitätsebenen. Und so hat auch die Tugend des Gleichgewichts mit verschiedenen Seelenqualitäten dieses „Dazwischenseins“ zu tun, wie man sich dieser Qualitäten bewusst wird und sie aufrechterhält. Es geht bei der Tugend des Gleichgewichts um das richtige Verhältnis zwischen den Bemühungen, die wir einer Situation entgegenbringen, und der Empfänglichkeit, die eine wesensgemäße und aber auch unserer Seele gemäße Entfaltung dieser Situation ermöglicht.
Nehmen wir zum Beispiel an, ich habe bei einer Geschäftssitzung einen Vortrag zu halten, in dem ich dafür plädieren soll, ein neues Produkt auf den Markt zu bringe: Ich leiste eine Menge Recherche-Arbeit einschließlich Umfragen, Demographie, Kosten, Gewinne usw. Ich erarbeite also ein Strategie-Referat, ermittle, wer bei der Präsentation anwesend sein wird und wie am besten ihren Einwänden zu begegnen ist. Auch kenne ich die Politik der Firma und habe mit berücksichtigt, wie die Darstellung so zu gestalten ist, dass sich jeder der Anwesenden positiv angesprochen fühlt. Die Tugend des Gleichgewichts wird nur dann eine Rolle spielen, wenn ich bei dieser ganzen Vorarbeit auch dafür empfänglich sein kann, was von alleine geschehen will was über das hinausgeht, was ich steuern kann. Gleichgewicht ist das ideale Verhältnis zwischen den Bemühungen, die wir einer Situation entgegenbringen und dem, was auf uns zukommt, und den Kontakt gewährleistet zwischen diesen Bemühungen und dem Leben der Seele. Diese Tugend ist nicht leicht; wollen wir doch schließlich ein Ergebnis erzielen, und dieses Anliegen kann mit Leichtigkeit die feinere Dimension überschatten, nämlich sicherzustellen, dass nicht die eigene Seele vernachlässigt wird.
Wir beginnen wohl besser mit einem inneren Bild des Gleichgewichtspunkts als magischer Punkt statt als ein physischer Punkt auf einer Waage. Ganz andere Gesetze obwalten als die der Physik des Zentriert-Seins. Um zu einer besseren Orientierung zu gewinnen bei der Vorstellung des Gleichgewichts als Tugend, hilft der Wechsel zur Vorstellung eines magischen Ortes, an dem ein volkommenes Zusammentreffen physikalischer mit seelischen und geistigen Faktoren stattfindet. Während das physikalische Reich gemäß dem Gesetz von Ursache und Wirkung sich verhält, geht es im magischen Reich nach dem Gesetz der Resonanz zu.
Im oben angeführten Beispiel ist der übliche Denkmodus der Auffassung, dass wenn ich nicht im Gleichgewicht bin, es von der einen Sache zu viel und von der anderen zu wenig gibt; ich habe vielleicht zu stark geplant und keinen Raum für Spontaneität gelassen. Das ist aber quantitativ gedacht: Wenn die Kontrolle zu stark ist, so füge man etwas Spontaneität hinzu. Auch denke ich, dass wenn ich nicht im Gleichgewicht bin, irgendetwas schief gehen wird; dass wenn ich Büroarbeit nicht mit körperlicher Bewegung aufwiege, dieses Ungleichgewicht zu einem Gesundheitsproblem führen könnte. Wenn kein Gleichgewicht besteht zwischen meiner Verantwortung als Elternteil und den Freuden der Ehe, so kann meine Verantwortungslosigkeit eine Ehekatastrophe herbeiführen.
Die quantitative Auffassung von Gleichgewicht enthält eine weitere Vorstellung, die die Tugend verschleiert: die, dass der Mensch normal ist, der sich im Gleichgewicht befindet und der Mensch zur Abnormität hintendiert, der außer Gleichgewicht ist. An dieser Vorstellung festzukleben heißt gegen die Tugend des Gleichgewichts zu arbeiten. Wer Gleichgewicht sucht, der sucht nicht nach Normalität. In vielerlei Hinsicht ist Normalität der Untergang der Tugend. Wir meinen, das Normalsein heiße so zu sein wie alle anderen Menschen – ausgewogen, produktiv, gemäßigt, gemocht, nicht einseitig, nicht zu auffällig, die Kollektivwerte anerkennend. Diese Vorstellung ist aber keine Tugend, sondern der Todesstoß für die Seele. Sie schließt alles aus, was Seele ausdrücken möchte – Imagination, Fantasie, Traum, Gefühl, Innerlichkeit, Dunkelheit, Fruchtbarkeit, echte Wärme, einen Sinn für das Schicksal, wahre Individualität.
Um zu einer wahren Vorstellung dieser Tugend zu kommen, müssen wir quantitatives und kausales Denken hinter uns lassen. Wir müssen uns von dem Denken verabschieden, wonach wir rein durch eigene Anstrengung zu dem kommen, was unsere Seele braucht. Gleichgewicht können wir nicht ausschließlich aus eigenen Stücken erlangen. Wir können es nicht herbeiführen. Wohl können wir aber die Fähigkeit entfalten, zu wissen, wann es anwesend ist und wie die zeitliche Dauer dieser Anwesenheit gedehnt werden kann.
Gleichgewicht schwingt in uns mit. Ein gutes Beispiel von Mitschwingen, von Resonanz, ist das, was mit einem Musikinstrument vor sich geht. Wenn man ein Akkord anschlägt und hält, so schwingt etwas im Raum mit dem Klang mit. So funktioniert auch die Tugend. Wir sind im Gleichgewicht, wenn mit unserem seelischen Sein eine Schicht unserer gewöhnlichen Tätigkeit mitschwingt, mitklingt, wenn sich ein Gefühl der Harmonie hergestellt hat zwischen dem, was ich in der Welt tue und der Innerlichkeit des Lebens.
Um aber dieses Ereignis erlebbar zu machen, muss dem Instrument – in dem Falle unserem körperlichen Leben im Einklang mit unserem seelischen Leben – die volle Lautstärke zugelassen werden. Der Körper muss also so gestimmt werden, dass er empfänglich ist für die Schwingungen der Seele mit den Ereignissen in der Welt. Wenn wir zum Beispiel auf der Straße auf einen Bettler treffen und ohne diesen wahrzunehmen einfach vorbeilaufen, so sind wir nicht im Gleichgewicht. Wenn wir anhalten und dem Bettler Geld geben, weil wir meinen, wir müssten dies tun, sind wir auch nicht im Gleichgewicht. Wenn wir im Vorbeilaufen von den reellen Bedürfnissen dieser Person etwas fühlen – ein Wissen braucht es nicht zu sein –, so wäre das ein Beispiel der Tugend des Gleichgewichts.
Zum Gleichgewicht zu finden stellt man sich besser als Vorgang des Stimmens vor, denn als etwas, was mit Absicht getan werden kann. Wir stimmen die Seele zum Körper und wir stimmen die Seele zur Welt. Diese Handlung des Stimmens kann man als tägliche Übung machen, indem man einfach darauf aufpasst, wie sich der eigene Körper fühlt im Verhältnis zu den individuellen Wahrnehmungen der Dinge um einen herum. Es geht darum, auf den Körper aufmerksam zu sein. Nicht auf die Reaktionen des Körpers auf das, was vor sich geht, soll geachtet werden, sondern auf die verschiedenen Qualitäten körperlichen Erlebens im Verhältnis zu dem, was geschieht. Wenn etwa jemand lauthals und nervös lacht, so fühlt der Körper vielleicht eine Art Zerklüftetheit. Wenn wir im Fernsehen eine Gräueltat zu sehen bekommen, so fühlt sich der Körper zusammengezogen. Lügt uns jemand an, so fühlt sich der Körper hässlich. Wichtig ist es allerdings, dass man diese Erfahrung der Resonanz des Körpers nicht fest bezeichnet. Wenn wir uns auf den Vorgang des Stimmens einlassen, so finden wir dafür mit der Zeit die richtige Sprache.
Unsere übliche Auffassung des Ausdrucks „Gleichgewicht“ ist nicht nur zu quantitativ; sie ist außerdem auch zu äußerlich. Wir stellen uns vor, dass wir das von zwei Seiten her betrachten, womit wir es zu tun haben, und zu einem Punkt der Gleichheit finden, indem wir beide Seiten sehen. Auch wenn wir eine solche Vorstellung mehr innerlich auffassen, deutet sie dennoch stark darauf hin, dass Gleichgewicht etwas ist, das wir finden. Wir glauben, dass wir zu ihm kommen – wir gewinnen unser Gleichgewicht. Die Tugend wird aber nicht dadurch aktiv, dass wir auf die verschiedenen Faktoren unseres Lebens umherschauen und einen allen Faktoren gemeinsamen Gleichheitspunkt finden. Sehen wir das Gleichgewicht in dieser Weise, so bleibt die große Frage offen: Wer oder was in uns macht die die Fähigkeit aus, uns umzusehen und das richtige Maß eines jeden Dinges in unserem Leben einzuschätzen?
Versuchen wir, die Frage nach dem Gleichgewicht anders zu stellen: Wo befindet sich der innere Ort, an dem ein Zusammenfluss stattfindet zwischen Tätigkeit, die wir zumindest teilweise im Griff haben, und Empfänglichkeit, wo uns etwas kommt, worüber wir keine Kontrolle haben? Welcher ist dieser Ort der Seele? Was sind dessen Qualitäten? Welche Praktiken sind mit ihm verbunden? Welche sind die Bedingungen, unter denen die Eigenschaften dieses Seelen-Ortes zu erfassen sind? Wenn wir uns in diese Landschaft hineinbegeben und sie beschreiben können, so ist es die Tugend des Gleichgewichts, was wir beschreiben.
Ein weiterer Aspekt des Aufräumens mit unseren üblichen Vorstellungen des Gleichgewichts ist zu erwähnen. Wir sind es gewohnt, uns das Gleichgewicht als in der horizontalen Ebene bestehend vorzustellen. Es muss ein Bild des Gleichgewichts in der vertikalen Richtung hinzugefügt werden. Hier müssen wir das Verhältnis zwischen dem Oben und dem Unten in unserem Leben berücksichtigen, zum Verhältnis dem Inneren und dem Äußeren hinzu. Schwingt das, was ich tue, mit einem inneren Lauschen auf die geistige Welt, aber auch auf die Tiefen der Seele mit? Diese Dimension gehört maßgeblich zur Tugend des Gleichgewichts.
Die komplexen Zusammenhänge der Tugend des Gleichgewichts sind nicht erreichbar auf der Grundlage der gewöhnlichen Fähigkeiten unseres Bewusstseins. Zum Gleichgewicht kommt man nicht dadurch, dass man seine Wichtigkeit und Notwendigkeit für das Leben durchdenkt, auch nicht dadurch, dass man sich extra aufmacht, um Gleichgewicht im eigenen Leben herbeizuführen. Weder hierdurch noch durch das Bemühen, Gleichgewicht im Gefühlsleben zu finden, ist es herbeizuführen, wobei allerdings durchaus Augenblicke eintreten können, in denen die Qualitäten dieser Tugend fühlbar werden. Aber solche Momente machen die Tugend selber nicht aus. Um die Tugend zu sein, müssten diese Momente von Dauer sein. Jeder hat Augenblicke, in denen innere Harmonie zu bestehen scheint zwischen inneren und äußeren Geschehnissen, in denen man eine innere Verbindung fühlt zwischen dem Seelen- und Geistleben und dem physischen und praktischen Leben. Diese sind die Augenblicke des oben erwähnten komplexen Zusammenflusses. Es ist allerdings möglich, dass wir uns so orientieren, dass Gleichgewicht kein bloßer Zufall oder Glücksfall ist.
Die Tugend des Gleichgewichts hat ihren Sitz in der Herzgegend und nicht im Kopf, und so müssen wir uns auf ein tatsächliches Erleben des Herzens einlassen. Beim Gleichgewicht geht es um die Möglichkeit, in der Herzgegend zu leben, offen zu sein gegenüber der Seele und dem Geist, den Reichen des Unsichtbaren, und zur gleichen Zeit ein gründlich geerdetes, praktisches, weltliches Erdenleben zu führen. Wenn wir den Weg ins Herz hineinfinden, erklingt unser äußeres Leben mit bestimmten seelischen Eigenschaften. Eine Beschreibung dieser Eigenschaften kann helfen, um festzustellen, ob bzw. wann wir die Tugend geortet haben. Es ist nützlicher, sich die Tugend als subtile Erfahrungs-Region vorzustellen, zum Erlebnis derer wir uns hinarbeiten –, denn als bestimmte Verhaltensweisen, die wir anstreben. Eine sorgfältige Beschreibung der Erfahrung dieser Herzgegend kann uns also zum Erkennen der Tugend verhelfen.
Gleichgewicht hat mit der Art zu tun, wie wir die uns umgebende Welt erleben als mit den tiefsten Aspekten unseres Daseins intim verwoben. Der Ausdruck „Welt“ ist hier möglichst weit gefasst. Er umfasst sowohl die physische Gegenstandswelt, die Naturwelt uns zustoße Ereignisse, Erfahrungen und Begegnungen mit anderen Menschen. In der Region des Gleichgewichts erklingt die Welt mit Staunen. Wir sehen uns etwas an und erleben es als zugleich bekannt und unbekannt, da wir es so erleben wie zum ersten Mal, wenngleich wir schon viele Male dieselbe Erfahrung gehabt haben mögen. Wenn wir in einer staunenden Verfassung sind, sind unsere gewöhnlichen Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühle mit dem Erlebnis erfüllt, dass etwas Profunderes am Werke ist, als man an der Oberfläche zur Kenntnis nimmt. Wir erleben die Unermesslichkeit und Tiefe der Dinge, bleiben aber zugleich bei der mondänsten Ebene eben dieser Dinge anwesend.
Das Staunen ist keine vorwiegend intellektuelle Eigenschaft. Es kann und soll zum Denken führen, aber zu einem schöpferischen Denken, das die Empfindung des Staunens nicht vernichtet, sondern sie zur Erkenntnis, ja sogar zur praktischen Tätigkeit ausweitet. Staunen ist das Fundament der Philosophie, was weiter nichts bedeutet, als dass der Philosoph dieselben Dinge betrachtet wie jeder andere auch, nur dass er diese Dinge anders betrachtet. Der Philosoph sieht im Bekannten eben das Unbekannte, und dieses Unbekannte erforscht er dann. So kann es von allem eine Philosophie geben – vom Papier bis hin zum Ursprung des Universums.
In Richtung intellektuellen Wissens braucht das Staunen nicht zu führen; wohl ist es aber kognitiver Art. Wir stehen vor der Weisheit der Welt, vor allen Prozessen, in denen wir mit hineinverwoben sind, ohne uns normalerweise ihrer überhaupt bewusst zu sein. Wir erleben beispielsweise die Art, wie unser Leib zum Leib der Welt – zur Erde, zu den Mineralien, den Pflanzen, den Tieren – dazugehört. Wir erleben etwas von der Art, wie wir zum Kosmos gehören, dass alles, was uns in der alltäglichen Welt zustößt, uns dem eigenen Schicksal entweder näherbringt oder uns von ihm entfernt. Und es ist alles erstaunlich! Diese Momente des Staunens sind die Gelegenheit, sind die Öffnung zur Region dieser Tugend. Wenn, anstatt das Wunder bloß zu erleben und alsdann weiterzuziehen, wir auf solche Momente stärker aufmerken, so werden sie sich vergrößern, denn es ist ein Vorgang des Gestimmtwerdens in Gang. Wir beginnen, die Tugend bewusst leben zu können.
Was ist es, was mit dem Gleichgewicht einhergeht und über unsere landläufigere Erfahrung der Welt hinausgeht? Wenn wir Gleichgewicht erleben, so erinnern wir uns an etwas. Vom gewöhnlichen Erinnern ist hier nicht die Rede. Was ist zum Beispiel der Unterschied dazwischen, morgens aufzuwachen und draußen die Vögel singen zu hören, bevor man zu dem weitergeht, was im Alltag ansteht, und morgens aufzuwachen und das zu hören: den gedehnten, klagenden Ruf des Habichts, das Krächzen der Krähe, das Piepsen des Sperlings? Wenn wir nur mit den Ohren hören, hören wir Vogelstimmen. Hören wir aber mit dem Herzen, so vernehmen wir die Seelenqualität des Gesangs, haben gar das unmittelbare Erlebnis einer anderen Welt, einer Welt jenseits auch der Fremdheit und Schönheit dieser Geschöpfe so, wie sie in der Natur existieren. Im Augenblick des Staunens erleben wir die direkte Anwesenheit der geistigen Welt, aus der diese außergewöhnlichen Federwesen erstehen. Diese Art der Erfahrung ist eine Erinnerung, eine Erinnerung an etwas, was jenseits der Sinneswelt liegt. Zu gleicher Zeit ist diese Art des Erlebens eine Selbsterinnerung. Im Gleichgewicht kommen wir zu uns selbst.
In dem Moment, in dem wir Gleichgewicht erleben, wissen wir nicht in reflexiver Weise, dass wir an Welten der Seele und des Geistes teilnehmen. Dennoch ist Gleichgewicht ein Erkenntnismodus, und zwar ein solcher, der darin besteht, dass wir mit dem „zusammen sind“, was wir Erkennen, statt dass wir darüber etwas wissen. Diese Art der Erkenntnis ist ein Erlebnis des Gleichgewichts, des Zusammenfließens zweier Welten, und sie geht durch die Mitte des Herzens vor sich. Sie ist ein fühlendes Erkennen.
Damit Gleichgewicht eine Tugend sein kann, muss allerdings die Aufgabe ergriffen werden, sich der Welt in einer Attitüde des Staunens zu nähern. In quasi-philosophischer Weise ausgedrückt könnten wir diese Attitüde als „idealistischen Realismus“ bezeichnen, der eine Synthese zwischen zwei philosophischen Haltungen des Staunens ist, nämlich der platonischen Haltung des Staunens gegenüber Seelen- und Geistregionen und der aristotelischen Haltung des Staunens gegenüber der physischen Welt. Nur die mittlere Region des Herzens kann eine solche Synthese bewirken. In der modernen Welt hat die Philosophie ihren Ursprung im Staunen so gut wie verloren, zusammen mit dem Vermögen, ihre Arbeit aus einem Empfinden des Gleichgewichts heraus aufrechtzuerhalten. Wenn ich also auf die Philosophie als auf eine Art Prototyps der Erfahrung des Staunens hinweise, geht es mir nicht darum, nahezulegen, dass sich Gleichgewicht aus dem Studium der Philosophie ergibt. Wohl will ich aber darauf hinweisen, dass indem Gleichgewicht im Raum des Herzens wohnt, dieses Erlebnis genau sosehr Kognitiv ist als emotional; auch ist es genau sosehr imaginativ als emotional. Nur gilt es, diese Verhältnisse in richtiger Weise zu verstehen.
Es geht nicht um Gleichgewicht im landläufigen Sinne: Gleichgewicht zwischen dem Kognitiven und dem Emotionalen und zwischen dem Emotionalen und dem Imaginativen. Sich Gleichgewicht so vorzustellen versetzt uns zurück zur Vorstellung des Aufwiegens von Eigenschaften auf jeder Seite einer Waage. Eine adäquatere Vorstellung des Gleichgewichts wär das Bild einer mehrfachen Verschachtelung: unser imaginatives Leben ist in unserem kognitiven Leben verschachtelt, unser emotionales Leben in dem imaginativen Leben, und diese drei wiederum sind in der Herzgegend verschachtelt.
Wer die eigene Aufmerksamkeit auf die Tugend des Gleichgewichts lenken soll, der steht vor einer großen Herausforderung, zumal wir in einer so dezidiert chaotischen Kultur leben müssen. In der noch intakten natürlichen Welt können wir zwar Augenblicke des Gleichgewichts erfahren, wo Schönheit uns spontan überwältiget und in die Herzregion hineinversetzt. Aber im Alltag Gleichgewicht als Attitüde des Staunens zu üben ist viel schwerer. Die Naturwelt ruft uns zum Gleichgewicht hin; die Alltagswelt zerrt uns aus dem Gleichgewicht heraus. Wenn wir den Weg ins Herzinnere nicht finden, haben wir keine Möglichkeit, diese Tugend aufrechtzuerhalten, denn das Chaos vernichtet zunehmend das natürliche Gleichgewicht der Welt.
Oben wurde erwähnt, dass das Gleichgewicht kognitiver Art ist, obgleich es sich durch die Herzgegend ereignet. Was heißt das? Es ist vielleicht gar nicht deutlich, was Herz-Erkenntnis überhaupt ist. Aus Gefühlen besteht sic nicht, wenn schon das Fühlen mit hineinspielt. Ein erster Unterschied zwischen Kopfdenken und Herzdenken hat mit Rhythmus zu tun. Wenn wir uns mit Kopfdenken betätigen, verläuft unser Denken in Bewegungen mit Lücken dazwischen. Wir bilden einen Gedanken, dann noch einen und noch einen. Die Lücken werden mit Logik gefüllt, und das befördert uns vom einen Gedanken zum nächsten.
Logisch denkend streben wir eine Überbrückung der Leerstellen an, die zwischen den einzelnen Gedanken entstehen. Dies soll eine richtige Gedankenfolge gewährleisten. Die Logik selbst aber geht nicht aus dem Denken, sondern aus dem Fühlen hervor. Das Fühlen erfolgt als Erstes, die Logik und das Denken sind Sekundärerscheinungen der seelischen Betätigung. Wir brauchen ein tiefes Gefühl für die Wahrheit die Realität, die unsere Aufmerksamkeit an sich bindet, dann erst können wir logisch nachdenken, um diese Realität weiter kennenzulernen. Logik an und für sich beweist nichts und kann nichts beweisen. Die Beweiskraft ist schon im Fühlen anwesend; dann erst versuchen wir mittels der Logik dieses so umfassende wie tiefe Gefühl in Gedankenform umzusetzen.
Die Prämisse einer jeden logischen Aussage ist selbst nicht logisch zu beweisen. Etwa der Syllogismus: Alle Menschen sind sterblich; Henry ist ein Mensch; folglich ist Henry sterblich. Die erste dieser Aussagen lässt sich nicht durch Logik begründen. Auch kann er nicht empirisch bewiesen werden, denn dazu müsste jeder einzelne Mensch auf der Welt untersucht werden. Die erste Aussage eines logischen Syllogismus weiß man intuitiv, und zwar mittels des Staunens. So ist das Staunen also nicht logischer, sondern intuitiver Art.
Das Herzdenken ist die Grundlage des Staunens, insofern als Staunen eine Öffnung in das Gleichgewicht hinein ist. Dieses Herzdenken verläuft nun in der Ebene direkt unterhalb des Bewusstseins; wir können das Herzdenken zwar gewahr werden, können es aber nicht ganz bis zur Artikulierung seiner bringen. Wann immer wir der Gefühls-Schicht unseres Daseins treu sind, wissen wir mehr vom Herzen her als durch den Kopf. Diese Art eines erkennenden Fühlens schreitet nicht von einem Begriff zum nächsten. Wenn wir in einer Haltung des Staunens etwas erkennen, so erkennen wir es nicht auf einmal als Ganzes, sondern in rhythmischer Weise. Wenn ich die unmittelbare Gegenwart von etwas erlebe, so ist die Unmittelbarkeit dieses Geschehens meinem vollkommenen Mitschwingen mit der tieferen Resonanz des Geschehens zuzuschreiben. Mein Mitschwingen öffnet das erlebte Geschehen den Reichen des Unsichtbaren, den Tiefen der Seele, den Höhen des Geistes.
In der Naturwelt wird diese Art des rhythmischen Mitschwingens von solchen Rhythmen unterstützt, die von alleine an Stätten der Schönheit bestehen. Aber in der Alltagswelt müssen wir uns stärker von uns selbst aus diese rhythmische Qualität hinzufügen, und zwar müssen wir sie vom Herzen her erzeugen. Denken wir mit dem Haupt, logisch, so denken wir über etwas. Mit dem Herzen hingegen denken wir nicht so wie mit dem Herzen wie mit dem Kopf, sondern beim Herzdenken denken wir aus dem Herzen hervor. Wenn das Denken vom Herzen her nicht direkt an einem Erlebnis der natürlichen Welt gebunden ist, fehlt ihm äußere Stütze; so muss es sich von innen her selbst stützen. Heutzutage vermögen wir dies in der Regel nicht für lange Zeit und erfahren deshalb Zustände des Gleichgewichts von nur kurzer Dauer.
In vieler Hinsicht ähnelt die Tugend des Gleichgewichts dem Vermögen, als Kunstwerk in der Welt zu leben. Aber anstatt dass wir etwas betrachten – so, wie wir ein Kunstwerk betrachten – nehmen wir jede Sekunde an diesem Kunstwerk teil, sind sogar ein Teil von ihm, während wir es erleben. Ferner sind wir nicht bloß teilhabende Betrachter, sondern jeder von uns ist der Pinsel selbst, der die Kunst hervorbringt. Die Welt so zu Erleben, erfordert die Tugend des Gleichgewichts.
In Phasen des Gleichgewichts bekommt die Alltäglichkeit der uns umgebenden Dinge eine durchsichtige Qualität. Es leuchtet etwas durch sie hindurch. Wir sehen die Schönheit durch das Mondäne hindurchscheinen. Die Erfahrung von solcher Schönheit hat eine weitere Charakteristik: im Gleichgewicht erfassen wir den schönen Gegenstand und das eigene intimste Selbst zusammen. Es wird der Gegensatz zwischen Subjekt und Objekt aufgehoben. Die von uns im Zustand des Gleichgewichts erlebte Schönheit ist kein subjektives Erfahren eines Objektes, eines Ereignisses oder einer anderen Person. Die Schönheit wird hier aber auch nicht als ein von uns geschauter, rein objektiver Wert verstanden. Die Erfahrung der Schönheit kommt im Zustand des Gleichgewichts weder von „innen“ noch von „außen“. Wir befinden uns nunmehr in einer Welt, in der diese Denkmodi nicht gelten. Wir sind in der Logik dessen, „was sich präsentiert“.
So ist Gleichgewicht also das voll bewusste Anwesendsein vor dem Anwesenden mit wachem Denken, Fühlen und Wollen, in denen das Gewöhnliche und das Außergewöhnliche zusammengeworfen werden. Die Handlung des Gleichgewichts als Tugend ist keine Handlung einer einzelnen menschlichen Fähigkeit, sondern es spielen sämtliche Dimensionen unserer Existenz mit hinein.
Augenblicke des Gleichgewichts können Freudenmomente sein. Wir können auf die Erlangung von Gleichgewicht hin arbeiten, auf das Ausführen der Tugend; über die Erzeugung von Freude haben wir aber keinerlei Einfluss. Freude ist ein grundlegendes Glück und tritt stets als Geschenk auf. Diese Art von Glück hat mit reiner Lust oder behaglicher Entspannung nichts zu tun, sondern ist vielmehr etwas wie Gnade. Und „darum wird uns,“ schreibt Josef Pieper, „wann immer es uns widerfährt, glücklich zu sein, etwas Unvorhergesehenes zuteil, etwas, das nicht vorausgesehen werden konnte, und also der Planung und dem Absehen entzogen bleibt. Glück ist Wesentlich Geschenk; man ist nicht 'seines Glückes Schmied'.“ (Josef Pieper, „Glück und Kontemplation“, Topos Taschenbücher, Band 766, 2012 [S. 21]). Der Zweck, auf Gleichgewicht hin zu arbeiten, ist nicht Freude oder Glück zu finden. Gleichgewicht ist keine utilitarische Tugend die, wenn sie ausgeführt wird, zum Zustand der Seligkeit führt. Alles, was sich sagen lässt, ist dass manchmal, wenn Gleichgewicht eintritt, es von dem Erlebnis der Freude begleitet wird. Auch können wir sagen, dass Freude so, wie sie hier beschrieben wird, keine Seligkeit ist. Was als eine Art Kulisse die Freude begleitet, ist: die Angst.
Diese Angst ist nicht auf irgendeine psychologische Schwierigkeit zurückzuführen. Sie ist vielmehr die nötige „andere Seite“, welche die ständige Begleiterin der Freude ist. Sie ist fundamental, existentiell, ist ständig bei uns, aber gewöhnlich hinter unserem alltäglichen Funktionieren verschleiert. So mag es also überraschen, dass das Arbeiten auf das Gleichgewicht hin uns zugleich auch vor die Möglichkeit stellt, tiefe Angst zu erleben. Das sagt uns, dass es Mut braucht, um an der Tugend des Gleichgewichts zu arbeiten. Stehen wir einmal vor der Fülle-Möglichkeit des Seins, so müssen wir uns auch der Gesichtslosigkeit des Nichtseins stellen.
Im Gleichgewicht ändern sich die Qualitäten des Raumes, in dem wir leben und arbeiten. Der Raum des Gleichgewichts unterscheidet sich wesentlich von der abstrakten Auffassung eines dreidimensionalen Raumes, wie ihn die klassische Physik behauptet. Im mathematisch begriffenen Raum gibt es keine umgebende Welt, sondern nur eine Vielheit einzelner „Punkte“, eine absolute Homogenität, innerhalb derer sich Gegenstände befinden. Der von uns bewohnte Raum ist aber verkörpert und existiert in einer Welt, und so besteht er nicht in solcher eigenschaftslosen Leere. Raum, indem er gelebt wird, ist dynamisch und in ständigem Wandel begriffen, je nach unseren Stimmungen und Umständen.
Wenn zum Beispiel ich mit dem Anliegen beschäftigt bin, ein Buch zu finden, so ist der auf der gegenüberliegenden Straßenseite befindliche Buchladen näher, als der direkt neben mir stehende Friseursalon. Wenn Menschen in einander verliebt sind, so fühlen sie die Nähe des geliebten Menschen, egal welche objektive Entfernung sie trennt. Dieser „gelebte Raum“ ist nichts bloß Subjektives, im Gegensatz zum Reellen und Objektiven. „Gelebter Raum“ ist der Raum unserer tagtäglichen Existenz. Derjenige Raum, den die Physik kennt, ist eine abstrakte Erfindung des Verstandes, ein Raum ohne jede Umgebung, Entfernung, Perspektive, Tiefe, Welt. Indem die „objektive“ Abstraktion Raum zunehmend ins Alltagsleben Einzug hält – was dadurch geschieht, dass das gelebt wird, was die Wissenschaft für wirklich erklärt –, verlieren wir die Qualitäten des gelebten Raumes und nehmen in einer homogenen Welt unseren Wohnsitz auf.
Die Tugend des Gleichgewichts gibt uns der natürlichen Fähigkeit zurück, die räumliche Welt in ihren dynamischen Eigenschaften zu erfahren. Das liegt daran, dass diese Tugend, wie sämtliche Tugenden, keine abstrakte Idee, sondern eine grundsätzliche Funktionsweise unserer verkörperten Seele und unseres verkörperten Geistes ist. Gleichgewicht entreißt uns den von uns bewohnten Abstraktionen, von denen wir ganz vergessen haben, dass sie solche sind. Unsere Erfahrungen der Welt und anderer Menschen beginnen, sich zu ändern. Gleichgewicht tut sogar noch mehr, als uns zur Bewusstheit der Unmittelbarkeit unseres Leibes und unseres Seelen-Geistes mit Bezug auf unsere Umgebung zu bringen. Die Eigenschaften von Nähe und Entfernung werden zu etwas mehr, als was durch Messverfahren zu ermitteln ist. Nähe und Entfernung ändern sich gemäß unseren besonderen Anliegen und Interessen. Wenn wir anfangen uns solcher Änderungen im existentiellen Raum bewusst zu werden, dürfen wir annehmen, dass wir in das dynamische Reich des Gleichgewichtes eingetreten sind.
Das Leben unserer Seele hat sich mit der neuen Erfahrung des Raumes aktiv eingelassen auf unsere Alltagsinteressen an anderen und an der Welt. In unserem Körper fühlen wir die anziehenden und abstoßenden Eigenschaften der Dinge, und von diesem Fühlen aus können wir den richtigen Gleichgewichtspunkt finden. Es geht aber nicht darum, auf das Anziehende hinzugehen und das Abstoßende zu vermeiden, sondern vielmehr darum, in den Bereich gefühlter dynamischer Kräfte hineinzukommen; Gleichgewicht ist schließlich eine Realität. Ohne Gleichgewicht wird uns körperlich schwindlig oder wir ermüden oder werden depressiv. Können wir das Drücken und Ziehen der Weltkräfte fühlen, so tut sich mit dem Gleichgewicht eine weitere Dimension auf. Diese Dimension ist die Qualität derTiefe.
Betonen möchte ich, dass diese Beschreibungen einer im Gleichgewicht befindlichen Welt nicht als etwas gemeint sind, was sich bloß ergibt, wenn man sich auf die Tugend einlässt. Sie sind vielmehr Beschreibungen des Gleichgewichts selbst. Beim Gleichgewicht handelt es sich nicht um etwas, das bewirkt, dass wir die Welt in neuer Weise erleben. Wer so – reduktiv – die Beschreibungen versteht, der begreift das Gleichgewicht, wie wenn es eine Droge wäre. Diese Beschreibungen sind vielmehr der Versuch darzulegen, dass Gleichgewicht eben kein in uns festzustellender Fixpunkt ist, sondern im Gegenteil ein kreatives, dynamisches Verhältnis zwischen uns selbst, unserem Körper, unserer Seele und unserem Geist, der Welt und dem Kosmos.
Auch die Zeit des Gleichgewichts können wir beschreiben. Genauso wie sein Raum anders ist als die abstrakte Konzeption von Raum und sogar als „gelebter Raum“, genauso unterscheidet sich die Zeit des Gleichgewichts erheblich von der gewöhnlichen Zeit. Die abstrakte Vorstellung der Zeit ist die, dass sie in einer endlosen Sequenz unendlich kurzer „Jetzte“ besteht, die nacheinander entstehen und vergehen. Die Zeit des Gleichgewichts ist aber auch anders als die Zeit so, wie wir sie gewöhnlich leben, die allerdings schon anders ist als Zeit so, wie die Uhr sie darstellt. „Gelebte Zeit“ erfährt man als die geräumigen oder aber auch engen Qualitäten der Änderung, innerhalb derer wir jeden Tag leben, als die unterschiedlichen Tätigkeiten und Beschäftigungen unseres Lebens. „Arbeitszeit“ etwa ist anders als „Liebe-Zeit“, was wiederum anders ist als „meditative Zeit“. Die Zeit der Krankheit nimmt sich anders heraus als die Zeit der Gesundheit, denn in der Krankheit dehnt sich die Zeit zur Dauer aus. Die Zeit der Natur ist anders als die Zeit der Stadt. Gelebte Zeit dehnt sich eben aus und zieht sich zusammen je nach dem, was wir tun und wie wir uns beschäftigen.
Im Gleichgewicht findet ein wundervolles Zusammenkommen des gelebten Raumes mit der gelebten Zeit statt. Das „Hier“, das „Jetzt“ und das „Dann“ fließen in Eins zusammen. Diese Erfahrung ist schwer zu beschreiben, da wir keine adäquate Sprache dazu haben. Es ist, als wenn Zeit ausgebreitet würde zu einem Gefühl der Räumlichkeit, der Geräumigkeit. Diese Qualität der Zeit sticht aber auch hervor, wie wenn Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammengefasst und gleichzeitig vor sich gehen würden. Dann stellen wir aber fest, dass wir uns in der Zeit darinnen befinden, eben als wäre Zeit Raum. Die Zeit des Gleichgewichts ist keine „Nichtzeit“, ist nicht zeitlos; wohl ist sie aber eine geruhsame Zeit: sie ist nicht bewegungslos, sondern ruhende Bewegung.
Im Verhältnis zur gewöhnlichen Zeit wirkt die Zeit des Gleichgewichts wie sinnlose Zeitverschwendung. Gewiss, Gleichgewicht liegt außerhalb des Nützlichkeitsdenkens; es ist aus just dem Grunde lebenspendend und lebenerneuernd. Durch Gleichgewicht können viele Dinge eintreten. Zu solchen Zeiten kommen Inspirationen. Es kann keine Inspiration kommen, wenn wir im gewöhnlichen zweckgebundenen Funktionieren festsitzen. Mit dem Gleichgewicht „tun“ wir nichts, sondern das Gleichgewicht tut mit uns etwas.
Gleichgewicht kann uns von dem Krankheitszustand heilen, der dann einsetzt, wenn wir nicht tätig sind um der Tätigkeit selbst willen, sondern wenn wir Tätigkeit begehren, um sie ständig um einer anderen Sache Willen auszuführen. Wenn ich mich nach dem Essen mit dem Abspülen beeile, damit ich mich hinsetzen und fernsehen kann, so verrichte ich diese Handlung außerhalb des Gleichgewichts und schließe die Möglichkeit aus, innerhalb dieser Zeit irgendeine Weiträumigkeit zu empfinden. Wasche ich hingegen mit der Haltung ab, dass es sich dabei um eine Tätigkeit handelt, die für sich wertvoll ist, so öffnet sich die Zeit auf die Weiträumigkeit des Staunens. Ohne die Tugend des Gleichgewichts besitzt die Zeit keinen Raum, und in einem solchen Zustand der Zeit fühlen wir uns leer und verzweifelt.
In dieser Betrachtung der Tugend des Gleichgewichts wurde bisher wenig darüber gesagt, wie eigentlich die Tugend zu üben sei. Man muss sich darin üben, in allem, was man tut, sich der Dimension des Nicht-Tuns bewusst zu werden. Auch gilt es darauf hin zu arbeiten, aus den üblichen, gewohnten Verfahrensweisen herauszutreten, bei denen wir die Dinge im Griff haben und also in der Regel nichts Neues hereinlassen. Ferner brauchen wir ein starkes Empfinden dafür, dass wir die Richtung in unserem Leben selbst setzen und es nicht nur passiv zubringen. Allerdings besteht auch die Gefahr, zu passiv zu sein; das würde uns aus der Tätigkeit ausschließen, es in der Welt zu etwas zu bringen. Besonders Menschen, die sich mit geistigen Praktiken wie etwa Meditation oder innere Arbeit an Bildern betätigen, können bei sich solche Passivität feststellen. Auch kann man entdecken, dass man eine völlige Trennung pflegt zwischen der aktiven und der empfänglichen Seite des Lebens. Das Ausführen der Tugend besteht darin, diese zwei Aspekte zueinander in enger Beziehung zu halten.
Wer auch wirklich daran arbeitet, zwischen Agieren und Empfangen eine Beziehung aufrechtzuerhalten, wird bei sich das Auftreten einer neuen Art der Ganzheit entdecken. Was wir tun und was wir empfangen, was zu uns kommt, indem wir einfach offen sind, das stellt sich nicht nur als miteinander verwandt, sondern als aus einem Stück bestehend heraus. Wann immer diese zwei Dimensionen auseinandergehalten werden, können wir gewöhnlich zwischen dem, was wir tatsächlich tun und dem, was zu uns kommt, nicht einmal eine Beziehung sehen, außer als zwei Ereignisse, die nebeneinander zu existieren scheinen. Wenn ich zum Beispiel hart arbeite und befördert werde, so kommt es mir so vor, wir wenn die Beförderung als Ergebnis der Tätigkeit gekommen wäre, in die ich mich hineingegeben habe. In dieser Art, die eigenen Errungenschaften nach Ursache und Wirkung zu denken, liegt keine Tugend. Wann immer ich aber ein solches Ereignis als Offenbarung einer Ganzheit ansehen kann – dass nämlich meine jahrelange Tätigkeit mich auf die rechte Empfänglichkeit vorbereitet hat und dass dann, wenn diese zwei Seelenfähigkeiten in ihrer jeweiligen Resonanz zu einander passen und miteinander mitschwingen, etwas Neues entsteht –, dann sind wir dabei, die Tugend ausführen.
Wir können uns darin üben, nicht nur auf den Inhalt unserer Tätigkeit aufmerksam zu sein, sondern auch auf den inneren, motivierenden Aspekt dieser Tätigkeit – das ermöglicht die nötige Ergänzung zu dieser Tätigkeit, nämlich die Empfänglichkeit. Und eine Steigerung dieser Ergänzung ist dadurch zu erreichen, dass wir uns auch darin üben, auf die Qualitäten der Kraft, die die Tätigkeit impliziert sowie auf die Auswirkungen derselben auf andere Menschen. So gewinnen wir Abstand zu einer Ursache-Wirkung-Mentalität und begeben uns stattdessen in ein ganzheitliches Bewusstsein hinein, in dem Tätigkeit und Empfänglichkeit zusammengehören und gleichzeitig verlaufen.
Letztere Einheit tritt dann ein, wenn wir übend die Aufmerksamkeit nicht nur auf das richten, was uns in einer Haltung der Empfänglichkeit kommt, sondern auch wenn wir uns darin schulen, auf die Qualitäten der Kraft aufmerksam zu sein, die von anderen und der Welt auf uns einwirken. Diese Eigenschaften werden stets ausnahmslos mit den Qualitäten unserer eigenen Tätigkeit intim verwandt sein. Das Universum und die irdische Welt sind eine Ganzheit. Wenn wir auf die Tugend des Gleichgewichts hin arbeiten, so wird diese Ganzheit zu einer reellen Erfahrung.
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von Robert Sardello
Die Tugend des Gleichgewichts
(Gleichgewicht wird zu Fortschritt - Rudolf Steiner)
21. April - 20. Mai
Das Wort „Gleichgewicht“ bezeichnet das, was man erlebt, wenn man zwischen zwei Polaritäten einen Mittelpunkt, einen Angelpunkt findet. Wir bemühen uns zum Beispiel, das Gleichgewicht zu finden zwischen Arbeit und Erholung, zwischen Denken und Fühlen, oder zwischen den vielen miteinander konkurrierenden Faktoren in unserem Leben. In vielen Fällen nehmen sich solche Polaritäten wie unvereinbare Gegensätze aus, die wir beide im Leben wertschätzen.
Ein Mittelpunkt des Gleichgewichts aber, als Vorstellung, überdeckt die geistige Wesensart eines Mittelpunktes an sich. Da hört es sich so an, als wenn es nur darum ginge, Gegensätze für gleichwertig zu erachten und sich beiden Seiten der Polarität widmen zu können: Ich bin dann im Gleichgewicht, wenn mir meine Arbeit wichtig ist, wenn ich aber nicht zulasse, dass sie mein Privatleben vereinnahmt. Ich bin dann im Gleichgewicht, wenn ich einer karitativen Tätigkeit meine Zeit schenke, um die Zeit auszugleichen, die ich verbringe, um Geld zu verdienen.
Eine solche Vorstellung wirft aber genau so viele Fragen auf, als sie zu beantworten scheint. Welche Instanz in uns kann wissen, wo ein Mittelpunkt zwischen zwei Qualitäten zu finden ist – beziehungsweise was diesen Mittelpunkt ausmacht –, wenn beide dieser Qualitäten womöglich so unermesslich und komplex sind, dass deren Grenzen nicht annähernd präzise zu wissen sind?
Der Ausdruck „Gleichgewicht“ wird gewöhnlich als ein quantitativer Begriff aufgefasst, wie der Gleichgewichtspunkt zwischen zwei Gewichten, die in den beiden Schalen einer Waage liegen. Das Gleichgewicht als Tugend ist in diesem Sinne ein Punkt des Äquilibriums zwischen zwei oder mehr Lebensanforderungen. Gut ist es allerdings, wenn man die eigenen Lebensanliegen und Lebensaufgaben so verteilen kann, dass nicht einige wenige davon auf Kosten der anderen verfolgt werden; aber Gleichgewicht als Tugend ist etwas anderes, und zwar deshalb, weil hier die Dimension der Seele im Spiel ist.
Seele versteht sich stets als ein „dazwischen-Sein“ – zwischen Geist und Stoff, zwischen Idee und Handlung, zwischen zwei äußerst verschiedenen Qualitätsebenen. Und so hat auch die Tugend des Gleichgewichts mit verschiedenen Seelenqualitäten dieses „Dazwischenseins“ zu tun, wie man sich dieser Qualitäten bewusst wird und sie aufrechterhält. Es geht bei der Tugend des Gleichgewichts um das richtige Verhältnis zwischen den Bemühungen, die wir einer Situation entgegenbringen, und der Empfänglichkeit, die eine wesensgemäße und aber auch unserer Seele gemäße Entfaltung dieser Situation ermöglicht.
Nehmen wir zum Beispiel an, ich habe bei einer Geschäftssitzung einen Vortrag zu halten, in dem ich dafür plädieren soll, ein neues Produkt auf den Markt zu bringe: Ich leiste eine Menge Recherche-Arbeit einschließlich Umfragen, Demographie, Kosten, Gewinne usw. Ich erarbeite also ein Strategie-Referat, ermittle, wer bei der Präsentation anwesend sein wird und wie am besten ihren Einwänden zu begegnen ist. Auch kenne ich die Politik der Firma und habe mit berücksichtigt, wie die Darstellung so zu gestalten ist, dass sich jeder der Anwesenden positiv angesprochen fühlt. Die Tugend des Gleichgewichts wird nur dann eine Rolle spielen, wenn ich bei dieser ganzen Vorarbeit auch dafür empfänglich sein kann, was von alleine geschehen will was über das hinausgeht, was ich steuern kann. Gleichgewicht ist das ideale Verhältnis zwischen den Bemühungen, die wir einer Situation entgegenbringen und dem, was auf uns zukommt, und den Kontakt gewährleistet zwischen diesen Bemühungen und dem Leben der Seele. Diese Tugend ist nicht leicht; wollen wir doch schließlich ein Ergebnis erzielen, und dieses Anliegen kann mit Leichtigkeit die feinere Dimension überschatten, nämlich sicherzustellen, dass nicht die eigene Seele vernachlässigt wird.
Wir beginnen wohl besser mit einem inneren Bild des Gleichgewichtspunkts als magischer Punkt statt als ein physischer Punkt auf einer Waage. Ganz andere Gesetze obwalten als die der Physik des Zentriert-Seins. Um zu einer besseren Orientierung zu gewinnen bei der Vorstellung des Gleichgewichts als Tugend, hilft der Wechsel zur Vorstellung eines magischen Ortes, an dem ein volkommenes Zusammentreffen physikalischer mit seelischen und geistigen Faktoren stattfindet. Während das physikalische Reich gemäß dem Gesetz von Ursache und Wirkung sich verhält, geht es im magischen Reich nach dem Gesetz der Resonanz zu.
Im oben angeführten Beispiel ist der übliche Denkmodus der Auffassung, dass wenn ich nicht im Gleichgewicht bin, es von der einen Sache zu viel und von der anderen zu wenig gibt; ich habe vielleicht zu stark geplant und keinen Raum für Spontaneität gelassen. Das ist aber quantitativ gedacht: Wenn die Kontrolle zu stark ist, so füge man etwas Spontaneität hinzu. Auch denke ich, dass wenn ich nicht im Gleichgewicht bin, irgendetwas schief gehen wird; dass wenn ich Büroarbeit nicht mit körperlicher Bewegung aufwiege, dieses Ungleichgewicht zu einem Gesundheitsproblem führen könnte. Wenn kein Gleichgewicht besteht zwischen meiner Verantwortung als Elternteil und den Freuden der Ehe, so kann meine Verantwortungslosigkeit eine Ehekatastrophe herbeiführen.
Die quantitative Auffassung von Gleichgewicht enthält eine weitere Vorstellung, die die Tugend verschleiert: die, dass der Mensch normal ist, der sich im Gleichgewicht befindet und der Mensch zur Abnormität hintendiert, der außer Gleichgewicht ist. An dieser Vorstellung festzukleben heißt gegen die Tugend des Gleichgewichts zu arbeiten. Wer Gleichgewicht sucht, der sucht nicht nach Normalität. In vielerlei Hinsicht ist Normalität der Untergang der Tugend. Wir meinen, das Normalsein heiße so zu sein wie alle anderen Menschen – ausgewogen, produktiv, gemäßigt, gemocht, nicht einseitig, nicht zu auffällig, die Kollektivwerte anerkennend. Diese Vorstellung ist aber keine Tugend, sondern der Todesstoß für die Seele. Sie schließt alles aus, was Seele ausdrücken möchte – Imagination, Fantasie, Traum, Gefühl, Innerlichkeit, Dunkelheit, Fruchtbarkeit, echte Wärme, einen Sinn für das Schicksal, wahre Individualität.
Um zu einer wahren Vorstellung dieser Tugend zu kommen, müssen wir quantitatives und kausales Denken hinter uns lassen. Wir müssen uns von dem Denken verabschieden, wonach wir rein durch eigene Anstrengung zu dem kommen, was unsere Seele braucht. Gleichgewicht können wir nicht ausschließlich aus eigenen Stücken erlangen. Wir können es nicht herbeiführen. Wohl können wir aber die Fähigkeit entfalten, zu wissen, wann es anwesend ist und wie die zeitliche Dauer dieser Anwesenheit gedehnt werden kann.
Gleichgewicht schwingt in uns mit. Ein gutes Beispiel von Mitschwingen, von Resonanz, ist das, was mit einem Musikinstrument vor sich geht. Wenn man ein Akkord anschlägt und hält, so schwingt etwas im Raum mit dem Klang mit. So funktioniert auch die Tugend. Wir sind im Gleichgewicht, wenn mit unserem seelischen Sein eine Schicht unserer gewöhnlichen Tätigkeit mitschwingt, mitklingt, wenn sich ein Gefühl der Harmonie hergestellt hat zwischen dem, was ich in der Welt tue und der Innerlichkeit des Lebens.
Um aber dieses Ereignis erlebbar zu machen, muss dem Instrument – in dem Falle unserem körperlichen Leben im Einklang mit unserem seelischen Leben – die volle Lautstärke zugelassen werden. Der Körper muss also so gestimmt werden, dass er empfänglich ist für die Schwingungen der Seele mit den Ereignissen in der Welt. Wenn wir zum Beispiel auf der Straße auf einen Bettler treffen und ohne diesen wahrzunehmen einfach vorbeilaufen, so sind wir nicht im Gleichgewicht. Wenn wir anhalten und dem Bettler Geld geben, weil wir meinen, wir müssten dies tun, sind wir auch nicht im Gleichgewicht. Wenn wir im Vorbeilaufen von den reellen Bedürfnissen dieser Person etwas fühlen – ein Wissen braucht es nicht zu sein –, so wäre das ein Beispiel der Tugend des Gleichgewichts.
Zum Gleichgewicht zu finden stellt man sich besser als Vorgang des Stimmens vor, denn als etwas, was mit Absicht getan werden kann. Wir stimmen die Seele zum Körper und wir stimmen die Seele zur Welt. Diese Handlung des Stimmens kann man als tägliche Übung machen, indem man einfach darauf aufpasst, wie sich der eigene Körper fühlt im Verhältnis zu den individuellen Wahrnehmungen der Dinge um einen herum. Es geht darum, auf den Körper aufmerksam zu sein. Nicht auf die Reaktionen des Körpers auf das, was vor sich geht, soll geachtet werden, sondern auf die verschiedenen Qualitäten körperlichen Erlebens im Verhältnis zu dem, was geschieht. Wenn etwa jemand lauthals und nervös lacht, so fühlt der Körper vielleicht eine Art Zerklüftetheit. Wenn wir im Fernsehen eine Gräueltat zu sehen bekommen, so fühlt sich der Körper zusammengezogen. Lügt uns jemand an, so fühlt sich der Körper hässlich. Wichtig ist es allerdings, dass man diese Erfahrung der Resonanz des Körpers nicht fest bezeichnet. Wenn wir uns auf den Vorgang des Stimmens einlassen, so finden wir dafür mit der Zeit die richtige Sprache.
Unsere übliche Auffassung des Ausdrucks „Gleichgewicht“ ist nicht nur zu quantitativ; sie ist außerdem auch zu äußerlich. Wir stellen uns vor, dass wir das von zwei Seiten her betrachten, womit wir es zu tun haben, und zu einem Punkt der Gleichheit finden, indem wir beide Seiten sehen. Auch wenn wir eine solche Vorstellung mehr innerlich auffassen, deutet sie dennoch stark darauf hin, dass Gleichgewicht etwas ist, das wir finden. Wir glauben, dass wir zu ihm kommen – wir gewinnen unser Gleichgewicht. Die Tugend wird aber nicht dadurch aktiv, dass wir auf die verschiedenen Faktoren unseres Lebens umherschauen und einen allen Faktoren gemeinsamen Gleichheitspunkt finden. Sehen wir das Gleichgewicht in dieser Weise, so bleibt die große Frage offen: Wer oder was in uns macht die die Fähigkeit aus, uns umzusehen und das richtige Maß eines jeden Dinges in unserem Leben einzuschätzen?
Versuchen wir, die Frage nach dem Gleichgewicht anders zu stellen: Wo befindet sich der innere Ort, an dem ein Zusammenfluss stattfindet zwischen Tätigkeit, die wir zumindest teilweise im Griff haben, und Empfänglichkeit, wo uns etwas kommt, worüber wir keine Kontrolle haben? Welcher ist dieser Ort der Seele? Was sind dessen Qualitäten? Welche Praktiken sind mit ihm verbunden? Welche sind die Bedingungen, unter denen die Eigenschaften dieses Seelen-Ortes zu erfassen sind? Wenn wir uns in diese Landschaft hineinbegeben und sie beschreiben können, so ist es die Tugend des Gleichgewichts, was wir beschreiben.
Ein weiterer Aspekt des Aufräumens mit unseren üblichen Vorstellungen des Gleichgewichts ist zu erwähnen. Wir sind es gewohnt, uns das Gleichgewicht als in der horizontalen Ebene bestehend vorzustellen. Es muss ein Bild des Gleichgewichts in der vertikalen Richtung hinzugefügt werden. Hier müssen wir das Verhältnis zwischen dem Oben und dem Unten in unserem Leben berücksichtigen, zum Verhältnis dem Inneren und dem Äußeren hinzu. Schwingt das, was ich tue, mit einem inneren Lauschen auf die geistige Welt, aber auch auf die Tiefen der Seele mit? Diese Dimension gehört maßgeblich zur Tugend des Gleichgewichts.
Die komplexen Zusammenhänge der Tugend des Gleichgewichts sind nicht erreichbar auf der Grundlage der gewöhnlichen Fähigkeiten unseres Bewusstseins. Zum Gleichgewicht kommt man nicht dadurch, dass man seine Wichtigkeit und Notwendigkeit für das Leben durchdenkt, auch nicht dadurch, dass man sich extra aufmacht, um Gleichgewicht im eigenen Leben herbeizuführen. Weder hierdurch noch durch das Bemühen, Gleichgewicht im Gefühlsleben zu finden, ist es herbeizuführen, wobei allerdings durchaus Augenblicke eintreten können, in denen die Qualitäten dieser Tugend fühlbar werden. Aber solche Momente machen die Tugend selber nicht aus. Um die Tugend zu sein, müssten diese Momente von Dauer sein. Jeder hat Augenblicke, in denen innere Harmonie zu bestehen scheint zwischen inneren und äußeren Geschehnissen, in denen man eine innere Verbindung fühlt zwischen dem Seelen- und Geistleben und dem physischen und praktischen Leben. Diese sind die Augenblicke des oben erwähnten komplexen Zusammenflusses. Es ist allerdings möglich, dass wir uns so orientieren, dass Gleichgewicht kein bloßer Zufall oder Glücksfall ist.
Die Tugend des Gleichgewichts hat ihren Sitz in der Herzgegend und nicht im Kopf, und so müssen wir uns auf ein tatsächliches Erleben des Herzens einlassen. Beim Gleichgewicht geht es um die Möglichkeit, in der Herzgegend zu leben, offen zu sein gegenüber der Seele und dem Geist, den Reichen des Unsichtbaren, und zur gleichen Zeit ein gründlich geerdetes, praktisches, weltliches Erdenleben zu führen. Wenn wir den Weg ins Herz hineinfinden, erklingt unser äußeres Leben mit bestimmten seelischen Eigenschaften. Eine Beschreibung dieser Eigenschaften kann helfen, um festzustellen, ob bzw. wann wir die Tugend geortet haben. Es ist nützlicher, sich die Tugend als subtile Erfahrungs-Region vorzustellen, zum Erlebnis derer wir uns hinarbeiten –, denn als bestimmte Verhaltensweisen, die wir anstreben. Eine sorgfältige Beschreibung der Erfahrung dieser Herzgegend kann uns also zum Erkennen der Tugend verhelfen.
Gleichgewicht hat mit der Art zu tun, wie wir die uns umgebende Welt erleben als mit den tiefsten Aspekten unseres Daseins intim verwoben. Der Ausdruck „Welt“ ist hier möglichst weit gefasst. Er umfasst sowohl die physische Gegenstandswelt, die Naturwelt uns zustoße Ereignisse, Erfahrungen und Begegnungen mit anderen Menschen. In der Region des Gleichgewichts erklingt die Welt mit Staunen. Wir sehen uns etwas an und erleben es als zugleich bekannt und unbekannt, da wir es so erleben wie zum ersten Mal, wenngleich wir schon viele Male dieselbe Erfahrung gehabt haben mögen. Wenn wir in einer staunenden Verfassung sind, sind unsere gewöhnlichen Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühle mit dem Erlebnis erfüllt, dass etwas Profunderes am Werke ist, als man an der Oberfläche zur Kenntnis nimmt. Wir erleben die Unermesslichkeit und Tiefe der Dinge, bleiben aber zugleich bei der mondänsten Ebene eben dieser Dinge anwesend.
Das Staunen ist keine vorwiegend intellektuelle Eigenschaft. Es kann und soll zum Denken führen, aber zu einem schöpferischen Denken, das die Empfindung des Staunens nicht vernichtet, sondern sie zur Erkenntnis, ja sogar zur praktischen Tätigkeit ausweitet. Staunen ist das Fundament der Philosophie, was weiter nichts bedeutet, als dass der Philosoph dieselben Dinge betrachtet wie jeder andere auch, nur dass er diese Dinge anders betrachtet. Der Philosoph sieht im Bekannten eben das Unbekannte, und dieses Unbekannte erforscht er dann. So kann es von allem eine Philosophie geben – vom Papier bis hin zum Ursprung des Universums.
In Richtung intellektuellen Wissens braucht das Staunen nicht zu führen; wohl ist es aber kognitiver Art. Wir stehen vor der Weisheit der Welt, vor allen Prozessen, in denen wir mit hineinverwoben sind, ohne uns normalerweise ihrer überhaupt bewusst zu sein. Wir erleben beispielsweise die Art, wie unser Leib zum Leib der Welt – zur Erde, zu den Mineralien, den Pflanzen, den Tieren – dazugehört. Wir erleben etwas von der Art, wie wir zum Kosmos gehören, dass alles, was uns in der alltäglichen Welt zustößt, uns dem eigenen Schicksal entweder näherbringt oder uns von ihm entfernt. Und es ist alles erstaunlich! Diese Momente des Staunens sind die Gelegenheit, sind die Öffnung zur Region dieser Tugend. Wenn, anstatt das Wunder bloß zu erleben und alsdann weiterzuziehen, wir auf solche Momente stärker aufmerken, so werden sie sich vergrößern, denn es ist ein Vorgang des Gestimmtwerdens in Gang. Wir beginnen, die Tugend bewusst leben zu können.
Was ist es, was mit dem Gleichgewicht einhergeht und über unsere landläufigere Erfahrung der Welt hinausgeht? Wenn wir Gleichgewicht erleben, so erinnern wir uns an etwas. Vom gewöhnlichen Erinnern ist hier nicht die Rede. Was ist zum Beispiel der Unterschied dazwischen, morgens aufzuwachen und draußen die Vögel singen zu hören, bevor man zu dem weitergeht, was im Alltag ansteht, und morgens aufzuwachen und das zu hören: den gedehnten, klagenden Ruf des Habichts, das Krächzen der Krähe, das Piepsen des Sperlings? Wenn wir nur mit den Ohren hören, hören wir Vogelstimmen. Hören wir aber mit dem Herzen, so vernehmen wir die Seelenqualität des Gesangs, haben gar das unmittelbare Erlebnis einer anderen Welt, einer Welt jenseits auch der Fremdheit und Schönheit dieser Geschöpfe so, wie sie in der Natur existieren. Im Augenblick des Staunens erleben wir die direkte Anwesenheit der geistigen Welt, aus der diese außergewöhnlichen Federwesen erstehen. Diese Art der Erfahrung ist eine Erinnerung, eine Erinnerung an etwas, was jenseits der Sinneswelt liegt. Zu gleicher Zeit ist diese Art des Erlebens eine Selbsterinnerung. Im Gleichgewicht kommen wir zu uns selbst.
In dem Moment, in dem wir Gleichgewicht erleben, wissen wir nicht in reflexiver Weise, dass wir an Welten der Seele und des Geistes teilnehmen. Dennoch ist Gleichgewicht ein Erkenntnismodus, und zwar ein solcher, der darin besteht, dass wir mit dem „zusammen sind“, was wir Erkennen, statt dass wir darüber etwas wissen. Diese Art der Erkenntnis ist ein Erlebnis des Gleichgewichts, des Zusammenfließens zweier Welten, und sie geht durch die Mitte des Herzens vor sich. Sie ist ein fühlendes Erkennen.
Damit Gleichgewicht eine Tugend sein kann, muss allerdings die Aufgabe ergriffen werden, sich der Welt in einer Attitüde des Staunens zu nähern. In quasi-philosophischer Weise ausgedrückt könnten wir diese Attitüde als „idealistischen Realismus“ bezeichnen, der eine Synthese zwischen zwei philosophischen Haltungen des Staunens ist, nämlich der platonischen Haltung des Staunens gegenüber Seelen- und Geistregionen und der aristotelischen Haltung des Staunens gegenüber der physischen Welt. Nur die mittlere Region des Herzens kann eine solche Synthese bewirken. In der modernen Welt hat die Philosophie ihren Ursprung im Staunen so gut wie verloren, zusammen mit dem Vermögen, ihre Arbeit aus einem Empfinden des Gleichgewichts heraus aufrechtzuerhalten. Wenn ich also auf die Philosophie als auf eine Art Prototyps der Erfahrung des Staunens hinweise, geht es mir nicht darum, nahezulegen, dass sich Gleichgewicht aus dem Studium der Philosophie ergibt. Wohl will ich aber darauf hinweisen, dass indem Gleichgewicht im Raum des Herzens wohnt, dieses Erlebnis genau sosehr Kognitiv ist als emotional; auch ist es genau sosehr imaginativ als emotional. Nur gilt es, diese Verhältnisse in richtiger Weise zu verstehen.
Es geht nicht um Gleichgewicht im landläufigen Sinne: Gleichgewicht zwischen dem Kognitiven und dem Emotionalen und zwischen dem Emotionalen und dem Imaginativen. Sich Gleichgewicht so vorzustellen versetzt uns zurück zur Vorstellung des Aufwiegens von Eigenschaften auf jeder Seite einer Waage. Eine adäquatere Vorstellung des Gleichgewichts wär das Bild einer mehrfachen Verschachtelung: unser imaginatives Leben ist in unserem kognitiven Leben verschachtelt, unser emotionales Leben in dem imaginativen Leben, und diese drei wiederum sind in der Herzgegend verschachtelt.
Wer die eigene Aufmerksamkeit auf die Tugend des Gleichgewichts lenken soll, der steht vor einer großen Herausforderung, zumal wir in einer so dezidiert chaotischen Kultur leben müssen. In der noch intakten natürlichen Welt können wir zwar Augenblicke des Gleichgewichts erfahren, wo Schönheit uns spontan überwältiget und in die Herzregion hineinversetzt. Aber im Alltag Gleichgewicht als Attitüde des Staunens zu üben ist viel schwerer. Die Naturwelt ruft uns zum Gleichgewicht hin; die Alltagswelt zerrt uns aus dem Gleichgewicht heraus. Wenn wir den Weg ins Herzinnere nicht finden, haben wir keine Möglichkeit, diese Tugend aufrechtzuerhalten, denn das Chaos vernichtet zunehmend das natürliche Gleichgewicht der Welt.
Oben wurde erwähnt, dass das Gleichgewicht kognitiver Art ist, obgleich es sich durch die Herzgegend ereignet. Was heißt das? Es ist vielleicht gar nicht deutlich, was Herz-Erkenntnis überhaupt ist. Aus Gefühlen besteht sic nicht, wenn schon das Fühlen mit hineinspielt. Ein erster Unterschied zwischen Kopfdenken und Herzdenken hat mit Rhythmus zu tun. Wenn wir uns mit Kopfdenken betätigen, verläuft unser Denken in Bewegungen mit Lücken dazwischen. Wir bilden einen Gedanken, dann noch einen und noch einen. Die Lücken werden mit Logik gefüllt, und das befördert uns vom einen Gedanken zum nächsten.
Logisch denkend streben wir eine Überbrückung der Leerstellen an, die zwischen den einzelnen Gedanken entstehen. Dies soll eine richtige Gedankenfolge gewährleisten. Die Logik selbst aber geht nicht aus dem Denken, sondern aus dem Fühlen hervor. Das Fühlen erfolgt als Erstes, die Logik und das Denken sind Sekundärerscheinungen der seelischen Betätigung. Wir brauchen ein tiefes Gefühl für die Wahrheit die Realität, die unsere Aufmerksamkeit an sich bindet, dann erst können wir logisch nachdenken, um diese Realität weiter kennenzulernen. Logik an und für sich beweist nichts und kann nichts beweisen. Die Beweiskraft ist schon im Fühlen anwesend; dann erst versuchen wir mittels der Logik dieses so umfassende wie tiefe Gefühl in Gedankenform umzusetzen.
Die Prämisse einer jeden logischen Aussage ist selbst nicht logisch zu beweisen. Etwa der Syllogismus: Alle Menschen sind sterblich; Henry ist ein Mensch; folglich ist Henry sterblich. Die erste dieser Aussagen lässt sich nicht durch Logik begründen. Auch kann er nicht empirisch bewiesen werden, denn dazu müsste jeder einzelne Mensch auf der Welt untersucht werden. Die erste Aussage eines logischen Syllogismus weiß man intuitiv, und zwar mittels des Staunens. So ist das Staunen also nicht logischer, sondern intuitiver Art.
Das Herzdenken ist die Grundlage des Staunens, insofern als Staunen eine Öffnung in das Gleichgewicht hinein ist. Dieses Herzdenken verläuft nun in der Ebene direkt unterhalb des Bewusstseins; wir können das Herzdenken zwar gewahr werden, können es aber nicht ganz bis zur Artikulierung seiner bringen. Wann immer wir der Gefühls-Schicht unseres Daseins treu sind, wissen wir mehr vom Herzen her als durch den Kopf. Diese Art eines erkennenden Fühlens schreitet nicht von einem Begriff zum nächsten. Wenn wir in einer Haltung des Staunens etwas erkennen, so erkennen wir es nicht auf einmal als Ganzes, sondern in rhythmischer Weise. Wenn ich die unmittelbare Gegenwart von etwas erlebe, so ist die Unmittelbarkeit dieses Geschehens meinem vollkommenen Mitschwingen mit der tieferen Resonanz des Geschehens zuzuschreiben. Mein Mitschwingen öffnet das erlebte Geschehen den Reichen des Unsichtbaren, den Tiefen der Seele, den Höhen des Geistes.
In der Naturwelt wird diese Art des rhythmischen Mitschwingens von solchen Rhythmen unterstützt, die von alleine an Stätten der Schönheit bestehen. Aber in der Alltagswelt müssen wir uns stärker von uns selbst aus diese rhythmische Qualität hinzufügen, und zwar müssen wir sie vom Herzen her erzeugen. Denken wir mit dem Haupt, logisch, so denken wir über etwas. Mit dem Herzen hingegen denken wir nicht so wie mit dem Herzen wie mit dem Kopf, sondern beim Herzdenken denken wir aus dem Herzen hervor. Wenn das Denken vom Herzen her nicht direkt an einem Erlebnis der natürlichen Welt gebunden ist, fehlt ihm äußere Stütze; so muss es sich von innen her selbst stützen. Heutzutage vermögen wir dies in der Regel nicht für lange Zeit und erfahren deshalb Zustände des Gleichgewichts von nur kurzer Dauer.
In vieler Hinsicht ähnelt die Tugend des Gleichgewichts dem Vermögen, als Kunstwerk in der Welt zu leben. Aber anstatt dass wir etwas betrachten – so, wie wir ein Kunstwerk betrachten – nehmen wir jede Sekunde an diesem Kunstwerk teil, sind sogar ein Teil von ihm, während wir es erleben. Ferner sind wir nicht bloß teilhabende Betrachter, sondern jeder von uns ist der Pinsel selbst, der die Kunst hervorbringt. Die Welt so zu Erleben, erfordert die Tugend des Gleichgewichts.
In Phasen des Gleichgewichts bekommt die Alltäglichkeit der uns umgebenden Dinge eine durchsichtige Qualität. Es leuchtet etwas durch sie hindurch. Wir sehen die Schönheit durch das Mondäne hindurchscheinen. Die Erfahrung von solcher Schönheit hat eine weitere Charakteristik: im Gleichgewicht erfassen wir den schönen Gegenstand und das eigene intimste Selbst zusammen. Es wird der Gegensatz zwischen Subjekt und Objekt aufgehoben. Die von uns im Zustand des Gleichgewichts erlebte Schönheit ist kein subjektives Erfahren eines Objektes, eines Ereignisses oder einer anderen Person. Die Schönheit wird hier aber auch nicht als ein von uns geschauter, rein objektiver Wert verstanden. Die Erfahrung der Schönheit kommt im Zustand des Gleichgewichts weder von „innen“ noch von „außen“. Wir befinden uns nunmehr in einer Welt, in der diese Denkmodi nicht gelten. Wir sind in der Logik dessen, „was sich präsentiert“.
So ist Gleichgewicht also das voll bewusste Anwesendsein vor dem Anwesenden mit wachem Denken, Fühlen und Wollen, in denen das Gewöhnliche und das Außergewöhnliche zusammengeworfen werden. Die Handlung des Gleichgewichts als Tugend ist keine Handlung einer einzelnen menschlichen Fähigkeit, sondern es spielen sämtliche Dimensionen unserer Existenz mit hinein.
Augenblicke des Gleichgewichts können Freudenmomente sein. Wir können auf die Erlangung von Gleichgewicht hin arbeiten, auf das Ausführen der Tugend; über die Erzeugung von Freude haben wir aber keinerlei Einfluss. Freude ist ein grundlegendes Glück und tritt stets als Geschenk auf. Diese Art von Glück hat mit reiner Lust oder behaglicher Entspannung nichts zu tun, sondern ist vielmehr etwas wie Gnade. Und „darum wird uns,“ schreibt Josef Pieper, „wann immer es uns widerfährt, glücklich zu sein, etwas Unvorhergesehenes zuteil, etwas, das nicht vorausgesehen werden konnte, und also der Planung und dem Absehen entzogen bleibt. Glück ist Wesentlich Geschenk; man ist nicht 'seines Glückes Schmied'.“ (Josef Pieper, „Glück und Kontemplation“, Topos Taschenbücher, Band 766, 2012 [S. 21]). Der Zweck, auf Gleichgewicht hin zu arbeiten, ist nicht Freude oder Glück zu finden. Gleichgewicht ist keine utilitarische Tugend die, wenn sie ausgeführt wird, zum Zustand der Seligkeit führt. Alles, was sich sagen lässt, ist dass manchmal, wenn Gleichgewicht eintritt, es von dem Erlebnis der Freude begleitet wird. Auch können wir sagen, dass Freude so, wie sie hier beschrieben wird, keine Seligkeit ist. Was als eine Art Kulisse die Freude begleitet, ist: die Angst.
Diese Angst ist nicht auf irgendeine psychologische Schwierigkeit zurückzuführen. Sie ist vielmehr die nötige „andere Seite“, welche die ständige Begleiterin der Freude ist. Sie ist fundamental, existentiell, ist ständig bei uns, aber gewöhnlich hinter unserem alltäglichen Funktionieren verschleiert. So mag es also überraschen, dass das Arbeiten auf das Gleichgewicht hin uns zugleich auch vor die Möglichkeit stellt, tiefe Angst zu erleben. Das sagt uns, dass es Mut braucht, um an der Tugend des Gleichgewichts zu arbeiten. Stehen wir einmal vor der Fülle-Möglichkeit des Seins, so müssen wir uns auch der Gesichtslosigkeit des Nichtseins stellen.
Im Gleichgewicht ändern sich die Qualitäten des Raumes, in dem wir leben und arbeiten. Der Raum des Gleichgewichts unterscheidet sich wesentlich von der abstrakten Auffassung eines dreidimensionalen Raumes, wie ihn die klassische Physik behauptet. Im mathematisch begriffenen Raum gibt es keine umgebende Welt, sondern nur eine Vielheit einzelner „Punkte“, eine absolute Homogenität, innerhalb derer sich Gegenstände befinden. Der von uns bewohnte Raum ist aber verkörpert und existiert in einer Welt, und so besteht er nicht in solcher eigenschaftslosen Leere. Raum, indem er gelebt wird, ist dynamisch und in ständigem Wandel begriffen, je nach unseren Stimmungen und Umständen.
Wenn zum Beispiel ich mit dem Anliegen beschäftigt bin, ein Buch zu finden, so ist der auf der gegenüberliegenden Straßenseite befindliche Buchladen näher, als der direkt neben mir stehende Friseursalon. Wenn Menschen in einander verliebt sind, so fühlen sie die Nähe des geliebten Menschen, egal welche objektive Entfernung sie trennt. Dieser „gelebte Raum“ ist nichts bloß Subjektives, im Gegensatz zum Reellen und Objektiven. „Gelebter Raum“ ist der Raum unserer tagtäglichen Existenz. Derjenige Raum, den die Physik kennt, ist eine abstrakte Erfindung des Verstandes, ein Raum ohne jede Umgebung, Entfernung, Perspektive, Tiefe, Welt. Indem die „objektive“ Abstraktion Raum zunehmend ins Alltagsleben Einzug hält – was dadurch geschieht, dass das gelebt wird, was die Wissenschaft für wirklich erklärt –, verlieren wir die Qualitäten des gelebten Raumes und nehmen in einer homogenen Welt unseren Wohnsitz auf.
Die Tugend des Gleichgewichts gibt uns der natürlichen Fähigkeit zurück, die räumliche Welt in ihren dynamischen Eigenschaften zu erfahren. Das liegt daran, dass diese Tugend, wie sämtliche Tugenden, keine abstrakte Idee, sondern eine grundsätzliche Funktionsweise unserer verkörperten Seele und unseres verkörperten Geistes ist. Gleichgewicht entreißt uns den von uns bewohnten Abstraktionen, von denen wir ganz vergessen haben, dass sie solche sind. Unsere Erfahrungen der Welt und anderer Menschen beginnen, sich zu ändern. Gleichgewicht tut sogar noch mehr, als uns zur Bewusstheit der Unmittelbarkeit unseres Leibes und unseres Seelen-Geistes mit Bezug auf unsere Umgebung zu bringen. Die Eigenschaften von Nähe und Entfernung werden zu etwas mehr, als was durch Messverfahren zu ermitteln ist. Nähe und Entfernung ändern sich gemäß unseren besonderen Anliegen und Interessen. Wenn wir anfangen uns solcher Änderungen im existentiellen Raum bewusst zu werden, dürfen wir annehmen, dass wir in das dynamische Reich des Gleichgewichtes eingetreten sind.
Das Leben unserer Seele hat sich mit der neuen Erfahrung des Raumes aktiv eingelassen auf unsere Alltagsinteressen an anderen und an der Welt. In unserem Körper fühlen wir die anziehenden und abstoßenden Eigenschaften der Dinge, und von diesem Fühlen aus können wir den richtigen Gleichgewichtspunkt finden. Es geht aber nicht darum, auf das Anziehende hinzugehen und das Abstoßende zu vermeiden, sondern vielmehr darum, in den Bereich gefühlter dynamischer Kräfte hineinzukommen; Gleichgewicht ist schließlich eine Realität. Ohne Gleichgewicht wird uns körperlich schwindlig oder wir ermüden oder werden depressiv. Können wir das Drücken und Ziehen der Weltkräfte fühlen, so tut sich mit dem Gleichgewicht eine weitere Dimension auf. Diese Dimension ist die Qualität derTiefe.
Betonen möchte ich, dass diese Beschreibungen einer im Gleichgewicht befindlichen Welt nicht als etwas gemeint sind, was sich bloß ergibt, wenn man sich auf die Tugend einlässt. Sie sind vielmehr Beschreibungen des Gleichgewichts selbst. Beim Gleichgewicht handelt es sich nicht um etwas, das bewirkt, dass wir die Welt in neuer Weise erleben. Wer so – reduktiv – die Beschreibungen versteht, der begreift das Gleichgewicht, wie wenn es eine Droge wäre. Diese Beschreibungen sind vielmehr der Versuch darzulegen, dass Gleichgewicht eben kein in uns festzustellender Fixpunkt ist, sondern im Gegenteil ein kreatives, dynamisches Verhältnis zwischen uns selbst, unserem Körper, unserer Seele und unserem Geist, der Welt und dem Kosmos.
Auch die Zeit des Gleichgewichts können wir beschreiben. Genauso wie sein Raum anders ist als die abstrakte Konzeption von Raum und sogar als „gelebter Raum“, genauso unterscheidet sich die Zeit des Gleichgewichts erheblich von der gewöhnlichen Zeit. Die abstrakte Vorstellung der Zeit ist die, dass sie in einer endlosen Sequenz unendlich kurzer „Jetzte“ besteht, die nacheinander entstehen und vergehen. Die Zeit des Gleichgewichts ist aber auch anders als die Zeit so, wie wir sie gewöhnlich leben, die allerdings schon anders ist als Zeit so, wie die Uhr sie darstellt. „Gelebte Zeit“ erfährt man als die geräumigen oder aber auch engen Qualitäten der Änderung, innerhalb derer wir jeden Tag leben, als die unterschiedlichen Tätigkeiten und Beschäftigungen unseres Lebens. „Arbeitszeit“ etwa ist anders als „Liebe-Zeit“, was wiederum anders ist als „meditative Zeit“. Die Zeit der Krankheit nimmt sich anders heraus als die Zeit der Gesundheit, denn in der Krankheit dehnt sich die Zeit zur Dauer aus. Die Zeit der Natur ist anders als die Zeit der Stadt. Gelebte Zeit dehnt sich eben aus und zieht sich zusammen je nach dem, was wir tun und wie wir uns beschäftigen.
Im Gleichgewicht findet ein wundervolles Zusammenkommen des gelebten Raumes mit der gelebten Zeit statt. Das „Hier“, das „Jetzt“ und das „Dann“ fließen in Eins zusammen. Diese Erfahrung ist schwer zu beschreiben, da wir keine adäquate Sprache dazu haben. Es ist, als wenn Zeit ausgebreitet würde zu einem Gefühl der Räumlichkeit, der Geräumigkeit. Diese Qualität der Zeit sticht aber auch hervor, wie wenn Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammengefasst und gleichzeitig vor sich gehen würden. Dann stellen wir aber fest, dass wir uns in der Zeit darinnen befinden, eben als wäre Zeit Raum. Die Zeit des Gleichgewichts ist keine „Nichtzeit“, ist nicht zeitlos; wohl ist sie aber eine geruhsame Zeit: sie ist nicht bewegungslos, sondern ruhende Bewegung.
Im Verhältnis zur gewöhnlichen Zeit wirkt die Zeit des Gleichgewichts wie sinnlose Zeitverschwendung. Gewiss, Gleichgewicht liegt außerhalb des Nützlichkeitsdenkens; es ist aus just dem Grunde lebenspendend und lebenerneuernd. Durch Gleichgewicht können viele Dinge eintreten. Zu solchen Zeiten kommen Inspirationen. Es kann keine Inspiration kommen, wenn wir im gewöhnlichen zweckgebundenen Funktionieren festsitzen. Mit dem Gleichgewicht „tun“ wir nichts, sondern das Gleichgewicht tut mit uns etwas.
Gleichgewicht kann uns von dem Krankheitszustand heilen, der dann einsetzt, wenn wir nicht tätig sind um der Tätigkeit selbst willen, sondern wenn wir Tätigkeit begehren, um sie ständig um einer anderen Sache Willen auszuführen. Wenn ich mich nach dem Essen mit dem Abspülen beeile, damit ich mich hinsetzen und fernsehen kann, so verrichte ich diese Handlung außerhalb des Gleichgewichts und schließe die Möglichkeit aus, innerhalb dieser Zeit irgendeine Weiträumigkeit zu empfinden. Wasche ich hingegen mit der Haltung ab, dass es sich dabei um eine Tätigkeit handelt, die für sich wertvoll ist, so öffnet sich die Zeit auf die Weiträumigkeit des Staunens. Ohne die Tugend des Gleichgewichts besitzt die Zeit keinen Raum, und in einem solchen Zustand der Zeit fühlen wir uns leer und verzweifelt.
In dieser Betrachtung der Tugend des Gleichgewichts wurde bisher wenig darüber gesagt, wie eigentlich die Tugend zu üben sei. Man muss sich darin üben, in allem, was man tut, sich der Dimension des Nicht-Tuns bewusst zu werden. Auch gilt es darauf hin zu arbeiten, aus den üblichen, gewohnten Verfahrensweisen herauszutreten, bei denen wir die Dinge im Griff haben und also in der Regel nichts Neues hereinlassen. Ferner brauchen wir ein starkes Empfinden dafür, dass wir die Richtung in unserem Leben selbst setzen und es nicht nur passiv zubringen. Allerdings besteht auch die Gefahr, zu passiv zu sein; das würde uns aus der Tätigkeit ausschließen, es in der Welt zu etwas zu bringen. Besonders Menschen, die sich mit geistigen Praktiken wie etwa Meditation oder innere Arbeit an Bildern betätigen, können bei sich solche Passivität feststellen. Auch kann man entdecken, dass man eine völlige Trennung pflegt zwischen der aktiven und der empfänglichen Seite des Lebens. Das Ausführen der Tugend besteht darin, diese zwei Aspekte zueinander in enger Beziehung zu halten.
Wer auch wirklich daran arbeitet, zwischen Agieren und Empfangen eine Beziehung aufrechtzuerhalten, wird bei sich das Auftreten einer neuen Art der Ganzheit entdecken. Was wir tun und was wir empfangen, was zu uns kommt, indem wir einfach offen sind, das stellt sich nicht nur als miteinander verwandt, sondern als aus einem Stück bestehend heraus. Wann immer diese zwei Dimensionen auseinandergehalten werden, können wir gewöhnlich zwischen dem, was wir tatsächlich tun und dem, was zu uns kommt, nicht einmal eine Beziehung sehen, außer als zwei Ereignisse, die nebeneinander zu existieren scheinen. Wenn ich zum Beispiel hart arbeite und befördert werde, so kommt es mir so vor, wir wenn die Beförderung als Ergebnis der Tätigkeit gekommen wäre, in die ich mich hineingegeben habe. In dieser Art, die eigenen Errungenschaften nach Ursache und Wirkung zu denken, liegt keine Tugend. Wann immer ich aber ein solches Ereignis als Offenbarung einer Ganzheit ansehen kann – dass nämlich meine jahrelange Tätigkeit mich auf die rechte Empfänglichkeit vorbereitet hat und dass dann, wenn diese zwei Seelenfähigkeiten in ihrer jeweiligen Resonanz zu einander passen und miteinander mitschwingen, etwas Neues entsteht –, dann sind wir dabei, die Tugend ausführen.
Wir können uns darin üben, nicht nur auf den Inhalt unserer Tätigkeit aufmerksam zu sein, sondern auch auf den inneren, motivierenden Aspekt dieser Tätigkeit – das ermöglicht die nötige Ergänzung zu dieser Tätigkeit, nämlich die Empfänglichkeit. Und eine Steigerung dieser Ergänzung ist dadurch zu erreichen, dass wir uns auch darin üben, auf die Qualitäten der Kraft, die die Tätigkeit impliziert sowie auf die Auswirkungen derselben auf andere Menschen. So gewinnen wir Abstand zu einer Ursache-Wirkung-Mentalität und begeben uns stattdessen in ein ganzheitliches Bewusstsein hinein, in dem Tätigkeit und Empfänglichkeit zusammengehören und gleichzeitig verlaufen.
Letztere Einheit tritt dann ein, wenn wir übend die Aufmerksamkeit nicht nur auf das richten, was uns in einer Haltung der Empfänglichkeit kommt, sondern auch wenn wir uns darin schulen, auf die Qualitäten der Kraft aufmerksam zu sein, die von anderen und der Welt auf uns einwirken. Diese Eigenschaften werden stets ausnahmslos mit den Qualitäten unserer eigenen Tätigkeit intim verwandt sein. Das Universum und die irdische Welt sind eine Ganzheit. Wenn wir auf die Tugend des Gleichgewichts hin arbeiten, so wird diese Ganzheit zu einer reellen Erfahrung.
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