aus Die Macht der Seele. Wege zum Leben der Monatstugenden
von Robert Sardello
Die Tugend der Hingabe
(Devotion wird zu Opferkraft - Rudolf Steiner)
21. März - 20. April
Von allen Tugenden fällt es am schwersten die Hingabe nicht nur im Leben praktisch einzubringen, sondern auch zu beschreiben. Das Wort „Hingabe“ scheint ohne weiteres verstehbar. Was es heißt, jemandem oder irgendeiner Arbeit oder auch Gott hingegeben zu sein, wissen wir ja. Schwieriger wird schon der Versuch, zum Ausdruck zu bringen, genau was unter Hingabe zu verstehen ist.
Wir können Hingabe etwa als eine Liebe bezeichnen, die radikal treu und selbstlos am Wohl anderer orientiert ist. Die zur tatsächlichen Verwirklichung einer solchen Vorstellung erforderlichen seelischen Fähigkeiten sind aber mannigfaltig. Es ist nicht der Fall, dass wir uns einfach dazu entschließen, diese Tugend auszuprobieren. Es müssen vielmehr ganz bestimmte Seelenfähigkeiten entwickelt und zum Bewusstsein gebracht werden. Recht gefährlich sogar ist jeder Versuch, ohne klares Verständnis diese Tugend zu leben. Eine Hauptgefahr besteht im Selbstverlust, welcher die Hingabe in etwas Pathologisches verkehrt; kann auf der Ebene der Tugend das Verschenken der Liebe ja nur in Freiheit und vollem Bewusstsein vonstatten gehen. Geschieht dies nicht, so verkommt etwas, was anfangs der Hingabe ähnelte, zu einer sentimentalen Pietät, die sowohl dem eigenen Seelenleben als auch dem Seelenleben anderer schädlich ist.
Hingabe ist die Fähigkeit, sich auf jemanden ganz einzulassen, und zwar so, dass man mit ganzem Herzen ihm in allen Schichten seines Daseins die Aufmerksamkeit schenkt. Ferner kann man von Hingabe an ein Ideal oder sogar an eine Organisation sprechen; und auch die religiöse Hingabe kommt ohne Weiteres in den Sinn. Aber egal was oder wem man hingegeben ist: der Hingabe wohnt eine reelle Kraft inne. Sie ist feurig, heiß, impulsiv, sie kann sogar militant oder überstürzt erscheinen. Dieses Phänomen weicht von herkömmlichen, sentimentalen oder pietätvollen Vorstellungen eines still betenden oder Frieden oder Fürsorge ausstrahlenden Menschen erheblich ab. Wir mögen zwar eventuell so aussehen, wenn wir uns eines Menschen hingebungsvoll annehmen, aber das innere Leben der Seele ist dabei voller Feuer. Wir lodern mit Flammen der Hingabe. Vielleicht liegt es an einer Furcht davor, von der Hingabe verzehrt zu werden, dass wir in der Welt so wenig von ihr sehen. Eins ist aber sicher: mit Bezug auf die Hingabe als Tugend müssen wir obige herkömmliche Vorstellung fahren lassen und stattdessen lernen, das Feuer zu halten, ein adäquates Seelen-Gefäß zu bilden, welches die Intensität der Hingabe gleichzeitig sowohl fassen als auch zum Ausdruck bringen kann.
Hingabe kommt einem wie eine so stille Tugend vor. Vielleicht deshalb, weil sie das genaue Gegenteil von Stille ist. Sie ist so aktiv, so rastlos, so voller Kraft, dass wir sie mit einer Art Sentimentalität überzogen haben, um uns der Tiefe ihrer gewaltigen Realität nicht stellen zu müssen. Wir müssen daran arbeiten, uns in eine Empfindung der Hingabe hineinzufinden als Kraft von ungeheurer Gewalt, als lebendige Tätigkeit, als Handlung, als eine Tugend, die grundsätzlich durchdringt, hinausreicht, sucht, Ausschau hält, sich sehnt, anstatt innerlich, ganzheitlich und ruhig zu sein.
Sehen wir uns die urbildlichen Eigenschaften des Feuers an, um uns bezüglich der Hingabe anfänglich zu orientieren. Feuer stellt man sich immer als aktive Kraft, als die Urkraft des Willens und der Energie vor. Feuer zerstört und erneuert, verkohlt oder läutert, ist eine schöpferische und zugleich auch eine zerstörende Kraft. In der Alchemie ist die Verbrennung, auch Kalzinierung genannt, das erste von sieben alchemischen Verfahren, die zum hochgeschätzten Stein des Weisen führen. Bei der Kalzinierung wird ein fester Stoff erhitzt und verpulvert, um Wasser und andere unbeständige Stoffe auszutreiben. Psychologisch betrachtet ist der wegzuverbrennende „feste Stoff“ unser Ego. Die Handlung der Hingabe stellt uns in das Feuer hinein, das die Essenz von den Schlacken scheidet. Wenn unser Ego unter Feuer steht, so werden wir ausladend, explosiv, störend und impulsiv.
Aber vielleicht sind diese Eigenschaften als der erste Schritt zu einer Einweihung in die Hingabe anzusehen. Ein ausladendes Verhalten sieht alles andere als hingebungsvoll aus, aber das liegt nur daran, dass zunächst eine solche Kraft wie die Hingabe nur schwer zu greifen ist; es fliegen die Funken in alle Richtungen. In den allerersten Phasen sieht die Hingabe tatsächlich so aus wie das Ausweiten von Ego in die Welt hinein. Und in der Tat: die Möglichkeit der Hingabe ist mit Leichtigkeit zur reinen Ego-Ausweitung zu entgleisen. Ein Beispiel:
Die Möglichkeit einer Entfaltung der Hingabe beginnt häufig mit irgend einer Leben verändernden Erfahrung, dem Einschlagen eines neuen Kurses, einem Neubeginn. Es lässt sich etwa ein Mensch vorstellen, der eines Verbrechens verurteilt und dem eine Haftstrafe auferlegt wird, obwohl er das Verbrechen nicht begangen hat. Während des Freiheitsentzugs studiert dieser Mensch Jura und wird schließlich Anwalt mit dem Anliegen, anderen zu helfen, die zu Unrecht verurteilt und entsprechend behandelt wurden. Ein solcher Mensch kann sehr wohl zu dieser Arbeit Hingabe entfalten. Es lässt sich ferner denken, dass dieser Mensch ein sehr guter Anwalt wird, viel Geld verdient und große Anerkennung erhält. Was als Ideal anfing und zu hingebungsvoller Arbeit wurde, kann an dieser Stelle zur bloßen Ego-Erweiterung werden, zu einem Egotrip, der von einer Arbeitssucht gekennzeichnet ist, die nur so aussieht wie Hingabe.
Eine hingebungsvolle Absicht muss um die Tugend der Gelassenheit ergänzt werden. Ohne den stabilisierenden Einfluss der Gelassenheit hat die Hingabe wenig Chance über ihre anfängliche feurige Phase hinzuauskommen. Bei der Gelassenheit geht es um das Gleichgewicht zwischen den Bemühungen, die wir einer Aufgabe entgegenbringen, und der Erkenntnis, dass egal was wir unternehmen oder wie hart wir arbeiten, es eine Frage der Gnade ist, was wir am Ende zustande bringen. Die Fähigkeit, die Gegenwart der Gnade, das Begnadet-Sein durch die Hilfe aus der geistigen Welt zu fühlen, vermag es, das intensive Feuer der Hingabe abzukühlen. Die Gewalt eines solchen aus der Hingabe hervorgehenden Kraftaufgebotes kann einen Burn-Out verursachen und auch kann der ursprüngliche Inspirationsquell der Hingabe verlorengehen, wenn diese ausgleichende Gelassenheit nicht fühlbar mit anwesend ist.
Die Handlung der Hingabe beginnt beispielsweise mit einem Ideal, mit etwas, dem wir unsere ganze Energie zuwenden. Hier ist der Keim der Hingabe ohne weiteres zu erkennen. Die Gefahr liegt aber darin, dass zu Beginn das Ideal fast ausschließlich als von Kopf- oder Verstandeskräften getragene Vision dasteht, die des nötigen Willens wie des Gefühls entbehrt, um sie in eine Wirklichkeit umzusetzen. Damit der ursprüngliche Impuls zu einer beständigen Hingabe werden kann, muss etwas eingreifen, durch das die lebhafte Kraft gefasst und die Impulsivität verwandelt werden kann.
Kann zur Gelassenheit gefunden werden, so kann das Ideal zur Reife kommen. Aber selbst wenn dieses Gleichgewicht hergestellt würde, so würde nicht automatisch die Hingabe erfolgen. Das Gleichgewicht ermöglicht lediglich die Erweiterung des Ideals bis dahin, dass anfängliche Schritte zu dessen Verwirklichung getan werden können.
Wenn wir uns von irgendeinem Ideal angesprochen fühlen und hingebungsvoll an dessen Verwirklichung zu arbeiten beginnen, so kommt ein Verbrennungsprozess in Gang und es tritt die Möglichkeit auf, dass die Hingabe entgleist und zum Egoismus wird. Wenn man Hingabe fühlt, so deutet das auf die Erzeugung von viel Wärme hin, was wiederum viel Willenskraft, Liebe, Konzentration und Energie bedeutet. Diese anfängliche Wärme hat aber in der Kopfregion ihr Zentrum und hat daher eine starke Ego-Beteiligung. Diese ist es, was es zu verbrennen gilt, soll das Ideal nicht bloß einem selbst, sondern anderen Menschen dienen. Wenn das Ideal nur der eigenen Selbsterhebung dient, so kann es zur Entstehung eines Verhaltens kommen, das so aussieht wie Hingabe, aber keine ist. Die Möglichkeit der Hingabe verkehrt sich in solchem Falle in bloßen Ehrgeiz, in eine in den verschiedenen Berufen ständig zu beobachtende Rückentwicklung. Die Menschen beginnen mit hohen Idealen, die in hingebungsvolles Dienen an anderen und der Welt verwandelt werden können: ein Medizinstudium, ein Jurastudium, ein Postgraduiertenstudium oder Ähnliches. Am häufigsten kommt es aber vor, dass sich in den Idealismus eine gute Portion Egoismus einmischt, mit dem Ergebnis, dass „Professionalismus“ einsetzt und das Geldverdienen, der Ruf, der berufliche Stand und der Berufsaufstieg die oberste Priorität bekommen.
Wenn wir erkennen, wie es zur Degradierung der Hingabe kommt, so öffnet uns diese Erkenntnis den Weg zu einem weiteren Erkunden der Tugend und hilft uns auch zu verstehen, wie es so leicht zu ihrer Entgleisung kommen kann. Die „Professionalisierung“ der Berufe tritt nämlich dann ein, wenn durch äußere Ordnung und Strukturen eine Begeisterung entfacht wird, die zur zügellosen Rigorosität führt. So kann der die Hingabe ursprünglich stiftende seelische Sinn und Zweck sublimiert und in enge Strukturen eingespannt werden, welche die Schwungkraft der Hingabe zwar nützen, sie aber von ihrem wahren Anliegen entfremden.
Wenn wir den Impuls spüren, unser Leben an unsere Arbeit – etwa die Medizin, das Lehrersein, das Dienen – hinzugeben, fühlen wir diesen Impuls oft so stark, dass wir unser Leben völlig verändern, um einem solchen Impuls zu folgen. Wir wollen anderen unsere Hilfe bieten. Wenn wir dann den Weg ins eigentliche Arbeiten hineinfinden, so treffen wir häufig auf stark institutionalisierte Strukturen. Diese Strukturen dienen zwar vorgeblich dazu, unsere Handlungen der Hingabe zu legitimieren, aber sie lenken sie oft ab. Mit der Tugend an sich muss einhergehen, dass ihr die Treue gewahrt wird, ohne sie je aus dem Auge zu verlieren. Die beiden Aspekte sind nicht zu trennen. Das heißt, die Hingabe besteht nicht nur im Ausgangsentschluss, sondern auch im Finden der zur Aufrechterhaltung jenes anfänglichen Engagements nötigen inneren Ressourcen. Komme was wolle. Wir müssen der Hingabe selbst hingegeben sein, sonst geht sie verloren.
Allzu oft gehen wir unserem Ideal bloß nach und lassen machtlos zu, dass es ausbrennt. Stattdessen sollte man vielleicht den Gegenstand der Hingabe zunächst einmal zurückstellen und versuchen, dem Feuer selbst näher zu kommen. Gesetzt den Fall, ich empfinde den starken Impuls, einen Berufswechsel vom Börsenhändler zum Suchtberater zu machen: welcher Qualität ist dieser Impuls? Anstatt überstürzt mich über Ausbildungsmöglichkeiten, das Sichern eines Praktikumsplatzes und den Aufbau einer Praxis zu informieren und alsdann den Entschluss zu fällen, diese neue Richtung anzustreben, werde ich lange Zeit den Impuls selbst betrachten.
Wir erfahren rasch, dass dieses den Impuls kennzeichnende Feuer in der Tat das Feuer der Liebe ist. Egal was wir lieben, wir idealisieren es; und egal was wir idealisieren, dem fühlen wir uns hingegeben. Es handelt sich hier aber um eine bestimmte Form der Liebe, um eine nämlich, die ein reines, im Kopf als Ideal beginnendes Feuer ist, und nun gilt es, um ein Verständnis dieses Feuers zu ringen und so für die Tugend der Hingabe ein besseres Gespür zu bekommen. Normalerweise wissen wir nicht, wie es zur Entstehung eines bestimmten von uns gehegten Ideals kommt. Wir mögen diesem Ideal zwar in unserer Familie oder in der Kirche oder im Laufe unserer Schulbildung ausgesetzt worden sein. Dieses Ausgesetztsein an sich erklärt aber nicht das verhältnismäßig seltene Vorkommen von Menschen, die eine idealistische Sichtweise tatsächlich aufgreifen. Ein Ideal hat nämlich eine instinktive Grundlage, sonst entbehrt es sowohl der Kraft als auch der Stärke und ist stattdessen weiter nichts als ein Leben aus dem Ideal eines anderen Menschen heraus. Ich spreche von der hier erwähnten Grundlage deshalb als ‚instinktiv‘, weil wir nicht wissen, warum etwas unsere Aufmerksamkeit so stark packt und sie nicht loslässt. Das Ideal scheint einfach aufzutauchen. Es hat allerdings, zusätzlich zur ideellen Seite, auch einen starken körperlichen Aspekt, und so ist das Ideal eben auch ein Impuls. Wir fühlen uns zu diesem Ideal hin gedrängt, gezogen, geschoben, ja beinahe gezwungen. Die instinktive Basis des Idealismus und folglich auch der Hingabe kann sich aber leicht zum Niedrigen wenden, somit kann die Hingabe fehlgehen. Diese Art eines Abgleitens tritt gerne dann ein, wenn nicht gleichzeitig mit der Impulsivität auch eine innerliche, reflexive, lenkende Seite des Ideals geweckt wird.
Bekommen wir es hin, vorübergehend darauf zu verzichten, die Aufmerksamkeit ausschließlich auf den Gegenstand unseres Idealismus zu richten, so können wir einen der Hingabe zugehörigen Faktor entdecken, der zur Impulsivität des Idealismus die Möglichkeit eines reflektierenden Ausgleiches beitragen kann. Es gibt außer der Aggressivität, der Stärke und Herzhaftigkeit der Hingabe eine weitere, verborgenere seelische Eigenschaft, zu der wir notwendig in Kontakt treten müssen: Auch eine merkuriale, reflexive Qualität begleitet den Drang hin zur Hingabe, wenngleich auf einer feineren, unsichtbaren Ebene. Diese merkuriale Eigenschaft ist es, zu der wir als zu einer Helferin hinblicken können, wenn wir den Schritt von unserem anfänglichen Idealismus zu ausgedehnten Handlungen der Hingabe wagen. Vielleicht bilden wir uns ein, wir wüssten, um was es bei unserem Idealismus geht. Und gewöhnlich meinen wir auf jeden Fall, dass er lediglich irgendeinem von uns angestrebten äußeren Ziel gelte. So wir schicken uns dazu an, dieses Ziel zu erreichen und lassen über uns alles ergehen, was es von uns verlangt. Es könnte zum Beispiel jemand einen starken Impuls spüren, anderen Menschen zu dienen. Dieser Idealismus könnte sich dann wegen der Fähigkeiten, der Biographie und Lebensumstände dieser Person etwa darauf richten, Arzt zu werden und anderen zu helfen. Ist das Ideal – in diesem Fall Arzt zu werden – einmal bekannt, so erfordert es Jahre und Jahre des Studierens, ein bestimmtes intellektuelles Vermögen, den Wunsch, alle Belohnung auf lange Zeit zurückzustellen, usw.
Über lange Zeit fließt der Idealismus in das bestimmte Ziel hinein und bringt die nötigen Opfer. Das alles aber, so erforderlich es auch ist, um Arzt zu werden, lässt nicht zwingend den Idealismus zur Tugend der Hingabe heranreifen. Die Möglichkeit einer Entfaltung der Hingabe ist nur dann gegeben, wenn irgendwann auf dem erwählten Pfade dieser Mensch sich zurückbesinnen und sehen kann, dass nicht das Arztwerden das eigentliche Ideal war, sondern dass das Arztsein weiter nichts war als das Mittel, um sich in den Dienst an den Menschen zu begeben. Findet diese Besinnung nicht statt, so wird dieser Mensch entweder das Medizinstudium abbrechen oder aber in solche Strukturen des Berufslebens aufgehen, welche keine Hingabe an den Beruf voraussetzen.
Damit Idealismus zur Hingabe heranreifen kann, muss man das Element des reflektierenden Denkens in diesen feurigen Drang einflößen. Der feurige Drang nach dem Vollbringen von etwas Bedeutungsvollem projiziert ein verfolgenswürdiges Ideal vor sich hin und es ist so, als wenn wir unseren Idealismus und einen Drang zur Hingabe hin fühlen würden, noch bevor wir wissen, wem bzw. was unsere Hingabe überhaupt gelten soll. Was wir für das Ziel unserer Hingabe halten ist stets nur das Mittel, durch das die Hingabe zum Ausdruck kommt. Das reflektierende Denken allein reicht aber nicht aus, um die Verwandlung des Idealismus in Hingabe zu vollbringen. Es bedarf ferner sowohl bestimmter Gefühlsqualitäten als auch bestimmter Willenseigenschaften.
Die Gefühlseigenschaft der Hingabe besteht darin, mit ganzem Herzen auf etwas eingestellt zu sein, was weitgehend im Bereich des Unbekannten liegt. Diese besondere Gefühlseigenschaft lässt sich sogar noch klarer spezifizieren: Hingabe besteht im intensiven Gefühl einer unerschütterlichen Liebe. Warum wir aber die Hingabe fühlen, das ist etwas Geheimnisvolles und bleibt größtenteils unerkannt. Daher kommt es, dass wenn damit begonnen wird, die Hingabe als Idealismus in Gang zu bringen, dieses Beginnen in die Reflexion geführt und die Reflexion dann erst ins Fühlen hinein vertieft werden muss. Wenn die Hingabe sich nicht so oder ähnlich entfaltet, so ist sie ein momentanes Verliebtsein oder eine Sucht oder eine bloße Romantik, von denen nichts überdauern kann.
Dieser Umweg ins Herz der Hingabe hinein ist notwendig; bietet doch ein sorgfältiges Befolgen desselben die einzige Möglichkeit, irrige Auffassungen dieser Tugend zu vermeiden. Solche vorgefassten Meinungen können nur entweder eine sentimentale Vorstellung der Hingabe als süßer Friede oder aber die völlig zynische Auffassung sein, wonach der aus Hingabe Lebende die eigene Existenz in törichter Weise zugunsten eines anderen respektive irgend eines Ideals aufgibt, von dem man nichts hat.
Der Weg zur Hingabe beginnt zwar mit dem Vorrang eines impulsiven Idealismus, aber er verändert sich drastisch, und was dann den Vorrang bekommen muss, das ist ein starkes Herzensgefühl des Orientiertseins an etwas Wahrem, wenn auch Unbekanntem. Diese Eigenschaft der Liebe ist anders als alle anderen Arten der Liebe. Nicht alle Liebe orientiert sich am Unbekannten. Mit der Hingabe aber gelangt die Liebe zur Gegenwärtigkeit und zur Stärke, noch ehe wir in der Lage sind, das zu begreifen, was wir lieben; diese Qualität ist für die Hingabe unerlässlich.
Die Willenskomponente der Tugend der Hingabe besteht darin, unser Leben an dem starken Gefühl einer nicht ganz verstandenen Liebe tatsächlich auszurichten und aus diesem Gefühl heraus etwas zu tun. Dieses Gefühl führt uns ins Unbekannte hinein, und hier erscheint das Denken einmal wieder, allerdings in neuer Weise: Wir beginnen uns tief hineinzudenken in das, worauf wir uns so innig eingelassen haben. Es geht uns ein Selbstbewusstsein der Tiefe und des Geheimnisses dessen auf, was wir tun. Wir können es zur Entdeckung bringen, dass die zentralste Dimension der von uns nunmehr gelebten Hingabe darin besteht, dass wir zum Ewigen hingezogen werden, und unsere Seele sehnt sich danach, sich mit diesem Ewigen zu vereinen. Wir entdecken, dass aber das Verlangen nach dem Ewigen durch die Dichtigkeit, das schwer zu Durchdringende der Welt hindurchgehen muss, dass dies das liebevolle Hingegebensein an jemanden oder eine Sache oder irgendeine Realität voraussetzt und dass alle Sehnsucht nach dem Ewigen, die sich über das schwer Durchdringbare der Welt hinwegsetzt, fahrig, flüchtig, kurzlebig ist oder dass ihr jede Basis im Leben der Seele abgeht.
Rückblickend auf die komplexe Handlung, sich auf die Tugend der Hingabe einzulassen, stellen wir fest, dass zwei gleichzeitige Bewegungen an ihr unumgänglich beteiligt sind: Eine Stärkung des inneren Lebens und zugleich eine Bewegung in die Welt hinaus, um etwas Dienendes zu tun. Wir müssen das innere Leben so stärken, dass es radikal offen und flexibel bleibt und nicht in die Härte des Egoismus hineinverfällt. Und indem wir uns in die Welt hinausbewegen, müssen wir dies so tun, dass sich die Seele dort nicht verliert. Der in der Liebe lebende und an der Liebe orientierte Wille muss gestärkt werden, sonst verlieren wir uns in ungesunder Weise im Dienen, dem wir uns hingeben. So könnte es zum Beispiel vorkommen, dass wir uns über Jahre unserer Arbeit hingeben und es soweit bringen, dass wir nicht mehr wissen, wer wir sind und tatsächlich keinen inneren Sinn mehr für uns selbst haben außerhalb unserer Arbeit. Das wäre eine ungesunde Hingabe.
Eine gesunde Hingabe geht stets mit Denken einher. Es muss eine Entschlossenheit vorhanden sein, über das Objekt der Hingabe nachzudenken, dieses Objekt tief zu betrachten. Dieses Denken ist allerdings nutzlos, solange es problemorientiert verläuft. Es kann sich nicht um ein Denken handeln, das immer und immer wieder sagt, Warum bin ich dieser Arbeit, dieser Person, diesem Dienst hingegeben. Es kann sich nur um ein schöpferisches Denken, das heißt, um eine beständige Arbeit handeln, die darin besteht, das Element der Reflexion in die Handlung der Hingabe hineinzutragen. Dieser Denkmodus ist eine Art des Zeugens. Wir bilden die Fähigkeit, die Handlung selbst der Hingabe zu bezeugen, und dieses Zeugen wiederum wird Teil der Hingabe.
Wenn schöpferisches Denken nicht zum Wesenskern der Hingabe wird, so wird Liebe zum sentimentalen Enthusiasmus. Mittels eines sentimentalen Enthusiasmus aber ist die Arbeit in der Welt nicht zu vollbringen, die von der Hingabe verlangt wird. Es käme dabei heraus, dass die Arbeit – egal wem oder was wir uns so stark hingeben – zu einer Plackerei wird, die lose mit einer verträumten Empfindung verbunden wäre, diese Arbeit müsse irgendwie ein Dienst an anderen und der Welt sein. Ein Leben in dieser Weise im Zustand eines sentimentalen Enthusiasmus’ ist für die Seele hochgefährlich, denn unter solcher Bedingung sind wir am meisten in Gefahr, zum Werkzeug der Begeisterung anderer zu werden, welche als Surrogat für unsere eigene schwache Hingabefähigkeit eintritt.
Wir kommen also zur überraschenden Schlussfolgerung, dass die Fähigkeit des schöpferischen Denkens in der Praxis der Tugend der Hingabe eine äußerst wichtige Rolle spielt. Hingabe scheint zunächst in keiner Weise mental zu sein. Auch will ich nicht nahe legen, dass das schöpferische Denken dasselbe ist wie das gewöhnliche Denken oder dass es überhaupt etwas Mentales sei. Das in der Beschreibung der Tugend der Hingabe geschilderte Denken ist etwas, was Leib, Seele und Geist durchdringt. Wir sind so daran gewöhnt, uns das Denken als ein Denken über etwas vorzustellen, dass das Wesen eines die Hingabe kennzeichnenden merkurialischen, hermetischen Denkens, hier ausdrücklich unterstrichen werden muss. In der Hingabe ist unser Denken ein liebendes Durchdrungensein vom Geist dessen, dem wir hingegeben sind.
Man kann ein Bild der in dieser Darstellung bisher ausgeführten Tugend der Hingabe in der religiösen Hingabe finden. Unser gegenwärtiges Interesse richtet sich aber auf die Gebärde der Hingabe; es gilt vielmehr, das zu sehen, was in der religiösen Hingabe als Urbild lebt. Bei diesem Urbild handelt es sich um etwas, was nicht auf die Formen beschränkt ist, die wir in der Religion finden, sondern was in vielerlei Weise in der Welt zum Ausdruck kommt: Hingabe als Handlung des „Hinaufschauens“. In der Hingabe beugen wir die Knie, falten die Hände und sehen zum Verehrten hinauf. Jeder, der eine Kirche betreten und an solchen Gebärden teilgenommen hat, entdeckt sofort etwas.
Das Heilige ist nicht sofort da, wenn wir uns demütigen. Diese Gebärden wirken so, dass sie Gefühle, Impulse und Gedanken an die Oberfläche fördern, die nicht das Geringste mit diesen Gesten der Devotion zu tun haben. Wir vollziehen eine Körperbewegung, welche das gewöhnliche Ego unterwirft; die Gebärden sagen sinngemäß „Es gibt jemand, der viel erhabener ist als ich selbst, dem ich die höchste Ehre erweise.“ Es ist hoch interessant, dass mit diesen Gebärden nicht als Erstes die Bilder dieses heiligen Anderen zum Bewusstsein kommen, sondern dass es die eigenen Komplexe, Phantasien, Bilder, der eigene Schatten sind, die aus den unter- und unbewussten Regionen der Seele hervorquellen.
Auf die Unterwerfung des gewöhnlichen Egos erhalten wir von dem, dem wir unsere Verehrung schenken sofort eine Antwort. Es ist aber nicht so, dass die unter- und unbewussten Regionen rebellieren und sich in Form einer Attacke behaupten würden. Der, den wir verehren, erleuchtet vielmehr unser Sein, hellt es auf, sodass wir zumindest einigermaßen vor der Fülle dessen stehen, was wir sind. Eine streng religiöse Auffassung der Ausgießung der Regionen, derer wir uns gewöhnlich nicht bewusst sind, würde höchstwahrscheinlich dieses Aufwallen von Impulsen, Leidenschaften, Phantasien und dergleichen für eine Versuchung halten – für eine Versuchung, der daran gelegen ist, uns vom Heiligen fernzuhalten. Eine seelische Auffassung würde es nicht so sehen. Das mit-Einbegreifen der Fülle dessen, was wir sind, ist ein zentraler Aspekt der Handlung der Hingabe; dieses mit-Einbegreifen wandelt die Vorstellung der Hingabe als religiöse Pietät – in der Süße gegen mächtige Hässlichkeit im Streit liegt – in eine Hingabe um, die mit der Kraft der Imagination ausgestattet ist.
Diese Vorstellung der Gebärde der Hingabe und die Vorstellung der Art, wie diese Gebärde die in uns tieferliegenden Bereiche hervorholt, zeigt, dass die Hingabe uns nicht nur auf das „oberhalb von uns“ Liegende aufmerksam macht, sondern auch darauf, was unterhalb von uns liegt. Wenn wir uns dazu anschicken, uns aktiv mit der Tugend der Hingabe auseinanderzusetzen, so bricht die Hölle los, könnte man sagen. Das gewöhnliche Denken würde sagen: „Halte dich von den unteren Regionen fern; orientiere dich vollständig an den höheren Reichen.“ Das schöpferische Denken sagt: „Die wahre Gewalt und Kraft dessen, was oben ist, zeigt sich dir in Bildform durch das, was so stark von unten kommt; halte diese zwei so lange zusammen, bis sie eins werden.“
Nur das schöpferische Bewusstsein vermag es kraft seines fließenden Charakters, kraft seines Daseins als eine Form des nicht kategorisierenden, das Eine nicht vom Anderen abschneidenden Bilderbewusstseins, diese Spannungen in der Wahrnehmung zusammenzuhalten, dass das eine Reich eine Widerspiegelung des anderen ist. Unter Bilderbewusstsein verstehe ich die bei seriöser Hingabe aufwallenden Bilder und Impulse, die symbolisch und nicht wortwörtlich zu nehmen sind. Wenn ich mit meinem Partner eine starke Verbindung habe, so kann es zum Beispiel vorkommen, dass ich das Erscheinen starker Bilder einer Neigung zu jemand Anderem feststelle. Solche Bilder sind nicht wörtlich zu nehmen – sie bedeuten nicht, dass ich die phantasierte Person wirklich liebe. Die Bilder offenbaren lediglich die Stärke der Hingabe.
Es ist die Gebärde selbst, die Gebärde des Niederkniens (die nicht wortwörtlich zu sein braucht; sie kann auch eine innere Gebärde sein), was unser schöpferisches Denken erzeugt. Echt schöpferisches Denken lässt sich nicht von uns intentional in Gang bringen. Wir können höchstens etwas tun, was die Möglichkeit seiner Erscheinung eröffnet. Wir verneigen uns und schauen nach oben, laden dabei das Heilige aus den Höhen zu uns ein. Zu gleicher Zeit ist die Gebärde ein Hinneigen nach den unbekannten Tiefen in uns darinnen, eine Handlung des Ehrens dieser Tiefen.
Es gibt einen weiteren, uns das Wesen der Hingabe mitteilenden Aspekt des schöpferischen Denkens. Schöpferisches Denken ist dasselbe wie das Denken in Bildern. Wann immer wir uns auf die Gebärde des Unterwerfens unseres Egobewusstseins einlassen, so schließen wir zugleich auch das Bilderbewusstsein auf. Die Kräfte von oben strömen herein und die Bilder von unten erheben sich. Die Aufgabe im Ausbilden der Tugend der Hingabe besteht darin, diese zwei Strömungen zu einem einzigen zu vereinen. An dieser Stelle ist es notwendig, das Wesen des Bild-Denkens zu begreifen. Ein richtiges Verständnis – eines, das das Wesen dessen berücksichtigt, was soeben gesagt wurde, dass nämlich dieses Bewusstsein das „oben“ mit dem „unten“ zusammenhalten muss – zeigt zunächst, dass das Denken in Bildern mehr ist, als sich bloß den Vorstellungsbildern zu stellen, die von unten ins Bewusstsein emportauchen.
Ferner müssen wir das kennzeichnen, was in der Gebärde der Hingabe von „oben“ hereinströmt, um uns dann eine Synthesis beider vorstellen zu können. Es ist viel schwieriger von dem zu sprechen, was von oben hereinströmt, denn es hat keine Form. Es reicht nicht ganz zu sagen, es sei ein Gefühl für Gott oder für irgendeine geistige Realität; das ist zu abstrakt gefasst. Das Gefühl selbst ist ein Gefühl der reinen Ehrfurcht. Es ist die Gegenwart des Unaussprechlichen, des Unbekannten, des Heiligen, womöglich des Lichtes, der Wärme und eigentlich des Wesens der Liebe.
Das Wesen der Hingabe, so ließe sich sagen, besteht im Unterwerfen des Egobewusstseins und der Art des Denkens, die zu diesem Bewusstsein passt – ein distanziertes Bewusstsein, ein „Denken über“ die Gegenstände, ein kategorisierendes, funktional praktisches, manipulatives – dem meditativen Bewusstsein, in welchem das, worüber wir nachdenken, im warmen Licht der Liebe und der Seelentiefe unseres Wesens gebadet wird. In der Hingabe denken wir mit dem Thema unseres Denkens, statt über es.
Diese Art des Denkens kann man auch Intuition nennen, aber es handelt sich dabei um ausgedehnte Intuition, nicht bloß um das von diesem Ausdruck bezeichnete momentane Aufleuchten.
Beim Zurücklegen des Weges zu einer Auffassung der Hingabe als Haltung, die wir im täglichen Leben einnehmen können, haben wir uns von der Hingabe als religiöse Pietät ziemlich entfernt. Wenn wir einer anderen Person oder unserer Arbeit hingegeben sind, so heißt das, dass inmitten der praktischen Aspekte dessen, was wir tun, wir gleichzeitig daran arbeiten, eine andere Stufe des Bewusstseins gegenüber dem zu entwickeln, was wir tun. Bin ich zum Beispiel der Medizin hingegeben, so würde das bedeuten, dass während ich wissenschaftliche Kenntnisse und Techniken beherrschen muss, ich mich gleichzeitig etwas Größerem, Umfassenderem, Geheimnisvollerem unterordne; und dass ich das in bewusster Weise tue. Ich werde mir schrittweise dessen bewusst, dass ich nicht der Medizin an sich, sondern durch die Medizin – als Vehikel – der ganzen Unermesslichkeit der Äußeren und inneren Welt hingegeben bin. Habe ich das einmal erkannt, so beginnt mir dann die Verbindung des Sichtbaren mit dem Unsichtbaren aufzugehen. Dann wird sogar das allereinfachste medizinische Verfahren nicht aus der Einzelfähigkeit des Egobewusstseins ausgeführt, sondern im Verein mit einer Empfindung für die Anwesenheit eines Heiligen.
Wäre wohl jemand, der in dieser ehrfurchtsvollen Weise die Medizin ausübt, die Sorte Arztes, von dem Sie sich gerne vorsorgen lassen würden? Würden Sie sich vielleicht lieber jemandem anvertrauen, der sich ausschließlich auf Fachkenntnisse und technisches Können verlässt? Kommt Ihnen diese Vorstellung der Hingabe nicht ein Wenig unorthodox vor?
Erstens würde ein Mediziner, der so lebt, dass er die Tugend der Hingabe ins Zentrum seines beruflichen Tuns rückt, höchstwahrscheinlich schon gar nicht über Hingabe reden. Diese Art des Bewusstseins ist zwar nachsichtig und besonnen, aber sie tritt eher als Stil, als Verhaltensweise denn als Ideologie zum Vorschein. Es wäre allerdings weise, den Mediziner zu meiden, der es nötig hätte, über seine Beschäftigung mit der Hingabe zu sprechen. Ferner besäße derjenige, der die Tugend der Hingabe lebt, tatsächlich ein ebenso großes technisches Können als einer, der sich auf die üblichen Erkenntnismethoden verlässt. Die Hingabe so, wie sie hier ausgeführt würde, trennt sich nicht von den Details des alltäglichen Lebens.
Vor mehreren Jahren musste ich mich einer umfangreichen zahnärztlichen Behandlung unterziehen. Mir wurde eine nahe gelegene Zahnarztpraxis anempfohlen. Der Zahnarzt arbeitete im technischen Sinne vorzüglich. Und obzwar er ein Betäubungsmittel verwendete und sich einer Gerätschaft bediente, die auf dem neusten Stand war, war es während er mein Gebiss bearbeitete so, als hätte ein Automechaniker zu meiner Mundhöhle den Zugang erhalten. Hinterher, sehr lange Zeit, tat es mir innen im Mund sehr weh, und ich war ziemlich lange krank, was anscheinend auf die hohe Dosierung der eingesetzten Betäubungsmittel zurückzuführen war.
Etwa vier Jahre später musste ich erneut mich vom Zahnarzt behandeln lassen, und zwar mitten während des Reisens. Ich wurde an einen mir völlig fremden Zahnarzt verwiesen. Er war ein sehr interessanter Mensch. Er hatte erfahren, dass ich Psychologe bin und mich für spirituelle Angelegenheiten interessiere, und so begann er völlig spontan von der inneren Arbeit zu sprechen, die er selbst machte. Nicht nur hatte dieser Zahnarzt die Bildung im eigenen Beruf, sondern auch seine Selbstbildung fortgesetzt. Ferner war es nicht sich selbst zu Liebe, dass er sich mit Seelenarbeit beschäftigte. Er war sich der Art und Weise lebhaft bewusst, in der solche Arbeit die Ausführung seines Berufes verändert. Die Zahnarzthelferin, ja sogar die Sprechstundenhilfe schien etwas auszustrahlen; nichts mit einem „New-Age“-Anstrich, sondern einfach ein stilles Leuchten. Auch dieser Zahnarzt bewies ein großes Können.
Ich merkte aber während er arbeitete – den einen Zahn zog er, beim anderen nahm er eine Wurzelkanalbehandlung vor – dass ich gar nichts von dem Eindruck spürte, den ich beim vorigen Zahnarzt gehabt hatte. Es fühlte sich nicht so an, als würde mir jemand mit einem Schraubschlüssel, einem Hammer, einem Schraubenzwinger herumhantieren. Was noch interessanter war: hinterher spürte ich nicht nur keinen Schmerz, sondern ich hatte sogar eine erhöhte Energie. Von diesem Zahnarzt würde ich sagen, dass er seiner Arbeit hingegeben war. Aus der Perspektive eines Zuschauers würde der Unterschied zwischen den zwei Zahnärzten vermutlich nicht sichtbar sein. Beide verwendeten die gleichen Verfahren, die gleiche Gerätschaft, die gleichen Medikamente. Und dennoch war zwischen ihnen ein absolut handfester und reeller Unterschied.
Ich finde den Gedanken faszinierend, dass ein Zahnarzt, der über seine Stellung im Kosmos nachdenkt, der seine Träume erforscht, der sich darüber Gedanken macht, wie diese Art der Aufmerksamkeit in die Ausführung seines Berufes hereingetragen werden kann – dass so ein Mensch etwas in die Welt hineinsetzt, was vom bloß technisch sich verhaltenden Zahnarzt nicht ausgeht. Hingabe ist keine reine Privatsache; sie bewirkt tatsächlich etwas in der Welt.
Die Wirkung der Hingabe in der Welt, von der in der Geschichte des Zahnarztes erzählt wird, hat nicht nur damit zu tun, dass ich weniger Schmerzen und minimale Nachwirkungen erlebte. Diese Wirkungen sieht man sogar besser als Nebenwirkungen an, denn der Sinn davon, in dieser hingegebenen Weise zu arbeiten, besteht nicht im Erzielen eines bestimmten Ergebnisses. Der Sinn der Hingabe ist es, eine bewusste Orientierung der Seele herzustellen, die zwischen dem Oben und dem Unten fließend sich bewegt und dabei das Reich dazwischen, die Welt unserer tagtäglichen Bemühungen, als den Ort ihres Zusammenfließens begreift. Zwar sagte ich oben, dass aus der Zuschauerperspektive die Funktionsweisen der zwei Zahnärzte gleich erschienen, aber diese Aussage kann doch nicht hundertprozentig zutreffen. Sichtbare, wenn auch kaum wahrnehmbare Unterschiede muss es geben. Man gestatte mir den Versuch einer Beschreibung der Handlungen des hingegebenen Zahnarztes, aus der die Gebärde der Hingabe hervorgeht.
Erstens war alles völlig professionell, was der Zahnarzt und die ihm assistierenden Personen ausführten. Es war ganz bestimmt kein Unterschied festzustellen zwischen seiner Praxis und jeder anderen. Die dort ausgeführte Zahnmedizin lässt sich nicht als „alternative Zahnmedizin“ bezeichnen. Aber schon im Moment, in dem ich das Wartezimmer betrat, fühlte ich mich beehrt, und zwar nicht nur als Kunde. Die Art, wie die Sprechstundenhilfe redete, berührte die seelische Ebene. Kein spezifischer Inhalt dessen, was sie sagte, war anders, als was man an irgendeinem anderen Schalter zu hören bekommen hätte. Dennoch würde ich sagen, dass sich meine Seele willkommen geheißen fühlte.
Während ich wartete war der Grad der Angst, die gewöhnlich solches Warten kennzeichnet, fast unwahrnehmbar. Dann rief die Zahnarzthelferin mich zum Behandlungsraum. Auch der Raum war nicht anders als bei jedem anderen Zahnarzt. Es rieselte zum Beispiel keine süße Musik aus Lautsprechern, nichts Äußerliches, um mich in einen träumerischen Zustand hineinzuversetzen. Aber auch hier fühlte ich mich nicht wie ein Auto, das gerade in die Werkstatt geführt wurde, sondern wie ein Mensch, und das war auf die Wesensart der Assistentin zurückzuführen. Diese Art würde ich als desinteressiertes Interesse beschreiben. Mit diesem merkwürdigen Ausdruck meine ich, dass mir eindeutig Interesse entgegengebracht wurde, dass es aber kein aufgesetztes Interesse war. Es war vielmehr ein warmes Interesse, das sich hauptsächlich auf den Grund richtete, weshalb ich hier war, das aber mehr war als ein bloßes Interesse für meinen Mund.
Als der Zahnarzt hereinkam, war dieselbe Eigenschaft, wenngleich auf etwas intensivere Weise, anwesend. Er ging geradeheraus an seine Arbeit. Was mich am meisten erstaunte war, dass er sich auf eine Reihe komplexer Handlungen einlassen konnte, ohne jemals die volle Anwesenheit vor der Gesamtsituation – die ja mich als Person mit einschloss – zu verlieren. Ich hatte keinen Moment das Gefühl, hinwegzugleiten und zu einem bloßen Mund zu werden. Er arbeitete mit mir zusammen. Es gab einen Teil von mir, der niemals objektifiziert wurde, und doch damit er seine Arbeit als Zahnarzt verrichten konnte, musste er objektiv sein.
Das zu beschreiben, was vor sich ging und inwieweit es anders war als andere Erfahrungen beim Zahnarzt, ist nicht leicht. Die von mir empfundene Ganzheit ähnelte einer Art Choreographie seiner Handlungen. „Choreographie“ ist deshalb ein passendes Wort, weil es in annähernd exakter Weise die Art seiner Bewegungen beschreibt, welche ganz und vollständig waren und mich in die ganze Handlung mit einbezogen, ohne irgend einen Aspekt meines Wesens außer Acht zu lassen.
Die Hingabe dieses Zahnarztes bestand in einer Verhaltensweise, die umsichtig war und in seinem Leib und durch diesen lebte. Mit der Aussage, dass er völlig anwesend war, meine ich, dass er der Situation die Fülle seines Wesens entgegenbrachte. So war mir zum Beispiel die Sorge seinerseits deutlich, ob ich denn Schmerzen empfände. Diese Sorge ging über das bloß Technische hinaus und äußerte sich eher darin, dass seine Gebärden ins Mitschwingen mit den meinigen kamen, damit er tatsächlich, noch bevor sie eintreten, nachvollziehen konnte, ob ich Schmerzen empfinde. So waren seine Handlungen, obwohl sie vollkommen gekonnt blieben, kein Agieren an etwas, sondern ein Agieren mit jemandem. Damit er das konnte, wurde von ihm verlangt, dass er handle und sich bewege aus einem Anwesendsein vor der Ebene der Seele. Sein Können hatte eine Art von „Licht“ an sich. Damit meine ich, dass für mich das Umgebensein von Bohrern, Geräten, stärker Beleuchtung, knirschenden Geräuschen, Metal auf Zahn, nicht die übliche Intensität hatte, wie wenn man von etwas „Fremdem“ invadiert wird. Dieses Element war allerdings vorhanden, hatte aber ein viel lichteres, leichteres Gefühl als beim vorigen Mal. Ich würde sagen, dass das technische Können des Zahnarztes vom Empfinden durchsetzt war, dass er sich mit einer heiligen anstatt mit einer technischen Handlung befasste.
Wer über diese Geschichte nachsinnt, der sieht, dass alle Elemente der Handlung der Hingabe vorhanden sind. Ich hoffe, die Geschichte verdeutlicht, inwiefern Hingabe sich gegenwärtig im Alltagsleben abspielen kann, inwiefern die Tugend überall praktiziert werden kann und nicht auf besondere Vorkommnisse religiöser Verehrung zu beschränken ist. Insbesondere offenbart diese Tugend – oder vielmehr die Abwesenheit ihrer in der Welt – das Bedürfnis nach Arbeit an der inneren Entwicklung als zentraler Aspekt der Berufsausbildung. Die Menschen nehmen eine Ausbildung mit der Sehnsucht und dem Verlangen auf, ihr Leben einer Arbeit hinzugeben. Ausnahmslos werden die Auszubildenden überrascht, wenn sie erfahren müssen, dass der Bildungsgang darauf ausgerichtet ist, diesen Idealismus zu töten.
Ausdruckbare pdf-Version von Die Tugend der Hingabe
Weiterlesen in Die Macht von Seele. Wege zum Leben der zwölf Monatstugenden
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von Robert Sardello
Die Tugend der Hingabe
(Devotion wird zu Opferkraft - Rudolf Steiner)
21. März - 20. April
Von allen Tugenden fällt es am schwersten die Hingabe nicht nur im Leben praktisch einzubringen, sondern auch zu beschreiben. Das Wort „Hingabe“ scheint ohne weiteres verstehbar. Was es heißt, jemandem oder irgendeiner Arbeit oder auch Gott hingegeben zu sein, wissen wir ja. Schwieriger wird schon der Versuch, zum Ausdruck zu bringen, genau was unter Hingabe zu verstehen ist.
Wir können Hingabe etwa als eine Liebe bezeichnen, die radikal treu und selbstlos am Wohl anderer orientiert ist. Die zur tatsächlichen Verwirklichung einer solchen Vorstellung erforderlichen seelischen Fähigkeiten sind aber mannigfaltig. Es ist nicht der Fall, dass wir uns einfach dazu entschließen, diese Tugend auszuprobieren. Es müssen vielmehr ganz bestimmte Seelenfähigkeiten entwickelt und zum Bewusstsein gebracht werden. Recht gefährlich sogar ist jeder Versuch, ohne klares Verständnis diese Tugend zu leben. Eine Hauptgefahr besteht im Selbstverlust, welcher die Hingabe in etwas Pathologisches verkehrt; kann auf der Ebene der Tugend das Verschenken der Liebe ja nur in Freiheit und vollem Bewusstsein vonstatten gehen. Geschieht dies nicht, so verkommt etwas, was anfangs der Hingabe ähnelte, zu einer sentimentalen Pietät, die sowohl dem eigenen Seelenleben als auch dem Seelenleben anderer schädlich ist.
Hingabe ist die Fähigkeit, sich auf jemanden ganz einzulassen, und zwar so, dass man mit ganzem Herzen ihm in allen Schichten seines Daseins die Aufmerksamkeit schenkt. Ferner kann man von Hingabe an ein Ideal oder sogar an eine Organisation sprechen; und auch die religiöse Hingabe kommt ohne Weiteres in den Sinn. Aber egal was oder wem man hingegeben ist: der Hingabe wohnt eine reelle Kraft inne. Sie ist feurig, heiß, impulsiv, sie kann sogar militant oder überstürzt erscheinen. Dieses Phänomen weicht von herkömmlichen, sentimentalen oder pietätvollen Vorstellungen eines still betenden oder Frieden oder Fürsorge ausstrahlenden Menschen erheblich ab. Wir mögen zwar eventuell so aussehen, wenn wir uns eines Menschen hingebungsvoll annehmen, aber das innere Leben der Seele ist dabei voller Feuer. Wir lodern mit Flammen der Hingabe. Vielleicht liegt es an einer Furcht davor, von der Hingabe verzehrt zu werden, dass wir in der Welt so wenig von ihr sehen. Eins ist aber sicher: mit Bezug auf die Hingabe als Tugend müssen wir obige herkömmliche Vorstellung fahren lassen und stattdessen lernen, das Feuer zu halten, ein adäquates Seelen-Gefäß zu bilden, welches die Intensität der Hingabe gleichzeitig sowohl fassen als auch zum Ausdruck bringen kann.
Hingabe kommt einem wie eine so stille Tugend vor. Vielleicht deshalb, weil sie das genaue Gegenteil von Stille ist. Sie ist so aktiv, so rastlos, so voller Kraft, dass wir sie mit einer Art Sentimentalität überzogen haben, um uns der Tiefe ihrer gewaltigen Realität nicht stellen zu müssen. Wir müssen daran arbeiten, uns in eine Empfindung der Hingabe hineinzufinden als Kraft von ungeheurer Gewalt, als lebendige Tätigkeit, als Handlung, als eine Tugend, die grundsätzlich durchdringt, hinausreicht, sucht, Ausschau hält, sich sehnt, anstatt innerlich, ganzheitlich und ruhig zu sein.
Sehen wir uns die urbildlichen Eigenschaften des Feuers an, um uns bezüglich der Hingabe anfänglich zu orientieren. Feuer stellt man sich immer als aktive Kraft, als die Urkraft des Willens und der Energie vor. Feuer zerstört und erneuert, verkohlt oder läutert, ist eine schöpferische und zugleich auch eine zerstörende Kraft. In der Alchemie ist die Verbrennung, auch Kalzinierung genannt, das erste von sieben alchemischen Verfahren, die zum hochgeschätzten Stein des Weisen führen. Bei der Kalzinierung wird ein fester Stoff erhitzt und verpulvert, um Wasser und andere unbeständige Stoffe auszutreiben. Psychologisch betrachtet ist der wegzuverbrennende „feste Stoff“ unser Ego. Die Handlung der Hingabe stellt uns in das Feuer hinein, das die Essenz von den Schlacken scheidet. Wenn unser Ego unter Feuer steht, so werden wir ausladend, explosiv, störend und impulsiv.
Aber vielleicht sind diese Eigenschaften als der erste Schritt zu einer Einweihung in die Hingabe anzusehen. Ein ausladendes Verhalten sieht alles andere als hingebungsvoll aus, aber das liegt nur daran, dass zunächst eine solche Kraft wie die Hingabe nur schwer zu greifen ist; es fliegen die Funken in alle Richtungen. In den allerersten Phasen sieht die Hingabe tatsächlich so aus wie das Ausweiten von Ego in die Welt hinein. Und in der Tat: die Möglichkeit der Hingabe ist mit Leichtigkeit zur reinen Ego-Ausweitung zu entgleisen. Ein Beispiel:
Die Möglichkeit einer Entfaltung der Hingabe beginnt häufig mit irgend einer Leben verändernden Erfahrung, dem Einschlagen eines neuen Kurses, einem Neubeginn. Es lässt sich etwa ein Mensch vorstellen, der eines Verbrechens verurteilt und dem eine Haftstrafe auferlegt wird, obwohl er das Verbrechen nicht begangen hat. Während des Freiheitsentzugs studiert dieser Mensch Jura und wird schließlich Anwalt mit dem Anliegen, anderen zu helfen, die zu Unrecht verurteilt und entsprechend behandelt wurden. Ein solcher Mensch kann sehr wohl zu dieser Arbeit Hingabe entfalten. Es lässt sich ferner denken, dass dieser Mensch ein sehr guter Anwalt wird, viel Geld verdient und große Anerkennung erhält. Was als Ideal anfing und zu hingebungsvoller Arbeit wurde, kann an dieser Stelle zur bloßen Ego-Erweiterung werden, zu einem Egotrip, der von einer Arbeitssucht gekennzeichnet ist, die nur so aussieht wie Hingabe.
Eine hingebungsvolle Absicht muss um die Tugend der Gelassenheit ergänzt werden. Ohne den stabilisierenden Einfluss der Gelassenheit hat die Hingabe wenig Chance über ihre anfängliche feurige Phase hinzuauskommen. Bei der Gelassenheit geht es um das Gleichgewicht zwischen den Bemühungen, die wir einer Aufgabe entgegenbringen, und der Erkenntnis, dass egal was wir unternehmen oder wie hart wir arbeiten, es eine Frage der Gnade ist, was wir am Ende zustande bringen. Die Fähigkeit, die Gegenwart der Gnade, das Begnadet-Sein durch die Hilfe aus der geistigen Welt zu fühlen, vermag es, das intensive Feuer der Hingabe abzukühlen. Die Gewalt eines solchen aus der Hingabe hervorgehenden Kraftaufgebotes kann einen Burn-Out verursachen und auch kann der ursprüngliche Inspirationsquell der Hingabe verlorengehen, wenn diese ausgleichende Gelassenheit nicht fühlbar mit anwesend ist.
Die Handlung der Hingabe beginnt beispielsweise mit einem Ideal, mit etwas, dem wir unsere ganze Energie zuwenden. Hier ist der Keim der Hingabe ohne weiteres zu erkennen. Die Gefahr liegt aber darin, dass zu Beginn das Ideal fast ausschließlich als von Kopf- oder Verstandeskräften getragene Vision dasteht, die des nötigen Willens wie des Gefühls entbehrt, um sie in eine Wirklichkeit umzusetzen. Damit der ursprüngliche Impuls zu einer beständigen Hingabe werden kann, muss etwas eingreifen, durch das die lebhafte Kraft gefasst und die Impulsivität verwandelt werden kann.
Kann zur Gelassenheit gefunden werden, so kann das Ideal zur Reife kommen. Aber selbst wenn dieses Gleichgewicht hergestellt würde, so würde nicht automatisch die Hingabe erfolgen. Das Gleichgewicht ermöglicht lediglich die Erweiterung des Ideals bis dahin, dass anfängliche Schritte zu dessen Verwirklichung getan werden können.
Wenn wir uns von irgendeinem Ideal angesprochen fühlen und hingebungsvoll an dessen Verwirklichung zu arbeiten beginnen, so kommt ein Verbrennungsprozess in Gang und es tritt die Möglichkeit auf, dass die Hingabe entgleist und zum Egoismus wird. Wenn man Hingabe fühlt, so deutet das auf die Erzeugung von viel Wärme hin, was wiederum viel Willenskraft, Liebe, Konzentration und Energie bedeutet. Diese anfängliche Wärme hat aber in der Kopfregion ihr Zentrum und hat daher eine starke Ego-Beteiligung. Diese ist es, was es zu verbrennen gilt, soll das Ideal nicht bloß einem selbst, sondern anderen Menschen dienen. Wenn das Ideal nur der eigenen Selbsterhebung dient, so kann es zur Entstehung eines Verhaltens kommen, das so aussieht wie Hingabe, aber keine ist. Die Möglichkeit der Hingabe verkehrt sich in solchem Falle in bloßen Ehrgeiz, in eine in den verschiedenen Berufen ständig zu beobachtende Rückentwicklung. Die Menschen beginnen mit hohen Idealen, die in hingebungsvolles Dienen an anderen und der Welt verwandelt werden können: ein Medizinstudium, ein Jurastudium, ein Postgraduiertenstudium oder Ähnliches. Am häufigsten kommt es aber vor, dass sich in den Idealismus eine gute Portion Egoismus einmischt, mit dem Ergebnis, dass „Professionalismus“ einsetzt und das Geldverdienen, der Ruf, der berufliche Stand und der Berufsaufstieg die oberste Priorität bekommen.
Wenn wir erkennen, wie es zur Degradierung der Hingabe kommt, so öffnet uns diese Erkenntnis den Weg zu einem weiteren Erkunden der Tugend und hilft uns auch zu verstehen, wie es so leicht zu ihrer Entgleisung kommen kann. Die „Professionalisierung“ der Berufe tritt nämlich dann ein, wenn durch äußere Ordnung und Strukturen eine Begeisterung entfacht wird, die zur zügellosen Rigorosität führt. So kann der die Hingabe ursprünglich stiftende seelische Sinn und Zweck sublimiert und in enge Strukturen eingespannt werden, welche die Schwungkraft der Hingabe zwar nützen, sie aber von ihrem wahren Anliegen entfremden.
Wenn wir den Impuls spüren, unser Leben an unsere Arbeit – etwa die Medizin, das Lehrersein, das Dienen – hinzugeben, fühlen wir diesen Impuls oft so stark, dass wir unser Leben völlig verändern, um einem solchen Impuls zu folgen. Wir wollen anderen unsere Hilfe bieten. Wenn wir dann den Weg ins eigentliche Arbeiten hineinfinden, so treffen wir häufig auf stark institutionalisierte Strukturen. Diese Strukturen dienen zwar vorgeblich dazu, unsere Handlungen der Hingabe zu legitimieren, aber sie lenken sie oft ab. Mit der Tugend an sich muss einhergehen, dass ihr die Treue gewahrt wird, ohne sie je aus dem Auge zu verlieren. Die beiden Aspekte sind nicht zu trennen. Das heißt, die Hingabe besteht nicht nur im Ausgangsentschluss, sondern auch im Finden der zur Aufrechterhaltung jenes anfänglichen Engagements nötigen inneren Ressourcen. Komme was wolle. Wir müssen der Hingabe selbst hingegeben sein, sonst geht sie verloren.
Allzu oft gehen wir unserem Ideal bloß nach und lassen machtlos zu, dass es ausbrennt. Stattdessen sollte man vielleicht den Gegenstand der Hingabe zunächst einmal zurückstellen und versuchen, dem Feuer selbst näher zu kommen. Gesetzt den Fall, ich empfinde den starken Impuls, einen Berufswechsel vom Börsenhändler zum Suchtberater zu machen: welcher Qualität ist dieser Impuls? Anstatt überstürzt mich über Ausbildungsmöglichkeiten, das Sichern eines Praktikumsplatzes und den Aufbau einer Praxis zu informieren und alsdann den Entschluss zu fällen, diese neue Richtung anzustreben, werde ich lange Zeit den Impuls selbst betrachten.
Wir erfahren rasch, dass dieses den Impuls kennzeichnende Feuer in der Tat das Feuer der Liebe ist. Egal was wir lieben, wir idealisieren es; und egal was wir idealisieren, dem fühlen wir uns hingegeben. Es handelt sich hier aber um eine bestimmte Form der Liebe, um eine nämlich, die ein reines, im Kopf als Ideal beginnendes Feuer ist, und nun gilt es, um ein Verständnis dieses Feuers zu ringen und so für die Tugend der Hingabe ein besseres Gespür zu bekommen. Normalerweise wissen wir nicht, wie es zur Entstehung eines bestimmten von uns gehegten Ideals kommt. Wir mögen diesem Ideal zwar in unserer Familie oder in der Kirche oder im Laufe unserer Schulbildung ausgesetzt worden sein. Dieses Ausgesetztsein an sich erklärt aber nicht das verhältnismäßig seltene Vorkommen von Menschen, die eine idealistische Sichtweise tatsächlich aufgreifen. Ein Ideal hat nämlich eine instinktive Grundlage, sonst entbehrt es sowohl der Kraft als auch der Stärke und ist stattdessen weiter nichts als ein Leben aus dem Ideal eines anderen Menschen heraus. Ich spreche von der hier erwähnten Grundlage deshalb als ‚instinktiv‘, weil wir nicht wissen, warum etwas unsere Aufmerksamkeit so stark packt und sie nicht loslässt. Das Ideal scheint einfach aufzutauchen. Es hat allerdings, zusätzlich zur ideellen Seite, auch einen starken körperlichen Aspekt, und so ist das Ideal eben auch ein Impuls. Wir fühlen uns zu diesem Ideal hin gedrängt, gezogen, geschoben, ja beinahe gezwungen. Die instinktive Basis des Idealismus und folglich auch der Hingabe kann sich aber leicht zum Niedrigen wenden, somit kann die Hingabe fehlgehen. Diese Art eines Abgleitens tritt gerne dann ein, wenn nicht gleichzeitig mit der Impulsivität auch eine innerliche, reflexive, lenkende Seite des Ideals geweckt wird.
Bekommen wir es hin, vorübergehend darauf zu verzichten, die Aufmerksamkeit ausschließlich auf den Gegenstand unseres Idealismus zu richten, so können wir einen der Hingabe zugehörigen Faktor entdecken, der zur Impulsivität des Idealismus die Möglichkeit eines reflektierenden Ausgleiches beitragen kann. Es gibt außer der Aggressivität, der Stärke und Herzhaftigkeit der Hingabe eine weitere, verborgenere seelische Eigenschaft, zu der wir notwendig in Kontakt treten müssen: Auch eine merkuriale, reflexive Qualität begleitet den Drang hin zur Hingabe, wenngleich auf einer feineren, unsichtbaren Ebene. Diese merkuriale Eigenschaft ist es, zu der wir als zu einer Helferin hinblicken können, wenn wir den Schritt von unserem anfänglichen Idealismus zu ausgedehnten Handlungen der Hingabe wagen. Vielleicht bilden wir uns ein, wir wüssten, um was es bei unserem Idealismus geht. Und gewöhnlich meinen wir auf jeden Fall, dass er lediglich irgendeinem von uns angestrebten äußeren Ziel gelte. So wir schicken uns dazu an, dieses Ziel zu erreichen und lassen über uns alles ergehen, was es von uns verlangt. Es könnte zum Beispiel jemand einen starken Impuls spüren, anderen Menschen zu dienen. Dieser Idealismus könnte sich dann wegen der Fähigkeiten, der Biographie und Lebensumstände dieser Person etwa darauf richten, Arzt zu werden und anderen zu helfen. Ist das Ideal – in diesem Fall Arzt zu werden – einmal bekannt, so erfordert es Jahre und Jahre des Studierens, ein bestimmtes intellektuelles Vermögen, den Wunsch, alle Belohnung auf lange Zeit zurückzustellen, usw.
Über lange Zeit fließt der Idealismus in das bestimmte Ziel hinein und bringt die nötigen Opfer. Das alles aber, so erforderlich es auch ist, um Arzt zu werden, lässt nicht zwingend den Idealismus zur Tugend der Hingabe heranreifen. Die Möglichkeit einer Entfaltung der Hingabe ist nur dann gegeben, wenn irgendwann auf dem erwählten Pfade dieser Mensch sich zurückbesinnen und sehen kann, dass nicht das Arztwerden das eigentliche Ideal war, sondern dass das Arztsein weiter nichts war als das Mittel, um sich in den Dienst an den Menschen zu begeben. Findet diese Besinnung nicht statt, so wird dieser Mensch entweder das Medizinstudium abbrechen oder aber in solche Strukturen des Berufslebens aufgehen, welche keine Hingabe an den Beruf voraussetzen.
Damit Idealismus zur Hingabe heranreifen kann, muss man das Element des reflektierenden Denkens in diesen feurigen Drang einflößen. Der feurige Drang nach dem Vollbringen von etwas Bedeutungsvollem projiziert ein verfolgenswürdiges Ideal vor sich hin und es ist so, als wenn wir unseren Idealismus und einen Drang zur Hingabe hin fühlen würden, noch bevor wir wissen, wem bzw. was unsere Hingabe überhaupt gelten soll. Was wir für das Ziel unserer Hingabe halten ist stets nur das Mittel, durch das die Hingabe zum Ausdruck kommt. Das reflektierende Denken allein reicht aber nicht aus, um die Verwandlung des Idealismus in Hingabe zu vollbringen. Es bedarf ferner sowohl bestimmter Gefühlsqualitäten als auch bestimmter Willenseigenschaften.
Die Gefühlseigenschaft der Hingabe besteht darin, mit ganzem Herzen auf etwas eingestellt zu sein, was weitgehend im Bereich des Unbekannten liegt. Diese besondere Gefühlseigenschaft lässt sich sogar noch klarer spezifizieren: Hingabe besteht im intensiven Gefühl einer unerschütterlichen Liebe. Warum wir aber die Hingabe fühlen, das ist etwas Geheimnisvolles und bleibt größtenteils unerkannt. Daher kommt es, dass wenn damit begonnen wird, die Hingabe als Idealismus in Gang zu bringen, dieses Beginnen in die Reflexion geführt und die Reflexion dann erst ins Fühlen hinein vertieft werden muss. Wenn die Hingabe sich nicht so oder ähnlich entfaltet, so ist sie ein momentanes Verliebtsein oder eine Sucht oder eine bloße Romantik, von denen nichts überdauern kann.
Dieser Umweg ins Herz der Hingabe hinein ist notwendig; bietet doch ein sorgfältiges Befolgen desselben die einzige Möglichkeit, irrige Auffassungen dieser Tugend zu vermeiden. Solche vorgefassten Meinungen können nur entweder eine sentimentale Vorstellung der Hingabe als süßer Friede oder aber die völlig zynische Auffassung sein, wonach der aus Hingabe Lebende die eigene Existenz in törichter Weise zugunsten eines anderen respektive irgend eines Ideals aufgibt, von dem man nichts hat.
Der Weg zur Hingabe beginnt zwar mit dem Vorrang eines impulsiven Idealismus, aber er verändert sich drastisch, und was dann den Vorrang bekommen muss, das ist ein starkes Herzensgefühl des Orientiertseins an etwas Wahrem, wenn auch Unbekanntem. Diese Eigenschaft der Liebe ist anders als alle anderen Arten der Liebe. Nicht alle Liebe orientiert sich am Unbekannten. Mit der Hingabe aber gelangt die Liebe zur Gegenwärtigkeit und zur Stärke, noch ehe wir in der Lage sind, das zu begreifen, was wir lieben; diese Qualität ist für die Hingabe unerlässlich.
Die Willenskomponente der Tugend der Hingabe besteht darin, unser Leben an dem starken Gefühl einer nicht ganz verstandenen Liebe tatsächlich auszurichten und aus diesem Gefühl heraus etwas zu tun. Dieses Gefühl führt uns ins Unbekannte hinein, und hier erscheint das Denken einmal wieder, allerdings in neuer Weise: Wir beginnen uns tief hineinzudenken in das, worauf wir uns so innig eingelassen haben. Es geht uns ein Selbstbewusstsein der Tiefe und des Geheimnisses dessen auf, was wir tun. Wir können es zur Entdeckung bringen, dass die zentralste Dimension der von uns nunmehr gelebten Hingabe darin besteht, dass wir zum Ewigen hingezogen werden, und unsere Seele sehnt sich danach, sich mit diesem Ewigen zu vereinen. Wir entdecken, dass aber das Verlangen nach dem Ewigen durch die Dichtigkeit, das schwer zu Durchdringende der Welt hindurchgehen muss, dass dies das liebevolle Hingegebensein an jemanden oder eine Sache oder irgendeine Realität voraussetzt und dass alle Sehnsucht nach dem Ewigen, die sich über das schwer Durchdringbare der Welt hinwegsetzt, fahrig, flüchtig, kurzlebig ist oder dass ihr jede Basis im Leben der Seele abgeht.
Rückblickend auf die komplexe Handlung, sich auf die Tugend der Hingabe einzulassen, stellen wir fest, dass zwei gleichzeitige Bewegungen an ihr unumgänglich beteiligt sind: Eine Stärkung des inneren Lebens und zugleich eine Bewegung in die Welt hinaus, um etwas Dienendes zu tun. Wir müssen das innere Leben so stärken, dass es radikal offen und flexibel bleibt und nicht in die Härte des Egoismus hineinverfällt. Und indem wir uns in die Welt hinausbewegen, müssen wir dies so tun, dass sich die Seele dort nicht verliert. Der in der Liebe lebende und an der Liebe orientierte Wille muss gestärkt werden, sonst verlieren wir uns in ungesunder Weise im Dienen, dem wir uns hingeben. So könnte es zum Beispiel vorkommen, dass wir uns über Jahre unserer Arbeit hingeben und es soweit bringen, dass wir nicht mehr wissen, wer wir sind und tatsächlich keinen inneren Sinn mehr für uns selbst haben außerhalb unserer Arbeit. Das wäre eine ungesunde Hingabe.
Eine gesunde Hingabe geht stets mit Denken einher. Es muss eine Entschlossenheit vorhanden sein, über das Objekt der Hingabe nachzudenken, dieses Objekt tief zu betrachten. Dieses Denken ist allerdings nutzlos, solange es problemorientiert verläuft. Es kann sich nicht um ein Denken handeln, das immer und immer wieder sagt, Warum bin ich dieser Arbeit, dieser Person, diesem Dienst hingegeben. Es kann sich nur um ein schöpferisches Denken, das heißt, um eine beständige Arbeit handeln, die darin besteht, das Element der Reflexion in die Handlung der Hingabe hineinzutragen. Dieser Denkmodus ist eine Art des Zeugens. Wir bilden die Fähigkeit, die Handlung selbst der Hingabe zu bezeugen, und dieses Zeugen wiederum wird Teil der Hingabe.
Wenn schöpferisches Denken nicht zum Wesenskern der Hingabe wird, so wird Liebe zum sentimentalen Enthusiasmus. Mittels eines sentimentalen Enthusiasmus aber ist die Arbeit in der Welt nicht zu vollbringen, die von der Hingabe verlangt wird. Es käme dabei heraus, dass die Arbeit – egal wem oder was wir uns so stark hingeben – zu einer Plackerei wird, die lose mit einer verträumten Empfindung verbunden wäre, diese Arbeit müsse irgendwie ein Dienst an anderen und der Welt sein. Ein Leben in dieser Weise im Zustand eines sentimentalen Enthusiasmus’ ist für die Seele hochgefährlich, denn unter solcher Bedingung sind wir am meisten in Gefahr, zum Werkzeug der Begeisterung anderer zu werden, welche als Surrogat für unsere eigene schwache Hingabefähigkeit eintritt.
Wir kommen also zur überraschenden Schlussfolgerung, dass die Fähigkeit des schöpferischen Denkens in der Praxis der Tugend der Hingabe eine äußerst wichtige Rolle spielt. Hingabe scheint zunächst in keiner Weise mental zu sein. Auch will ich nicht nahe legen, dass das schöpferische Denken dasselbe ist wie das gewöhnliche Denken oder dass es überhaupt etwas Mentales sei. Das in der Beschreibung der Tugend der Hingabe geschilderte Denken ist etwas, was Leib, Seele und Geist durchdringt. Wir sind so daran gewöhnt, uns das Denken als ein Denken über etwas vorzustellen, dass das Wesen eines die Hingabe kennzeichnenden merkurialischen, hermetischen Denkens, hier ausdrücklich unterstrichen werden muss. In der Hingabe ist unser Denken ein liebendes Durchdrungensein vom Geist dessen, dem wir hingegeben sind.
Man kann ein Bild der in dieser Darstellung bisher ausgeführten Tugend der Hingabe in der religiösen Hingabe finden. Unser gegenwärtiges Interesse richtet sich aber auf die Gebärde der Hingabe; es gilt vielmehr, das zu sehen, was in der religiösen Hingabe als Urbild lebt. Bei diesem Urbild handelt es sich um etwas, was nicht auf die Formen beschränkt ist, die wir in der Religion finden, sondern was in vielerlei Weise in der Welt zum Ausdruck kommt: Hingabe als Handlung des „Hinaufschauens“. In der Hingabe beugen wir die Knie, falten die Hände und sehen zum Verehrten hinauf. Jeder, der eine Kirche betreten und an solchen Gebärden teilgenommen hat, entdeckt sofort etwas.
Das Heilige ist nicht sofort da, wenn wir uns demütigen. Diese Gebärden wirken so, dass sie Gefühle, Impulse und Gedanken an die Oberfläche fördern, die nicht das Geringste mit diesen Gesten der Devotion zu tun haben. Wir vollziehen eine Körperbewegung, welche das gewöhnliche Ego unterwirft; die Gebärden sagen sinngemäß „Es gibt jemand, der viel erhabener ist als ich selbst, dem ich die höchste Ehre erweise.“ Es ist hoch interessant, dass mit diesen Gebärden nicht als Erstes die Bilder dieses heiligen Anderen zum Bewusstsein kommen, sondern dass es die eigenen Komplexe, Phantasien, Bilder, der eigene Schatten sind, die aus den unter- und unbewussten Regionen der Seele hervorquellen.
Auf die Unterwerfung des gewöhnlichen Egos erhalten wir von dem, dem wir unsere Verehrung schenken sofort eine Antwort. Es ist aber nicht so, dass die unter- und unbewussten Regionen rebellieren und sich in Form einer Attacke behaupten würden. Der, den wir verehren, erleuchtet vielmehr unser Sein, hellt es auf, sodass wir zumindest einigermaßen vor der Fülle dessen stehen, was wir sind. Eine streng religiöse Auffassung der Ausgießung der Regionen, derer wir uns gewöhnlich nicht bewusst sind, würde höchstwahrscheinlich dieses Aufwallen von Impulsen, Leidenschaften, Phantasien und dergleichen für eine Versuchung halten – für eine Versuchung, der daran gelegen ist, uns vom Heiligen fernzuhalten. Eine seelische Auffassung würde es nicht so sehen. Das mit-Einbegreifen der Fülle dessen, was wir sind, ist ein zentraler Aspekt der Handlung der Hingabe; dieses mit-Einbegreifen wandelt die Vorstellung der Hingabe als religiöse Pietät – in der Süße gegen mächtige Hässlichkeit im Streit liegt – in eine Hingabe um, die mit der Kraft der Imagination ausgestattet ist.
Diese Vorstellung der Gebärde der Hingabe und die Vorstellung der Art, wie diese Gebärde die in uns tieferliegenden Bereiche hervorholt, zeigt, dass die Hingabe uns nicht nur auf das „oberhalb von uns“ Liegende aufmerksam macht, sondern auch darauf, was unterhalb von uns liegt. Wenn wir uns dazu anschicken, uns aktiv mit der Tugend der Hingabe auseinanderzusetzen, so bricht die Hölle los, könnte man sagen. Das gewöhnliche Denken würde sagen: „Halte dich von den unteren Regionen fern; orientiere dich vollständig an den höheren Reichen.“ Das schöpferische Denken sagt: „Die wahre Gewalt und Kraft dessen, was oben ist, zeigt sich dir in Bildform durch das, was so stark von unten kommt; halte diese zwei so lange zusammen, bis sie eins werden.“
Nur das schöpferische Bewusstsein vermag es kraft seines fließenden Charakters, kraft seines Daseins als eine Form des nicht kategorisierenden, das Eine nicht vom Anderen abschneidenden Bilderbewusstseins, diese Spannungen in der Wahrnehmung zusammenzuhalten, dass das eine Reich eine Widerspiegelung des anderen ist. Unter Bilderbewusstsein verstehe ich die bei seriöser Hingabe aufwallenden Bilder und Impulse, die symbolisch und nicht wortwörtlich zu nehmen sind. Wenn ich mit meinem Partner eine starke Verbindung habe, so kann es zum Beispiel vorkommen, dass ich das Erscheinen starker Bilder einer Neigung zu jemand Anderem feststelle. Solche Bilder sind nicht wörtlich zu nehmen – sie bedeuten nicht, dass ich die phantasierte Person wirklich liebe. Die Bilder offenbaren lediglich die Stärke der Hingabe.
Es ist die Gebärde selbst, die Gebärde des Niederkniens (die nicht wortwörtlich zu sein braucht; sie kann auch eine innere Gebärde sein), was unser schöpferisches Denken erzeugt. Echt schöpferisches Denken lässt sich nicht von uns intentional in Gang bringen. Wir können höchstens etwas tun, was die Möglichkeit seiner Erscheinung eröffnet. Wir verneigen uns und schauen nach oben, laden dabei das Heilige aus den Höhen zu uns ein. Zu gleicher Zeit ist die Gebärde ein Hinneigen nach den unbekannten Tiefen in uns darinnen, eine Handlung des Ehrens dieser Tiefen.
Es gibt einen weiteren, uns das Wesen der Hingabe mitteilenden Aspekt des schöpferischen Denkens. Schöpferisches Denken ist dasselbe wie das Denken in Bildern. Wann immer wir uns auf die Gebärde des Unterwerfens unseres Egobewusstseins einlassen, so schließen wir zugleich auch das Bilderbewusstsein auf. Die Kräfte von oben strömen herein und die Bilder von unten erheben sich. Die Aufgabe im Ausbilden der Tugend der Hingabe besteht darin, diese zwei Strömungen zu einem einzigen zu vereinen. An dieser Stelle ist es notwendig, das Wesen des Bild-Denkens zu begreifen. Ein richtiges Verständnis – eines, das das Wesen dessen berücksichtigt, was soeben gesagt wurde, dass nämlich dieses Bewusstsein das „oben“ mit dem „unten“ zusammenhalten muss – zeigt zunächst, dass das Denken in Bildern mehr ist, als sich bloß den Vorstellungsbildern zu stellen, die von unten ins Bewusstsein emportauchen.
Ferner müssen wir das kennzeichnen, was in der Gebärde der Hingabe von „oben“ hereinströmt, um uns dann eine Synthesis beider vorstellen zu können. Es ist viel schwieriger von dem zu sprechen, was von oben hereinströmt, denn es hat keine Form. Es reicht nicht ganz zu sagen, es sei ein Gefühl für Gott oder für irgendeine geistige Realität; das ist zu abstrakt gefasst. Das Gefühl selbst ist ein Gefühl der reinen Ehrfurcht. Es ist die Gegenwart des Unaussprechlichen, des Unbekannten, des Heiligen, womöglich des Lichtes, der Wärme und eigentlich des Wesens der Liebe.
Das Wesen der Hingabe, so ließe sich sagen, besteht im Unterwerfen des Egobewusstseins und der Art des Denkens, die zu diesem Bewusstsein passt – ein distanziertes Bewusstsein, ein „Denken über“ die Gegenstände, ein kategorisierendes, funktional praktisches, manipulatives – dem meditativen Bewusstsein, in welchem das, worüber wir nachdenken, im warmen Licht der Liebe und der Seelentiefe unseres Wesens gebadet wird. In der Hingabe denken wir mit dem Thema unseres Denkens, statt über es.
Diese Art des Denkens kann man auch Intuition nennen, aber es handelt sich dabei um ausgedehnte Intuition, nicht bloß um das von diesem Ausdruck bezeichnete momentane Aufleuchten.
Beim Zurücklegen des Weges zu einer Auffassung der Hingabe als Haltung, die wir im täglichen Leben einnehmen können, haben wir uns von der Hingabe als religiöse Pietät ziemlich entfernt. Wenn wir einer anderen Person oder unserer Arbeit hingegeben sind, so heißt das, dass inmitten der praktischen Aspekte dessen, was wir tun, wir gleichzeitig daran arbeiten, eine andere Stufe des Bewusstseins gegenüber dem zu entwickeln, was wir tun. Bin ich zum Beispiel der Medizin hingegeben, so würde das bedeuten, dass während ich wissenschaftliche Kenntnisse und Techniken beherrschen muss, ich mich gleichzeitig etwas Größerem, Umfassenderem, Geheimnisvollerem unterordne; und dass ich das in bewusster Weise tue. Ich werde mir schrittweise dessen bewusst, dass ich nicht der Medizin an sich, sondern durch die Medizin – als Vehikel – der ganzen Unermesslichkeit der Äußeren und inneren Welt hingegeben bin. Habe ich das einmal erkannt, so beginnt mir dann die Verbindung des Sichtbaren mit dem Unsichtbaren aufzugehen. Dann wird sogar das allereinfachste medizinische Verfahren nicht aus der Einzelfähigkeit des Egobewusstseins ausgeführt, sondern im Verein mit einer Empfindung für die Anwesenheit eines Heiligen.
Wäre wohl jemand, der in dieser ehrfurchtsvollen Weise die Medizin ausübt, die Sorte Arztes, von dem Sie sich gerne vorsorgen lassen würden? Würden Sie sich vielleicht lieber jemandem anvertrauen, der sich ausschließlich auf Fachkenntnisse und technisches Können verlässt? Kommt Ihnen diese Vorstellung der Hingabe nicht ein Wenig unorthodox vor?
Erstens würde ein Mediziner, der so lebt, dass er die Tugend der Hingabe ins Zentrum seines beruflichen Tuns rückt, höchstwahrscheinlich schon gar nicht über Hingabe reden. Diese Art des Bewusstseins ist zwar nachsichtig und besonnen, aber sie tritt eher als Stil, als Verhaltensweise denn als Ideologie zum Vorschein. Es wäre allerdings weise, den Mediziner zu meiden, der es nötig hätte, über seine Beschäftigung mit der Hingabe zu sprechen. Ferner besäße derjenige, der die Tugend der Hingabe lebt, tatsächlich ein ebenso großes technisches Können als einer, der sich auf die üblichen Erkenntnismethoden verlässt. Die Hingabe so, wie sie hier ausgeführt würde, trennt sich nicht von den Details des alltäglichen Lebens.
Vor mehreren Jahren musste ich mich einer umfangreichen zahnärztlichen Behandlung unterziehen. Mir wurde eine nahe gelegene Zahnarztpraxis anempfohlen. Der Zahnarzt arbeitete im technischen Sinne vorzüglich. Und obzwar er ein Betäubungsmittel verwendete und sich einer Gerätschaft bediente, die auf dem neusten Stand war, war es während er mein Gebiss bearbeitete so, als hätte ein Automechaniker zu meiner Mundhöhle den Zugang erhalten. Hinterher, sehr lange Zeit, tat es mir innen im Mund sehr weh, und ich war ziemlich lange krank, was anscheinend auf die hohe Dosierung der eingesetzten Betäubungsmittel zurückzuführen war.
Etwa vier Jahre später musste ich erneut mich vom Zahnarzt behandeln lassen, und zwar mitten während des Reisens. Ich wurde an einen mir völlig fremden Zahnarzt verwiesen. Er war ein sehr interessanter Mensch. Er hatte erfahren, dass ich Psychologe bin und mich für spirituelle Angelegenheiten interessiere, und so begann er völlig spontan von der inneren Arbeit zu sprechen, die er selbst machte. Nicht nur hatte dieser Zahnarzt die Bildung im eigenen Beruf, sondern auch seine Selbstbildung fortgesetzt. Ferner war es nicht sich selbst zu Liebe, dass er sich mit Seelenarbeit beschäftigte. Er war sich der Art und Weise lebhaft bewusst, in der solche Arbeit die Ausführung seines Berufes verändert. Die Zahnarzthelferin, ja sogar die Sprechstundenhilfe schien etwas auszustrahlen; nichts mit einem „New-Age“-Anstrich, sondern einfach ein stilles Leuchten. Auch dieser Zahnarzt bewies ein großes Können.
Ich merkte aber während er arbeitete – den einen Zahn zog er, beim anderen nahm er eine Wurzelkanalbehandlung vor – dass ich gar nichts von dem Eindruck spürte, den ich beim vorigen Zahnarzt gehabt hatte. Es fühlte sich nicht so an, als würde mir jemand mit einem Schraubschlüssel, einem Hammer, einem Schraubenzwinger herumhantieren. Was noch interessanter war: hinterher spürte ich nicht nur keinen Schmerz, sondern ich hatte sogar eine erhöhte Energie. Von diesem Zahnarzt würde ich sagen, dass er seiner Arbeit hingegeben war. Aus der Perspektive eines Zuschauers würde der Unterschied zwischen den zwei Zahnärzten vermutlich nicht sichtbar sein. Beide verwendeten die gleichen Verfahren, die gleiche Gerätschaft, die gleichen Medikamente. Und dennoch war zwischen ihnen ein absolut handfester und reeller Unterschied.
Ich finde den Gedanken faszinierend, dass ein Zahnarzt, der über seine Stellung im Kosmos nachdenkt, der seine Träume erforscht, der sich darüber Gedanken macht, wie diese Art der Aufmerksamkeit in die Ausführung seines Berufes hereingetragen werden kann – dass so ein Mensch etwas in die Welt hineinsetzt, was vom bloß technisch sich verhaltenden Zahnarzt nicht ausgeht. Hingabe ist keine reine Privatsache; sie bewirkt tatsächlich etwas in der Welt.
Die Wirkung der Hingabe in der Welt, von der in der Geschichte des Zahnarztes erzählt wird, hat nicht nur damit zu tun, dass ich weniger Schmerzen und minimale Nachwirkungen erlebte. Diese Wirkungen sieht man sogar besser als Nebenwirkungen an, denn der Sinn davon, in dieser hingegebenen Weise zu arbeiten, besteht nicht im Erzielen eines bestimmten Ergebnisses. Der Sinn der Hingabe ist es, eine bewusste Orientierung der Seele herzustellen, die zwischen dem Oben und dem Unten fließend sich bewegt und dabei das Reich dazwischen, die Welt unserer tagtäglichen Bemühungen, als den Ort ihres Zusammenfließens begreift. Zwar sagte ich oben, dass aus der Zuschauerperspektive die Funktionsweisen der zwei Zahnärzte gleich erschienen, aber diese Aussage kann doch nicht hundertprozentig zutreffen. Sichtbare, wenn auch kaum wahrnehmbare Unterschiede muss es geben. Man gestatte mir den Versuch einer Beschreibung der Handlungen des hingegebenen Zahnarztes, aus der die Gebärde der Hingabe hervorgeht.
Erstens war alles völlig professionell, was der Zahnarzt und die ihm assistierenden Personen ausführten. Es war ganz bestimmt kein Unterschied festzustellen zwischen seiner Praxis und jeder anderen. Die dort ausgeführte Zahnmedizin lässt sich nicht als „alternative Zahnmedizin“ bezeichnen. Aber schon im Moment, in dem ich das Wartezimmer betrat, fühlte ich mich beehrt, und zwar nicht nur als Kunde. Die Art, wie die Sprechstundenhilfe redete, berührte die seelische Ebene. Kein spezifischer Inhalt dessen, was sie sagte, war anders, als was man an irgendeinem anderen Schalter zu hören bekommen hätte. Dennoch würde ich sagen, dass sich meine Seele willkommen geheißen fühlte.
Während ich wartete war der Grad der Angst, die gewöhnlich solches Warten kennzeichnet, fast unwahrnehmbar. Dann rief die Zahnarzthelferin mich zum Behandlungsraum. Auch der Raum war nicht anders als bei jedem anderen Zahnarzt. Es rieselte zum Beispiel keine süße Musik aus Lautsprechern, nichts Äußerliches, um mich in einen träumerischen Zustand hineinzuversetzen. Aber auch hier fühlte ich mich nicht wie ein Auto, das gerade in die Werkstatt geführt wurde, sondern wie ein Mensch, und das war auf die Wesensart der Assistentin zurückzuführen. Diese Art würde ich als desinteressiertes Interesse beschreiben. Mit diesem merkwürdigen Ausdruck meine ich, dass mir eindeutig Interesse entgegengebracht wurde, dass es aber kein aufgesetztes Interesse war. Es war vielmehr ein warmes Interesse, das sich hauptsächlich auf den Grund richtete, weshalb ich hier war, das aber mehr war als ein bloßes Interesse für meinen Mund.
Als der Zahnarzt hereinkam, war dieselbe Eigenschaft, wenngleich auf etwas intensivere Weise, anwesend. Er ging geradeheraus an seine Arbeit. Was mich am meisten erstaunte war, dass er sich auf eine Reihe komplexer Handlungen einlassen konnte, ohne jemals die volle Anwesenheit vor der Gesamtsituation – die ja mich als Person mit einschloss – zu verlieren. Ich hatte keinen Moment das Gefühl, hinwegzugleiten und zu einem bloßen Mund zu werden. Er arbeitete mit mir zusammen. Es gab einen Teil von mir, der niemals objektifiziert wurde, und doch damit er seine Arbeit als Zahnarzt verrichten konnte, musste er objektiv sein.
Das zu beschreiben, was vor sich ging und inwieweit es anders war als andere Erfahrungen beim Zahnarzt, ist nicht leicht. Die von mir empfundene Ganzheit ähnelte einer Art Choreographie seiner Handlungen. „Choreographie“ ist deshalb ein passendes Wort, weil es in annähernd exakter Weise die Art seiner Bewegungen beschreibt, welche ganz und vollständig waren und mich in die ganze Handlung mit einbezogen, ohne irgend einen Aspekt meines Wesens außer Acht zu lassen.
Die Hingabe dieses Zahnarztes bestand in einer Verhaltensweise, die umsichtig war und in seinem Leib und durch diesen lebte. Mit der Aussage, dass er völlig anwesend war, meine ich, dass er der Situation die Fülle seines Wesens entgegenbrachte. So war mir zum Beispiel die Sorge seinerseits deutlich, ob ich denn Schmerzen empfände. Diese Sorge ging über das bloß Technische hinaus und äußerte sich eher darin, dass seine Gebärden ins Mitschwingen mit den meinigen kamen, damit er tatsächlich, noch bevor sie eintreten, nachvollziehen konnte, ob ich Schmerzen empfinde. So waren seine Handlungen, obwohl sie vollkommen gekonnt blieben, kein Agieren an etwas, sondern ein Agieren mit jemandem. Damit er das konnte, wurde von ihm verlangt, dass er handle und sich bewege aus einem Anwesendsein vor der Ebene der Seele. Sein Können hatte eine Art von „Licht“ an sich. Damit meine ich, dass für mich das Umgebensein von Bohrern, Geräten, stärker Beleuchtung, knirschenden Geräuschen, Metal auf Zahn, nicht die übliche Intensität hatte, wie wenn man von etwas „Fremdem“ invadiert wird. Dieses Element war allerdings vorhanden, hatte aber ein viel lichteres, leichteres Gefühl als beim vorigen Mal. Ich würde sagen, dass das technische Können des Zahnarztes vom Empfinden durchsetzt war, dass er sich mit einer heiligen anstatt mit einer technischen Handlung befasste.
Wer über diese Geschichte nachsinnt, der sieht, dass alle Elemente der Handlung der Hingabe vorhanden sind. Ich hoffe, die Geschichte verdeutlicht, inwiefern Hingabe sich gegenwärtig im Alltagsleben abspielen kann, inwiefern die Tugend überall praktiziert werden kann und nicht auf besondere Vorkommnisse religiöser Verehrung zu beschränken ist. Insbesondere offenbart diese Tugend – oder vielmehr die Abwesenheit ihrer in der Welt – das Bedürfnis nach Arbeit an der inneren Entwicklung als zentraler Aspekt der Berufsausbildung. Die Menschen nehmen eine Ausbildung mit der Sehnsucht und dem Verlangen auf, ihr Leben einer Arbeit hinzugeben. Ausnahmslos werden die Auszubildenden überrascht, wenn sie erfahren müssen, dass der Bildungsgang darauf ausgerichtet ist, diesen Idealismus zu töten.
Ausdruckbare pdf-Version von Die Tugend der Hingabe
Weiterlesen in Die Macht von Seele. Wege zum Leben der zwölf Monatstugenden
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