aus Die Macht der Seele. Wege zum Leben der Monatstugenden
von Robert Sardello
Die Tugend der Liebe
(Großmut wird zu Liebe - Rudolf Steiner)
21. Februar – 20. März
Die Liebe umfasst ganz der Menschheit Ziel und Zweck. Insofern ist sie ein unermessliches Thema sowie ein unermessliches Erlebnis. Diese Untersuchung der Liebe als Tugend soll einen kleinen, aber wichtigen Aspekt der Liebe herausgreifen und die praktischen Mittel ausführen, die man braucht, um diesen Aspekt zu deutlich herauszuarbeiten und ihn vollbewusst zu machen. Die Tugend der Liebe hat mit Verliebtheit beziehungsweise dem Sichverlieben nichts zu tun, auch nicht mit Liebenwollen beziehungsweise Geliebt-Sein-Wollen. Sie geht auch über die Art und Weise weit hinaus, in der wir tagtäglich jemanden lieben. Mit der Tugend versetzen wir uns aus der seelischen Ebene des Fühlens hinaus und begeben uns in unseren Beziehungen mit anderen auf die Ebene spirituellen Handelns in der Welt. Wie man Liebe tut ist die Frage, die an uns gestellt wird, wenn wir uns dieser Tugend stellen.
„Liebe“ ist in ähnlicher Weise ein großes Wort wie „Seele“ und „Geist“. Das sind Worte, die sich nicht definieren lassen, da sie Symbole sind und als solche ganze Welten der Bedeutung umfassen. Im Unterschied zu den Worten „Seele“ und „Geist“ aber will, braucht, sehnt sich jeder nach Liebe und jeder hat irgendeine Vorstellung davon, was für ihn die Liebe ausmacht. Wenn ich eine Gruppe von Menschen frage, was Seele oder Geist ausmacht, so wissen viele von ihnen nicht, wie man über solche Dinge spricht. Frage ich sie, was Liebe ist, so haben alle irgendeine Auffassung. Bitte ich die Gruppe aber darum, die Liebe als Tugend zu definieren, so vermögen nur wenige, sich mit Klarheit zu äußern.
Jeder weiß, dass Liebe mächtig ist, aber wir wissen nur wenig darüber, wie man innerhalb der Kraft der Liebe bewusst sein kann. Wir leben noch immer, als würden wir von der Liebe heimgesucht. Eine Untersuchung der Tugend der Liebe führt zur Erkenntnis, dass wenn wir Liebe tatsächlich erleben, wir es soweit bringen können, dass wir uns auf ihre Anwesenheit in einer Weise einstimmen, dass unsere Beziehungen zu Wegen werden können, auf denen wir der Seele anderer Menschen und der Welt dienen und uns in die Mysterien der eigenen Seele hinein vertiefen können.
Die Erfahrung, von der typischerweise die Rede ist, wenn wir sagen, wir „lieben jemanden“, kann man nicht die Tugend der Liebe nennen; bleibt sie doch mit den eigenen Bedürfnissen zu sehr verstrickt. Außerdem besteht diese Art der Liebe im Wesentlichen in der emotionalen Reaktion auf eine andere Person statt im Lieben als eine fortdauernde Handlung, die um des anderen Menschen willen ausgeführt wird. Die Tugend selbst bleibt verborgen und verdunkelt, es sei denn, man arbeitet gezielt daran, sie ins Bewusstsein zu heben. Wir müssen eine Menge innerer Arbeit verrichten, um zur Erfahrung der Liebe als wesentlich bestimmende Eigenschaft dessen zu kommen, was es heißt, Mensch zu sein. Ein Mensch ist, wer liebt. Liebe vollendet uns nicht nur in unserem Menschsein; sie ist auch das erlösende Geschenk, das wir der Welt zu geben vermögen.
Liebe ist stets Beziehung. Sie ist ein relationales, Beziehungs-Phänomen und nicht etwas, was ich getan habe und dann anderen darbiete. Auch ist sie nicht etwas, was andere besitzen und mir als sublimierte Ware anbieten. Die große Aufgabe, die diese Tugend mit sich bringt, besteht im Ausbilden der Fähigkeit, sich auf die Beziehung selbst zu konzentrieren, sie wahrnehmen zu lernen, innerhalb ihrer Räume zu leben. Liebe hat niemals mit nur einem Liebenden und einem Geliebten zu tun. Es gibt einen dritten Teil der Liebe, nämlich die Beziehung selbst, die zwischen Liebenden und Geliebten besteht. Das, was uns in die Tugend hineinbringt, das ist: sensibilisiert werden für diese Dimension, dieses Spannungsfeld der Liebe.
Die Pflege einer Beziehung existiert nicht durch mich allein und auch nicht durch den anderen allein. Es geht dabei um einen Seelen-Raum sowohl zwischen den beiden, die in dieser Beziehung sind und er umfasst auch deren inneres Leben umfasst. Ferner hat dieser Seelen-Raum mit der Beziehung beider dieser Menschen zur geistigen Dimension der Liebe etwas zu tun. Liebe spielt sich ab zwischen mir selbst und einem anderen Menschen, einer Aufgabe oder einem Ort, oder zwischen mir und einem geschaffenen Gegenstand wie etwa einem schönen Gemälde, einem tief bewegenden Buch oder einem inspirierten Konzert. Hierin liegt die horizontale Dimension der Liebesbeziehung. Liebe ist aber auch wesensgemäß spirituell. Durch die Liebe sind wir immer in Verbindung mit den göttlichen Welten. Die Liebe als Tugend handelt von der Fähigkeit, in diesen zwei Dimensionen gleichzeitig anwesend zu sein.
Das „Dazwischen“, von dem hier die Rede ist, trotzt jedem Dualismus. Die Spaltung zwischen dem inneren Leben und der äußeren Welt löst sich im Phänomen der Tugend der Liebe mitten darinnen auf; außerdem fließen in diesem „Dazwischen“ das Geistige und das Irdische miteinander lebendig zusammenfließen. Solange wir das Seelische – die Seele – einer Beziehung erleben, ist es nicht möglich zu wissen, ob das, was wir gerade erleben, ein Inneres oder ein Äußeres oder auch beides ist. Die Tugend der Liebe hängt von unserem Vermögen ab, in diesem Seelen-Raum zu leben, ohne dabei vom Fühlen überwältigt zu werden und unser Herz auszuschalten. Oft verschließen wir unser Herz dann, wenn entweder die Großartigkeit der Liebe zu viel wird, sodass wir sie nicht mehr halten können, oder aber wenn es so scheint, als wäre uns die Kraft der Liebe entrissen worden – wobei Letzteres oft deshalb eintritt, weil wir mit dem Mysterium falsch umgegangen sind.
Wie viele von uns haben tatsächlich die eigentliche Beziehung erlebt, etwas, was über das hinausgeht, was ich für jemand anderen fühle und was der andere Mensch für mich fühlt? Die Beziehung selbst ist eine Wirklichkeit, eine die erlebt werden kann in bestimmten Momenten und bestimmten Situationen. Die Tugend der Liebe empfindet dieses interaktive Feld und drängt uns dazu, durch das Medium dieses Seelen-Zwischen-Raumes mit anderen eine Beziehung zu pflegen. Wird dieser Raum ignoriert, so fühlen wir uns in unserem Bemühen um die Beziehung erstickt, missbraucht, missachtet. Wenn dieser Raum ignoriert wird, empfinden wir die Beziehung bestenfalls als einfach oder angenehm, aber ohne jeden Sinn für das, was wir miteinander zu tun haben. Die Liebe selbst ist es, die leidet, wenn das Medium des Seelen-Raumes zwischen den Menschen missachtet wird.
Wie wissen wir, dass wir gerade dabei sind, dieses interaktive Feld zu empfinden? Wenn wir unter gewöhnlichen Lebensumständen mit anderen zusammen sind, besteht eine gefühlte Trennung zwischen uns und anderen, sie sind „dort drüben“, wir sind „hier“, wo auch unser Körper sich befindet. Was zwischen uns sich abspielt, ist im Wesentlichen funktional, allenfalls sozial; das Hauptinteresse ist jedoch Selbstinteresse. Der geistige Ton, der Rhythmus der von beiden Personen gesprochenen Worte, die Schattierung und Nuancierung der Interaktion bleiben unbemerkt oder werden höchstens nebenbei zur Kenntnis genommen. In dieser Art der Interaktion wird auch stark die lineare Eigenschaft der gewöhnlichen Zeit erlebt. Die Zeit, die wir mit anderen zusammen verbringen, fühlt sich so an, als würden wir sie „absitzen“. Das, was in solcher Situation die Menschen zusammenhält, sind die gegenseitigen Pflichten, nicht die gegenseitige Liebe. Ein erstes Anzeichen dafür, dass wir das Feld der Liebe betreten, ist eine veränderte Wahrnehmung der Zeit.
Wenn die Verbindung zu jemandem eine eher herzliche ist, dann ist es möglich, dieses Feld zu empfinden. Die Zeit bekommt eine andere Qualität. Es wird mehr Dauer erlebt und manchmal ist es fast so, als hätten wir mit jemandem, den wir lieben, ein Reich ohne Zeit betreten. Mit der linearen Zeit folgt das eine Ereignis der Reihe nach auf das vorherige. Die Dinge laufen wie an einem Faden ab, das eine nach dem anderen. Im interaktiven Feld beginnt die Zeit, sich „freundlicher“ anzufühlen.
Mit dem Ausdruck „freundlich“ meine ich, dass ein Verlangen danach auftritt, mit der anderen Person zu verweilen. Das Zusammensein hat etwas Köstliches an sich, und wenn es gilt, wieder auseinander und jeder seiner eigenen Wege zu gehen, so ist es, als gäbe es eine Flüssigkeit zwischen uns, die sich dergestalt dehnt, dass wir das Feld überall mitnehmen. Das Feld fühlt sich wie eine subtile Veränderung im Bewusstsein und im Fühlen an. Es entsteht ein Bruch in unserem gewöhnlichen Bewusstsein; es tut sich eine Tür auf und wir beginnen das Gefühl zu haben, dass zwischen uns etwas existiert. Derjenige, der das Feld einer Beziehung bewusst pflegen will, muss dadurch diese Zeitqualität finden, dass er auf den Augenblick aufmerksam ist, in dem ein Bruch im gewöhnlichen Bewusstsein entsteht.
Ein Bruch im normalen Bewusstsein ist etwas anderes, als eine momentane Pause, eine Leerstelle, wenngleich diese Pause der Spalt ist, der die Tür zur freundlichen Zeit öffnet – vorausgesetzt, wir sind in der Lage, die Pause zu bemerken und in den Raum der Pause selbst einzutreten. Normalerweise ist in unseren Verbindungen mit anderen unser Bewusstsein voll von solchen Brüchen, die wir für ganz normal und natürlich halten – obwohl wenn sie zu lange werden, ein Gefühl des Unbehagens einsetzt. Wir fühlen uns wohl, wenn unser Bewusstsein uns nahtlos erscheint. Wohl mag unsere Aufmerksamkeit von einer Sache zur anderen schweifen; auch kommt es schon vor, dass wir hin und wieder für das, was wir gerade tun, das Bewusstsein verlieren; im Großen und Ganzen aber haben wir kein Erlebnis eines Durchbruchs in ein anderes Reich.
Diese Empfindung unseres Bewusstseins als lückenlos ist eine Illusion. Diese Illusion dient einem bestimmten Zweck, nämlich dem, unserem Bewusstsein den Anschein zu verleihen, als diene es jedem unserer Bedürfnisse, Launen, Absichten. Wenn ein Bruch entsteht und wir ihn wirklich bewusst wahrnehmen können, entdecken wir blitzartig, dass das Bewusstsein eine Gabe ist, das uns geschenkt wurde. Und es gibt viele Geschenke; das normale Bewusstsein ist nur eines davon. Um das Geschenk eines andersartigen Bewusstseinsmodus zu bekommen, muss es einen Bruch geben.
Manchmal wird ein solcher Bruch über die Zeit hin gedehnt und wir stellen fest, dass wir in einer Art Grenzzustand leben, in dem nichts einen Sinn hat. Die Ausdehnung dieses Bruchs deutet oft darauf hin, dass wir nach dem suchen, was wir zurückgelassen haben und nicht nach dem, was hereinzukommen sucht. Wenn anstatt nach rückwärts zu schauen wir dem Bruch im Bewusstsein folgen, stellen wir die Verbindung mit dem interaktiven Feld her, wo die Liebe ihr Werk vollbringt.
Das interaktive Feld ist ein flüssiges Medium. Sein Dasein spielt sich zwischen jedem Inhalt ab, der zwischen mir und einem anderen Individuum stattfindet, und wenn man die Aufmerksamkeit darauf richtet, so erstarkt es und ist sogar noch stärker zu fühlen als der Inhalt dessen, was wir mit jemandem tun. Wenn wir dieses Medium fühlen, geht uns die Erkenntnis auf, dass die Intervalle in unseren Verbindungen mit anderen Menschen am wichtigsten sind. Der Inhalt des von uns Gefühlten, Gedachten, Gesprochenen, Wahrgenommenen, Vorgestellten ist zwar wichtig, aber in erster Linie nur für uns. So identifizieren wir das Bewusstsein mit einem Inhalt, identifizieren sogar die Liebe als eine Art Inhalt – als einen Inhalt mit bestimmten Gefühlsarten. Die Intervalle hält man für ungelegene Unterbrechungen. Sie sind aber der Ort, wo die Liebe gedeiht.
Ein Intervall im Bewusstsein ist nicht dasselbe wie ein Bewusstseinsausfall. Es ist Bewusstsein mit einem anderen Timing. Die Arbeit, das Feld bewusst zu betreten, besteht darin, sich der Intervalle und nicht bloß des Inhaltes dessen bewusst zu werden, was stattfindet. Die Tugend der Liebe besteht darin, sich immer mehr in die Intervalle hineinzuarbeiten, bis dahin, dass, egal was für ein Inhalt erscheint, er nunmehr aus den Tiefen der Intervalle auftaucht.
Die Tugend hat sowohl damit zu tun, auf die Intervalle zu lauschen, während wir mit jemandem zusammen sind, als auch damit, hindurch zu horchen durch die Tyrannei des Inhaltes dessen, worüber wir gerade sprechen oder was wir gerade tun. Der Inhalt bleibt allerdings wichtig, sowohl an und für sich, als auch insofern er ein Weg ist, uns selbst in das Feld hinein zu begeben. Im Felde zu bleiben aber und nicht das Bedürfnis zu haben, sofort die Aufmerksamkeit auf den Inhalt zurückzurichten: das ist die Liebe in ihrer eigentlichen Aktivität, das ist Liebe als Tugend.
Das Spiel zwischen Inhalt und Intervall, wenn man beiden den gleichen Wert beimisst, biegt die lineare Zeitfolge zu einer aktiven Spirale um, zu einem Wirbel, einem Vortex. So kann es zum Beispiel vorkommen, dass wir beginnen, uns an Wiederholungen zu freuen, daran, die Dinge einmal so und einmal anders zu sagen. Wir empfinden Freude am Rhythmus unseres menschlichen Umgangs, wir genießen das Verweilen im Augenblick. Wir hören tiefer, ahnen das tiefste Seelenwesen des Menschen, mit dem wir zusammen sind. Wir erleben eine Bewegung zwischen uns, die Kraft hat. Wir sind in einem Kraftfeld zusammen.
Dieses Feld kann in sehr körperlicher Weise empfunden werden. Es ist, als gäbe es zwischen uns einen Energiefluss, der aber nicht so ist wie elektrische Energie, sondern viel sanfter; so, als fühlte man die Helligkeit des Lichtes als Kraft. Dieser Fluss ist eher wie eine Erleuchtung, nicht wie eine elektrische Strömung. Und doch ist diese sanfte Kraft stark und beständig.
Die Praxis der Tugend der Liebe erfordert, dass man lernt, den Intervallen zwischen unseren Interaktionen mit anderen eine immer größere und größere Intensität der Aufmerksamkeit zu schenken. Das zu tun, ist ein Affront gegen das gewöhnliche Bewusstsein, dessen Kränkung. Das gewöhnliche Bewusstsein gedeiht an Inhalten, am Wissen, an operativer Effizienz – auch dann, wenn wir uns gütig verhalten und uns mit Güte behandelt fühlen. Das Wahrnehmen des Seelen-Raumes zwischen mir selbst und einem anderen Menschen erfordert Nichtwissen, zugleich aber auch volle Anwesenheit. Wir kennen dieses Feld nicht durch unseren Verstand, sondern durch unseren Leib als Ganzes. So ist für den Verstand das, was geschieht, völlig verwirrend, ja furchterregend. Falls Furcht sich ankündigen sollte, so gilt es, das Bewusstsein vom Kopf in die körperliche Region des Herzens zu verlagern. Die Furcht wird dann aufhören und die feinen Strömungen werden zu fühlen sein.
Das Betreten dieses Feldes ist wie ein Eintritt in eine andere Welt. Es ändert sich dabei das Wahrnehmen. Es ist, wie wenn ein weicher Nebel in den Raum, in dem wir uns befinden, hereinwogen und die scharfen Kanten zwischen den Gegenständen in äußerst zarter Weise auflösen würde. Mit dem kaum wahrnehmbaren Verschwimmen-Lassen der körperlichen Grenzen verändert sich die Innerlichkeit beider Menschen so, dass sie deutlicher, gewissermaßen präziser wird, indem er zu gleicher Zeit dem anderen Menschen gegenüber offener ist.
In den Intervallen eines durch Liebe stattfindenden Umgangs mit einem Menschen stellen wir eine Veränderung in unserer Gesichtswahrnehmung des anderen fest. Der Gefühlsaspekt der Wahrnehmung, welcher für gewöhnlich im Hintergrund der Begegnungen bleibt, tritt jetzt in den Vordergrund. Die Physiognomie des anderen wird deutlicher. Es ist, als könnten wir die Seele des anderen Menschen sehen, wie sie in dessen Antlitz leuchtet. Wir fühlen in intimer Weise das, was sich durch das Gesicht und die Gebärde des anderen Menschen hindurch ausdrückt.
Wir nehmen Physiognomie ständig wahr, aber nur unbewusst. Normalerweise konzentrieren wir uns auf den Körper eines Menschen als Inhalt und sind uns nicht der Art bewusst, wie das Licht die Gesichtszüge eines Menschen zurückspiegelt. Die Wahrnehmung des Feldes besteht darin, für das Zwischenspiel zwischen den Gesichtszügen eines Menschen und dem Licht sensibel zu werden. Sie hat ferner mit dem sensibel Werden für das von dem anderen Menschen ausstrahlende Licht zu tun. Der Mensch leuchtet im Licht der Liebe.
Das Wahrnehmen im interaktiven Feld der Liebe nimmt den Charakter einer Ganzheit an, die mit der Fähigkeit zu tun hat, sich gleichzeitig auf den Inhalt dessen, was zwischen uns ist, und auch auf das wahrnehmbare Seelenleben der anderen Person zu fokussieren. Der Leser soll diese Beschreibung bitte nicht so auffassen, als hieße sie, dass dabei alles verwirrt oder strukturlos würde. Es existiert im Feld der Liebe eine viel höhere Präzision der Wahrnehmung als in unserer gewohnten Art des Wahrnehmens. Was wir normalerweise sehen, sind Kategorien des Menschen und nicht dessen Wesen. Wir sehen zum Beispiel unseren Freund, unsere Geliebte, unsere Ehefrau, unseren Gatten; selten aber sehen wir das Leuchten von deren Wesen. Denn wir richten unsere Aufmerksamkeit nicht auf das, was in dem interaktiven Raum der Liebe sich abspielt. Wir sehen normalerweise die anderen an, aber wir sehen sie nicht. Das Sehen und Gesehen-Werden ist nicht zu unterschätzen; wenn Sehen und Gesehen-Werden stattfindet, ist es wie ein Segen; wir könnten auch sagen: es ist ein Heilen.
Wenn wir den anderen Menschen durch das Feld der Liebe sehen, so sehen wir ihn in seinem Potential. Wir nehmen wahr, wer diese Person sein kann; die Tugend der Liebe begreift das potentiell Anwesende als tatsächlich anwesend. Es handelt sich hierbei um eine reale Wahrnehmung und nicht nur um unsere Hoffnungen, Wünsche oder Spekulationen mit Bezug auf die Zukunft der Person. Gesehen zu werden heißt, in unserem Potential, in unserem Werden gesehen zu werden.
Wenn ich die Tugend der Liebe praktiziere, indem ich das Feld zwischen mir selbst und einem anderen Menschen wahrnehme, nehme ich dabei nicht etwas Überirdisch-Engelhaftes wahr. Der Geist des anderen Menschen ist anwesend und das fast greifbar, aber in Verbindung mit Schmerz, Verwundbarkeit und Verwundet-Sein und dies alles macht jeden von uns aus. Ohne diese Spannung zwischen dem Wahrnehmen der spirituellen Vollkommenheit des anderen und dem Miterleben von dessen Schmerzen – welche die Erfahrungen des Lebens mit sich bringen – befinden wir uns in keinem Kraftfeld.
Die Tugend der Liebe ist das Bemühen, innerhalb des Feldes zu sein und ist auch das Bemühen, die volle Anwesenheit des Seelen-Seins des anderen Menschen als Nachbild zu behalten, wenn wir mit diesem Menschen nicht mehr zusammen sind beziehungsweise während der Zeiten, zu denen das interaktive Feld nicht stark ist. Mit dem Ausdruck „Nachbild“ meine ich, dass das Seelenwesen des anderen Menschen weiter einen Einfluss auf uns hat, wenn wir nicht mit dem Menschen zusammen sind, oder wenn wir zu diesem Menschen zurückkehren und das Feld nicht wahrnehmbar scheint. Hiermit handelt es sich um den erweiterten Aspekt der Tugend der Liebe. So besteht die Tugend also darin, unsere Aufmerksamkeit auf das zu umzulenken, was zwischen mir selbst und dem anderen Menschen stattfindet, und sie besteht auch darin, etwas aus dem Seelenleben des anderen Menschen innerhalb von mir selbst leben zu lassen. Ich spreche hier von etwas, was über eine bloße Neigung oder eine liebe Erinnerung hinausgeht. Es schwingt vielmehr die Tiefe der Seele des anderen Menschen innerhalb meiner Seele weiter mit.
Das lateinische Wort für „Mitschwingen“ ist resonare, was soviel bedeutet, wie „zum Klang zurückkehren“. Aus ihr wird das Wort „Resonanz“ abgeleitet. Wenn wir einen Gegenstand wie zum Beispiel eine Glocke zum Klingen, zum Tönen bringen, so schwingt die Originalresonanz dieser Glocke weiter. Es gibt auch eine andere Art der Resonanz, die sympathische Resonanz. Wenn eine Glocke erklingt und deren Resonanz fortdauert, so beginnt ein anderer Gegenstand, der die gleiche Tonhöhe wie die Glocke besitzt, mit ihr mitzuschwingen. Eine Art sympathische Resonanz kennzeichnet auch den Seelen-Raum in der Tugend der Liebe.
Man stelle sich vor, man läuft am Meeresstrand entlang, Hand in Hand mit seinem Geliebten, seiner Geliebten. Während man spaziert, passt sich der Rhythmus der eigenen Schritte dem Rhythmus der herein- und hinausfließenden Wellen an. Indem das passiert, fühlen sich beide in intimer Weise – miteinander wie mit der Welt – zusammen. Dies ist die Resonanz der Seele. Und wenn wir uns ein bisschen auf dieses Phänomen besinnen, so erkennen wir, dass Seele nicht in mir beziehungsweise nicht in dir allein ist. Wir sind „in Seele“ und Seele ist in der Welt. Wenn wir „in Seele“ sind, fühlen wir die Innerlichkeit unseres Lebens, fühlen aber auch etwas von den geheimnisvollen Eigenschaften der Welt. Das interaktive Feld der Liebe bezieht die Welt als unsere Partnerin mit ein. Wir fühlen uns mit der Schönheit der Welt in engerer Weise verbunden und können diese Schönheit unmittelbar empfinden. Wir bemerken mehr, nehmen aufmerksamer wahr, fühlen die Heiligung der Welt.
Ein zentraler Aspekt der Tugend der Liebe besteht in der Arbeit daran, für das fortdauernde Nachklingen sensibel zu werden, das geschieht, wenn wir ein Feld der Liebe zwischen uns und dem anderen gefühlt haben.
Um das zu tun, muss man verstehen, dass die Seele nicht so etwas ist wie eine Glocke, die ähnliche Schwingungen einer anderen Seele übernimmt. Über die Seele so zu denken, wäre zu materialistisch. Die Beschreibung der im Schwingen befindlichen Glocke ist weiter nichts als eine Analogie, die uns helfen kann, uns auf die Art und Weise einzulassen, wie Seele funktioniert. Nur dass mit Seele wir ein Bild haben: nicht von etwas was klingt, sondern wir haben ein reines Medium der Resonanz.
Man denke sich die Seele so: als reine Resonanz, nicht als etwas, das klingt beziehungsweise mitschwingt. Man stelle sich die Tätigkeit der Liebe als etwas vor, was die Tonhöhe oder den Klang oder den Rhythmus des klingenden Mediums intensiviert oder manchmal auch verändert. Man denke sich das Medium als den Fluss zwischen allen Dingen, als die große Anziehungskraft. So ist Seele also kein sublimierter Gegenstand, der schwingt, der klingt. Seele selbst ist Resonanz, Klingen, Schwingen. Wir wissen, dass wir „in Seele“ sind, wenn die Eigenschaft der Resonanz besteht. Unsere Wahrnehmungen, Gefühle, Gedanken, Empfindungen klingen nach, weil sie auf Schwingen, auf Wellen der Liebe getragen sind.
Die Ausführungen kommen zwar an dieser Stelle einer Physik der Liebe nahe, aber anders geht es nicht, wenn es gilt, irgendetwas von der Kraft der Liebe in ihrer Eigenschaft als Tugend zu fühlen. Die Liebe ist eine wirkliche Macht in der Welt, ist nicht bloß gute Gefühle. Sie hat die Macht, die Welt zu verändern. Wenn man sich in die Sprache der Resonanz hinein- und aus der Sprache der Sentimentalität hinwegversetzt, so ist das eine Hilfe, die Macht der Liebe zu empfinden. Wir verwenden häufig die Sprache der sympathischen Resonanz, um Phänomene der Seele zu beschreiben, ohne Kenntnis davon, dass wir dies tun. Wir sprechen davon, mit jemandem im Einklang zu stehen oder mit ihm auf der gleichen Wellenlänge zu sein. Es gibt etwas an der Verbindung mit jemandem, das sich einfach richtig anfühlt. Es klappt. Oder es tritt eine Erfahrung der Dissonanz auf. Wir suchen Erfahrungen von Resonanz auf und gehen Erfahrungen der Dissonanz aus dem Weg. Und dennoch gehört auch Dissonanz zur Sprache der Tugend der Liebe dazu. Die Dissonanzen sind nötig; im Verhältnis zur Resonanz verleihen sie der Liebe ihre Kraft.
Wenn wir das interaktive Feld der tätigen Liebe erleben, so dauert dieses Erlebnis in der Resonanz fort. Es handelt sich aber hierbei um mehr als die bloße Erinnerung. Etwas mehr passiert, als dass man innere Bilder und Gefühle hegt. Das Einbringen der Tugend der Liebe bringt einen Prozess von Seele-Schaffen in Gang. Ohne unsere Interaktionen der Liebe mit anderen ist Seele nicht anwesend. Diese Interaktionen mögen klein oder groß sein; hier ist nicht nur die Rede von der „Liebe unseres Lebens“, sondern von der fortdauernden Praxis der Tugend der Liebe auch in alltäglichen Begegnungen. Die Liebe, die zwischen Individuen besteht, dauert als Resonanz, als Nachklang fort. Und das, was geschieht, ist nicht die Erinnerung an etwas, sondern Seele-Schaffen. In dieser Strömung zu leben ist ein gegenseitiger Beitrag der einen Seele zur anderen, aber auch zur Seele der Welt. Dieser Beitrag ist kein Zusatz zu bereits Vorhandenem, er ist vielmehr ein schöpferisches Neugestalten. Durch die Liebe werden das eigene Leben und das Leben der Welt verwandelt.
In der Philosophie des Aristoteles wird zwischen potentia Tatsächlichkeit unterschieden. Die Dinge können in potentia existieren. Das Wort bedeutet „entstehen“. Die Seele gehört zum Reich des potentia, eine Domäne des Entstehens. So ist Seele stets mit Imagination, Traum, Kreativität, Möglichkeit verbunden. Die Tugend der Liebe aktiviert diese Reiche. Das Wesen, die Natur der Seele besteht darin, schwingende potentia zu sein, welche jeden Augenblick mit allem, was in der Umgebung sein mag, ineinanderfließt, die Schwingungen der Umgebung aufnehmend. Seele lebt in Sympathie, Antipathie, Empathie Telepathie und manchmal auch in der Apathie. Der wichtige Teil dieser Wörter, „-pathie“, deutet auf das Pathos der Seele hin, ein Wort, das „zulassen“ bedeutet. Seele ist das Zulassen aller Arten der Resonanz, die sie durchströmen können. Die Hauptresonanz ist die Liebe.
Das Ausführen der Tugend der Liebe: Aufmerksam-Werden auf die rhythmischen Elemente unseres Umgangs mit anderen Menschen. Man werde zum Beispiel auf die Art aufmerksam, wie jemand spricht – auf die Töne, die Nuancen, die Rhythmen, den Raum, die Unter- bzw. Obertöne – und zwar sogar noch aufmerksamer als auf die Inhalte dessen, was man spricht. Solche Aufmerksamkeit verwandelt die Art unseres Zusammenseins mit Menschen von sozialfähigen Höflichkeitsbezeigungen zu Handlungen des Heilens. Wie wir mit anderen zusammen sind wird ebenso wichtig, wie das, was wir als Inhalt tun. Die Arbeit der Tugend der Liebe besteht darin, diese Feinheiten mit völlig klarem Bewusstsein wahrzunehmen, vor ihnen präsent zu sein.
Man wird, wenn man sich also darum bemüht, ein diffuseres Herzensbewusstsein zuzulassen, eine Tendenz feststellen, sich in die Richtung einer Art hypnotischen oder Trancezustandes zu bewegen. Wir müssen daran arbeiten, das zu merken, wenn es passiert. Um sich davon zu erholen und nicht in einen solchen leichten Trancezustand hineinzugleiten, gilt es jedoch nicht, sich in ein gebündeltes Bewusstsein zurückzubewegen; das würde die Resonanz ausschließen. Stattdessen versenke man das Bewusstsein ganz absichtlich in die Region des Herzens.
Im Herzen der Liebe zu leben erfordert diese Art der Praxis. Sich zentrieren im Herzen der Liebe heißt, unseren Interaktionen Ehrfurcht zu verleihen. Und das versetzt uns in die Lage, auf unser Gespräch mit jemandem im Zuhören aufmerksam zu sein – statt der üblichen Art des gesprochenen Hin und Her.
Die Tugend der Liebe hat mit Sentimentalität überhaupt nichts zu tun. Wer den Weg ins interaktive Feld findet und in seelischer Resonanz lebt, der entdeckt, dass er besser imstande ist, Erfahrungen des Schreckens, der Ängstlichkeit, des Ärgers, der Verzweiflung und Verwirrung zu halten, die zwischen uns und anderen vorkommen. Diese Emotionen gelten gewöhnlich als Hindernisse einer guten Beziehung. Werden diese Eigenschaften aus unserer Beziehungspflege ausgeschlossen oder tauchen sie nur im Zusammenhang mit Problemen auf, so kann die Tugend der Liebe nicht mit der notwendigen Lebhaftigkeit funktionieren. Diese kraftvollen Eigenschaften verleihen der Liebe deren Umwandlungs- und moralische Kraft. Ohne diese Eigenschaften verschwindet das interaktive Feld.
Die Liebe kommt und lädt uns dazu ein, uns zu verändern, uns auf unser Potential einzulassen, in intensiver Weise den Vorgang des Werdens zu fühlen – auch wenn wir nicht wissen, wohin sich die Beziehung entfalten wird. Diese selbe Liebe lädt auch den Menschen beziehungsweise das Ereignis, mit dem wir es zu tun haben, dazu ein, sich zu verändern. Der andere Mensch betritt den Bereich des Potentials. Und das tut die Welt auch, wenn man sich ihr in dieser Weise nähert. Wir müssen weiter nichts tun, als uns des Urteilens zu enthalten, und zuzulassen, dass das Erlebnis dieses Zwischenreiches so vibriert und schwebt, als wäre es eine wogende Strömung in der Mitte zwischen uns selbst und anderen.
Ich habe auf die Tugend der Liebe als auf ein Seele-Schaffen aufmerksam gemacht, welches uns verwandelt. In welche Richtung führt eine solche Umwandlung? Die Tugend verwandelt mit Konfliktpotential geladene Gegensatzpaare, die wir in unserer Beziehung zu einem anderen Menschen empfinden. Es kann vorkommen, dass wir sowohl Liebe als auch Hass, Verzweiflung als auch Verlangen, Kühnheit als auch Feigheit, Ängstlichkeit als auch Gelassenheit fühlen. Es geht uns die Erkenntnis auf, dass es nicht der andere Mensch ist, der diese widerstreitenden Gefühle verursacht. Der andere Mensch ermöglicht vielmehr, dass wir diese sich widerstreitenden Gefühle in uns selbst entdecken. Was vermag die Tugend? Befreien von solchen Gefühlen kann sie nicht, aber etwas Neues ein- und zulassen. Betrachten wir ein Beispiel.
Erinnere dich an einen Anlass, zu dem jemand, den du kennst, den du liebst, dir etwas sagte, womöglich etwas Schmeichelhaftes, aber dass du beim Hören des Komplimentes einen inneren Konflikt fühltest. Dieser Mensch sagte etwa „Deine Freundschaft bedeutet mir so viel, ich bin durch meinen Kontakt zu dir gewachsen.“ Indem er aber dies sagte, empfandst du eine körperliche Spannung und den Wunsch dich zurückzuziehen, da das, was dieser Mensch sagte, dir eigenartig vorkam. Zu empfandst, dass er dich vielleicht für das eigene Wachstum gebraucht. Du empfandst sowohl Dankbarkeit für das Kompliment als auch den Wunsch, dich zurückzuziehen. Einen Konflikt des Fühlens also.
Wenn du es vermagst, im Feld und in der Resonanz der Tugend der Liebe darinnen zu bleiben, so verwandelt sich der Konflikt in ein Wahrnehmen des dynamischen Flusses zwischen den Gegensätzen, anstatt dass sie im Konflikt bleiben. Der Konflikt deutet auf ein Sich-Einlassen aus seelischer Ebene hin. Die Spannung, wenn sie mit Liebe gefühlt wird, entkrampft sich, löst sich in den Fluss des Feldes auf, anstatt eine Spannung der Polaritäten zu bleiben. Diese Befreiung ist in der Herzregion zu fühlen, ist kein kognitives Wissen. Die Befreiung ist im Körper zu fühlen, indem die Beengtheit des Verspanntseins gelöst wird. Es geht hier mehr vor sich als ein bloßes Sich-Entspannen. Die Grenzen des Körpers weiten sich und das Wahrnehmen tut sich auf und die Welt erscheint wesenhafter und lebhafter. Das Sich-Einlassen der Seele auf etwas in dieser Weise öffnet sich zu einem Sich-Einlassen auf die Seele der Welt.
Die Tugend der Liebe tut sogar noch mehr, als widerstreitende Gefühle zu verwandeln. Das wahre Ziel der Tugend besteht darin, die Macht der Liebe in die Welt hinein zu entlassen. Das Wahrnehmen des Feldes und der Art, wie es unser Zeitempfinden und unsere Wahrnehmung der Welt verändert, auch die Art, wie dieses Wahrnehmen uns selbst verwandelt, ist aber weiter nichts als die bloße Vorbedingung zu dessen noch geheimnisvollerer Arbeit. Zwar werden wir dazu eingeladen, in der beschriebenen Weise uns dieser Tätigkeit zu nähern, aber nicht nur um der Dinge willen, die uns die Tätigkeit der Liebe einbringen kann, sondern damit wir in bewussterer Weise vor der Macht der Liebe stehen und sie in die Welt hinein entlassen können. Wenn wir das Feld erleben, so bauen wir für eine Weile an ihm, bleiben in ihm darinnen, lassen es erstarken und verschenken es dann bewusst, gezielt an die Welt. In dieser Weise ist die Tugend noch vollkommener.
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von Robert Sardello
Die Tugend der Liebe
(Großmut wird zu Liebe - Rudolf Steiner)
21. Februar – 20. März
Die Liebe umfasst ganz der Menschheit Ziel und Zweck. Insofern ist sie ein unermessliches Thema sowie ein unermessliches Erlebnis. Diese Untersuchung der Liebe als Tugend soll einen kleinen, aber wichtigen Aspekt der Liebe herausgreifen und die praktischen Mittel ausführen, die man braucht, um diesen Aspekt zu deutlich herauszuarbeiten und ihn vollbewusst zu machen. Die Tugend der Liebe hat mit Verliebtheit beziehungsweise dem Sichverlieben nichts zu tun, auch nicht mit Liebenwollen beziehungsweise Geliebt-Sein-Wollen. Sie geht auch über die Art und Weise weit hinaus, in der wir tagtäglich jemanden lieben. Mit der Tugend versetzen wir uns aus der seelischen Ebene des Fühlens hinaus und begeben uns in unseren Beziehungen mit anderen auf die Ebene spirituellen Handelns in der Welt. Wie man Liebe tut ist die Frage, die an uns gestellt wird, wenn wir uns dieser Tugend stellen.
„Liebe“ ist in ähnlicher Weise ein großes Wort wie „Seele“ und „Geist“. Das sind Worte, die sich nicht definieren lassen, da sie Symbole sind und als solche ganze Welten der Bedeutung umfassen. Im Unterschied zu den Worten „Seele“ und „Geist“ aber will, braucht, sehnt sich jeder nach Liebe und jeder hat irgendeine Vorstellung davon, was für ihn die Liebe ausmacht. Wenn ich eine Gruppe von Menschen frage, was Seele oder Geist ausmacht, so wissen viele von ihnen nicht, wie man über solche Dinge spricht. Frage ich sie, was Liebe ist, so haben alle irgendeine Auffassung. Bitte ich die Gruppe aber darum, die Liebe als Tugend zu definieren, so vermögen nur wenige, sich mit Klarheit zu äußern.
Jeder weiß, dass Liebe mächtig ist, aber wir wissen nur wenig darüber, wie man innerhalb der Kraft der Liebe bewusst sein kann. Wir leben noch immer, als würden wir von der Liebe heimgesucht. Eine Untersuchung der Tugend der Liebe führt zur Erkenntnis, dass wenn wir Liebe tatsächlich erleben, wir es soweit bringen können, dass wir uns auf ihre Anwesenheit in einer Weise einstimmen, dass unsere Beziehungen zu Wegen werden können, auf denen wir der Seele anderer Menschen und der Welt dienen und uns in die Mysterien der eigenen Seele hinein vertiefen können.
Die Erfahrung, von der typischerweise die Rede ist, wenn wir sagen, wir „lieben jemanden“, kann man nicht die Tugend der Liebe nennen; bleibt sie doch mit den eigenen Bedürfnissen zu sehr verstrickt. Außerdem besteht diese Art der Liebe im Wesentlichen in der emotionalen Reaktion auf eine andere Person statt im Lieben als eine fortdauernde Handlung, die um des anderen Menschen willen ausgeführt wird. Die Tugend selbst bleibt verborgen und verdunkelt, es sei denn, man arbeitet gezielt daran, sie ins Bewusstsein zu heben. Wir müssen eine Menge innerer Arbeit verrichten, um zur Erfahrung der Liebe als wesentlich bestimmende Eigenschaft dessen zu kommen, was es heißt, Mensch zu sein. Ein Mensch ist, wer liebt. Liebe vollendet uns nicht nur in unserem Menschsein; sie ist auch das erlösende Geschenk, das wir der Welt zu geben vermögen.
Liebe ist stets Beziehung. Sie ist ein relationales, Beziehungs-Phänomen und nicht etwas, was ich getan habe und dann anderen darbiete. Auch ist sie nicht etwas, was andere besitzen und mir als sublimierte Ware anbieten. Die große Aufgabe, die diese Tugend mit sich bringt, besteht im Ausbilden der Fähigkeit, sich auf die Beziehung selbst zu konzentrieren, sie wahrnehmen zu lernen, innerhalb ihrer Räume zu leben. Liebe hat niemals mit nur einem Liebenden und einem Geliebten zu tun. Es gibt einen dritten Teil der Liebe, nämlich die Beziehung selbst, die zwischen Liebenden und Geliebten besteht. Das, was uns in die Tugend hineinbringt, das ist: sensibilisiert werden für diese Dimension, dieses Spannungsfeld der Liebe.
Die Pflege einer Beziehung existiert nicht durch mich allein und auch nicht durch den anderen allein. Es geht dabei um einen Seelen-Raum sowohl zwischen den beiden, die in dieser Beziehung sind und er umfasst auch deren inneres Leben umfasst. Ferner hat dieser Seelen-Raum mit der Beziehung beider dieser Menschen zur geistigen Dimension der Liebe etwas zu tun. Liebe spielt sich ab zwischen mir selbst und einem anderen Menschen, einer Aufgabe oder einem Ort, oder zwischen mir und einem geschaffenen Gegenstand wie etwa einem schönen Gemälde, einem tief bewegenden Buch oder einem inspirierten Konzert. Hierin liegt die horizontale Dimension der Liebesbeziehung. Liebe ist aber auch wesensgemäß spirituell. Durch die Liebe sind wir immer in Verbindung mit den göttlichen Welten. Die Liebe als Tugend handelt von der Fähigkeit, in diesen zwei Dimensionen gleichzeitig anwesend zu sein.
Das „Dazwischen“, von dem hier die Rede ist, trotzt jedem Dualismus. Die Spaltung zwischen dem inneren Leben und der äußeren Welt löst sich im Phänomen der Tugend der Liebe mitten darinnen auf; außerdem fließen in diesem „Dazwischen“ das Geistige und das Irdische miteinander lebendig zusammenfließen. Solange wir das Seelische – die Seele – einer Beziehung erleben, ist es nicht möglich zu wissen, ob das, was wir gerade erleben, ein Inneres oder ein Äußeres oder auch beides ist. Die Tugend der Liebe hängt von unserem Vermögen ab, in diesem Seelen-Raum zu leben, ohne dabei vom Fühlen überwältigt zu werden und unser Herz auszuschalten. Oft verschließen wir unser Herz dann, wenn entweder die Großartigkeit der Liebe zu viel wird, sodass wir sie nicht mehr halten können, oder aber wenn es so scheint, als wäre uns die Kraft der Liebe entrissen worden – wobei Letzteres oft deshalb eintritt, weil wir mit dem Mysterium falsch umgegangen sind.
Wie viele von uns haben tatsächlich die eigentliche Beziehung erlebt, etwas, was über das hinausgeht, was ich für jemand anderen fühle und was der andere Mensch für mich fühlt? Die Beziehung selbst ist eine Wirklichkeit, eine die erlebt werden kann in bestimmten Momenten und bestimmten Situationen. Die Tugend der Liebe empfindet dieses interaktive Feld und drängt uns dazu, durch das Medium dieses Seelen-Zwischen-Raumes mit anderen eine Beziehung zu pflegen. Wird dieser Raum ignoriert, so fühlen wir uns in unserem Bemühen um die Beziehung erstickt, missbraucht, missachtet. Wenn dieser Raum ignoriert wird, empfinden wir die Beziehung bestenfalls als einfach oder angenehm, aber ohne jeden Sinn für das, was wir miteinander zu tun haben. Die Liebe selbst ist es, die leidet, wenn das Medium des Seelen-Raumes zwischen den Menschen missachtet wird.
Wie wissen wir, dass wir gerade dabei sind, dieses interaktive Feld zu empfinden? Wenn wir unter gewöhnlichen Lebensumständen mit anderen zusammen sind, besteht eine gefühlte Trennung zwischen uns und anderen, sie sind „dort drüben“, wir sind „hier“, wo auch unser Körper sich befindet. Was zwischen uns sich abspielt, ist im Wesentlichen funktional, allenfalls sozial; das Hauptinteresse ist jedoch Selbstinteresse. Der geistige Ton, der Rhythmus der von beiden Personen gesprochenen Worte, die Schattierung und Nuancierung der Interaktion bleiben unbemerkt oder werden höchstens nebenbei zur Kenntnis genommen. In dieser Art der Interaktion wird auch stark die lineare Eigenschaft der gewöhnlichen Zeit erlebt. Die Zeit, die wir mit anderen zusammen verbringen, fühlt sich so an, als würden wir sie „absitzen“. Das, was in solcher Situation die Menschen zusammenhält, sind die gegenseitigen Pflichten, nicht die gegenseitige Liebe. Ein erstes Anzeichen dafür, dass wir das Feld der Liebe betreten, ist eine veränderte Wahrnehmung der Zeit.
Wenn die Verbindung zu jemandem eine eher herzliche ist, dann ist es möglich, dieses Feld zu empfinden. Die Zeit bekommt eine andere Qualität. Es wird mehr Dauer erlebt und manchmal ist es fast so, als hätten wir mit jemandem, den wir lieben, ein Reich ohne Zeit betreten. Mit der linearen Zeit folgt das eine Ereignis der Reihe nach auf das vorherige. Die Dinge laufen wie an einem Faden ab, das eine nach dem anderen. Im interaktiven Feld beginnt die Zeit, sich „freundlicher“ anzufühlen.
Mit dem Ausdruck „freundlich“ meine ich, dass ein Verlangen danach auftritt, mit der anderen Person zu verweilen. Das Zusammensein hat etwas Köstliches an sich, und wenn es gilt, wieder auseinander und jeder seiner eigenen Wege zu gehen, so ist es, als gäbe es eine Flüssigkeit zwischen uns, die sich dergestalt dehnt, dass wir das Feld überall mitnehmen. Das Feld fühlt sich wie eine subtile Veränderung im Bewusstsein und im Fühlen an. Es entsteht ein Bruch in unserem gewöhnlichen Bewusstsein; es tut sich eine Tür auf und wir beginnen das Gefühl zu haben, dass zwischen uns etwas existiert. Derjenige, der das Feld einer Beziehung bewusst pflegen will, muss dadurch diese Zeitqualität finden, dass er auf den Augenblick aufmerksam ist, in dem ein Bruch im gewöhnlichen Bewusstsein entsteht.
Ein Bruch im normalen Bewusstsein ist etwas anderes, als eine momentane Pause, eine Leerstelle, wenngleich diese Pause der Spalt ist, der die Tür zur freundlichen Zeit öffnet – vorausgesetzt, wir sind in der Lage, die Pause zu bemerken und in den Raum der Pause selbst einzutreten. Normalerweise ist in unseren Verbindungen mit anderen unser Bewusstsein voll von solchen Brüchen, die wir für ganz normal und natürlich halten – obwohl wenn sie zu lange werden, ein Gefühl des Unbehagens einsetzt. Wir fühlen uns wohl, wenn unser Bewusstsein uns nahtlos erscheint. Wohl mag unsere Aufmerksamkeit von einer Sache zur anderen schweifen; auch kommt es schon vor, dass wir hin und wieder für das, was wir gerade tun, das Bewusstsein verlieren; im Großen und Ganzen aber haben wir kein Erlebnis eines Durchbruchs in ein anderes Reich.
Diese Empfindung unseres Bewusstseins als lückenlos ist eine Illusion. Diese Illusion dient einem bestimmten Zweck, nämlich dem, unserem Bewusstsein den Anschein zu verleihen, als diene es jedem unserer Bedürfnisse, Launen, Absichten. Wenn ein Bruch entsteht und wir ihn wirklich bewusst wahrnehmen können, entdecken wir blitzartig, dass das Bewusstsein eine Gabe ist, das uns geschenkt wurde. Und es gibt viele Geschenke; das normale Bewusstsein ist nur eines davon. Um das Geschenk eines andersartigen Bewusstseinsmodus zu bekommen, muss es einen Bruch geben.
Manchmal wird ein solcher Bruch über die Zeit hin gedehnt und wir stellen fest, dass wir in einer Art Grenzzustand leben, in dem nichts einen Sinn hat. Die Ausdehnung dieses Bruchs deutet oft darauf hin, dass wir nach dem suchen, was wir zurückgelassen haben und nicht nach dem, was hereinzukommen sucht. Wenn anstatt nach rückwärts zu schauen wir dem Bruch im Bewusstsein folgen, stellen wir die Verbindung mit dem interaktiven Feld her, wo die Liebe ihr Werk vollbringt.
Das interaktive Feld ist ein flüssiges Medium. Sein Dasein spielt sich zwischen jedem Inhalt ab, der zwischen mir und einem anderen Individuum stattfindet, und wenn man die Aufmerksamkeit darauf richtet, so erstarkt es und ist sogar noch stärker zu fühlen als der Inhalt dessen, was wir mit jemandem tun. Wenn wir dieses Medium fühlen, geht uns die Erkenntnis auf, dass die Intervalle in unseren Verbindungen mit anderen Menschen am wichtigsten sind. Der Inhalt des von uns Gefühlten, Gedachten, Gesprochenen, Wahrgenommenen, Vorgestellten ist zwar wichtig, aber in erster Linie nur für uns. So identifizieren wir das Bewusstsein mit einem Inhalt, identifizieren sogar die Liebe als eine Art Inhalt – als einen Inhalt mit bestimmten Gefühlsarten. Die Intervalle hält man für ungelegene Unterbrechungen. Sie sind aber der Ort, wo die Liebe gedeiht.
Ein Intervall im Bewusstsein ist nicht dasselbe wie ein Bewusstseinsausfall. Es ist Bewusstsein mit einem anderen Timing. Die Arbeit, das Feld bewusst zu betreten, besteht darin, sich der Intervalle und nicht bloß des Inhaltes dessen bewusst zu werden, was stattfindet. Die Tugend der Liebe besteht darin, sich immer mehr in die Intervalle hineinzuarbeiten, bis dahin, dass, egal was für ein Inhalt erscheint, er nunmehr aus den Tiefen der Intervalle auftaucht.
Die Tugend hat sowohl damit zu tun, auf die Intervalle zu lauschen, während wir mit jemandem zusammen sind, als auch damit, hindurch zu horchen durch die Tyrannei des Inhaltes dessen, worüber wir gerade sprechen oder was wir gerade tun. Der Inhalt bleibt allerdings wichtig, sowohl an und für sich, als auch insofern er ein Weg ist, uns selbst in das Feld hinein zu begeben. Im Felde zu bleiben aber und nicht das Bedürfnis zu haben, sofort die Aufmerksamkeit auf den Inhalt zurückzurichten: das ist die Liebe in ihrer eigentlichen Aktivität, das ist Liebe als Tugend.
Das Spiel zwischen Inhalt und Intervall, wenn man beiden den gleichen Wert beimisst, biegt die lineare Zeitfolge zu einer aktiven Spirale um, zu einem Wirbel, einem Vortex. So kann es zum Beispiel vorkommen, dass wir beginnen, uns an Wiederholungen zu freuen, daran, die Dinge einmal so und einmal anders zu sagen. Wir empfinden Freude am Rhythmus unseres menschlichen Umgangs, wir genießen das Verweilen im Augenblick. Wir hören tiefer, ahnen das tiefste Seelenwesen des Menschen, mit dem wir zusammen sind. Wir erleben eine Bewegung zwischen uns, die Kraft hat. Wir sind in einem Kraftfeld zusammen.
Dieses Feld kann in sehr körperlicher Weise empfunden werden. Es ist, als gäbe es zwischen uns einen Energiefluss, der aber nicht so ist wie elektrische Energie, sondern viel sanfter; so, als fühlte man die Helligkeit des Lichtes als Kraft. Dieser Fluss ist eher wie eine Erleuchtung, nicht wie eine elektrische Strömung. Und doch ist diese sanfte Kraft stark und beständig.
Die Praxis der Tugend der Liebe erfordert, dass man lernt, den Intervallen zwischen unseren Interaktionen mit anderen eine immer größere und größere Intensität der Aufmerksamkeit zu schenken. Das zu tun, ist ein Affront gegen das gewöhnliche Bewusstsein, dessen Kränkung. Das gewöhnliche Bewusstsein gedeiht an Inhalten, am Wissen, an operativer Effizienz – auch dann, wenn wir uns gütig verhalten und uns mit Güte behandelt fühlen. Das Wahrnehmen des Seelen-Raumes zwischen mir selbst und einem anderen Menschen erfordert Nichtwissen, zugleich aber auch volle Anwesenheit. Wir kennen dieses Feld nicht durch unseren Verstand, sondern durch unseren Leib als Ganzes. So ist für den Verstand das, was geschieht, völlig verwirrend, ja furchterregend. Falls Furcht sich ankündigen sollte, so gilt es, das Bewusstsein vom Kopf in die körperliche Region des Herzens zu verlagern. Die Furcht wird dann aufhören und die feinen Strömungen werden zu fühlen sein.
Das Betreten dieses Feldes ist wie ein Eintritt in eine andere Welt. Es ändert sich dabei das Wahrnehmen. Es ist, wie wenn ein weicher Nebel in den Raum, in dem wir uns befinden, hereinwogen und die scharfen Kanten zwischen den Gegenständen in äußerst zarter Weise auflösen würde. Mit dem kaum wahrnehmbaren Verschwimmen-Lassen der körperlichen Grenzen verändert sich die Innerlichkeit beider Menschen so, dass sie deutlicher, gewissermaßen präziser wird, indem er zu gleicher Zeit dem anderen Menschen gegenüber offener ist.
In den Intervallen eines durch Liebe stattfindenden Umgangs mit einem Menschen stellen wir eine Veränderung in unserer Gesichtswahrnehmung des anderen fest. Der Gefühlsaspekt der Wahrnehmung, welcher für gewöhnlich im Hintergrund der Begegnungen bleibt, tritt jetzt in den Vordergrund. Die Physiognomie des anderen wird deutlicher. Es ist, als könnten wir die Seele des anderen Menschen sehen, wie sie in dessen Antlitz leuchtet. Wir fühlen in intimer Weise das, was sich durch das Gesicht und die Gebärde des anderen Menschen hindurch ausdrückt.
Wir nehmen Physiognomie ständig wahr, aber nur unbewusst. Normalerweise konzentrieren wir uns auf den Körper eines Menschen als Inhalt und sind uns nicht der Art bewusst, wie das Licht die Gesichtszüge eines Menschen zurückspiegelt. Die Wahrnehmung des Feldes besteht darin, für das Zwischenspiel zwischen den Gesichtszügen eines Menschen und dem Licht sensibel zu werden. Sie hat ferner mit dem sensibel Werden für das von dem anderen Menschen ausstrahlende Licht zu tun. Der Mensch leuchtet im Licht der Liebe.
Das Wahrnehmen im interaktiven Feld der Liebe nimmt den Charakter einer Ganzheit an, die mit der Fähigkeit zu tun hat, sich gleichzeitig auf den Inhalt dessen, was zwischen uns ist, und auch auf das wahrnehmbare Seelenleben der anderen Person zu fokussieren. Der Leser soll diese Beschreibung bitte nicht so auffassen, als hieße sie, dass dabei alles verwirrt oder strukturlos würde. Es existiert im Feld der Liebe eine viel höhere Präzision der Wahrnehmung als in unserer gewohnten Art des Wahrnehmens. Was wir normalerweise sehen, sind Kategorien des Menschen und nicht dessen Wesen. Wir sehen zum Beispiel unseren Freund, unsere Geliebte, unsere Ehefrau, unseren Gatten; selten aber sehen wir das Leuchten von deren Wesen. Denn wir richten unsere Aufmerksamkeit nicht auf das, was in dem interaktiven Raum der Liebe sich abspielt. Wir sehen normalerweise die anderen an, aber wir sehen sie nicht. Das Sehen und Gesehen-Werden ist nicht zu unterschätzen; wenn Sehen und Gesehen-Werden stattfindet, ist es wie ein Segen; wir könnten auch sagen: es ist ein Heilen.
Wenn wir den anderen Menschen durch das Feld der Liebe sehen, so sehen wir ihn in seinem Potential. Wir nehmen wahr, wer diese Person sein kann; die Tugend der Liebe begreift das potentiell Anwesende als tatsächlich anwesend. Es handelt sich hierbei um eine reale Wahrnehmung und nicht nur um unsere Hoffnungen, Wünsche oder Spekulationen mit Bezug auf die Zukunft der Person. Gesehen zu werden heißt, in unserem Potential, in unserem Werden gesehen zu werden.
Wenn ich die Tugend der Liebe praktiziere, indem ich das Feld zwischen mir selbst und einem anderen Menschen wahrnehme, nehme ich dabei nicht etwas Überirdisch-Engelhaftes wahr. Der Geist des anderen Menschen ist anwesend und das fast greifbar, aber in Verbindung mit Schmerz, Verwundbarkeit und Verwundet-Sein und dies alles macht jeden von uns aus. Ohne diese Spannung zwischen dem Wahrnehmen der spirituellen Vollkommenheit des anderen und dem Miterleben von dessen Schmerzen – welche die Erfahrungen des Lebens mit sich bringen – befinden wir uns in keinem Kraftfeld.
Die Tugend der Liebe ist das Bemühen, innerhalb des Feldes zu sein und ist auch das Bemühen, die volle Anwesenheit des Seelen-Seins des anderen Menschen als Nachbild zu behalten, wenn wir mit diesem Menschen nicht mehr zusammen sind beziehungsweise während der Zeiten, zu denen das interaktive Feld nicht stark ist. Mit dem Ausdruck „Nachbild“ meine ich, dass das Seelenwesen des anderen Menschen weiter einen Einfluss auf uns hat, wenn wir nicht mit dem Menschen zusammen sind, oder wenn wir zu diesem Menschen zurückkehren und das Feld nicht wahrnehmbar scheint. Hiermit handelt es sich um den erweiterten Aspekt der Tugend der Liebe. So besteht die Tugend also darin, unsere Aufmerksamkeit auf das zu umzulenken, was zwischen mir selbst und dem anderen Menschen stattfindet, und sie besteht auch darin, etwas aus dem Seelenleben des anderen Menschen innerhalb von mir selbst leben zu lassen. Ich spreche hier von etwas, was über eine bloße Neigung oder eine liebe Erinnerung hinausgeht. Es schwingt vielmehr die Tiefe der Seele des anderen Menschen innerhalb meiner Seele weiter mit.
Das lateinische Wort für „Mitschwingen“ ist resonare, was soviel bedeutet, wie „zum Klang zurückkehren“. Aus ihr wird das Wort „Resonanz“ abgeleitet. Wenn wir einen Gegenstand wie zum Beispiel eine Glocke zum Klingen, zum Tönen bringen, so schwingt die Originalresonanz dieser Glocke weiter. Es gibt auch eine andere Art der Resonanz, die sympathische Resonanz. Wenn eine Glocke erklingt und deren Resonanz fortdauert, so beginnt ein anderer Gegenstand, der die gleiche Tonhöhe wie die Glocke besitzt, mit ihr mitzuschwingen. Eine Art sympathische Resonanz kennzeichnet auch den Seelen-Raum in der Tugend der Liebe.
Man stelle sich vor, man läuft am Meeresstrand entlang, Hand in Hand mit seinem Geliebten, seiner Geliebten. Während man spaziert, passt sich der Rhythmus der eigenen Schritte dem Rhythmus der herein- und hinausfließenden Wellen an. Indem das passiert, fühlen sich beide in intimer Weise – miteinander wie mit der Welt – zusammen. Dies ist die Resonanz der Seele. Und wenn wir uns ein bisschen auf dieses Phänomen besinnen, so erkennen wir, dass Seele nicht in mir beziehungsweise nicht in dir allein ist. Wir sind „in Seele“ und Seele ist in der Welt. Wenn wir „in Seele“ sind, fühlen wir die Innerlichkeit unseres Lebens, fühlen aber auch etwas von den geheimnisvollen Eigenschaften der Welt. Das interaktive Feld der Liebe bezieht die Welt als unsere Partnerin mit ein. Wir fühlen uns mit der Schönheit der Welt in engerer Weise verbunden und können diese Schönheit unmittelbar empfinden. Wir bemerken mehr, nehmen aufmerksamer wahr, fühlen die Heiligung der Welt.
Ein zentraler Aspekt der Tugend der Liebe besteht in der Arbeit daran, für das fortdauernde Nachklingen sensibel zu werden, das geschieht, wenn wir ein Feld der Liebe zwischen uns und dem anderen gefühlt haben.
Um das zu tun, muss man verstehen, dass die Seele nicht so etwas ist wie eine Glocke, die ähnliche Schwingungen einer anderen Seele übernimmt. Über die Seele so zu denken, wäre zu materialistisch. Die Beschreibung der im Schwingen befindlichen Glocke ist weiter nichts als eine Analogie, die uns helfen kann, uns auf die Art und Weise einzulassen, wie Seele funktioniert. Nur dass mit Seele wir ein Bild haben: nicht von etwas was klingt, sondern wir haben ein reines Medium der Resonanz.
Man denke sich die Seele so: als reine Resonanz, nicht als etwas, das klingt beziehungsweise mitschwingt. Man stelle sich die Tätigkeit der Liebe als etwas vor, was die Tonhöhe oder den Klang oder den Rhythmus des klingenden Mediums intensiviert oder manchmal auch verändert. Man denke sich das Medium als den Fluss zwischen allen Dingen, als die große Anziehungskraft. So ist Seele also kein sublimierter Gegenstand, der schwingt, der klingt. Seele selbst ist Resonanz, Klingen, Schwingen. Wir wissen, dass wir „in Seele“ sind, wenn die Eigenschaft der Resonanz besteht. Unsere Wahrnehmungen, Gefühle, Gedanken, Empfindungen klingen nach, weil sie auf Schwingen, auf Wellen der Liebe getragen sind.
Die Ausführungen kommen zwar an dieser Stelle einer Physik der Liebe nahe, aber anders geht es nicht, wenn es gilt, irgendetwas von der Kraft der Liebe in ihrer Eigenschaft als Tugend zu fühlen. Die Liebe ist eine wirkliche Macht in der Welt, ist nicht bloß gute Gefühle. Sie hat die Macht, die Welt zu verändern. Wenn man sich in die Sprache der Resonanz hinein- und aus der Sprache der Sentimentalität hinwegversetzt, so ist das eine Hilfe, die Macht der Liebe zu empfinden. Wir verwenden häufig die Sprache der sympathischen Resonanz, um Phänomene der Seele zu beschreiben, ohne Kenntnis davon, dass wir dies tun. Wir sprechen davon, mit jemandem im Einklang zu stehen oder mit ihm auf der gleichen Wellenlänge zu sein. Es gibt etwas an der Verbindung mit jemandem, das sich einfach richtig anfühlt. Es klappt. Oder es tritt eine Erfahrung der Dissonanz auf. Wir suchen Erfahrungen von Resonanz auf und gehen Erfahrungen der Dissonanz aus dem Weg. Und dennoch gehört auch Dissonanz zur Sprache der Tugend der Liebe dazu. Die Dissonanzen sind nötig; im Verhältnis zur Resonanz verleihen sie der Liebe ihre Kraft.
Wenn wir das interaktive Feld der tätigen Liebe erleben, so dauert dieses Erlebnis in der Resonanz fort. Es handelt sich aber hierbei um mehr als die bloße Erinnerung. Etwas mehr passiert, als dass man innere Bilder und Gefühle hegt. Das Einbringen der Tugend der Liebe bringt einen Prozess von Seele-Schaffen in Gang. Ohne unsere Interaktionen der Liebe mit anderen ist Seele nicht anwesend. Diese Interaktionen mögen klein oder groß sein; hier ist nicht nur die Rede von der „Liebe unseres Lebens“, sondern von der fortdauernden Praxis der Tugend der Liebe auch in alltäglichen Begegnungen. Die Liebe, die zwischen Individuen besteht, dauert als Resonanz, als Nachklang fort. Und das, was geschieht, ist nicht die Erinnerung an etwas, sondern Seele-Schaffen. In dieser Strömung zu leben ist ein gegenseitiger Beitrag der einen Seele zur anderen, aber auch zur Seele der Welt. Dieser Beitrag ist kein Zusatz zu bereits Vorhandenem, er ist vielmehr ein schöpferisches Neugestalten. Durch die Liebe werden das eigene Leben und das Leben der Welt verwandelt.
In der Philosophie des Aristoteles wird zwischen potentia Tatsächlichkeit unterschieden. Die Dinge können in potentia existieren. Das Wort bedeutet „entstehen“. Die Seele gehört zum Reich des potentia, eine Domäne des Entstehens. So ist Seele stets mit Imagination, Traum, Kreativität, Möglichkeit verbunden. Die Tugend der Liebe aktiviert diese Reiche. Das Wesen, die Natur der Seele besteht darin, schwingende potentia zu sein, welche jeden Augenblick mit allem, was in der Umgebung sein mag, ineinanderfließt, die Schwingungen der Umgebung aufnehmend. Seele lebt in Sympathie, Antipathie, Empathie Telepathie und manchmal auch in der Apathie. Der wichtige Teil dieser Wörter, „-pathie“, deutet auf das Pathos der Seele hin, ein Wort, das „zulassen“ bedeutet. Seele ist das Zulassen aller Arten der Resonanz, die sie durchströmen können. Die Hauptresonanz ist die Liebe.
Das Ausführen der Tugend der Liebe: Aufmerksam-Werden auf die rhythmischen Elemente unseres Umgangs mit anderen Menschen. Man werde zum Beispiel auf die Art aufmerksam, wie jemand spricht – auf die Töne, die Nuancen, die Rhythmen, den Raum, die Unter- bzw. Obertöne – und zwar sogar noch aufmerksamer als auf die Inhalte dessen, was man spricht. Solche Aufmerksamkeit verwandelt die Art unseres Zusammenseins mit Menschen von sozialfähigen Höflichkeitsbezeigungen zu Handlungen des Heilens. Wie wir mit anderen zusammen sind wird ebenso wichtig, wie das, was wir als Inhalt tun. Die Arbeit der Tugend der Liebe besteht darin, diese Feinheiten mit völlig klarem Bewusstsein wahrzunehmen, vor ihnen präsent zu sein.
Man wird, wenn man sich also darum bemüht, ein diffuseres Herzensbewusstsein zuzulassen, eine Tendenz feststellen, sich in die Richtung einer Art hypnotischen oder Trancezustandes zu bewegen. Wir müssen daran arbeiten, das zu merken, wenn es passiert. Um sich davon zu erholen und nicht in einen solchen leichten Trancezustand hineinzugleiten, gilt es jedoch nicht, sich in ein gebündeltes Bewusstsein zurückzubewegen; das würde die Resonanz ausschließen. Stattdessen versenke man das Bewusstsein ganz absichtlich in die Region des Herzens.
Im Herzen der Liebe zu leben erfordert diese Art der Praxis. Sich zentrieren im Herzen der Liebe heißt, unseren Interaktionen Ehrfurcht zu verleihen. Und das versetzt uns in die Lage, auf unser Gespräch mit jemandem im Zuhören aufmerksam zu sein – statt der üblichen Art des gesprochenen Hin und Her.
Die Tugend der Liebe hat mit Sentimentalität überhaupt nichts zu tun. Wer den Weg ins interaktive Feld findet und in seelischer Resonanz lebt, der entdeckt, dass er besser imstande ist, Erfahrungen des Schreckens, der Ängstlichkeit, des Ärgers, der Verzweiflung und Verwirrung zu halten, die zwischen uns und anderen vorkommen. Diese Emotionen gelten gewöhnlich als Hindernisse einer guten Beziehung. Werden diese Eigenschaften aus unserer Beziehungspflege ausgeschlossen oder tauchen sie nur im Zusammenhang mit Problemen auf, so kann die Tugend der Liebe nicht mit der notwendigen Lebhaftigkeit funktionieren. Diese kraftvollen Eigenschaften verleihen der Liebe deren Umwandlungs- und moralische Kraft. Ohne diese Eigenschaften verschwindet das interaktive Feld.
Die Liebe kommt und lädt uns dazu ein, uns zu verändern, uns auf unser Potential einzulassen, in intensiver Weise den Vorgang des Werdens zu fühlen – auch wenn wir nicht wissen, wohin sich die Beziehung entfalten wird. Diese selbe Liebe lädt auch den Menschen beziehungsweise das Ereignis, mit dem wir es zu tun haben, dazu ein, sich zu verändern. Der andere Mensch betritt den Bereich des Potentials. Und das tut die Welt auch, wenn man sich ihr in dieser Weise nähert. Wir müssen weiter nichts tun, als uns des Urteilens zu enthalten, und zuzulassen, dass das Erlebnis dieses Zwischenreiches so vibriert und schwebt, als wäre es eine wogende Strömung in der Mitte zwischen uns selbst und anderen.
Ich habe auf die Tugend der Liebe als auf ein Seele-Schaffen aufmerksam gemacht, welches uns verwandelt. In welche Richtung führt eine solche Umwandlung? Die Tugend verwandelt mit Konfliktpotential geladene Gegensatzpaare, die wir in unserer Beziehung zu einem anderen Menschen empfinden. Es kann vorkommen, dass wir sowohl Liebe als auch Hass, Verzweiflung als auch Verlangen, Kühnheit als auch Feigheit, Ängstlichkeit als auch Gelassenheit fühlen. Es geht uns die Erkenntnis auf, dass es nicht der andere Mensch ist, der diese widerstreitenden Gefühle verursacht. Der andere Mensch ermöglicht vielmehr, dass wir diese sich widerstreitenden Gefühle in uns selbst entdecken. Was vermag die Tugend? Befreien von solchen Gefühlen kann sie nicht, aber etwas Neues ein- und zulassen. Betrachten wir ein Beispiel.
Erinnere dich an einen Anlass, zu dem jemand, den du kennst, den du liebst, dir etwas sagte, womöglich etwas Schmeichelhaftes, aber dass du beim Hören des Komplimentes einen inneren Konflikt fühltest. Dieser Mensch sagte etwa „Deine Freundschaft bedeutet mir so viel, ich bin durch meinen Kontakt zu dir gewachsen.“ Indem er aber dies sagte, empfandst du eine körperliche Spannung und den Wunsch dich zurückzuziehen, da das, was dieser Mensch sagte, dir eigenartig vorkam. Zu empfandst, dass er dich vielleicht für das eigene Wachstum gebraucht. Du empfandst sowohl Dankbarkeit für das Kompliment als auch den Wunsch, dich zurückzuziehen. Einen Konflikt des Fühlens also.
Wenn du es vermagst, im Feld und in der Resonanz der Tugend der Liebe darinnen zu bleiben, so verwandelt sich der Konflikt in ein Wahrnehmen des dynamischen Flusses zwischen den Gegensätzen, anstatt dass sie im Konflikt bleiben. Der Konflikt deutet auf ein Sich-Einlassen aus seelischer Ebene hin. Die Spannung, wenn sie mit Liebe gefühlt wird, entkrampft sich, löst sich in den Fluss des Feldes auf, anstatt eine Spannung der Polaritäten zu bleiben. Diese Befreiung ist in der Herzregion zu fühlen, ist kein kognitives Wissen. Die Befreiung ist im Körper zu fühlen, indem die Beengtheit des Verspanntseins gelöst wird. Es geht hier mehr vor sich als ein bloßes Sich-Entspannen. Die Grenzen des Körpers weiten sich und das Wahrnehmen tut sich auf und die Welt erscheint wesenhafter und lebhafter. Das Sich-Einlassen der Seele auf etwas in dieser Weise öffnet sich zu einem Sich-Einlassen auf die Seele der Welt.
Die Tugend der Liebe tut sogar noch mehr, als widerstreitende Gefühle zu verwandeln. Das wahre Ziel der Tugend besteht darin, die Macht der Liebe in die Welt hinein zu entlassen. Das Wahrnehmen des Feldes und der Art, wie es unser Zeitempfinden und unsere Wahrnehmung der Welt verändert, auch die Art, wie dieses Wahrnehmen uns selbst verwandelt, ist aber weiter nichts als die bloße Vorbedingung zu dessen noch geheimnisvollerer Arbeit. Zwar werden wir dazu eingeladen, in der beschriebenen Weise uns dieser Tätigkeit zu nähern, aber nicht nur um der Dinge willen, die uns die Tätigkeit der Liebe einbringen kann, sondern damit wir in bewussterer Weise vor der Macht der Liebe stehen und sie in die Welt hinein entlassen können. Wenn wir das Feld erleben, so bauen wir für eine Weile an ihm, bleiben in ihm darinnen, lassen es erstarken und verschenken es dann bewusst, gezielt an die Welt. In dieser Weise ist die Tugend noch vollkommener.
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