aus Die Macht der Seele. Wege zum Leben der Monatstugenden
von Robert Sardello
Die Tugend des Mutes
(Mut wird zu Erlöserkraft - Rudolf Steiner)
21. Dezember - 20. Januar
Die Tugend des Mutes ist nicht dasselbe wie heldenhafte Handlungen. Normalerweise werden die zwei – Mut und Heldenhaftigkeit – zusammengeworfen. Heldenhaftigkeit ist aber eine eher äußerliche Bezeichnung, die durch andere Menschen gemacht wird als durch diejenigen, die in diesen Handlungen direkt darinnen stehen. Keiner nennt sich selbst einen Held, es sei denn, er ist in extremem Egoismus verstrickt. Diejenigen, die mutig handeln, sind höchstwahrscheinlich überrascht, wenn sie im Nachhinein als Helden betitelt werden. Es gibt allerdings einen älteren Sinngehalt des Begriffs „Held“: jemand, zu dem man hinaufblickt, weil er schwer zu vollziehende Taten vollbracht hat.
In der Welt der alten Griechen zum Beispiel war der Held ein Mensch, der Taten vollbrachte, die sich mit denen der Götter messen können; so wurde er als teils Mensch und teils Gott angesehen. Oder der Held war schon von Geburt an teils menschlichen, teils göttlichen Wesens. Die Dimension des Helden als Teilhaber an der Unsterblichkeit gilt noch heute als zentraler Aspekt unserer Vorstellung des Helden, ob im Sport, im Militär, oder auch in der Unterhaltungsbranche. Die Helden von heute sind zwar nicht unsterblich, aber wir stellen sie uns so vor, als wären sie es.
Die Tugend des Mutes erfordert aber nicht, dass man sich einen mutigen Menschen als unsterblich vorstelle. Wenn heute die Empfindung herrscht, dass es kaum Helden gibt, mit denen sich die Jugend oder gar eine Nation identifizieren könnte, so kann es sein, dass das, was fehlt, nicht Helden, sondern Mut ist.
Die Tragödie des Terroranschlags am 11. September 2001 hat eine nationale Vorstellung des Mutes wieder hergestellt. Uns wurde von unzähligen solchen Handlungen des Mutes berichtet. Zum Glück wurde zwar das Ansehen der Polizei und der Feuerwehr angehoben, aber ohne dass diese Menschen zu Helden gemacht wurden. Sie existieren in unserer Vorstellung als mutige Menschen. Versuche, aus ihnen Helden zu machen, sind wegen der vielen Todesopfer unter ihnen gescheitert; so ist es ausgeschlossen, sie sich als unsterblich vorzustellen. Und dennoch werden nach wie vor die zwei Vorstellungen verwechselt, solange man die Aufmerksamkeit ausschließlich auf die Handlungen richtet, die ausgeführt wurden. Sowohl ein Held als auch ein aus Mut Handelnder geht über die Grenzen dessen hinaus, was machbar erscheint, und vollbringt um anderer Menschen Willen eine Tat. Wollen wir zu einem klaren Bild dieser Tugend kommen, so kommen wir nicht umhin, den eigentlichen Seelenprozess des Mutes zu beschreiben.
Man betrachte den Tanz als Bildprototyp der Tugend des Mutes. Bietet der Tanz doch einen nützlichen Vergleich, durch den wir uns eine Vorstellung der Tugend des Mutes entwickeln können. Wenn wir uns das vorstellen können, was alles mit dem Tanz zu tun hat, so sind wir auf gutem Wege zu einem tieferen Verständnis des Mutes.
Es ist nicht der Fall, dass wir den Gleichgewichtssinn etwa nutzen, um uns den rhythmischen Vorgängen des Tanzes gemäß zu bewegen. Wer im wahren Sinne tanzt, der überlässt sich vielmehr dem Gleichgewichtssinn und indem er dies tut, geht er über das hinaus, zu dem der Gleichgewichtssinn im gewöhnlichen Leben des Körpers in der Lage ist. Das Vermögen, über die gewöhnliche Sinneswelt hinauszugehen, ist ein besonderes Kennzeichen auch des Mutes; ja auf diese Fähigkeit, über das Gewöhnliche hinauszugehen, ist die Verwirrung zurückzuführen, die zwischen unseren Vorstellungen des Mutes und des Heldentums bestehen kann. Zwar funktionieren die zwei manchmal in einem. Aber sie sind zwei deutlich verschiedene Weisen, über das Gewöhnliche hinauszugehen.
Sich über die landläufigen Kapazitäten des Gleichgewichtes hinauszudehnen hat mit der Fähigkeit zu tun, in der Abwesenheit bekannter Grenzmarkierungen sich dennoch orientieren zu können. Dies zu tun kennzeichnet eine Art Intensivierung des Lebens. Der klassische Held fühlte sich häufig stärker zum Tod hingezogen, als zum Leben. Auch heute ist es womöglich die todestrotzende Dimension der Handlungen der Helden beziehungsweise Antihelden, von der wir uns herangezogen fühlen, während der Mut oft unbemerkt bleibt. Obgleich es zutrifft, dass man bei großen Handlungen des Mutes um anderer Menschen willen das eigene Leben riskiert, wohnt Handlungen Mutes die Dimension des Todesmutes nicht inne. Bei Taten des Mutes geht es nämlich nicht darum, dass der Tod herausgefordert wird.
Wenn man in vollkommen kontrollierter, rhythmischer Bewegung durch die Luft wirbelt, ist es nicht der Fall, dass man lediglich tanzt; in solchem Augenblick tanzt man nicht einfach, sondern man ist in die Form selbst des Tanzes aufgenommen worden. Diese Art Expansion des Bewegungssinnes geschieht nicht von alleine oder durch Zufall; sie erfordert langes, hartes, geduldiges, wiederholendes Üben. In ähnlicher Weise ist es auch beim Mut so, dass letzterer nicht einfach geschieht. Selbstverständlich geschieht auch nicht Heldenhaftigkeit von alleine. Von dieser aber liegt die Voraussetzung in der Leibeskonstitution. In alten Zeiten hatte ein Held definitionsgemäß einen sterblichen und einen unsterblichen Elternteil. Heutzutage nennen wir ein solches Talent genetische Vererbung.
So sehr Michael Jordan zum Beispiel ein Basketball-Held sein mag: er ist nicht zwingend mutig. Vieles von seiner Fähigkeit, in der Luft zu hängen, liegt an dem, was ihm mitgegeben wurde, wie etwa seine Körperlänge, seine Bewegungsfähigkeit, sein natürliches Talent. Alle diese Gaben wurden freilich bis zu einem hohen Grad geschliffen. Obwohl seine Fähigkeit, sich zu bewegen und zu springen und durch die Luft zu fliegen, den Gleichgewichtssinn über das Gewöhnliche hinaus erweitert, bezieht sich hier der Ausdruck „gewöhnlich“ hauptsächlich auf körperlich-physische Fähigkeiten. Enttäuschung bleibt nicht aus, wenn wir – wie wir eben zu tun pflegen – von unseren Helden erwarten, dass sie beispielhafte sittliche Eigenschaften an den Tag legen; damit dieses geschehen kann, ist Mut erforderlich.
Die Tugend des Mutes, so könnten wir sagen, ist immer heldenhaft, aber Heldenhaftigkeit ist nicht immer mutig. Helden und Heldinnen gehen über das Gewöhnliche hinaus, aber es mag wohl sein, dass sie so begabt sind, dass solche Erweiterung ein Faktor in ihrem Leben oder wenigstens als Potenzial gegeben ist. Die Tugend des Mutes erfordert das Erwecken einer spirituellen Dimension im eigenen Leben, wenn auch nur für einen Augenblick. Mut ist viel spiritueller als bloße Heldenhaftigkeit. So muss denn das besondere Wesen dieser spirituellen Dimension erkundet werden.
Es kann uns vielleicht helfen, zur spirituellen Dimension zu kommen, die den Mut ausmacht, wenn wir das Folgende zur Kenntnis nehmen: diese Tugend ist weitgehend so verkommen, dass sie nur noch als Machtgelüsten manifestiert. So finden wir in Gebieten, in denen wir Äußerungen des Mutes erwarten dürften, wie etwa auf Führungsebenen, in der Politik, im Geschäftsleben – grassierenden Ehrgeiz. Ehrgeiz ist eines der Extreme der Tugend des Mutes; das andere Extrem ist Schüchternheit. Der Weg des Mutes führt zwischen diesen Extremen hindurch.
Von außen zum Beispiel sieht ein Mensch vielleicht mutig aus, der vor nichts Halt macht, um voranzukommen und an oberster Stelle zu sein, aber in solchem Fall ist die Spiritualität der Handlung des Mutes vom Ego befallen. Bei der Schüchternheit liegt das Gegenteil vor. Der schüchterne Mensch hat oft starke Impulse, mutige Leistungen zu erbringen, besitzt aber nicht die Ichstärke, diese Vorstellungen zu verwirklichen. Wir müssen besondere Aufmerksamkeit auf unseren Ehrgeiz richten, da dieser in unserer Zeit so dominant ist; dies zu tun wird hilfreiche Einsichten in den Mut herbeiführen. Unsere Strategie hierzu besteht erstens in einer Untersuchung der Frage, wie sich der Mut heutzutage so stark als eine Art Symptom zeigt (anstatt in seiner Lebensprühenden spirituellen Form aufzutreten), und zweitens darin, dieses Symptom in seinen Tiefen auszuleuchten, um die Regungen seiner gesunden Form aufzuspüren.
Ehrgeiz hat mit dem Verlangen zu tun, in egal welcher Weise an Macht zu kommen. Ehrgeiz wurde schon einmal definiert als „Reichweite, die über das Fassungsvermögen hinausgeht“; hier sehen wir seinen Bezug zum Mut, der wesensgemäß auch seinerseits damit zu tun hat, über die eigene Reichweite hinauszugehen. Beim Ehrgeiz gibt es aber einen überwölbenden Stolz auf die eigenen Fähigkeiten; da liegt kein Bedarf nach den Göttern oder nach Rat, auch nicht einmal nach anderen Menschen vor, außer insofern sie den eigenen Zwecken des nach Macht Strebenden dienen. Das englische Wort für „Ehrgeiz“: „ambition“, ist mit ambit Sinnverwandt, was „Rund“ oder „Umkreis“ bedeutet. Das Wort weist darauf hin, dass Ehrgeiz damit zu tun hat, bis zum äußersten Rand hinauszugehen, die eigenen Grenzen zu finden und zu prüfen. Ehrgeiz signalisiert eine – wesensgemäß praxisbezogene – äußere Bewegung, die uns bis zur Schwelle der entferntesten Möglichkeit hinausbringt. Ehrgeiz verlangt Risiko – man weiß nicht, wo der Rand ist und man erweitert ihn immer und immer wieder, ohne Gewissheit darüber, wann man in den Abgrund hineingestürzt wird. Das hört sich sehr wie Mut an, nicht wahr?
Zum Ehrgeiz gehört definitionsgemäß der Exzess. Wir können nicht wahrhaft Ehrgeizig sein, solange wir Zurückhaltung, Kontrolle, Vorsicht üben und dem ständigen Bedürfnis nachgeben, darüber Gewissheit zu haben, wo wir sind und wie weit wir noch gehen können. Mit Ehrgeiz kommt man nicht umhin, jenseits des Randes und mit dem Unvorhersehbaren aktiv in Verbindung zu sein, draußen auf der anderen Seite der Schranke des eigenen besseren Urteilsvermögens.
Diese Aspekte haben Mut und Ehrgeiz gemeinsam. Worin liegt also der Unterschied? Meiner Auffassung nach zeigt sich der Unterschied in der Beziehung zur Furcht. Der hoch-ehrgeizige Mensch besitzt die Fähigkeit, anderen Menschen Furcht einzuflößen, zumal als primärer Modus, Macht auszuüben. Von daher wird Ehrgeiz so sehr bewundert und aber auch verachtet. Diese Art Macht auszuüben ist es aber, worin sich Ehrgeiz und Mut am stärksten unterscheiden. Der mutige Mensch flößt anderen Menschen keine Furcht ein, und vermag stattdessen, sich der eigenen Furcht zu stellen, und zwar nicht durch einen etwaigen Besitz an persönlicher Macht, sondern indem er auf alle persönliche Macht gerade verzichtet.
Wenn die Macht sowohl mit dem Ehrgeiz als auch mit dem Mut in Verbindung steht, so entsteht die Frage: ist denn Mut ein Vermittler oder gar ein Ausübender der Macht? Der ehrgeizige Mensch steht wenigstens zu seinem Bedürfnis nach Macht. Wenn es aber im Mut keine Macht gibt, wie ist es denn dann möglich, durch Mut irgendetwas zu vollbringen? Der Moment selber, in dem jemand um eines anderen Menschen Willen das eigene Leben an zweite Stelle setzt, ist der Moment des Verzichts auf persönliche Macht. Wir gehen über den äußersten Rand hinaus, bis zur entferntesten Grenze, nehmen ein ungeheures Risiko auf uns, ohne davon etwas haben zu wollen und ohne zu wissen oder auch nur daran zu denken, ob wir es denn vermögen, das zu tun, was verlangt wird. In dem Fall – mit dem Mut – nutzen wir unsere Macht, um auf unsere Macht zu verzichten. Beim Ehrgeiz verwenden wir unsere Macht, um mehr Macht zu gewinnen, und zwar ohne jeden Endzweck außer diesem Gewinn selbst.
Bevor Ratschläge gemacht werden zum tatsächlichen Ausbilden der Tugend des Mutes, scheint gerade bei dieser Tugend die Frage besonders nötig, wieso man überhaupt den Wunsch haben sollte, dies zu tun. Was hat man davon? Haben wir einmal eine lebendige Auffassung der Wahrheit unseres Seins erworben, so sind wir dazu gezwungen, uns dem Reich des Mutes zu stellen. In uns den Mut auszubilden ist keine Sache der Freiwilligkeit, sondern eine Sache davon, es bis zu einer bestimmten inneren Entwicklungsstufe gebracht zu haben. Haben wir einmal die Wahrheit unseres Seins erlebt, so wird die Seeleneigenschaft des Mutes auftreten. Ferner ist die Tugend des Mutes keine Eigenschaft, die nur in Zeiten extremer Not oder extremer Bedrängnis anderer Menschen hervortritt. Wir müssen unsere Vorstellung des Mutes aus dem Bereich momentaner Handlungen entfernen und so erweitern, dass die Tugend des Mutes zu einem Faktor unseres alltäglichen Lebens wird.
Das Leben um der Welt und anderer Menschen Willen, das Weitergehen als nur bis zu dem, was wir kennen, das Leben an der Grenze, an der Schwelle – so etwas ließe sich wohl praxisbezogene Spiritualität nennen. „Praxis-orientierte Spiritualität“ ist ein passendes Synonym für die Tugend des Mutes. Der praktische Sinn mutiger Persönlichkeiten ist wohl bekannt; ein solcher Mensch ist jemand, der ausharrt und – vielleicht schweren Schrittes, aber ohne sich nach rückwärts zu bewegen – weitermacht. Auch zum Mut als Tugend gehört dieser praxis-orientierte, irdische Aspekt dazu. Aber bei der Tugend ist die Bewegungsrichtung nicht nur vorwärts, sondern auch in die Höhen, zum Gipfel hin, in Richtung des Geistes.
Wenn man Mut als praxis-orientierte Spiritualität beschreibt, so könnte das wie das glatte Gegenteil von dem scheinen, was man unter „praktisch“ sich vorstellt. Man könnte meinen, dass praxis-orientierte Spiritualität besser als eine Art Vermählung religiösen Eifers mit weltlichem Erfolg zu definieren sei. Viele Menschen führen heutzutage diese Art praxis-orientierter Spiritualität aktiv aus. Alternativ könnte „praxis-orientierte Spiritualität“ bedeuten, dass man die eigene Spiritualität von den Alltags-Angelegenheiten trennt. Man gehe sonntags zur Kirche und hoffe, dass das auf den Rest der Woche eine Auswirkung hat; unter keinen Umständen vermenge man aber das, was in der Kirche passiert, mit der nächsten größeren geschäftlichen Verhandlung. Heutzutage bedeutet „praxis-orientierte Spiritualität“ in der Regel, dass man die eigene Spiritualität und die Hauptziele des Lebens sauber auseinanderhält, in der Annahme, dass jene keinen Beitrag leistet zu dem, was unter dem Strich herauskommt.
Indem ich Mut mit praxis-orientierter Spiritualität gleichsetze, meine ich etwas anderes als den materialistischen Pragmatismus des Geistes, der gegenwärtig unseren Nationalcharakter kennzeichnet. Mit „praktisch“ meine ich nicht, wie man den Geist dazu verwendet, um im Irdischen den eigenen Vorteil zu sichern. „Praktisch“ meint vielmehr, wie man mit dem Irdischen umgeht, um nach den geistigen Welten zu streben. Oder: wie man die eigene Existenz sichert, anderen Menschen hilft und dadurch, dass man in möglichst menschlicher Weise auf die Aktualitäten eingeht, die in jedem Moment auftreten, den geistigen Sinn in allem sieht. Darin besteht also praxis-orientierte Spiritualität: nicht nur am Leben bleiben (überleben), sondern intensiv am Leben bleiben. Aus dieser Aufgabe besteht meiner Auffassung nach das neue Tätigkeitsfeld für die Tugend des Mutes. Ferner hat die praxis-orientierte Spiritualität des Mutes nicht nur mit der Intensität des Lebens, sondern auch mit der Intensität der Seele zu tun.
So hat der eine Aspekt des Mutes mit einem Dasein an der Grenze zu tun. Ein weiterer Aspekt hat mit dem Handeln ohne äußere Stütze zu tun. Diese Aspekte müssen nun um ein Verständnis der Tiefendimension des Mutes ergänzt werden. Diese Dimension ist schwerer zu fassen, weil es bei ihr um den Willen geht, also um den Aspekt unseres Wesens, der uns am wenigsten bewusst ist. Schon bei den einfachsten unserer Handlungen durchschauen wir fast nichts vom Willen, und bei der Handlung des Mutes ist dies erst recht der Fall.
Angenommen ich will in meinem Zimmer das Fenster öffnen. Ich habe den Gedanken, das zu tun, aber wenn es dazu kommen soll, dass ich tatsächlich aufstehe und den Gedanken ausführe, muss dieser Gedanke auf meine Gliedmaßen übertragen werden. Was innerlich vor sich geht, damit diese einfache Handlung zustande kommt, bleibt verdeckt, geheimnisvoll, so gut wie unerkannt. Rein physiologische Erklärungen, die mit den Hirnzentren, den motorischen Nerven und Ähnlichem zu tun haben, bringen uns zu keinem inneren Verstehen des Geschehens. Ferner bleiben derartige Erklärungen immer in einer veralteten dualistischen Vorstellungsweise befangen. Selbst wenn es der Fall ist, dass die Spur des Gedankens vom Gehirn registriert wird, ist der Gedanke geistigen Wesens, während das Gehirn und die motorischen Nervenbahnen materiellen Wesens sind. Wie in aller Welt können diese zwei miteinander interagieren?
Was sich immerhin mit deskriptiver Genauigkeit sagen lässt, das ist, dass unser Körper, indem er einen Gedanken verwirklicht, sich auf ein handelndes Tun einlässt. Im Bereich des Denkens existiert kein Wille. Ich kann zwar den Gedanken fassen, das Fenster zu schließen, aber der Körper ist es, der dies tun muss, und in diesem Tun ist es, wo der Wille liegt. Wenn man den Willen als etwas betrachtet, was durch den Körper ausgeführt wird, so zeigt sich, dass unser Körper ausgesprochen großzügig ist und kaum etwas dafür haben will. Gewiss, aus Handlungen unseres Körpers erzielen wir in unserem inneren Bewusstsein irgendeinen Gewinn, wie etwa Vergnügen. Genau genommen ist es aber nicht unser Körper, der das Vergnügen erlebt, sondern wir sind es, die in vergnüglicher Weise das erleben, was wir unserem Körper zumuten.
Mit dieser Frage des Willens müssen wir versuchen, uns den Körper selbst in seiner eigenen Tätigkeit vorzustellen; es gibt keinen treffenderen Ausdruck, keine bessere Beschreibung für das, was der Körper tut, als: Er tut beinahe alles, was man von ihm verlangt, in mutiger Weise. Unser Körper führt die ihm aufgegebenen Handlungen mit unglaublicher Weisheit, verblüffender Genauigkeit und fehlerloser Integrität aus.
Somit hätten wir die Basis des Mutes gefunden, und zwar als grundlegende Handlung des Körpers, indem dieser in der Verwirklichung des Willens begriffen ist. Als Nächstes müssen wir begreifen, dass es einerseits Mut und andererseits den Mut als Tugend gibt, und dass die beiden nicht genau gleich sind. Bei der Tugend des Mutes geht es um eine Anpassung der Handlungen unseres Körpers und Willens an das höhere Bewusstsein unserer Geist-Individualität. In der Tugend des Mutes sind unsere körperlichen Taten, unser Bewusstsein und unser Geistessein eine Einheit. Im Mute handeln wir ganzheitlich.
Den Mut auszubilden ist zwar nicht leicht; dennoch erfordert dies keinerlei Spezialwissen. Das Ausbilden des Mutes geht mit der Arbeit am Willen einher. Im Beispiel oben bewegt sich der Gedanke, das Fenster zu öffnen, im Körpergewebe und setzt eine Tat der Selbstaufopferung in Gang. Für einen Augenblick steht der Körper vom Stuhl auf, geht zum Fenster hin, entriegelt dieses, zieht am Griff, klopft auf den Rahmen um das Feststecken zu lösen, zieht noch einmal und vollbringt so die Aufgabe.
Zwar kommt uns die Ausführung einer solchen Handlung nicht wie etwas vor, was wir gerade mutig nennen würden. Beschaut man aber rein den Fluss dessen, was vom Gedanken bis hin zur Tat vor sich geht, so ist es dieser Fluss, welcher in Handlungen, die wir als mutig anerkennen, in Gang halten müssen. Es wird eine Kontinuität hergestellt zwischen dem, was wir für nötig halten und dem zügigen Ausführen desselben. Man könnte meinen, der Mut verlange von uns, dass wir den Bereich des Denkens gänzlich aufgeben. Das mutige Handeln ist rasch und scheint daher die kognitive Dimension zu überschatten. Und doch ist sie vorhanden; wenn nicht, so sind wir nicht mutig gewesen, sondern tollkühn.
Man stelle sich nun nicht die Handlung des Fensteröffnens, sondern dass jemand Hilfe braucht, vor. Man darf sich alles Mögliche vorstellen, ob harmlos, ob ernst. Etwas zu tun erfordert eine Übertragung des Denkens auf den Körper. Je mehr man sich im Denken darüber verstrickt, was wohl das Richtige zu tun wäre, was falsch sein könnte, wie man sich zu dem anschicken sollte, von dem man meint, es würde helfen, umso mehr vereitelt man den Mut. Diese Blockade tritt häufig bei den einfachsten Situationen auf, die Mut verlangen, und sie wird noch gefährlicher dann, wenn es um den Mut als Tugend geht, also wenn es gilt, Körper, Wille und Geist einander anzupassen.
Die Tugend des Mutes existiert innerhalb des gleichen Rahmens, den ich hier darzustellen versuche, nur dass sich bei der Tugend des Mutes unsere Gedanken sowohl auf die geistigen Reiche, als auch auf die Reiche unserer gewöhnlichen Sinneswahrnehmung eingestimmt haben. Dabei findet ein andersartiges Denken statt, als die übliche, dem Materialismus verpflichtete Sorte, von der ja das Meiste dessen bestimmt ist, was wir tun.
Mit unserem üblichen Denkmodus können wir keine spirituellen Gedanken bilden. Wohl können wir mit dieser Denkweise über geistige Angelegenheiten Gedanken bilden; allein das ist kein spirituelles Denken. Vom einem Denken aus, das über geistige Dinge nachdenkt, ist es nicht möglich, den Fluss in Gang zu bringen, der von Gedanken zu Handlungen der Tugend des Mutes strömt. Hierum bemühen wir uns ja ständig. Wir versagen dabei auch ständig, fühlen uns enttäuscht und haben das Gefühl, als hätten wir das Gute, wie wir es uns vorstellen, verfehlt. Zwischen dem, was wir als das spirituell Richtige erkannt haben und dem Tun desselben klafft ein ungeheurer Abgrund.
Wir schließen daraus, dass wir ja letzten Endes schwach sind; das ist es aber nicht. Die Schwierigkeit liegt in unserem Denken. Wir stellen Überlegungen an über die im geistigen Sinne gute Tat, dann stellen wir uns vor, dass es gilt, diese Gedanken in die Welt zu bringen. Aus dieser Denkweise heraus kann kein Mut in die Welt kommen, weil die Kluft zwischen Denken und Handeln eine zu große ist. Die zwei sind nicht gleichen Wesens. Hat ein Gedanke doch schließlich keine Kraft; und dennoch erwarten wir von diesem kraftlosen Gedanken, dass er uns die Schwungkraft verleihe, um in der Welt eine Handlung auszuführen.
Bei Menschen, die ihre Gedanken rasch in die Tat umzusetzen verstehen, kommt die Selbstprüfung nicht zwischen den Denkprozess und die Ausführung des Gedankens. Wenn wir in uns die Tugend des Mutes ausbilden wollen, so verlangt das, dass wir die Lücke schließen zwischen Denken und Tun, indem wir lernen, uns der zweiten Denkhandlung zu enthalten – nämlich die des Nachdenkens über unser Denken noch bevor wir handeln. Diese sekundäre Handlung ist uns so zur Gewohnheit geworden, dass wir nicht einmal durchschauen, dass sie stattfindet.
Ein spiritualisiertes Denken, das hineinfließen kann in die von unserem Körper zu verwirklichende Handlung der Tugend des Mutes, besteht nicht in einem Nachdenken über das Denken. Das heißt, spiritualisiertes Denken ist kein weiterer bloßer Inhalt – über Geister, Engel, Gott, die Toten oder sonst irgendwelche geistigen Wesenheiten. Alles solche Denken ist ein Denken von außen; es ist eine bloße Hülse der Lebendigkeit und der Macht, derer man für die Tugend des Mutes bedarf. Eine passende Beschreibung für spiritualisiertes Denken ist „Klarheit mit Unmittelbarkeit“, das heißt: Geistesgegenwart. Mit diesem Ausdruck ist etwas Tieferes gemeint, als die Abwesenheit von Verwirrung oder gute Logik. „Klarheit“ bedeutet „Durchsichtigkeit des eigenen Selbstes“: eine Art des Denkens, welche die eigene innere Bedeutung trägt und es nicht nötig hat, sich auf irgendetwas anderes zu beziehen, um verstanden zu werden. Wir wissen sofort, was zu tun ist.
Die Tugend des Mutes – das heißt: praxis-orientierte Spiritualität – erfordert die Ausbildung der Fähigkeit, sich im Seelischen sowohl horizontal als auch vertikal zu bewegen; so pflegt man gleichzeitig mit dieser Welt und mit den geistigen Welten ein Verhältnis. Diese Form seelischer Bewegung ist auch eine angemessene Beschreibung von Gleichgewicht. Bewegung ist hier auch bildhaft gemeint, deutet somit auf etwas anderes, als auf eine wortwörtliche Auffassung von Bewegung.
Eine ausgewogene Bewegung der Tugend des Mutes tritt dann ein, wenn wir es zu gleicher Zeit schaffen, in Wahrnehmungserlebnissen der gewöhnlichen Welt und in den Seelenerlebnissen der geistigen Welt zu verweilen. Nicht zuerst in der einen und dann der anderen. Nicht in der einen als vor der anderen bevorzugt. Nicht die eine im Dienst der anderen. Ein mutiges Sichbewegen in der Welt kann zu einem Handlungsmodus des Alltagslebens werden. Dann ist Mut nicht mehr den momentanen Handlungen des Notfalls vorbehalten. Man kann sogar soweit gehen, dass man sagt: das bewusste Bemühen, in der Welt spirituell zu leben und dabei die praktischen Angelegenheiten des Lebens mit spiritueller Vision zu erhellen: darin besteht der neue Mut.
Mut erfordert, dass wir in uns die Fähigkeit ausbilden, zu gleicher Zeit zwei radikal verschiedene Sachen zu tun: in dieser Welt und in den geistigen Welten zu sein. Das zu tun verlangt von uns eine Art Doppelsehens, eine Art Dissoziation, in der zwei verschiedene Dinge gleichzeitig vor sich gehen. Dissoziation ist aber nichts Neurotisches, außer es handelt sich um Dissoziation mit Realitätsverdrängung.
Zwei Dinge gleichzeitig zu machen ist an sich nicht neurotisch. Mit jeder unserer Hände etwas je anderes zu tun erfordert Können, und um dies zu können muss das, was ich mit der linken Hand tue, von dem entkoppelt sein, was ich mit der rechten Hand tue. Verleugne ich aber, dass ich mit der einen Hand etwas tue, während ich mit der anderen Hand etwas anderes tue, so ist das eine neurotische Verdrängung. In ähnlicher Weise ist die Auffassung eine neurotische Dissoziation, die diese irdische Welt für die einzige hält, obwohl wir in ständigem Verbundensein mit anderen Welten leben. Materialismus ist neurotische Dissoziation. Umgekehrt ist auch die Auffassung, die die geistige Welt für die einzig bestehende und diese irdische Welt für weiter nichts als die geistige Welt gelten lässt, ebenfalls eine neurotische Dissoziation. Spiritualisten jeglicher Art leben diese Neurose. Neurotische Dissoziation vermag nicht, den Widerspruch zweier gleichzeitig bestehender Wahrheiten zu umfassen. Eine solche Zweideutigkeit hält sie nicht aus.
Ich entwerfe deshalb dieses komplexe Bild, um der Tugend des Mutes Rechnung zu tragen. Wir müssen uns dem paradoxen Wesen dieser Tugend stellen. Einerseits müssen wir uns zweierlei Existenzebenen – eine irdische und eine geistige – vorstellen können. Andererseits müssen wir uns diese beiden Existenzebenen in ihrer funktionsweise nicht als in Tandem, sondern als eine Einheit vorstellen, und zwar ohne die eine auf die andere zu reduzieren. Wir müssen die umfassende Vorstellung haben, dass die zwei (Existenzebenen) das Eine (die Fülle einer Handlung des Mutes) sind.
Unser gewöhnliches Egobewusstsein ist nicht dazu in der Lage, in einem solchen Zustand des Widerspruchs zu funktionieren. Es sträubt sich gegen eine solche Vorstellung; für das Ego muss es sich um das Eine oder das Andere handeln, um das Eine, dann das Andere. Um die Tugend des Mutes zu praktizieren, müssen wir schon in ein andersartiges Bewusstsein eingetreten sein. Mit dem Mut so, wie wir ihn gewöhnlich kennen – es geht hier nicht um die oben erläuterte Tugend des Mutes – ereignet sich eine Art automatischen und sofortigen Hinübertretens über die Schwelle in einen anderen Bewusstseinsmodus hinein. Menschen, die mutige Handlungen ausführen, finden sich augenblicklich auf der anderen Seite der Schwelle und in einer anders gearteten Raum-/Zeitlichkeit. Ist die Handlung einmal fertig, so kehrt das gewöhnliche Wahrnehmen wieder zurück. Mit der Tugend des Mutes wird ein Schritt weiter gemacht: Sowohl das gewöhnliche Wahrnehmen als auch geistiges Bewusstsein ereignen sich zu gleicher Zeit.
Was Mut in der Welt leistet – wenn man ihn überhaupt als „Leistung“ (ein Wort, das ja dahin tendiert, ausschließlich Ego-orientiert zu sein) sich vorstellen kann – ist echt schöpferisches, in der irdischen Welt stattfindendes spirituelles Handeln. Aus spirituellem Mut heraus handeln wir nicht mehr rein aus persönlichen Wünschen, Motiven, Trieben, Impulsen, Ideen oder Idealen heraus; wir werden vielmehr selbst zu einem Gefäß, welches den Geist durch uns hindurch wirken lässt, dabei uns und unsere Umwelt radikal verändert und sich in unvorhersehbarer Weise auf andere Menschen auswirkt. Zugleich sind unsere Handlungen in der Welt ein Versuch, die geistigen Welten zu erreichen.
Durch die praxis-orientierte Spiritualität des Mutes wird unsere Erfahrung der Geistgebiete reell und unmittelbar gegenwärtig, denn wir „sehen“ deren Auswirkung innerhalb der Welt der sinnlichen Wahrnehmung. Jemand, der direkt neben uns stünde und an dieser Tugend nicht gearbeitet hätte, würde nicht das Gleiche sehen, wie wir. Das äußere Sehen eines Menschen mit geistigem Mut wird von einem inneren Sehen begleitet. Dieses innere Sehen soll aber nicht mit dem in der üblichen Weise verstandenen Hellsehen verwechselt werden. In der Regel versteht man das Hellsehen als eine Art Verlassen dieser Welt und Eintreten in Visionen anderer Welten. Auf die Tugend des Mutes trifft das nicht zu. Für den Menschen des spirituellen Mutes gibt es eine Art Doppelsehen.
Bei diesem Doppelsehen geht die gewöhnliche Sphäre der Wahrnehmung und des Denkens wie sonst vor sich; und diese ganze Sphäre sieht man als in Übereinstimmung mit etwas Geistigem. Es könnte zum Beispiel vorkommen, dass man eine andere Person sieht, während man zu gleicher Zeit auch – zwar in nicht physischer und dennoch in wirklicher Weise – die spirituelle Tätigkeit, die Wesenhaftigkeit selbst dieses Menschen vernimmt. Wir sehen von dieser Person mehr, als normal zu sehen ist. Oder man sieht vielleicht die vernichtende Wirkung, welche die Technologisierung der Welt auf den menschlichen Geist hat, aber anstatt dass man sich vor dieser Wirkung zurückzieht oder sie zu bekämpfen sucht, sieht man konkret, dass das, was spirituell eingefordert wird, die Entwicklung eines inneren Lebens ist, welches Schritt hält mit der äußeren technischen Entwicklung. Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, wie die tätige Tugend des Mutes konkret in Erscheinung treten kann. In allen Fällen wirkt die Tugend aber in die Richtung einer spirituellen Intensivierung des Lebens hin.
Der Mut wirkt auf eine Intensivierung des Lebens hin; daher tritt er in seinen Ausdrucksformen nicht als Gegner des potentiell Lebensschädlichen auf. Das Schädliche sehen wir zum Beispiel an bestimmten Formen der Technologie oder an dem übermäßigen Gebrauch fossiler Brennstoffe, oder an multinationalen Konzernen. Mutiges Handeln solchen Dingen gegenüber besteht darin, zwar aktiv zu werden, aber in der Weise aktiv, dass man die spirituellen Aspekte wahrnimmt, durch die solche Schäden ausgeglichen werden können. Diese Art des Mutes ist die neue Form des Aktivismus: ein Aktivismus der Seele. Dieser Aktivismus wirkt immer nur positiv; er stellt sich niemals etwas entgegen; er sucht immer danach, das nötige Gleichgewicht herzustellen. Angesichts schädlicher Wirkungen dieser Art besteht also die Handlung des Mutes in der Geistesgegenwart, anderen Menschen klare Schritte zu zeigen, wie man in solche schädlichen Faktoren Gleichgewicht hineinbringen kann, ein solches Gleichgewicht, das primär inneren und spirituellen Wesens ist.
Als Beispiel hat die ungezügelte Entwicklung der elektronischen Technologie die verheerende Wirkung, dass sie die Tiefe des menschlichen Lebens und der menschlichen Erfahrung wegschneidet. Durch den Computer, das Internet, das mobile Telefon, das digitale Fernsehen werden der Seele bestimmte Schäden zugefügt; durch Oberflächen-Informationen und Geschwindigkeit veralten die so nötigen, der Seelentiefe entstammenden Qualitäten der Zeitlichkeit und Räumlichkeit. Auch die Ruhe, die zur Herstellung einer Verbindung mit dem Leben der Seele unerlässlich ist, fällt aus. Das Leben der Seele liebt die Wiederholung, die Langsamkeit, die Besinnlichkeit, die Erinnerung, das Träumen, das Drama, die kreisförmige Unwirksamkeit. Hat man dies einmal gründlich verstanden, so braucht es einen Standpunkt des Mutes, um auf diesen Zustand in der Welt einzugehen, in dem die Seele zunehmend erschöpft wird. Eine Antwort aus dem Mut heraus bestünde nicht darin, sich dem entgegenzusetzen, was in der Sphäre der Technik vor sich geht. In gegnerischer Weise darauf einzugehen wäre ein heldenhafter Standpunkt, kein mutiger. Stattdessen bestünde ein Standpunkt spirituellen Mutes in zwei Handlungen. Die erste wäre, das Problematische der Technik klar zu durchschauen, anstatt bloß emotional darauf zu reagieren oder sich auf eine dialektische Diskussion über die positiven und negativen Seiten der Technik einzulassen. Was Not tut, ist Klarheit, in deren Licht die Schäden deutlich werden, welche die elektronische Technologie der Seele zufügt. Die folgerichtige Handlung auf solches Verstehen wäre dann, dass der Mensch in sich innere Technologien der spirituellen Imagination ausbildet, die Schritt halten können mit den äußeren Entwicklungen der Technologie.
Natürlich bedeutet „Schritt halten“ hier nicht, dass man etwa immer dann eine neue Meditationstechnik erfindet, wenn ein neues und schnelleres Computersystem auf den Markt gebracht wird. Vielmehr deutet eine außer Kontrolle geratene Technologie wie nichts anderes auf die Notwendigkeit jedes einzelnen Menschen hin, gezielt innerlich aktiv zu werden. In diesem Sinne schrittzuhalten ist der innere Ausgleich zu dieser äußeren Manie.
Es könnten viele weitere Beispiele der Handlung eines spirituellen Mutes dargestellt werden. Persönliche, individuelle, alltägliche Vorkommnisse, bei denen man dazu aufgerufen wird, aus der Tugend des Mutes heraus zu reagieren, haben alle dasselbe Grundmuster. Wie beim Durchdenken einer jeden Tugend, so gilt auch beim Durchdenken der Tugend des Mutes, dass es nicht darum geht, auf sämtliche möglichen Fälle zu kommen, in denen die Tugend anzuwenden wäre. Es geht vielmehr darum, sich eine wahre Vorstellung der Tugend zu bilden. Denn eine wahre Vorstellung der Tugend eröffnet die Möglichkeit, nicht nur über sie etwas zu wissen, sondern von ihr ergriffen zu werden. Nur dann kann sie wirken.
Hier endet Die Tugend des Mutes
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von Robert Sardello
Die Tugend des Mutes
(Mut wird zu Erlöserkraft - Rudolf Steiner)
21. Dezember - 20. Januar
Die Tugend des Mutes ist nicht dasselbe wie heldenhafte Handlungen. Normalerweise werden die zwei – Mut und Heldenhaftigkeit – zusammengeworfen. Heldenhaftigkeit ist aber eine eher äußerliche Bezeichnung, die durch andere Menschen gemacht wird als durch diejenigen, die in diesen Handlungen direkt darinnen stehen. Keiner nennt sich selbst einen Held, es sei denn, er ist in extremem Egoismus verstrickt. Diejenigen, die mutig handeln, sind höchstwahrscheinlich überrascht, wenn sie im Nachhinein als Helden betitelt werden. Es gibt allerdings einen älteren Sinngehalt des Begriffs „Held“: jemand, zu dem man hinaufblickt, weil er schwer zu vollziehende Taten vollbracht hat.
In der Welt der alten Griechen zum Beispiel war der Held ein Mensch, der Taten vollbrachte, die sich mit denen der Götter messen können; so wurde er als teils Mensch und teils Gott angesehen. Oder der Held war schon von Geburt an teils menschlichen, teils göttlichen Wesens. Die Dimension des Helden als Teilhaber an der Unsterblichkeit gilt noch heute als zentraler Aspekt unserer Vorstellung des Helden, ob im Sport, im Militär, oder auch in der Unterhaltungsbranche. Die Helden von heute sind zwar nicht unsterblich, aber wir stellen sie uns so vor, als wären sie es.
Die Tugend des Mutes erfordert aber nicht, dass man sich einen mutigen Menschen als unsterblich vorstelle. Wenn heute die Empfindung herrscht, dass es kaum Helden gibt, mit denen sich die Jugend oder gar eine Nation identifizieren könnte, so kann es sein, dass das, was fehlt, nicht Helden, sondern Mut ist.
Die Tragödie des Terroranschlags am 11. September 2001 hat eine nationale Vorstellung des Mutes wieder hergestellt. Uns wurde von unzähligen solchen Handlungen des Mutes berichtet. Zum Glück wurde zwar das Ansehen der Polizei und der Feuerwehr angehoben, aber ohne dass diese Menschen zu Helden gemacht wurden. Sie existieren in unserer Vorstellung als mutige Menschen. Versuche, aus ihnen Helden zu machen, sind wegen der vielen Todesopfer unter ihnen gescheitert; so ist es ausgeschlossen, sie sich als unsterblich vorzustellen. Und dennoch werden nach wie vor die zwei Vorstellungen verwechselt, solange man die Aufmerksamkeit ausschließlich auf die Handlungen richtet, die ausgeführt wurden. Sowohl ein Held als auch ein aus Mut Handelnder geht über die Grenzen dessen hinaus, was machbar erscheint, und vollbringt um anderer Menschen Willen eine Tat. Wollen wir zu einem klaren Bild dieser Tugend kommen, so kommen wir nicht umhin, den eigentlichen Seelenprozess des Mutes zu beschreiben.
Man betrachte den Tanz als Bildprototyp der Tugend des Mutes. Bietet der Tanz doch einen nützlichen Vergleich, durch den wir uns eine Vorstellung der Tugend des Mutes entwickeln können. Wenn wir uns das vorstellen können, was alles mit dem Tanz zu tun hat, so sind wir auf gutem Wege zu einem tieferen Verständnis des Mutes.
Es ist nicht der Fall, dass wir den Gleichgewichtssinn etwa nutzen, um uns den rhythmischen Vorgängen des Tanzes gemäß zu bewegen. Wer im wahren Sinne tanzt, der überlässt sich vielmehr dem Gleichgewichtssinn und indem er dies tut, geht er über das hinaus, zu dem der Gleichgewichtssinn im gewöhnlichen Leben des Körpers in der Lage ist. Das Vermögen, über die gewöhnliche Sinneswelt hinauszugehen, ist ein besonderes Kennzeichen auch des Mutes; ja auf diese Fähigkeit, über das Gewöhnliche hinauszugehen, ist die Verwirrung zurückzuführen, die zwischen unseren Vorstellungen des Mutes und des Heldentums bestehen kann. Zwar funktionieren die zwei manchmal in einem. Aber sie sind zwei deutlich verschiedene Weisen, über das Gewöhnliche hinauszugehen.
Sich über die landläufigen Kapazitäten des Gleichgewichtes hinauszudehnen hat mit der Fähigkeit zu tun, in der Abwesenheit bekannter Grenzmarkierungen sich dennoch orientieren zu können. Dies zu tun kennzeichnet eine Art Intensivierung des Lebens. Der klassische Held fühlte sich häufig stärker zum Tod hingezogen, als zum Leben. Auch heute ist es womöglich die todestrotzende Dimension der Handlungen der Helden beziehungsweise Antihelden, von der wir uns herangezogen fühlen, während der Mut oft unbemerkt bleibt. Obgleich es zutrifft, dass man bei großen Handlungen des Mutes um anderer Menschen willen das eigene Leben riskiert, wohnt Handlungen Mutes die Dimension des Todesmutes nicht inne. Bei Taten des Mutes geht es nämlich nicht darum, dass der Tod herausgefordert wird.
Wenn man in vollkommen kontrollierter, rhythmischer Bewegung durch die Luft wirbelt, ist es nicht der Fall, dass man lediglich tanzt; in solchem Augenblick tanzt man nicht einfach, sondern man ist in die Form selbst des Tanzes aufgenommen worden. Diese Art Expansion des Bewegungssinnes geschieht nicht von alleine oder durch Zufall; sie erfordert langes, hartes, geduldiges, wiederholendes Üben. In ähnlicher Weise ist es auch beim Mut so, dass letzterer nicht einfach geschieht. Selbstverständlich geschieht auch nicht Heldenhaftigkeit von alleine. Von dieser aber liegt die Voraussetzung in der Leibeskonstitution. In alten Zeiten hatte ein Held definitionsgemäß einen sterblichen und einen unsterblichen Elternteil. Heutzutage nennen wir ein solches Talent genetische Vererbung.
So sehr Michael Jordan zum Beispiel ein Basketball-Held sein mag: er ist nicht zwingend mutig. Vieles von seiner Fähigkeit, in der Luft zu hängen, liegt an dem, was ihm mitgegeben wurde, wie etwa seine Körperlänge, seine Bewegungsfähigkeit, sein natürliches Talent. Alle diese Gaben wurden freilich bis zu einem hohen Grad geschliffen. Obwohl seine Fähigkeit, sich zu bewegen und zu springen und durch die Luft zu fliegen, den Gleichgewichtssinn über das Gewöhnliche hinaus erweitert, bezieht sich hier der Ausdruck „gewöhnlich“ hauptsächlich auf körperlich-physische Fähigkeiten. Enttäuschung bleibt nicht aus, wenn wir – wie wir eben zu tun pflegen – von unseren Helden erwarten, dass sie beispielhafte sittliche Eigenschaften an den Tag legen; damit dieses geschehen kann, ist Mut erforderlich.
Die Tugend des Mutes, so könnten wir sagen, ist immer heldenhaft, aber Heldenhaftigkeit ist nicht immer mutig. Helden und Heldinnen gehen über das Gewöhnliche hinaus, aber es mag wohl sein, dass sie so begabt sind, dass solche Erweiterung ein Faktor in ihrem Leben oder wenigstens als Potenzial gegeben ist. Die Tugend des Mutes erfordert das Erwecken einer spirituellen Dimension im eigenen Leben, wenn auch nur für einen Augenblick. Mut ist viel spiritueller als bloße Heldenhaftigkeit. So muss denn das besondere Wesen dieser spirituellen Dimension erkundet werden.
Es kann uns vielleicht helfen, zur spirituellen Dimension zu kommen, die den Mut ausmacht, wenn wir das Folgende zur Kenntnis nehmen: diese Tugend ist weitgehend so verkommen, dass sie nur noch als Machtgelüsten manifestiert. So finden wir in Gebieten, in denen wir Äußerungen des Mutes erwarten dürften, wie etwa auf Führungsebenen, in der Politik, im Geschäftsleben – grassierenden Ehrgeiz. Ehrgeiz ist eines der Extreme der Tugend des Mutes; das andere Extrem ist Schüchternheit. Der Weg des Mutes führt zwischen diesen Extremen hindurch.
Von außen zum Beispiel sieht ein Mensch vielleicht mutig aus, der vor nichts Halt macht, um voranzukommen und an oberster Stelle zu sein, aber in solchem Fall ist die Spiritualität der Handlung des Mutes vom Ego befallen. Bei der Schüchternheit liegt das Gegenteil vor. Der schüchterne Mensch hat oft starke Impulse, mutige Leistungen zu erbringen, besitzt aber nicht die Ichstärke, diese Vorstellungen zu verwirklichen. Wir müssen besondere Aufmerksamkeit auf unseren Ehrgeiz richten, da dieser in unserer Zeit so dominant ist; dies zu tun wird hilfreiche Einsichten in den Mut herbeiführen. Unsere Strategie hierzu besteht erstens in einer Untersuchung der Frage, wie sich der Mut heutzutage so stark als eine Art Symptom zeigt (anstatt in seiner Lebensprühenden spirituellen Form aufzutreten), und zweitens darin, dieses Symptom in seinen Tiefen auszuleuchten, um die Regungen seiner gesunden Form aufzuspüren.
Ehrgeiz hat mit dem Verlangen zu tun, in egal welcher Weise an Macht zu kommen. Ehrgeiz wurde schon einmal definiert als „Reichweite, die über das Fassungsvermögen hinausgeht“; hier sehen wir seinen Bezug zum Mut, der wesensgemäß auch seinerseits damit zu tun hat, über die eigene Reichweite hinauszugehen. Beim Ehrgeiz gibt es aber einen überwölbenden Stolz auf die eigenen Fähigkeiten; da liegt kein Bedarf nach den Göttern oder nach Rat, auch nicht einmal nach anderen Menschen vor, außer insofern sie den eigenen Zwecken des nach Macht Strebenden dienen. Das englische Wort für „Ehrgeiz“: „ambition“, ist mit ambit Sinnverwandt, was „Rund“ oder „Umkreis“ bedeutet. Das Wort weist darauf hin, dass Ehrgeiz damit zu tun hat, bis zum äußersten Rand hinauszugehen, die eigenen Grenzen zu finden und zu prüfen. Ehrgeiz signalisiert eine – wesensgemäß praxisbezogene – äußere Bewegung, die uns bis zur Schwelle der entferntesten Möglichkeit hinausbringt. Ehrgeiz verlangt Risiko – man weiß nicht, wo der Rand ist und man erweitert ihn immer und immer wieder, ohne Gewissheit darüber, wann man in den Abgrund hineingestürzt wird. Das hört sich sehr wie Mut an, nicht wahr?
Zum Ehrgeiz gehört definitionsgemäß der Exzess. Wir können nicht wahrhaft Ehrgeizig sein, solange wir Zurückhaltung, Kontrolle, Vorsicht üben und dem ständigen Bedürfnis nachgeben, darüber Gewissheit zu haben, wo wir sind und wie weit wir noch gehen können. Mit Ehrgeiz kommt man nicht umhin, jenseits des Randes und mit dem Unvorhersehbaren aktiv in Verbindung zu sein, draußen auf der anderen Seite der Schranke des eigenen besseren Urteilsvermögens.
Diese Aspekte haben Mut und Ehrgeiz gemeinsam. Worin liegt also der Unterschied? Meiner Auffassung nach zeigt sich der Unterschied in der Beziehung zur Furcht. Der hoch-ehrgeizige Mensch besitzt die Fähigkeit, anderen Menschen Furcht einzuflößen, zumal als primärer Modus, Macht auszuüben. Von daher wird Ehrgeiz so sehr bewundert und aber auch verachtet. Diese Art Macht auszuüben ist es aber, worin sich Ehrgeiz und Mut am stärksten unterscheiden. Der mutige Mensch flößt anderen Menschen keine Furcht ein, und vermag stattdessen, sich der eigenen Furcht zu stellen, und zwar nicht durch einen etwaigen Besitz an persönlicher Macht, sondern indem er auf alle persönliche Macht gerade verzichtet.
Wenn die Macht sowohl mit dem Ehrgeiz als auch mit dem Mut in Verbindung steht, so entsteht die Frage: ist denn Mut ein Vermittler oder gar ein Ausübender der Macht? Der ehrgeizige Mensch steht wenigstens zu seinem Bedürfnis nach Macht. Wenn es aber im Mut keine Macht gibt, wie ist es denn dann möglich, durch Mut irgendetwas zu vollbringen? Der Moment selber, in dem jemand um eines anderen Menschen Willen das eigene Leben an zweite Stelle setzt, ist der Moment des Verzichts auf persönliche Macht. Wir gehen über den äußersten Rand hinaus, bis zur entferntesten Grenze, nehmen ein ungeheures Risiko auf uns, ohne davon etwas haben zu wollen und ohne zu wissen oder auch nur daran zu denken, ob wir es denn vermögen, das zu tun, was verlangt wird. In dem Fall – mit dem Mut – nutzen wir unsere Macht, um auf unsere Macht zu verzichten. Beim Ehrgeiz verwenden wir unsere Macht, um mehr Macht zu gewinnen, und zwar ohne jeden Endzweck außer diesem Gewinn selbst.
Bevor Ratschläge gemacht werden zum tatsächlichen Ausbilden der Tugend des Mutes, scheint gerade bei dieser Tugend die Frage besonders nötig, wieso man überhaupt den Wunsch haben sollte, dies zu tun. Was hat man davon? Haben wir einmal eine lebendige Auffassung der Wahrheit unseres Seins erworben, so sind wir dazu gezwungen, uns dem Reich des Mutes zu stellen. In uns den Mut auszubilden ist keine Sache der Freiwilligkeit, sondern eine Sache davon, es bis zu einer bestimmten inneren Entwicklungsstufe gebracht zu haben. Haben wir einmal die Wahrheit unseres Seins erlebt, so wird die Seeleneigenschaft des Mutes auftreten. Ferner ist die Tugend des Mutes keine Eigenschaft, die nur in Zeiten extremer Not oder extremer Bedrängnis anderer Menschen hervortritt. Wir müssen unsere Vorstellung des Mutes aus dem Bereich momentaner Handlungen entfernen und so erweitern, dass die Tugend des Mutes zu einem Faktor unseres alltäglichen Lebens wird.
Das Leben um der Welt und anderer Menschen Willen, das Weitergehen als nur bis zu dem, was wir kennen, das Leben an der Grenze, an der Schwelle – so etwas ließe sich wohl praxisbezogene Spiritualität nennen. „Praxis-orientierte Spiritualität“ ist ein passendes Synonym für die Tugend des Mutes. Der praktische Sinn mutiger Persönlichkeiten ist wohl bekannt; ein solcher Mensch ist jemand, der ausharrt und – vielleicht schweren Schrittes, aber ohne sich nach rückwärts zu bewegen – weitermacht. Auch zum Mut als Tugend gehört dieser praxis-orientierte, irdische Aspekt dazu. Aber bei der Tugend ist die Bewegungsrichtung nicht nur vorwärts, sondern auch in die Höhen, zum Gipfel hin, in Richtung des Geistes.
Wenn man Mut als praxis-orientierte Spiritualität beschreibt, so könnte das wie das glatte Gegenteil von dem scheinen, was man unter „praktisch“ sich vorstellt. Man könnte meinen, dass praxis-orientierte Spiritualität besser als eine Art Vermählung religiösen Eifers mit weltlichem Erfolg zu definieren sei. Viele Menschen führen heutzutage diese Art praxis-orientierter Spiritualität aktiv aus. Alternativ könnte „praxis-orientierte Spiritualität“ bedeuten, dass man die eigene Spiritualität von den Alltags-Angelegenheiten trennt. Man gehe sonntags zur Kirche und hoffe, dass das auf den Rest der Woche eine Auswirkung hat; unter keinen Umständen vermenge man aber das, was in der Kirche passiert, mit der nächsten größeren geschäftlichen Verhandlung. Heutzutage bedeutet „praxis-orientierte Spiritualität“ in der Regel, dass man die eigene Spiritualität und die Hauptziele des Lebens sauber auseinanderhält, in der Annahme, dass jene keinen Beitrag leistet zu dem, was unter dem Strich herauskommt.
Indem ich Mut mit praxis-orientierter Spiritualität gleichsetze, meine ich etwas anderes als den materialistischen Pragmatismus des Geistes, der gegenwärtig unseren Nationalcharakter kennzeichnet. Mit „praktisch“ meine ich nicht, wie man den Geist dazu verwendet, um im Irdischen den eigenen Vorteil zu sichern. „Praktisch“ meint vielmehr, wie man mit dem Irdischen umgeht, um nach den geistigen Welten zu streben. Oder: wie man die eigene Existenz sichert, anderen Menschen hilft und dadurch, dass man in möglichst menschlicher Weise auf die Aktualitäten eingeht, die in jedem Moment auftreten, den geistigen Sinn in allem sieht. Darin besteht also praxis-orientierte Spiritualität: nicht nur am Leben bleiben (überleben), sondern intensiv am Leben bleiben. Aus dieser Aufgabe besteht meiner Auffassung nach das neue Tätigkeitsfeld für die Tugend des Mutes. Ferner hat die praxis-orientierte Spiritualität des Mutes nicht nur mit der Intensität des Lebens, sondern auch mit der Intensität der Seele zu tun.
So hat der eine Aspekt des Mutes mit einem Dasein an der Grenze zu tun. Ein weiterer Aspekt hat mit dem Handeln ohne äußere Stütze zu tun. Diese Aspekte müssen nun um ein Verständnis der Tiefendimension des Mutes ergänzt werden. Diese Dimension ist schwerer zu fassen, weil es bei ihr um den Willen geht, also um den Aspekt unseres Wesens, der uns am wenigsten bewusst ist. Schon bei den einfachsten unserer Handlungen durchschauen wir fast nichts vom Willen, und bei der Handlung des Mutes ist dies erst recht der Fall.
Angenommen ich will in meinem Zimmer das Fenster öffnen. Ich habe den Gedanken, das zu tun, aber wenn es dazu kommen soll, dass ich tatsächlich aufstehe und den Gedanken ausführe, muss dieser Gedanke auf meine Gliedmaßen übertragen werden. Was innerlich vor sich geht, damit diese einfache Handlung zustande kommt, bleibt verdeckt, geheimnisvoll, so gut wie unerkannt. Rein physiologische Erklärungen, die mit den Hirnzentren, den motorischen Nerven und Ähnlichem zu tun haben, bringen uns zu keinem inneren Verstehen des Geschehens. Ferner bleiben derartige Erklärungen immer in einer veralteten dualistischen Vorstellungsweise befangen. Selbst wenn es der Fall ist, dass die Spur des Gedankens vom Gehirn registriert wird, ist der Gedanke geistigen Wesens, während das Gehirn und die motorischen Nervenbahnen materiellen Wesens sind. Wie in aller Welt können diese zwei miteinander interagieren?
Was sich immerhin mit deskriptiver Genauigkeit sagen lässt, das ist, dass unser Körper, indem er einen Gedanken verwirklicht, sich auf ein handelndes Tun einlässt. Im Bereich des Denkens existiert kein Wille. Ich kann zwar den Gedanken fassen, das Fenster zu schließen, aber der Körper ist es, der dies tun muss, und in diesem Tun ist es, wo der Wille liegt. Wenn man den Willen als etwas betrachtet, was durch den Körper ausgeführt wird, so zeigt sich, dass unser Körper ausgesprochen großzügig ist und kaum etwas dafür haben will. Gewiss, aus Handlungen unseres Körpers erzielen wir in unserem inneren Bewusstsein irgendeinen Gewinn, wie etwa Vergnügen. Genau genommen ist es aber nicht unser Körper, der das Vergnügen erlebt, sondern wir sind es, die in vergnüglicher Weise das erleben, was wir unserem Körper zumuten.
Mit dieser Frage des Willens müssen wir versuchen, uns den Körper selbst in seiner eigenen Tätigkeit vorzustellen; es gibt keinen treffenderen Ausdruck, keine bessere Beschreibung für das, was der Körper tut, als: Er tut beinahe alles, was man von ihm verlangt, in mutiger Weise. Unser Körper führt die ihm aufgegebenen Handlungen mit unglaublicher Weisheit, verblüffender Genauigkeit und fehlerloser Integrität aus.
Somit hätten wir die Basis des Mutes gefunden, und zwar als grundlegende Handlung des Körpers, indem dieser in der Verwirklichung des Willens begriffen ist. Als Nächstes müssen wir begreifen, dass es einerseits Mut und andererseits den Mut als Tugend gibt, und dass die beiden nicht genau gleich sind. Bei der Tugend des Mutes geht es um eine Anpassung der Handlungen unseres Körpers und Willens an das höhere Bewusstsein unserer Geist-Individualität. In der Tugend des Mutes sind unsere körperlichen Taten, unser Bewusstsein und unser Geistessein eine Einheit. Im Mute handeln wir ganzheitlich.
Den Mut auszubilden ist zwar nicht leicht; dennoch erfordert dies keinerlei Spezialwissen. Das Ausbilden des Mutes geht mit der Arbeit am Willen einher. Im Beispiel oben bewegt sich der Gedanke, das Fenster zu öffnen, im Körpergewebe und setzt eine Tat der Selbstaufopferung in Gang. Für einen Augenblick steht der Körper vom Stuhl auf, geht zum Fenster hin, entriegelt dieses, zieht am Griff, klopft auf den Rahmen um das Feststecken zu lösen, zieht noch einmal und vollbringt so die Aufgabe.
Zwar kommt uns die Ausführung einer solchen Handlung nicht wie etwas vor, was wir gerade mutig nennen würden. Beschaut man aber rein den Fluss dessen, was vom Gedanken bis hin zur Tat vor sich geht, so ist es dieser Fluss, welcher in Handlungen, die wir als mutig anerkennen, in Gang halten müssen. Es wird eine Kontinuität hergestellt zwischen dem, was wir für nötig halten und dem zügigen Ausführen desselben. Man könnte meinen, der Mut verlange von uns, dass wir den Bereich des Denkens gänzlich aufgeben. Das mutige Handeln ist rasch und scheint daher die kognitive Dimension zu überschatten. Und doch ist sie vorhanden; wenn nicht, so sind wir nicht mutig gewesen, sondern tollkühn.
Man stelle sich nun nicht die Handlung des Fensteröffnens, sondern dass jemand Hilfe braucht, vor. Man darf sich alles Mögliche vorstellen, ob harmlos, ob ernst. Etwas zu tun erfordert eine Übertragung des Denkens auf den Körper. Je mehr man sich im Denken darüber verstrickt, was wohl das Richtige zu tun wäre, was falsch sein könnte, wie man sich zu dem anschicken sollte, von dem man meint, es würde helfen, umso mehr vereitelt man den Mut. Diese Blockade tritt häufig bei den einfachsten Situationen auf, die Mut verlangen, und sie wird noch gefährlicher dann, wenn es um den Mut als Tugend geht, also wenn es gilt, Körper, Wille und Geist einander anzupassen.
Die Tugend des Mutes existiert innerhalb des gleichen Rahmens, den ich hier darzustellen versuche, nur dass sich bei der Tugend des Mutes unsere Gedanken sowohl auf die geistigen Reiche, als auch auf die Reiche unserer gewöhnlichen Sinneswahrnehmung eingestimmt haben. Dabei findet ein andersartiges Denken statt, als die übliche, dem Materialismus verpflichtete Sorte, von der ja das Meiste dessen bestimmt ist, was wir tun.
Mit unserem üblichen Denkmodus können wir keine spirituellen Gedanken bilden. Wohl können wir mit dieser Denkweise über geistige Angelegenheiten Gedanken bilden; allein das ist kein spirituelles Denken. Vom einem Denken aus, das über geistige Dinge nachdenkt, ist es nicht möglich, den Fluss in Gang zu bringen, der von Gedanken zu Handlungen der Tugend des Mutes strömt. Hierum bemühen wir uns ja ständig. Wir versagen dabei auch ständig, fühlen uns enttäuscht und haben das Gefühl, als hätten wir das Gute, wie wir es uns vorstellen, verfehlt. Zwischen dem, was wir als das spirituell Richtige erkannt haben und dem Tun desselben klafft ein ungeheurer Abgrund.
Wir schließen daraus, dass wir ja letzten Endes schwach sind; das ist es aber nicht. Die Schwierigkeit liegt in unserem Denken. Wir stellen Überlegungen an über die im geistigen Sinne gute Tat, dann stellen wir uns vor, dass es gilt, diese Gedanken in die Welt zu bringen. Aus dieser Denkweise heraus kann kein Mut in die Welt kommen, weil die Kluft zwischen Denken und Handeln eine zu große ist. Die zwei sind nicht gleichen Wesens. Hat ein Gedanke doch schließlich keine Kraft; und dennoch erwarten wir von diesem kraftlosen Gedanken, dass er uns die Schwungkraft verleihe, um in der Welt eine Handlung auszuführen.
Bei Menschen, die ihre Gedanken rasch in die Tat umzusetzen verstehen, kommt die Selbstprüfung nicht zwischen den Denkprozess und die Ausführung des Gedankens. Wenn wir in uns die Tugend des Mutes ausbilden wollen, so verlangt das, dass wir die Lücke schließen zwischen Denken und Tun, indem wir lernen, uns der zweiten Denkhandlung zu enthalten – nämlich die des Nachdenkens über unser Denken noch bevor wir handeln. Diese sekundäre Handlung ist uns so zur Gewohnheit geworden, dass wir nicht einmal durchschauen, dass sie stattfindet.
Ein spiritualisiertes Denken, das hineinfließen kann in die von unserem Körper zu verwirklichende Handlung der Tugend des Mutes, besteht nicht in einem Nachdenken über das Denken. Das heißt, spiritualisiertes Denken ist kein weiterer bloßer Inhalt – über Geister, Engel, Gott, die Toten oder sonst irgendwelche geistigen Wesenheiten. Alles solche Denken ist ein Denken von außen; es ist eine bloße Hülse der Lebendigkeit und der Macht, derer man für die Tugend des Mutes bedarf. Eine passende Beschreibung für spiritualisiertes Denken ist „Klarheit mit Unmittelbarkeit“, das heißt: Geistesgegenwart. Mit diesem Ausdruck ist etwas Tieferes gemeint, als die Abwesenheit von Verwirrung oder gute Logik. „Klarheit“ bedeutet „Durchsichtigkeit des eigenen Selbstes“: eine Art des Denkens, welche die eigene innere Bedeutung trägt und es nicht nötig hat, sich auf irgendetwas anderes zu beziehen, um verstanden zu werden. Wir wissen sofort, was zu tun ist.
Die Tugend des Mutes – das heißt: praxis-orientierte Spiritualität – erfordert die Ausbildung der Fähigkeit, sich im Seelischen sowohl horizontal als auch vertikal zu bewegen; so pflegt man gleichzeitig mit dieser Welt und mit den geistigen Welten ein Verhältnis. Diese Form seelischer Bewegung ist auch eine angemessene Beschreibung von Gleichgewicht. Bewegung ist hier auch bildhaft gemeint, deutet somit auf etwas anderes, als auf eine wortwörtliche Auffassung von Bewegung.
Eine ausgewogene Bewegung der Tugend des Mutes tritt dann ein, wenn wir es zu gleicher Zeit schaffen, in Wahrnehmungserlebnissen der gewöhnlichen Welt und in den Seelenerlebnissen der geistigen Welt zu verweilen. Nicht zuerst in der einen und dann der anderen. Nicht in der einen als vor der anderen bevorzugt. Nicht die eine im Dienst der anderen. Ein mutiges Sichbewegen in der Welt kann zu einem Handlungsmodus des Alltagslebens werden. Dann ist Mut nicht mehr den momentanen Handlungen des Notfalls vorbehalten. Man kann sogar soweit gehen, dass man sagt: das bewusste Bemühen, in der Welt spirituell zu leben und dabei die praktischen Angelegenheiten des Lebens mit spiritueller Vision zu erhellen: darin besteht der neue Mut.
Mut erfordert, dass wir in uns die Fähigkeit ausbilden, zu gleicher Zeit zwei radikal verschiedene Sachen zu tun: in dieser Welt und in den geistigen Welten zu sein. Das zu tun verlangt von uns eine Art Doppelsehens, eine Art Dissoziation, in der zwei verschiedene Dinge gleichzeitig vor sich gehen. Dissoziation ist aber nichts Neurotisches, außer es handelt sich um Dissoziation mit Realitätsverdrängung.
Zwei Dinge gleichzeitig zu machen ist an sich nicht neurotisch. Mit jeder unserer Hände etwas je anderes zu tun erfordert Können, und um dies zu können muss das, was ich mit der linken Hand tue, von dem entkoppelt sein, was ich mit der rechten Hand tue. Verleugne ich aber, dass ich mit der einen Hand etwas tue, während ich mit der anderen Hand etwas anderes tue, so ist das eine neurotische Verdrängung. In ähnlicher Weise ist die Auffassung eine neurotische Dissoziation, die diese irdische Welt für die einzige hält, obwohl wir in ständigem Verbundensein mit anderen Welten leben. Materialismus ist neurotische Dissoziation. Umgekehrt ist auch die Auffassung, die die geistige Welt für die einzig bestehende und diese irdische Welt für weiter nichts als die geistige Welt gelten lässt, ebenfalls eine neurotische Dissoziation. Spiritualisten jeglicher Art leben diese Neurose. Neurotische Dissoziation vermag nicht, den Widerspruch zweier gleichzeitig bestehender Wahrheiten zu umfassen. Eine solche Zweideutigkeit hält sie nicht aus.
Ich entwerfe deshalb dieses komplexe Bild, um der Tugend des Mutes Rechnung zu tragen. Wir müssen uns dem paradoxen Wesen dieser Tugend stellen. Einerseits müssen wir uns zweierlei Existenzebenen – eine irdische und eine geistige – vorstellen können. Andererseits müssen wir uns diese beiden Existenzebenen in ihrer funktionsweise nicht als in Tandem, sondern als eine Einheit vorstellen, und zwar ohne die eine auf die andere zu reduzieren. Wir müssen die umfassende Vorstellung haben, dass die zwei (Existenzebenen) das Eine (die Fülle einer Handlung des Mutes) sind.
Unser gewöhnliches Egobewusstsein ist nicht dazu in der Lage, in einem solchen Zustand des Widerspruchs zu funktionieren. Es sträubt sich gegen eine solche Vorstellung; für das Ego muss es sich um das Eine oder das Andere handeln, um das Eine, dann das Andere. Um die Tugend des Mutes zu praktizieren, müssen wir schon in ein andersartiges Bewusstsein eingetreten sein. Mit dem Mut so, wie wir ihn gewöhnlich kennen – es geht hier nicht um die oben erläuterte Tugend des Mutes – ereignet sich eine Art automatischen und sofortigen Hinübertretens über die Schwelle in einen anderen Bewusstseinsmodus hinein. Menschen, die mutige Handlungen ausführen, finden sich augenblicklich auf der anderen Seite der Schwelle und in einer anders gearteten Raum-/Zeitlichkeit. Ist die Handlung einmal fertig, so kehrt das gewöhnliche Wahrnehmen wieder zurück. Mit der Tugend des Mutes wird ein Schritt weiter gemacht: Sowohl das gewöhnliche Wahrnehmen als auch geistiges Bewusstsein ereignen sich zu gleicher Zeit.
Was Mut in der Welt leistet – wenn man ihn überhaupt als „Leistung“ (ein Wort, das ja dahin tendiert, ausschließlich Ego-orientiert zu sein) sich vorstellen kann – ist echt schöpferisches, in der irdischen Welt stattfindendes spirituelles Handeln. Aus spirituellem Mut heraus handeln wir nicht mehr rein aus persönlichen Wünschen, Motiven, Trieben, Impulsen, Ideen oder Idealen heraus; wir werden vielmehr selbst zu einem Gefäß, welches den Geist durch uns hindurch wirken lässt, dabei uns und unsere Umwelt radikal verändert und sich in unvorhersehbarer Weise auf andere Menschen auswirkt. Zugleich sind unsere Handlungen in der Welt ein Versuch, die geistigen Welten zu erreichen.
Durch die praxis-orientierte Spiritualität des Mutes wird unsere Erfahrung der Geistgebiete reell und unmittelbar gegenwärtig, denn wir „sehen“ deren Auswirkung innerhalb der Welt der sinnlichen Wahrnehmung. Jemand, der direkt neben uns stünde und an dieser Tugend nicht gearbeitet hätte, würde nicht das Gleiche sehen, wie wir. Das äußere Sehen eines Menschen mit geistigem Mut wird von einem inneren Sehen begleitet. Dieses innere Sehen soll aber nicht mit dem in der üblichen Weise verstandenen Hellsehen verwechselt werden. In der Regel versteht man das Hellsehen als eine Art Verlassen dieser Welt und Eintreten in Visionen anderer Welten. Auf die Tugend des Mutes trifft das nicht zu. Für den Menschen des spirituellen Mutes gibt es eine Art Doppelsehen.
Bei diesem Doppelsehen geht die gewöhnliche Sphäre der Wahrnehmung und des Denkens wie sonst vor sich; und diese ganze Sphäre sieht man als in Übereinstimmung mit etwas Geistigem. Es könnte zum Beispiel vorkommen, dass man eine andere Person sieht, während man zu gleicher Zeit auch – zwar in nicht physischer und dennoch in wirklicher Weise – die spirituelle Tätigkeit, die Wesenhaftigkeit selbst dieses Menschen vernimmt. Wir sehen von dieser Person mehr, als normal zu sehen ist. Oder man sieht vielleicht die vernichtende Wirkung, welche die Technologisierung der Welt auf den menschlichen Geist hat, aber anstatt dass man sich vor dieser Wirkung zurückzieht oder sie zu bekämpfen sucht, sieht man konkret, dass das, was spirituell eingefordert wird, die Entwicklung eines inneren Lebens ist, welches Schritt hält mit der äußeren technischen Entwicklung. Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, wie die tätige Tugend des Mutes konkret in Erscheinung treten kann. In allen Fällen wirkt die Tugend aber in die Richtung einer spirituellen Intensivierung des Lebens hin.
Der Mut wirkt auf eine Intensivierung des Lebens hin; daher tritt er in seinen Ausdrucksformen nicht als Gegner des potentiell Lebensschädlichen auf. Das Schädliche sehen wir zum Beispiel an bestimmten Formen der Technologie oder an dem übermäßigen Gebrauch fossiler Brennstoffe, oder an multinationalen Konzernen. Mutiges Handeln solchen Dingen gegenüber besteht darin, zwar aktiv zu werden, aber in der Weise aktiv, dass man die spirituellen Aspekte wahrnimmt, durch die solche Schäden ausgeglichen werden können. Diese Art des Mutes ist die neue Form des Aktivismus: ein Aktivismus der Seele. Dieser Aktivismus wirkt immer nur positiv; er stellt sich niemals etwas entgegen; er sucht immer danach, das nötige Gleichgewicht herzustellen. Angesichts schädlicher Wirkungen dieser Art besteht also die Handlung des Mutes in der Geistesgegenwart, anderen Menschen klare Schritte zu zeigen, wie man in solche schädlichen Faktoren Gleichgewicht hineinbringen kann, ein solches Gleichgewicht, das primär inneren und spirituellen Wesens ist.
Als Beispiel hat die ungezügelte Entwicklung der elektronischen Technologie die verheerende Wirkung, dass sie die Tiefe des menschlichen Lebens und der menschlichen Erfahrung wegschneidet. Durch den Computer, das Internet, das mobile Telefon, das digitale Fernsehen werden der Seele bestimmte Schäden zugefügt; durch Oberflächen-Informationen und Geschwindigkeit veralten die so nötigen, der Seelentiefe entstammenden Qualitäten der Zeitlichkeit und Räumlichkeit. Auch die Ruhe, die zur Herstellung einer Verbindung mit dem Leben der Seele unerlässlich ist, fällt aus. Das Leben der Seele liebt die Wiederholung, die Langsamkeit, die Besinnlichkeit, die Erinnerung, das Träumen, das Drama, die kreisförmige Unwirksamkeit. Hat man dies einmal gründlich verstanden, so braucht es einen Standpunkt des Mutes, um auf diesen Zustand in der Welt einzugehen, in dem die Seele zunehmend erschöpft wird. Eine Antwort aus dem Mut heraus bestünde nicht darin, sich dem entgegenzusetzen, was in der Sphäre der Technik vor sich geht. In gegnerischer Weise darauf einzugehen wäre ein heldenhafter Standpunkt, kein mutiger. Stattdessen bestünde ein Standpunkt spirituellen Mutes in zwei Handlungen. Die erste wäre, das Problematische der Technik klar zu durchschauen, anstatt bloß emotional darauf zu reagieren oder sich auf eine dialektische Diskussion über die positiven und negativen Seiten der Technik einzulassen. Was Not tut, ist Klarheit, in deren Licht die Schäden deutlich werden, welche die elektronische Technologie der Seele zufügt. Die folgerichtige Handlung auf solches Verstehen wäre dann, dass der Mensch in sich innere Technologien der spirituellen Imagination ausbildet, die Schritt halten können mit den äußeren Entwicklungen der Technologie.
Natürlich bedeutet „Schritt halten“ hier nicht, dass man etwa immer dann eine neue Meditationstechnik erfindet, wenn ein neues und schnelleres Computersystem auf den Markt gebracht wird. Vielmehr deutet eine außer Kontrolle geratene Technologie wie nichts anderes auf die Notwendigkeit jedes einzelnen Menschen hin, gezielt innerlich aktiv zu werden. In diesem Sinne schrittzuhalten ist der innere Ausgleich zu dieser äußeren Manie.
Es könnten viele weitere Beispiele der Handlung eines spirituellen Mutes dargestellt werden. Persönliche, individuelle, alltägliche Vorkommnisse, bei denen man dazu aufgerufen wird, aus der Tugend des Mutes heraus zu reagieren, haben alle dasselbe Grundmuster. Wie beim Durchdenken einer jeden Tugend, so gilt auch beim Durchdenken der Tugend des Mutes, dass es nicht darum geht, auf sämtliche möglichen Fälle zu kommen, in denen die Tugend anzuwenden wäre. Es geht vielmehr darum, sich eine wahre Vorstellung der Tugend zu bilden. Denn eine wahre Vorstellung der Tugend eröffnet die Möglichkeit, nicht nur über sie etwas zu wissen, sondern von ihr ergriffen zu werden. Nur dann kann sie wirken.
Hier endet Die Tugend des Mutes
Ausdruckbare pdf-Version von Die Tugend des Mutes
Weiterlesen in Die Macht von Seele. Wege zum Leben der zwölf Monatstugenden
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