aus Die Macht der Seele. Wege zum Leben der Monatstugenden
von Robert Sardello
Die Tugend der Wahrheit
(Gedankenkontrolle wird zu Wahrheitsempfinden - Rudolf Steiner)
21. November - 20. Dezember
Will man einen Sinn für die Wahrheit als Tugend bekommen, so muss man sich vor jeglicher Auffassung bewahren, dass man die Wahrheit haben oder besitzen könne oder dass es in irgendeiner konkreten Situation möglich sei, die ganze Wahrheit zu Wissen. Bei der Wahrheit als Tugend geht es nicht um jenseitige Aspekte einer diesseitigen Realität, sondern darum, wie Wahrheit innerhalb der Einzelseele lebt und wie sie durch die Handlungen dieses Menschen ausdrückt. Metaphysische und erkenntnistheoretische Herangehensweisen an die Wahrheit würden uns in die Problematik des Urteilens hineinbringen sowie in die Frage, wie der Menschengeist es zu einer Übereinstimmung mit der Realität bringen kann. Die Tugend der Wahrheit hat mit alledem direkt nichts zu tun.
Der Dichter Novalis spricht von einer „natürlichen Wahrheit“, und hier ist es, wo wir meiner Meinung nach die Tugend zu suchen haben. Es gibt ja viele edle Individualitäten, die ohne jede Ahnung von Metaphysik und Philosophie dennoch in der Wahrheit leben. Sie sind so zu einer Erfahrung der Wahrheit gekommen, dass sie die Aufmerksamkeit auf das eigene Innenleben lenken und indem sie das tun, nach und nach einen ihnen gegebenen, natürlichen Wahrheitsinstinkt zu einer Tugend der Seele erheben.
Hat die Tugend der Wahrheit damit zu tun, gegenüber sich selbst wahrhaftig zu sein? Hat sie damit zu tun, vielseitig und zugleich auch völlig ausgewogen zu sein? Bisweilen nennen wir jemanden einen wahren Heiler, einen wahren Lehrer, einen wahren Politiker. Ist hier von der Tugend die Rede? In jedem dieser Berufe sowie in allen anderen, die man nennen könnte, enthalt das Wort „Wahrheit“ eine Eigenschaft des Idealismus oder zumindest die eine oder andere grundlegende Vorstellung eines Ideals. Oft empfinden wir Ärger oder Unmut einem Menschen gegenüber, der „die Wahrheit“ verkündet; aber jemandem gegenüber, der die Wahrheit als zentralen Teil des Lebens sucht, bewundern und achten wir. Wenn wir selbst solch eine suchende Tätigkeit aufnehmen, so hat sie die Eigenart, dass wir zwar nicht genau wissen, was wir suchen, es aber wohl merken, wenn wir es nicht finden beziehungsweise wenn wir davon einen Blick erhaschen.
Philosophie bringt man in Verbindung mit einer Suche nach objektiver Wahrheit; daher ist es vielleicht hilfreich, die eher körperliche Seite der Tugend der Wahrheit zu erklären, damit wir in einer spirituellen Psychologie geerdet bleiben. Indem wir uns dieser (leiblichen) Seite der Tugend zuwenden, vermeiden wir auch die missliche Vorstellung der Wahrheit als eine rein intellektuelle Tugend.
Wenn unser Idealismus am Wahrheitsprozess beteiligt ist – eigentlich heißt es treffender: wenn wir vom Idealismus in diesen Prozess hineingezogen werden –, so ist eine Dringlichkeit zu fühlen, und zwar in höchst leiblicher Weise: egal um welchen konkreten Inhalt es geht, in uns brennt ein Feuer. Bei der Intensität eines solchen Feuers kann es sich um ein bloßes Schmoren oder um eine tatsächliche, stark zu fühlende Seelenqualität bis hin zu gelegentlichen, echt physischen Empfindungen handeln. Die Wahrheit als Tugend besteht weitgehend darin, in der Nähe von und in Verbindung mit diesem Feuer zu bleiben. Zwar kann man dieses Feuer vielleicht als Begierde bezeichnen. Wenn das aber zutrifft, so handelt es sich dabei um ein Sehnen, das sowohl gegenstandslos als auch körperlich zu empfinden ist, und das so sehr Wärme wie auch Licht ist. Freilich ist das Licht vorerst nicht zu sehen, da es mehr in dem Geistesreich existiert.
Aber es gibt sehr wohl eine Sehnsucht nach der Wahrheit die, einmal empfunden, ganz so stark sein kann wie die Sehnsucht nach einem geliebten Menschen. Dieses sublimierte Licht kann man zunächst nicht sehen; weshalb denn das Ziel – die von uns gesuchte Wahrheit – nicht klar zu erkennen ist. Wenn wir dieses brennende Feuer in uns selbst nicht empfinden, so ist es wenigstens zu sehen; ja oftmals sagen wir geradezu, dass ein solcher Mensch „in Flammen steht“. In dieser Tiefensphäre der Wahrheit aber, die dem Leben der Seele wie des Geistes angekoppelt ist, gilt es, alles, was wir an anderer Menschen Wahrheit erfahren, aus der eigenen Individualität heraus neu zu erfassen. Es ist zwar nicht so, dass wir dann „die Wahrheit haben“, wohl sind wir aber an der Wahrheit als Tugend beteiligt worden.
Der Ausgangspunkt der Tugend der Wahrheit – ein Ausgangspunkt freilich, den wir nie eigentlich hinter uns lassen, sondern zu dem wir immer und immer wieder zurückkehren müssen – liegt in einer fühlbaren Qualität der Begierde begründet. Diese Eigenschaft unterscheidet sich von anderen Begierden, wie etwa sexuelle oder emotionelle oder materielle Begierden. Das Unterscheidungskriterium besteht darin, dass wir diese Begierde zwar fühlen aber nicht wissen, welcher ihr Gegenstand ist beziehungsweise welcher er sein könnte. Sie liegt genau auf der Grenze zwischen körperlicher Begierde und spirituellem Sehnen. So wird sie häufig mit dem Drängen anderer körperlicher Begierden verwechselt; nur nimmt sie, im Unterschied zu jenen Begierden, nicht zu und ab. Es handelt sich mehr um ein permanent-beständiges inneres Drängen. Wir könnten vielleicht sogar stark in Erwägung ziehen, dass alle die verschiedenen Arten und Weisen, auf welche die Begierde zum Ausdruck kommt, weiter nichts als Varianten des einen Trachtens nach Wahrheit sind.
So lässt sich einerseits keine einzige unserer Begierden unterdrücken oder verleugnen, ohne der Vitalität zu schaden, die wir brauchen, um die Präsenz der Wahrheit bei uns zu erkennen. Auch das Umgekehrte gilt: Alles unüberlegte Eingehen auf die vielfältigen Äußerungsformen der Begierde schadet unserer Wahrheitskapazität, ebenso wie es ihr schadet, wann immer wir nicht bedenken, dass alle Begierde die Grundlage einer jeden Wahrheitssuche ist und dass es unerlässlich ist, die Begierde in rechter und gesunder Weise. Um in der Wahrheit zu leben, müssen wir nicht den auf der Ebene der Seele und des Geistes befindlichen Gegenstand unseres Verlangens stets im Sinne behalten, anstatt bloß die unmittelbare Befriedigung der Begierde zu suchen?
Eine Antwort auf die Frage, wonach die Begierde suche, erscheint gewiss nicht immer. Auch dann wenn eine Antwort kommt, so erscheint sie nicht immer planmäßig – zumal nicht im Moment, in dem wir diese Frage stellen. Sehr häufig schreiten wir einfach zur Ausführung von Handlungen fort, bei denen es um die Befriedigung der Begierde geht. Hier ist es mir nicht um die Behauptung eines moralisierenden Standpunktes zu tun. Wohl aber bin ich der Überzeugung, dass eine leise Handlung des Innehaltens – eine Pause, welche die innere Frage stellt: „Was will diese Begierde?“ und welche auf die Autonomie der Begierde aufmerksam macht – ausreicht, um die Tugend der Wahrheit zu aktivieren, die ja die dem Drängen der Begierde innewohnt. Wenn wir bei jedem Empfinden einer Begierde uns innerlich fragen, was die Begierde denn will, so genügt das, um sich anfänglich auf die Tugend der Wahrheit einzulassen.
Auch wenn man einen Sinn für die Wahrheit als Handlungsmodus erlangen will, ist es unerlässlich, die Begierde als Voraussetzung für die Tuend der Wahrheit zu erkennen. Gewöhnlich verbinden wir Wahrheit mit Erkenntnis, Schönheit mit Fühlen, Güte mit Handeln. Aber die Tugenden sind in der Sphäre anzusiedeln, in der Handeln das Gute zu tun bedeutet. Es genügt nicht, die Tugenden zu kennen oder sie lediglich zu fühlen; es muss jemand sie tun.
So gehört Wahrheit als Tugend auch zu diesem Reich der Handlungen. Die Wahrheit zu tun ist etwas anderes als sie zu wissen und dann Wege zu suchen, solchem Wissen gemäß zu handeln. Als welchen ist der spezifischen Handlungsmodus könnte man das Ausführen der Wahrheit bezeichnen? Besteht doch dieser Handlungsmodus in einem vollkommenen Zusammenschwingen zwischen dem körperlichen Vitalleben, dem Leben der Einzelseele und dem Leben des einzelnen Geistes. Diese Tugend zu vollbringen – das dürfte jetzt deutlich sein – ist nicht so einfach. Oft gehen unsere Instinkte in die eine Richtung, unsere Gefühle in die andere, unsere Gedanken, Ideale, Ziele, geistigen Absichten in noch andere.
Die Verbindungen zwischen Begierde, Wahrheit und Handeln können geklärt werden, wenn man die Aufmerksamkeit auf einen Aspekt der Begierde richtet, der gerne übersehen wird. Die eine Seite der Begierde besteht in einer Art Schiebens, Drückens, in einem im Körper-Innern tief darinnen empfundenen Drängen, das vermutlich dem Gewebe selbst unseres leiblichen Seins entspringt. Die Begierde hat aber auch eine andere Seite. Sie besteht doch nicht nur in einem Drücken von innen her, sondern sie ist auch die fühlbare Qualität, sich nach etwas hingezogen zu fühlen – wenngleich uns das, wonach es uns hinzieht, uns sowenig bekannt ist, wie das, was uns von innerhalb unserer körperlichen Existenz bedrängt. Soll die Begierde in ihrem Grundwesen mit der Wahrheit verbunden sein können, so müssen diese zwei Aspekte der Begierde gefühlt werden. Die beiden Aspekte sind fortdauernd Präsent; ja sie sind uns geradezu mit unserem Dasein selbst als Menschen gegeben. Die Seite der Begierde aber, die im Drängen besteht, im Drücken, in der Impulsivität, ist die stärker gefühlte. Die andere Seite der Begierde, deren Ziehen von außen her, ist weit hintergründiger, bei weitem nicht so offensichtlich. Daher fegen wir sie ohne Weiteres beiseite, ohne dies auch nur zu bemerken.
Wir können noch weiter gehen und die als Drängen unseres Daseins empfundene Begierde als das Schicksal bezeichnen. Sie ist insofern Schicksal, als dass wir uns durch diese Seite der Begierde bestimmt, ja gezwungen fühlen; die Breitenspanne dieses Drängens erstreckt sich von starker Impulsivität bis hin zu Bedürfnissen und anhaltenden Interessen. Die andere, weniger offensichtliche Seite der Begierde, die sich so anfühlt, als würde man nach etwas hingezogen werden, ist unsere Berufung. Es ist nicht so, dass wir mit der Klarheit rationaler Erkenntnis diese unsere Berufung kennen. Wir orientieren uns vielmehr daran, zu handeln, fühlen uns dahin gezogen, im Leben etwas zu vollbringen – wenngleich wir nicht genau wissen, was.
Es geht hierbei nicht um das Erbringen äußerer Leistung. Dieses Ziehen wird eher als ein Ziehen dahin empfunden, derjenige zu sein, der wir sind (sofern uns klar ist, dass wir uns noch nicht gefunden haben). Zwischen diesen zwei Kräften ist es, dass das alltägliche Leben sich abspielt. In der Tugend der Wahrheit leben wir, insofern wir beide Kräfte fühlen können und insofern wir beiden mit Vehemenz die Treue halten können. Für gewöhnlich werden die zwei Seiten der Begierde aber als eine Art Spannung von in Konflikt befindlichen Gegensätzen gelebt. Die Hauptarbeit der Wahrheit besteht darin, diese Gegensätze auf einander zu beziehen.
Meine Herangehensweise an die Tugend der Wahrheit könnte nicht nur sowohl die landläufige als auch die philosophische Auffassung von Wahrheit zu widersprechen scheinen, sondern auch die Auffassung derselben, die in der Wissenschaft praktiziert wird. In diesen üblicheren Auffassungen der Wahrheit wird letztere für etwas Objektives gehalten, für eine völlig selbständige Realität. Aber die Tugend der Wahrheit durchzieht unser Leben ganz und gar; wobei es mir mit einer solchen Behauptung nicht darum geht, die Tugend der Wahrheit auf etwas streng Persönliches zu reduzieren. Über diese Art der Wahrheit hat Novalis das Folgende zu sagen:
Der Mensch besteht in der Wahrheit – Gibt er die Wahrheit preis, so gibt er sich selbst preis. Wer die Wahrheit verrät, verrät sich selbst. Es ist hier nicht die Rede vom Lügen – sondern vom Handeln gegen Überzeugung. (Blüthenstaub 39/ Vermischte Bemerkungen No. 38)
Nach dieser Auffassung ist Wahrheit nichts, was außerhalb unser zu entdecken wäre, sondern sie besteht im Handeln der eigenen Überzeugung gemäß. Überzeugung bedeutet hier nicht Glaube oder Bekenntnis oder persönliches Vorurteil, sondern Zuversicht, oder noch besser: Gewissheit. Diese Gewissheit ist die Gewissheit des eigenen Seins. Um in der Wahrheit zu handeln ist es also erforderlich, mit dem Fundament unseres Wesens tief verbunden.
Über das gewöhnliche Egobewusstsein kommt man nicht an Gewissheit des Seins. Dieser Aspekt der Psyche – nämlich das Ego, durch das wir funktionieren und eine minimale Empfindung der Kontrolle im alltäglichen Dasein haben – funktioniert gemäß eines ihm innewohnenden Prinzips der Gegensätze. Innerhalb des Ego-Bewusstseinsmodus sind zum Beispiel Leben und Tod separat und gegensätzlich; Liebe ist das Gegenteil von Hass; die eine Vorstellung, die eine Idee, der eine Begriff schließt die anderen aus. Das Ego und auch der Intellekt erkennen dadurch, dass sie Trennungen vollziehen und sich somit etwas anderem gegenübersteht. Zur Gewissheit des Seins gelangen wir nicht auf intellektuellem Weg.
Als Tugend kann die Wahrheit niemals abstrakt sein. Da muss sie den Weg bis ins Blut, in den Atem, in die Prozesse selber des Lebens hineinfinden. Ego-Bewusstsein kann nur über die Wahrheit wissen, ähnlich wie wir in allen Ego-gebundenen Angelegenheiten nicht unmittelbar, sondern nur indirekt über die Dinge etwas wissen. Die Tugend der Wahrheit hingegen ist eine Erkenntnisart, in der wir zu dem werden, was wir erkennen. Sie ist das Selbst, das die Wahrheit zu erkennen vermag, indem es zu dieser Wahrheit wird. Ego-Bewusstsein gleicht einem Auge, das etwas anschaut; sehen tun wir mit dem Auge. Das Selbst gleicht eher einem Bewusstseinsmodus, der durch das Auge hindurch sieht; wobei die Betonung auf „hindurch sehen“ liegt.
Wir verwenden das Ego als Werkzeug, um das zu wissen und in etwa zu kontrollieren, was uns umgibt. Das Selbst hingegen sieht durch die Dinge – sich selbst eingeschlossen – bis auf die spirituellen Realitäten, welche von allem Seienden die schaffenden Kräfte sind, hindurch. Zu gleicher Zeit hat man das gewöhnlich für den spirituellen Aspekt unseres Seins gehaltene Selbst, nun in Verbindung mit der Tugend der Wahrheit, auch stets als das verkörperte Selbst vorzustellen.
Es kommen zwei dringende Fragen auf. Die erste ist die, wie man vom Ego zum Selbst hin gelangt; die zweite, wie man das Selbst denn verkörpert. Diese Fragen sind für jeden in hohem Maße praktisch und notwendig, der sich für das Ausbilden einer Kapazität zur Tugend der Wahrheit interessiert. Diesen Fragen müssen wir uns deshalb stellen, weil wir im gewöhnlichen Leben vom eigenen Selbst als konkrete Erfahrung entkoppelt sind, sowie auch vom eigenen Körper als tatsächliche spirituelle Erfahrung. Ferner, wenn wir uns vertieft mit diesen zwei dringenden Fragen beschäftigen, so wird sich zeigen, dass in der Regel weder spirituelle noch psychologische Praktiken an die Vorgänge herankommen, die zum Erwecken und Erhalten des verkörperten Selbst erforderlich sind.
Um uns einem Verständnis des verkörperten Selbst besser zu nähern, können wir Bilder zu Hilfe nehmen. Zwei Bilder, die die Wirklichkeit des verkörperten Selbst besonders gut zum Ausdruck bringen, sind der griechische Mythos des Chiron und eine den Indianern des amerikanischen Nordwestens entstammende mythische Geschichte.
Äskulapius, der altgriechische Götterheld der Medizin, führt einen Stab mit sich, an dem sich zwei Schlangen emporwinden. Am oberen Ende des Stabs sehen sich die zwei Schlangen entgegen. Auch heute wird dieses Symbol vom medizinischen Beruf verwendet und wird häufig mit dem Merkurstab, dem Caduceus, verwechselt. Diese zwei sich entgegensehenden Schlangen symbolisieren die Gegenüberstellung des niedrigen Selbst dem höheren Selbst. In dieser Weise war es, dass Äskulapius die Kunst erlernen musste, zur wahrhaften Gewissheit des eigenen Selbst zu kommen. Chiron, ein zuvor durch einen giftigen Pfeil verwundeter Zentaur war es, der Äskulapius in solcher Selbsterkenntnis unterwies. Er weihte Äskulapius in die Wahrheit und die Mysterien des Körpers ein; er lehrte Äskulapius die heilende Kraft der Kräuter und die Geheimisse des Todes; er lehrte ihn, wie man die Fülle des Lebens lebt sowie darin, wie man den Tod als steten Begleiter des Lebens erlebt. Diese tiefe, geheimnisvolle Erfahrung ist die Basis der Wahrheit unseres Seins.
Der Ort, wo Äskulapius diese Mysterien lernte, war eine Höhle mit zwei Öffnungen. Nach vorne hinaus gab sie auf Pelathronian, ein Tal, in dem jedes Heilkraut der Welt wuchs. Die hintere Öffnung war ein Eingang in die Unterwelt. Äskulapius bewohnte diese zweischneidige Stätte, an der Heilung und Tod zugleich vorkamen, ohne dass die zwei mit einander in Konflikt standen. Das Bild der zweiköpfigen Schlange, der heilende Stab des Äskulapius, symbolisiert das verkörperte Selbst, das in diesen Gegensätzen leben kann, welche aber vom Ego nicht zu umfassen sind. So ist dieses Bild es Wert, dass man es meditiert, um allmählich zu einem Verständnis dessen zu kommen, was von demjenigen verlangt wird, der sich auf den alchemistischen Prozess des Übergangs vom Ego zum Selbst einlässt sowie auch eines auf das Eintreten in das verkörperte Selbst.
In einem Mythos der Kwakiutl-Indianer des pazifischen Nordwestens findet man eine lebhafte Darstellung der Konfiguration von Gegensätzen, der man sich stellen muss, um zur Gewissheit des eigenen Selbst zu erwachen. Dieser Mythos handelt von Sisiutl, einem Gott, der eine zweiköpfige Schlange und ein gefährliches Meerungeheuer darstellt. Der Mythos berichtet, wie man sich diesem mächtigen Monster entgegenzustellen hat:
Wenn du Sisiutl siehst, musst du fest stehen und dich ihm stellen. Stelle dich dem Entsetzen. Stelle dich der Furcht. Wenn du das verrätst, was du kennst, wenn du die Flucht ergreifst, so wird Sisiutl mit seinen beiden Mäulern zugleich zu prusten beginnen, und du wirst beginnen, dich im Wirbel herumzudrehen. Ohne wie die Bäume und die Felsen in der Erde verwurzelt zu sein, ohne wie die Gezeiten und die Meeresströmungen ewig zu sein, wird dein dich nach oben schraubendes Spinnen bewirken, dass du die Erde verlässt und als verlorene Seele für immer umherwanderst, eine verlorene Seele, und deine Stimme wird im kreischenden Wind des Frühherbstes zu hören sein, um Entlassung schluchzend, flehend, bettelnd... Wenn du Sisiutl den Erschreckenden siehst, bleibe fest stehen auch wenn du dich fürchtest. Im sich Fürchten besteht keine Schande; nur ein Tor hätte vor Sisiutl dem Entsetzlichen keine Furcht. Stehe fest, und wenn du schützende Worte weißt, so spreche sie aus. Zuerst der eine Kopf, dann der andere wird sich aus dem Wasser erheben. Näher. Näher. Auf dein Gesicht haben sie es abgesehen, die hässlichen Köpfe: näher, und der Gestank aus den verzehrenden Mäulern, und die Kälte und der Schrecken. Stehe fest. Noch bevor das Zwillingsgemäul des Sisiutl sich an deinem Gesicht festbeißen und dir die Seele rauben kann, muss sich jeder der Köpfe dir zuwenden. Wenn dies passiert, wird Sisiutl sein eigenes Gesicht sehen.
Der, der die andere Hälfte des Selbst sieht, schaut Wahrheit.
Sisiutl ist in aller Ewigkeit auf der Suche nach Wahrheit. Auf der Suche nach denjenigen, die die Wahrheit erkennen. Schaut er das eigene Antlitz, das eigene andere Antlitz, hat er einmal in die eigenen Augen geblickt: so hat er die Wahrheit gefunden.
Sodann wird er dich mit Magie segnen, er wird von dir weggehen, und seine Wahrheit wird ewig die deinige sein. Mag sie bisweilen auf die Probe gestellt, ja geschwächt werden: der Zauber des Sisiutl, sein Segen, ist der: deine Wahrheit wird überdauern. Und das süße Zauberwesen wird dich oft besuchen und dich daran erinnern, dass deine Wahrheit hinter deinen eigenen Augen sich finden wird. Und du wirst nie wieder alleine sein. (Cameron, Anne, 1981. Daughters of Copper Woman. Vancouver: Press Gang Publishers, 45f.)
Diese Geschichte erzählt uns, wie man sich der Tugend der Wahrheit nähern muss. Die Gegensätze in uns müssen sich gegenseitig anschauen. Das gegenseitige sich Ansehen von Gegensätzen steht auch am Anfang eines jeden alchemistischen Prozesses. So beginnt zum Beispiel das alchemistische Werk Rosarium Philosophorum mit der Radierung einer zweiköpfigen Schlange, bei der oben jeder Kopf in entgegengesetzte Richtung schaut, die aber unten zusammenkommt. Im alchemistischen Dokument mit dem Titel Splendor Solis und auch im Book of Lambspink kommt je ein ähnliches Bild von Gegensätzen vor.
Die Bilder, die zum Darstellen eines gegenseitigen sich Anschauens von Gegensätzen verwendet werden, sind unterschiedlich, aber die Anfangsstadien der alchemistischen Verwandlung haben immer mit diesem Vorgang zu tun. Die Bilder sind ein Mittel, zur Darstellung, des Umstandes, dass die Wahrheit des eigenen Wesens erst gefunden werden muss, bevor eine weitere Verwandlung stattfinden kann. Die Wahrheit unseres Seins liegt in der Erfahrung der Gegensätze Leben und Tod als koexistent. Diese Gewissheit des Seins ist das Fundament für die Tugend der Wahrheit.
Das Egobewusstsein ist weiter nichts als der oberflächliche Ausgangspunkt zum Eintreten in die Tugend der Wahrheit. Das Ego muss freiwillig seine Position als den erkennenden Aspekt unserer Psyche aufgeben, will er durchschauen, dass seine Erkenntnisweise nur eine – und zwar eine sehr beschränkte – Art zu erkennen ist. Aber kennen Sie jemanden, der das eigene persönliche Empfinden der Macht, der Kontrolle, des Wissens, kurz: das Empfinden der eigenen Identität freiwillig aufgeben würde? Vermutlich nicht.
Diesen Bewusstseinsmodus aufzugeben ist auch in der Alchemie nicht so sehr altruistisch. In der Alchemie geht eine Phase voraus, in welcher die Gegensätze einander anschauen. Diese frühere Phase wird stets als das Chaos gekennzeichnet. Durch irgendetwas, dem wir im Leben begegnen, werden wir in einen Zustand des Nichtwissens hineingestürzt. Für gewöhnlich unternehmen wir alles Mögliche, um uns von diesem Zustand des Nichtwissens zu erholen und die Macht unseres Egobewusstseins wiederherzustellen. Nur dann, wenn wir irgendeine Ahnung, eine innere Empfindung davon haben, dass dieser Verlust unseres Halts einen inneren haben muss – nur dann ergibt sich die Möglichkeit, mit diesem einmal in Gang gekommenen Vorgang fortzufahren, anstatt ihn abzuwürgen. Die einzige Instanz, von dem wir die Einsicht erhoffen können, dass das Egobewusstsein nicht alles ist, was es gibt, ist die Gnade. Die Alchemisten waren sich dieses Faktors wohl bewusst; darum beginnen so gut wie alle alchemistischen Schriften mit einem Gebet. Das weist ja auf die Klarheit darüber von Seiten der Alchemisten hin, dass der Prozess letzten Endes außerhalb ihrer Kontrolle lag. Auch die Tugend der Wahrheit tritt zwar oft als Gnade ein, und zwar meistens unter dem Umstand, dass wir am Ende sind, an der Stelle nämlich, wo Leben und Tod sich begegnen und wo wir nicht mehr die Kontrolle haben, sondern ins Chaos hineingestürzt wurden.
Dieser durch die ganze alchemistische Tradition hindurch dargestellte Anfang des Prozesses, sich vom Ego zum Selbst hin zu bewegen, zeigt uns, dass die Tugend der Wahrheit nicht etwas ist, was uns von selbst gegeben wird; sie muss vielmehr gesucht werden. Uns konfrontieren dabei aber allerlei innere Widerstände dagegen, uns der Wahrheit unseres Seins zu stellen. Allein durch Aufbieten unseres Willens lassen sich diese Widerstände nicht auflösen. In uns gibt es nichts, was das Egobewusstsein, ob zwangsläufig, ob freiwillig, beseitigen wird. Nicht einmal das Aufgreifen verschiedener Arten spiritueller Praxis kann auch nur die geringste Relativierung des Egobewusstseins sicherstellen. Nicht einmal wenn uns klar ist, dass es gerade dies ist, was wir uns mehr als alles andere wünschen.
Wieder ist es Novalis, der begriff, dass die Wahrheit des eigenen Seins etwas Anderes ist, als jede andere Wahrheitsauffassung, ja dass sie dieser vorausgeht und mit innerer Verwandlung zu tun hat. Die innerhalb unseres Seins zu erfahrende Gewissheit; das, was Novalis „Überzeugung“ nennt, ist nichts zu dem wir rein aus eigener Kraft gelangen. Er schreibt:
Alle Überzeugung ist unabhängig von der Naturwahrheit – Sie bezieht sich auf die magische oder die Wunderwahrheit. Von der Naturwahrheit kann man nur überzeugt werden – insofern sie Wunderwahrheit wird. Aller Beweis fußt auf Überzeugung, und ist mithin nur ein Notbehelf im Zustand des Mangels an durchgängiger Wunderwahrheit. Alle Naturwahrheiten beruhen demnach ebenfalls auf Wunderwahrheit.
Die Tugend der Wahrheit ist anders als der Glaube an objektive Vernunft. Die Korrespondenztheorie der Wahrheit, die besagt, die Wahrheit bestehe dann, wenn der Verstand / der Geist mit dem Objekt der Betrachtung in vollkommener Übereinstimmung ist, hat mit der Tugend wenig zu tun. Ferner beruht objektive Wahrheit immer auf einem inneren Überzeugtsein von der Wahrheit. Wahrheit ist nicht mittels der Logik zu erreichen. Wahrheit fühlen wir; wird sie nicht gefühlt, so sind alle zum Beweisen der Wahrheit angeführten Argumente die reinste Augenwischerei. Ohne dass irgendein unbekannter Faktor uns dazu bringt, uns den Gegensätzen innerhalb der Psyche zu stellen, kann es keine Möglichkeit geben, zu einer inneren Empfindung des Überzeugtseins zu kommen.
So scheint die Anfangsphase der Tugend der Wahrheit mehr oder weniger außerhalb unseres Kontrollbereiches zu liegen. Wenn aber mitten im Chaos wir doch eine Ahnung bekommen, dass das Auseinanderfallen kein bloßer Zusammenbruch, sondern ein Durchbruch sein könnte, so sind wir in dem Augenblick dazu aufgerufen, in einer ganz bestimmten, konkreten Weise darauf einzugehen. Wenn das nicht eintritt, so geht der Vorgang nicht weiter und wir müssen warten, bis sich eine nächste Gelegenheit ergibt. Die spezifische, von uns geforderte Antwort ist eine, mit der wir nicht versuchen, uns vom Zusammenbruch zu erholen, sondern mit der wir darauf verzichten etwas, was sich so anfühlt wie der Tod, für irgendein buchstäbliches Ende zu halten.
In der Alchemie wird diese Phase des Prozesses oft als ein Mensch mit einem Schwert dargestellt, der im Begriff ist, einem Drachen den Kopf abzuschlagen. Der Drache verbildlicht unsere Art, Dinge in buchstäblicher Weise zu erleben, eine Erlebens-Art, die bloß sieht und nicht hindurch sieht. Wir müssen aber unser eigenes Egobewusstsein erlegen; wir müssen uns sozusagen selbst enthaupten. Diese Handlung ist jedoch nicht dem Ende des Egobewusstseins gleichzusetzen; sie bedeutet vielmehr ein anfängliches Bewusstsein davon, dass das Seelenleben aus viel mehr bestehen muss, als aus dem kleinen Teil, durch den wir bisher funktionierten.
Der Hinweis darauf, dass wir begonnen haben, die Möglichkeit der Wahrheit, der Überzeugung des eigenen Seins zu berühren, ist die der Furcht, die in dem Augenblick zur Stelle ist, in dem wir aufhören, uns hoffnungsvoll einzubilden, dass mit ein wenig Reparaturarbeit alles so sein werde, wie noch vor unserem Gestürztwerden ins Reich des Chaos. Diese Furcht kommt im eben zitierten Kwakiutl-Mythos zum Ausdruck. Die Frage ist dann, ob wir denn das Entsetzen ertragen.
Die Aussage des Mythos ist die, dass die Wahrheit darin besteht, dass die eine Hälfte des Selbst die andere Hälfte des Selbst sieht. Egobewusstsein, dasjenige Bewusstsein, dass über die Teilung, die Trennung, das Zergliedern funktioniert, ist eigentlich ein Zerspalten des Selbst. Uns von den enteigneten Teilen unseres Selbst konfrontieren zu lassen, erfüllt uns mit Schrecken. Wir sind alles, was wir abgelehnt, verworfen, angefeindet, verachtet, verabscheut, gehasst, verteufelt haben.
Müssen wir immer, wenn wir zur Überzeugung unseres Seins, zur Tugend der Wahrheit kommen, einen scheinbaren Zusammenbruch erleiden? Nein, nicht wenn wir ein inneres Drängen fühlen, und zwar ein so starkes, dass wir uns nicht lange von ihm abwenden oder es vergessen können ohne das Gefühl zu haben, dass uns etwas Unentbehrliches verloren gegangen ist. Und doch ist diese Überzeugung, welche die Wahrheit unseres Seins ausmacht, nicht direkt zu erkennen; sie fällt nicht unter den Bereich des rationalen beziehungsweise intellektuellen Wissens.
Um vom gewöhnlichen Erkennen den Wechsel zum bildhaften Erkennen zu vollziehen, – denn das ist es, was es braucht, will man in bewusste Verbindung mit der Tugend der Wahrheit zu treten – ist es als Erstes erforderlich, dass die Furcht gehalten, umfasst werde, die im Augenblick auftritt, in dem das Egobewusstsein relativiert zu werden beginnt. Unter einem Halten oder Umfassen der Furcht verstehe ich den Verzicht darauf, dass die Furcht einerseits die Überhand bekommt und dass sie andererseits uns ins Egobewusstsein zurücktreibt. Es geht nicht darum, die Furcht zu vermeiden, sondern lediglich darum, ihr nicht ihren Willen zulassen. Die Frage hier ist die: Welche Instanz ist es in uns, die der Furcht in der gebotenen Art des Zurückhaltens zu begegnen vermag?
Die Furcht trennt uns, reißt uns auseinander, zerstückelt uns; so muss es etwas geben, irgendeinen psychischen Faktor, der vor Attacken der Furcht unverwundbar bleibt. Dieser Faktor ist unser individueller Geist, den Jung das Selbst nannte. Wenn angesichts einer starken Furcht wir es schaffen, ohne von ihr überwältigt zu werden und stattdessen mit und in ihr zu bleiben, so ist es diese Standhaftigkeit, die auf eine Verbindung mit dem Selbst hinweist – und wenn es auch eine unbewusste Verbindung wäre. Aus dieser neu gewonnenen Perspektive beginnt es möglich zu sein, Furchtattacken zu beobachten, ohne dass sie einen überwältigen.
Um auch nur bis zu diesem Punkt in der Entdeckung der Tugend der Wahrheit hinzukommen, muss wieder etwas Anderes eintreten. Die Relativierung des Egobewusstseins führt dazu, dass wir uns ohnmächtig, verwundbar, nackt und ganz und gar menschlich fühlen. Die allwissende Perspektive des Egobewusstseins zerbröselt und wir müssen feststellen, dass der Eintritt in die Wahrheit, in die Überzeugung unseres Seins, von jeder Gott-ähnlichen (Ego-)Perspektive weit entfernt liegt. In der Alchemie redet man bei dieser Anfangsphase des Näherungsprozesses an die Wahrheit vom nigredo. Den nigredo erlebt man oft als eine tiefe Depression die, wenn das Ego sich mit diesem Zustand identifiziert, zur klinischen Depression werden kann.
Was ist mit den enteigneten oder den unentdeckten Aspekten des Selbst, der „anderen Hälfte von Selbst“, von der im Kwakiutl-Mythos des Sisiutl die Rede ist? Die Wahrheit über uns selbst ist nicht allein in der Entdeckung unserer Verwundbarkeit als einzelner Mensch zu finden und auch nicht in der Verfinsterung, die von dieser Entdeckung verursacht werden kann. Die andere Hälfte des Selbst, mit der wir uns auseinandersetzen müssen (es genügt ja nicht, dass wir sie lediglich kennen), das ist unser Wahnsinn. Um in der Tugend der Wahrheit hineinzukommen, müssen wir den psychotischen Teilen unseres Selbst begegnen. Diese Begegnung bedeutet natürlich nicht, dass wir selbst psychotisch werden. Nur brauche ich einen genügend starken Ausdruck, um das Verhältnis zum – für einen jeden von uns durchaus vorhandenen – Aspekt des Wahnsinns herüberbringen zu können. „Psychose“ ist der Ausdruck, der das am besten beschreibt, dem wir da begegnen. Das altgriechische Wort psychosis bedeutet „Animation der Seele“.
So sind also die abgetrennten Teile unseres Selbst, zumal als gesunde Menschen, die psychotischen Teile von uns. Sie signalisieren hier nicht etwa, dass wir selbst psychotisch oder wahnsinnig werden. Beim Sprechen von „Seelen-Animation“ ist es mir wichtig, die für diesen Begriff üblichen Bezeichnungen wie „Unbewusstsein“ oder „Seele“ zu vermeiden. Gelingt mir das, so hoffe ich, in und mit der konkreten Erfahrung davon bleiben zu können, wie ungeheuer schwierig es ist, zur Tugend der Wahrheit zu gelangen. Gegenwärtig ist es populär, in den verschiedensten Büchern durch willkürlichen Gebrauch des Begriffes „Seele“ diesen Begriff zu romantisieren. Aber solche Romantisierung verfehlt in der Regel ganz den Pathos einer bewussten, verkörperten Begegnung mit dem Leben der Seele.
Die Gestalten, die der Wahnsinn annimmt, sind von Einzelperson zu Einzelperson sehr unterschiedlich. Die schwierigen Aspekte unseres frühen Lebens können oft als Pforten zu diesen abgetrennten Bereichen dienen. Es soll hier nicht nahegelegt werden, dass die einzige Möglichkeit, mit den abgetrennten Teilen von uns selbst in Beziehung zu treten, die ist, uns therapieren oder langfristig psychiatrisch behandeln zu lassen. Diese Teile kündigen sich allerdings oft als Verzweiflungsanfälle, als Wut, Panik, Angst und Gefühle der Verlassenheit an. Es bedarf daher irgendeiner Art der Seelenarbeit, deren Möglichkeiten vielfach sind. Hier einige Möglichkeiten einer solchen Seelenarbeit:
- die eigenen Träume beobachten (sie erinnern, sie durch den Tag hindurch mit sich nehmen, sie ernst nehmen);
- auf Körpersymptome achten (sie ehren, nicht sofort zu medikamentöser Behandlung von Beschwerden greifen, darauf achten, was für innere Bilder in Begleitung der Symptome auftreten mögen);
- auf die eigenen Beziehungen achten (die Anfangsmomente von Konfliktsituationen zu erfassen und einzusehen versuchen, dass und inwiefern die eigene Kritik an anderen mit den eigenen abgetrennten Teilen zu tun hat);
- auf innere Bilder Acht geben (sie bemerken, in sich die Fähigkeit ausbilden, sie als autonome Aktivität anzusehen anstatt als etwas, von dem wir meinen, wir würden es selber tun);
- Meditationspraktiken ausbilden, die auf Bilder basieren. Zu solchen Praktiken gehören die aktive Imagination nach Jung und die oben beschriebenen Herzübungen. Allein schon daraus eine tägliche Übung zu machen, das Zentrum des Bewusstseins vom Haupt ins Herz zu verlagern, macht viel aus.
Alle diese Praktiken haben Eines gemeinsam: einen seriösen Umgang mit der psychischen beziehungsweise seelischen Bildhaftigkeit (Imagination). Eine jede Praktik, die zum Schauen und Teilnehmen an der psychischen Imagination führt, wird „Seelenanimation“ fördern.
Zur Tugend der Wahrheit zu gelangen erfordert eine Menge der tiefsten Schichten der Geduld; als Vorbereitung auf die Tugend des Mutes kann es ferner keine bessere Vorbereitung geben, als zu den Regionen der Wahrheit den Zugang gefunden zu haben. Was kann man als Endergebnis der Befolgung dieses Prozesses erwarten? Als Erstes beginnen zwei Extreme der Tugend wegzufallen, nämlich das Fällen rascher Urteile und das Besitzen starrer Meinungen. Das überschnelle Urteilen bemüht sich um eine stark verfrühte, intellektuelle Erklärung der Wahrheit; mit festgefahrenen Meinungen ist es ähnlich. Diese beiden Versuchsweisen, Wahrheit zu erhaschen, umgehen just dasjenige psychische wie somatische Unterbewusstsein, welches der soeben in alchemistischer Weise beschriebene Vorgang erwecken soll. Als Zweites ergibt sich etwas Erstaunliches und Unerwartetes daraus, dass man sich in den Prozess der Entdeckung der Tugend der Wahrheit hineinbegibt: Wir werden in unserem physischen Sein verändert. Wir wenden uns nun dem zu, was es mit dieser Änderung auf sich hat.
Innerhalb der Überzeugung der eigenen Seele leben zu lernen stärkt den Leib. Wir fühlen uns fester in unserem Verkörpertsein, während zu gleicher Zeit unser Verkörpertsein auch durchsichtiger geworden ist. Mit „durchsichtig“ meine ich das Gewahrwerden, dass wir nicht – wie bisher angenommen – einen Körper haben, sondern dass wir ein geistiger Leib sind. Es wird uns bewusst, dass der Leib, der wir sind, nicht nur in physischen, stofflichen Prozessen besteht. Und zwar wissen wir das jetzt von innen her; es handelt sich nicht bloß um eine New-Age-Philosophie. Es ist, als gäbe es in uns eine zweite Person, und als wäre diese zweite, ätherische Person mehr „wir“, als wir von uns selbst wissen. Das Leben mit Seelen-Überzeugung erweckt diese zweite Person.
Der geistige Leib, der wir sind, lässt sich von der Seele, die wir sind und dem Geist, der wir sind, nicht sauber trennen. Ja der ganze Sinn und Zweck des alchemistischen Prozesses bestand darin, in das verkörperte Leben von Seele und Geist mit Bewusstheit hineinzufinden. Solange wir von dem inneren Sinn unseres lebendigen Leibes und zugleich auch von Seele und Geist dissoziiert sind, kann die Tugend der Wahrheit nur als Abstraktion bestehen. Das Erwachen dieser Tugend, welches vom Durchmachen der hier besprochenen Prüfungen und Schwierigkeiten abhängt, bedeutet das Leben in einem anderen Leib.
Dieser „neue“ Leib ist nicht als materiell zu beschreiben. Die Alchemisten, auch andere geistige Traditionen haben sich von jeher die Imagination eines feineren Leibes bedient, wenn sie von der Einheit von Leib, Seele und Geist reden wollten. Es ist durchaus möglich, über diesen Ausdruck hinauszugehen und die eigentliche Funktionsweise dieses feineren Leibes zu beschreiben, ohne auf solche Ausdrücke wie die Chakren, den Ätherleib, den Astralleib oder sonstige esoterische Begriffe zurückgreifen zu müssen. Solche esoterischen Begriffe sind unter Umständen extrem wertvoll, will man eine Tradition und eine Sprache schaffen, um die feineren Aspekte des Verkörpertseins beschreiben zu können. Wie ist es aber, diese feineren Dimensionen des Leibes zu leben?
Um die Tugend der Wahrheit als Leib der Überzeugung zu leben, muss man die innere Gewissheit des Seins, des verkörperten Selbst, als lebendes „Feld“ erleben: als eine Situation, die von ihrer Bildhaftigkeit her eine Ganzheit ist und in der die „Substanz“ des Körpers nicht nur einen selbst völlig ausfüllt und durchdringt, sondern zugleich auch andere Menschen, die weitere Welt und sogar den Raum, den es zwischen alledem gibt. Der so verstandene Leib ist ein umfassendes, durchdringendes, interaktives Feld und kein rein aus physischer Substanz bestehender Gegenstand.
Der hier zum Beschreiben der Tugend der Wahrheit verwendete Ausdruck „Feld“ unterscheidet sich von der Art, wie er in der klassischen Physik gebraucht wird. In der klassischen Physik erzeugt ein physikalischer Körper – etwa die Sonne oder die Erde – ein Feld, eine tatsächliche Modifikation des diesen Körper umgebenden Raumes. Dieses Feld enthält Energie und übt auf Körper wie etwa die Planeten, die in es hineingestellt werden, Kräfte aus. Zwar sind diese Felder unsichtbar, aber dennoch sind sie Substantiell, da Felder Energie und Schwungkraft mit sich führen und messbare Wirkungen haben. Auch das elektromagnetische Feld fällt in diese Denkweise hinein; ein Protonenpaar erzeugt elektrische Felder um sich herum, die deren gegenseitige Abstoßung vermitteln. In dieser Auffassung des Feldes ist der Gegenstand, das Objekt, die Substanz als erstes da, und diese erzeugen um sich herum Felder.
Indem ich vom verkörperten, bewussten Selbst als von einem Feld rede, beziehe ich mich nicht auf die klassische Physik, sondern auf die Randzonen der Tiefenpsychologie. Spräche ich vom Körper-Feld so, wie die Physik dies tut, so würde ich sagen, dass das Unbewusste unsichtbar, alldurchdringend und ständig dabei ist, auf den Leib und das Bewusstsein einen Einfluss auszuüben, und dass auch unsere Position des Bewusstseins ihrerseits das Unbewusstsein beeinflusst. Hier ist die Sprache rein substantiv und wir stellen uns dabei ein Feld als eine Art umgebende Hülle vor. Das Körper-Feld befindet sich nicht in der gewöhnlichen Räumlichkeit und Zeitlichkeit und ist auch nicht direkt messbar; so gilt hier keine Sprache der „Energie“ beziehungsweise des „Energieaustausches“ oder ähnliche Vorstellungen.
Hier gilt eine Sichtweise, die das Gegenteil der klassischen Feldtheorie ist: zuerst ist das Feld da, dann als sekundäre Erscheinung die Substantialität. Hinsichtlich der Tugend der Wahrheit hieße ein Erfahren-Lernen dieser Art des Feldes, dass wir die Wahrheit nicht „wissen“ beziehungsweise „haben“, sondern dass wir in dem interaktiven Feld der Wahrheit leben. Das ist eine hoch spezifische Erlebnisart.
In diesem interaktiven Feld der Wahrheit lebt man zum Beispiel in der Klarheit eines Bewusstseins, das sich aber zugleich nur als Eigenschaft des „nicht-Wissens“ kennzeichnet. Ferner ist diese Region als ein Bereich nichtkausaler Zusammenhänge zu kennzeichnen. Als Jung in seinen Studien über das Transferenz-Phänomens der Therapie zu forschen begann, bezeichnete er die Erfahrungen nichtkausaler Beziehungen als „Synchronizität“, aufgrund seiner Gespräche und seiner Freundschaft mit dem Physiker Wolfgang Pauli. So ist diese Region eine viel stärker in Fluss befindliche, als die Region, die durch das Egobewusstsein zu erfahren ist. Solche Fluidität ergibt sich nun nicht aus der Erzeugung eines Feldes durch einen physikalischen Körper; sondern der Vorrang gehört der Fluidität; diese tritt als Erstes auf, und die Empfindung des Körpers als Gegenstand entsteht aus diesem flüssigen Medium als Ergebnis einer mentalen Körper-Verobjektivierung.
Im Feld ganz darinnen zu sein erfordert eine Offenheit der Phantasie, der Gefühle, der Intuitionen, der Empfindungen und der Bilder. Diese Offenheit erlangt man durch die sehr schwierige Arbeit, die Gewissheit unseres Seins zu entdecken, worin ja das sich Hineinfinden in die Tugend der Wahrheit besteht. Ich muss hervorheben, dass die als seelischer Art begriffene Wahrheit keineswegs zu einer subjektiven blickweise auf die Wahrheit führt. Die herkömmliche intellektuelle Auffassung der Wahrheit ist die, dass diese vom beobachtenden beziehungsweise erkennenden Subjekt separat bestehe. Indem diese Auffassung überwunden wurde, tritt an deren Stelle nun keine Subjektivität auf, sondern eine neue Objektivität.
Diese Objektivität ist eine solche die, zusammen mit dem erlebten Gegenstand auch den Teilnehmer in die erlebte Wahrheit mit einschließt. Der Ort dieses Erkenntnismodus befindet sich aber nicht in der Person und auch nicht in der Konformität des Verstandes der Person zum Erkannten. Der Ort, an dem die Tugend der Wahrheit gelebt wird, ist die Tätigkeitsregion, die Jung als das „numinose“ Feld bezeichnete.
Vom Numinosen oder dem Ätherischen zu sprechen mag wohl abstrakt oder vielleicht mystisch klingen. In diesem Zusammenhang bedeuten diese Ausdrücke weiter nichts, als dass man die Tugend der Wahrheit dadurch erkennt, dass man sich in dieser Region (des Numinosen) befindet, anstatt dass man ein Wissen über etwas hat. Während des Eingebundenseins in dieser Region steigert sich die körperliche Vitalität, aber dergestalt, dass die Aufmerksamkeit nicht auf den Körper gezogen wird, was ja bei anderen Formen der Steigerung, wie etwa der Erotik, geschieht. Die Steigerung, von der hier die Rede ist, umfasst unsere Wahrnehmung, weshalb denn auch das Wahrnehmen wacher ist. Diese Steigerung lässt zwar die Umgebung lebhafter erscheinen, aber sie führt nicht dazu, dass wir uns etwa stärker in der Materialität hineinbegeben. Vielmehr bewirkt die Steigerung, dass die zwischen den Dingen befindlichen Regionen beinahe wahrnehmbar werden.
Das Ergebnis dieser Steigerung körperlicher Vitalität ist das Auftreten einer Tätigkeitsregion, welche die Substantialität der Dinge nahezu übersteigt; es ereignet sich eine Art Umkehrung von Figur und Hintergrund. Während in der gewöhnlichen Wahrnehmung der Dinge die wahrgenommenen Gegenstände figürlich sind, während das, innerhalb dessen sie sich befinden, unsichtbar bleibt, ist es bei der hier beschriebenen Art der Steigerung so, dass wir uns der zwischen den Gegenständen befindlichen Zwischenräume als substantiell bewusst werden, anstatt als leer. Allerdings ist die Substanz, um die es geht, eine äußerst feine.
Zur Beschreibung des Feldes in der Tugend der Wahrheit habe ich zwar ein sinnlich wahrnehmbares Beispiel verwendet; aber das so Beschriebene trifft zum Beispiel genauso für unser Denken und Fühlen. Während wir im Normalfall vom einen Ding zum nächsten denken und von dort wieder zum nächsten, ist es im gesteigerten Zustand so, dass wir vor dem bewussten Fluss stärker anwesend sind, der die Handlung des Denkens kennzeichnet. Der „Zwischenraum“ zwischen den Gedanken ist eher der Ort, wo die Wahrheit zu finden ist, als im Inhalt der Gedanken selbst. Mit dem Reich des Fühlens ist es ähnlich. In allen diesen Beispielen geht es mir darum, zu zeigen, dass, obgleich das streng materielle Erlebnis des Körpers zurückweicht, unser Empfinden des Verkörpertseins eben nicht abnimmt oder gar verschwindet.
Erfahrungen die man macht, wenn man sich im Feld der Tugend der Wahrheit bewegt, gehören nicht zu unserem gewöhnlichen Erfahrungsmodus, auch lassen sie sich nicht im Alltagsleben aufrechterhalten. Wohl ist es aber möglich, allmählich eine Art „nebeneinander“-Bewusstseins zu entfalten, innerhalb dessen dieser Erfahrungsmodus neben unseren normaleren und gewöhnlicheren Modi her lebt. Dieser zweifache Bewusstseinsmodus ist nicht als Defizit oder als Verzicht oder als ein Rückzug in etwas Veraltetes zu denken. Im Gegenteil: die Tugend der Wahrheit, das konkret erlebte Leben innerhalb dieser Tugend, besteht gerade darin, solche Polarität aufrechtzuerhalten. Sich in das Reich des Numinosen zu verlieben wäre töricht. Das Ergebnis davon wäre, das irgendwann einmal das Ego, welches ganz bestimmt nicht verschwunden ist oder sich gar aufgelöst hat, sich mit diesem neuen Bewusstseinsmodus identifizieren würde. Das hätte tragische Folgen. Diese Identifikation ist das, wovon Jung als Inflation gesprochen hat.
Ausdruckbare pdf-Version von Die Tugend der Wahrheit
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von Robert Sardello
Die Tugend der Wahrheit
(Gedankenkontrolle wird zu Wahrheitsempfinden - Rudolf Steiner)
21. November - 20. Dezember
Will man einen Sinn für die Wahrheit als Tugend bekommen, so muss man sich vor jeglicher Auffassung bewahren, dass man die Wahrheit haben oder besitzen könne oder dass es in irgendeiner konkreten Situation möglich sei, die ganze Wahrheit zu Wissen. Bei der Wahrheit als Tugend geht es nicht um jenseitige Aspekte einer diesseitigen Realität, sondern darum, wie Wahrheit innerhalb der Einzelseele lebt und wie sie durch die Handlungen dieses Menschen ausdrückt. Metaphysische und erkenntnistheoretische Herangehensweisen an die Wahrheit würden uns in die Problematik des Urteilens hineinbringen sowie in die Frage, wie der Menschengeist es zu einer Übereinstimmung mit der Realität bringen kann. Die Tugend der Wahrheit hat mit alledem direkt nichts zu tun.
Der Dichter Novalis spricht von einer „natürlichen Wahrheit“, und hier ist es, wo wir meiner Meinung nach die Tugend zu suchen haben. Es gibt ja viele edle Individualitäten, die ohne jede Ahnung von Metaphysik und Philosophie dennoch in der Wahrheit leben. Sie sind so zu einer Erfahrung der Wahrheit gekommen, dass sie die Aufmerksamkeit auf das eigene Innenleben lenken und indem sie das tun, nach und nach einen ihnen gegebenen, natürlichen Wahrheitsinstinkt zu einer Tugend der Seele erheben.
Hat die Tugend der Wahrheit damit zu tun, gegenüber sich selbst wahrhaftig zu sein? Hat sie damit zu tun, vielseitig und zugleich auch völlig ausgewogen zu sein? Bisweilen nennen wir jemanden einen wahren Heiler, einen wahren Lehrer, einen wahren Politiker. Ist hier von der Tugend die Rede? In jedem dieser Berufe sowie in allen anderen, die man nennen könnte, enthalt das Wort „Wahrheit“ eine Eigenschaft des Idealismus oder zumindest die eine oder andere grundlegende Vorstellung eines Ideals. Oft empfinden wir Ärger oder Unmut einem Menschen gegenüber, der „die Wahrheit“ verkündet; aber jemandem gegenüber, der die Wahrheit als zentralen Teil des Lebens sucht, bewundern und achten wir. Wenn wir selbst solch eine suchende Tätigkeit aufnehmen, so hat sie die Eigenart, dass wir zwar nicht genau wissen, was wir suchen, es aber wohl merken, wenn wir es nicht finden beziehungsweise wenn wir davon einen Blick erhaschen.
Philosophie bringt man in Verbindung mit einer Suche nach objektiver Wahrheit; daher ist es vielleicht hilfreich, die eher körperliche Seite der Tugend der Wahrheit zu erklären, damit wir in einer spirituellen Psychologie geerdet bleiben. Indem wir uns dieser (leiblichen) Seite der Tugend zuwenden, vermeiden wir auch die missliche Vorstellung der Wahrheit als eine rein intellektuelle Tugend.
Wenn unser Idealismus am Wahrheitsprozess beteiligt ist – eigentlich heißt es treffender: wenn wir vom Idealismus in diesen Prozess hineingezogen werden –, so ist eine Dringlichkeit zu fühlen, und zwar in höchst leiblicher Weise: egal um welchen konkreten Inhalt es geht, in uns brennt ein Feuer. Bei der Intensität eines solchen Feuers kann es sich um ein bloßes Schmoren oder um eine tatsächliche, stark zu fühlende Seelenqualität bis hin zu gelegentlichen, echt physischen Empfindungen handeln. Die Wahrheit als Tugend besteht weitgehend darin, in der Nähe von und in Verbindung mit diesem Feuer zu bleiben. Zwar kann man dieses Feuer vielleicht als Begierde bezeichnen. Wenn das aber zutrifft, so handelt es sich dabei um ein Sehnen, das sowohl gegenstandslos als auch körperlich zu empfinden ist, und das so sehr Wärme wie auch Licht ist. Freilich ist das Licht vorerst nicht zu sehen, da es mehr in dem Geistesreich existiert.
Aber es gibt sehr wohl eine Sehnsucht nach der Wahrheit die, einmal empfunden, ganz so stark sein kann wie die Sehnsucht nach einem geliebten Menschen. Dieses sublimierte Licht kann man zunächst nicht sehen; weshalb denn das Ziel – die von uns gesuchte Wahrheit – nicht klar zu erkennen ist. Wenn wir dieses brennende Feuer in uns selbst nicht empfinden, so ist es wenigstens zu sehen; ja oftmals sagen wir geradezu, dass ein solcher Mensch „in Flammen steht“. In dieser Tiefensphäre der Wahrheit aber, die dem Leben der Seele wie des Geistes angekoppelt ist, gilt es, alles, was wir an anderer Menschen Wahrheit erfahren, aus der eigenen Individualität heraus neu zu erfassen. Es ist zwar nicht so, dass wir dann „die Wahrheit haben“, wohl sind wir aber an der Wahrheit als Tugend beteiligt worden.
Der Ausgangspunkt der Tugend der Wahrheit – ein Ausgangspunkt freilich, den wir nie eigentlich hinter uns lassen, sondern zu dem wir immer und immer wieder zurückkehren müssen – liegt in einer fühlbaren Qualität der Begierde begründet. Diese Eigenschaft unterscheidet sich von anderen Begierden, wie etwa sexuelle oder emotionelle oder materielle Begierden. Das Unterscheidungskriterium besteht darin, dass wir diese Begierde zwar fühlen aber nicht wissen, welcher ihr Gegenstand ist beziehungsweise welcher er sein könnte. Sie liegt genau auf der Grenze zwischen körperlicher Begierde und spirituellem Sehnen. So wird sie häufig mit dem Drängen anderer körperlicher Begierden verwechselt; nur nimmt sie, im Unterschied zu jenen Begierden, nicht zu und ab. Es handelt sich mehr um ein permanent-beständiges inneres Drängen. Wir könnten vielleicht sogar stark in Erwägung ziehen, dass alle die verschiedenen Arten und Weisen, auf welche die Begierde zum Ausdruck kommt, weiter nichts als Varianten des einen Trachtens nach Wahrheit sind.
So lässt sich einerseits keine einzige unserer Begierden unterdrücken oder verleugnen, ohne der Vitalität zu schaden, die wir brauchen, um die Präsenz der Wahrheit bei uns zu erkennen. Auch das Umgekehrte gilt: Alles unüberlegte Eingehen auf die vielfältigen Äußerungsformen der Begierde schadet unserer Wahrheitskapazität, ebenso wie es ihr schadet, wann immer wir nicht bedenken, dass alle Begierde die Grundlage einer jeden Wahrheitssuche ist und dass es unerlässlich ist, die Begierde in rechter und gesunder Weise. Um in der Wahrheit zu leben, müssen wir nicht den auf der Ebene der Seele und des Geistes befindlichen Gegenstand unseres Verlangens stets im Sinne behalten, anstatt bloß die unmittelbare Befriedigung der Begierde zu suchen?
Eine Antwort auf die Frage, wonach die Begierde suche, erscheint gewiss nicht immer. Auch dann wenn eine Antwort kommt, so erscheint sie nicht immer planmäßig – zumal nicht im Moment, in dem wir diese Frage stellen. Sehr häufig schreiten wir einfach zur Ausführung von Handlungen fort, bei denen es um die Befriedigung der Begierde geht. Hier ist es mir nicht um die Behauptung eines moralisierenden Standpunktes zu tun. Wohl aber bin ich der Überzeugung, dass eine leise Handlung des Innehaltens – eine Pause, welche die innere Frage stellt: „Was will diese Begierde?“ und welche auf die Autonomie der Begierde aufmerksam macht – ausreicht, um die Tugend der Wahrheit zu aktivieren, die ja die dem Drängen der Begierde innewohnt. Wenn wir bei jedem Empfinden einer Begierde uns innerlich fragen, was die Begierde denn will, so genügt das, um sich anfänglich auf die Tugend der Wahrheit einzulassen.
Auch wenn man einen Sinn für die Wahrheit als Handlungsmodus erlangen will, ist es unerlässlich, die Begierde als Voraussetzung für die Tuend der Wahrheit zu erkennen. Gewöhnlich verbinden wir Wahrheit mit Erkenntnis, Schönheit mit Fühlen, Güte mit Handeln. Aber die Tugenden sind in der Sphäre anzusiedeln, in der Handeln das Gute zu tun bedeutet. Es genügt nicht, die Tugenden zu kennen oder sie lediglich zu fühlen; es muss jemand sie tun.
So gehört Wahrheit als Tugend auch zu diesem Reich der Handlungen. Die Wahrheit zu tun ist etwas anderes als sie zu wissen und dann Wege zu suchen, solchem Wissen gemäß zu handeln. Als welchen ist der spezifischen Handlungsmodus könnte man das Ausführen der Wahrheit bezeichnen? Besteht doch dieser Handlungsmodus in einem vollkommenen Zusammenschwingen zwischen dem körperlichen Vitalleben, dem Leben der Einzelseele und dem Leben des einzelnen Geistes. Diese Tugend zu vollbringen – das dürfte jetzt deutlich sein – ist nicht so einfach. Oft gehen unsere Instinkte in die eine Richtung, unsere Gefühle in die andere, unsere Gedanken, Ideale, Ziele, geistigen Absichten in noch andere.
Die Verbindungen zwischen Begierde, Wahrheit und Handeln können geklärt werden, wenn man die Aufmerksamkeit auf einen Aspekt der Begierde richtet, der gerne übersehen wird. Die eine Seite der Begierde besteht in einer Art Schiebens, Drückens, in einem im Körper-Innern tief darinnen empfundenen Drängen, das vermutlich dem Gewebe selbst unseres leiblichen Seins entspringt. Die Begierde hat aber auch eine andere Seite. Sie besteht doch nicht nur in einem Drücken von innen her, sondern sie ist auch die fühlbare Qualität, sich nach etwas hingezogen zu fühlen – wenngleich uns das, wonach es uns hinzieht, uns sowenig bekannt ist, wie das, was uns von innerhalb unserer körperlichen Existenz bedrängt. Soll die Begierde in ihrem Grundwesen mit der Wahrheit verbunden sein können, so müssen diese zwei Aspekte der Begierde gefühlt werden. Die beiden Aspekte sind fortdauernd Präsent; ja sie sind uns geradezu mit unserem Dasein selbst als Menschen gegeben. Die Seite der Begierde aber, die im Drängen besteht, im Drücken, in der Impulsivität, ist die stärker gefühlte. Die andere Seite der Begierde, deren Ziehen von außen her, ist weit hintergründiger, bei weitem nicht so offensichtlich. Daher fegen wir sie ohne Weiteres beiseite, ohne dies auch nur zu bemerken.
Wir können noch weiter gehen und die als Drängen unseres Daseins empfundene Begierde als das Schicksal bezeichnen. Sie ist insofern Schicksal, als dass wir uns durch diese Seite der Begierde bestimmt, ja gezwungen fühlen; die Breitenspanne dieses Drängens erstreckt sich von starker Impulsivität bis hin zu Bedürfnissen und anhaltenden Interessen. Die andere, weniger offensichtliche Seite der Begierde, die sich so anfühlt, als würde man nach etwas hingezogen werden, ist unsere Berufung. Es ist nicht so, dass wir mit der Klarheit rationaler Erkenntnis diese unsere Berufung kennen. Wir orientieren uns vielmehr daran, zu handeln, fühlen uns dahin gezogen, im Leben etwas zu vollbringen – wenngleich wir nicht genau wissen, was.
Es geht hierbei nicht um das Erbringen äußerer Leistung. Dieses Ziehen wird eher als ein Ziehen dahin empfunden, derjenige zu sein, der wir sind (sofern uns klar ist, dass wir uns noch nicht gefunden haben). Zwischen diesen zwei Kräften ist es, dass das alltägliche Leben sich abspielt. In der Tugend der Wahrheit leben wir, insofern wir beide Kräfte fühlen können und insofern wir beiden mit Vehemenz die Treue halten können. Für gewöhnlich werden die zwei Seiten der Begierde aber als eine Art Spannung von in Konflikt befindlichen Gegensätzen gelebt. Die Hauptarbeit der Wahrheit besteht darin, diese Gegensätze auf einander zu beziehen.
Meine Herangehensweise an die Tugend der Wahrheit könnte nicht nur sowohl die landläufige als auch die philosophische Auffassung von Wahrheit zu widersprechen scheinen, sondern auch die Auffassung derselben, die in der Wissenschaft praktiziert wird. In diesen üblicheren Auffassungen der Wahrheit wird letztere für etwas Objektives gehalten, für eine völlig selbständige Realität. Aber die Tugend der Wahrheit durchzieht unser Leben ganz und gar; wobei es mir mit einer solchen Behauptung nicht darum geht, die Tugend der Wahrheit auf etwas streng Persönliches zu reduzieren. Über diese Art der Wahrheit hat Novalis das Folgende zu sagen:
Der Mensch besteht in der Wahrheit – Gibt er die Wahrheit preis, so gibt er sich selbst preis. Wer die Wahrheit verrät, verrät sich selbst. Es ist hier nicht die Rede vom Lügen – sondern vom Handeln gegen Überzeugung. (Blüthenstaub 39/ Vermischte Bemerkungen No. 38)
Nach dieser Auffassung ist Wahrheit nichts, was außerhalb unser zu entdecken wäre, sondern sie besteht im Handeln der eigenen Überzeugung gemäß. Überzeugung bedeutet hier nicht Glaube oder Bekenntnis oder persönliches Vorurteil, sondern Zuversicht, oder noch besser: Gewissheit. Diese Gewissheit ist die Gewissheit des eigenen Seins. Um in der Wahrheit zu handeln ist es also erforderlich, mit dem Fundament unseres Wesens tief verbunden.
Über das gewöhnliche Egobewusstsein kommt man nicht an Gewissheit des Seins. Dieser Aspekt der Psyche – nämlich das Ego, durch das wir funktionieren und eine minimale Empfindung der Kontrolle im alltäglichen Dasein haben – funktioniert gemäß eines ihm innewohnenden Prinzips der Gegensätze. Innerhalb des Ego-Bewusstseinsmodus sind zum Beispiel Leben und Tod separat und gegensätzlich; Liebe ist das Gegenteil von Hass; die eine Vorstellung, die eine Idee, der eine Begriff schließt die anderen aus. Das Ego und auch der Intellekt erkennen dadurch, dass sie Trennungen vollziehen und sich somit etwas anderem gegenübersteht. Zur Gewissheit des Seins gelangen wir nicht auf intellektuellem Weg.
Als Tugend kann die Wahrheit niemals abstrakt sein. Da muss sie den Weg bis ins Blut, in den Atem, in die Prozesse selber des Lebens hineinfinden. Ego-Bewusstsein kann nur über die Wahrheit wissen, ähnlich wie wir in allen Ego-gebundenen Angelegenheiten nicht unmittelbar, sondern nur indirekt über die Dinge etwas wissen. Die Tugend der Wahrheit hingegen ist eine Erkenntnisart, in der wir zu dem werden, was wir erkennen. Sie ist das Selbst, das die Wahrheit zu erkennen vermag, indem es zu dieser Wahrheit wird. Ego-Bewusstsein gleicht einem Auge, das etwas anschaut; sehen tun wir mit dem Auge. Das Selbst gleicht eher einem Bewusstseinsmodus, der durch das Auge hindurch sieht; wobei die Betonung auf „hindurch sehen“ liegt.
Wir verwenden das Ego als Werkzeug, um das zu wissen und in etwa zu kontrollieren, was uns umgibt. Das Selbst hingegen sieht durch die Dinge – sich selbst eingeschlossen – bis auf die spirituellen Realitäten, welche von allem Seienden die schaffenden Kräfte sind, hindurch. Zu gleicher Zeit hat man das gewöhnlich für den spirituellen Aspekt unseres Seins gehaltene Selbst, nun in Verbindung mit der Tugend der Wahrheit, auch stets als das verkörperte Selbst vorzustellen.
Es kommen zwei dringende Fragen auf. Die erste ist die, wie man vom Ego zum Selbst hin gelangt; die zweite, wie man das Selbst denn verkörpert. Diese Fragen sind für jeden in hohem Maße praktisch und notwendig, der sich für das Ausbilden einer Kapazität zur Tugend der Wahrheit interessiert. Diesen Fragen müssen wir uns deshalb stellen, weil wir im gewöhnlichen Leben vom eigenen Selbst als konkrete Erfahrung entkoppelt sind, sowie auch vom eigenen Körper als tatsächliche spirituelle Erfahrung. Ferner, wenn wir uns vertieft mit diesen zwei dringenden Fragen beschäftigen, so wird sich zeigen, dass in der Regel weder spirituelle noch psychologische Praktiken an die Vorgänge herankommen, die zum Erwecken und Erhalten des verkörperten Selbst erforderlich sind.
Um uns einem Verständnis des verkörperten Selbst besser zu nähern, können wir Bilder zu Hilfe nehmen. Zwei Bilder, die die Wirklichkeit des verkörperten Selbst besonders gut zum Ausdruck bringen, sind der griechische Mythos des Chiron und eine den Indianern des amerikanischen Nordwestens entstammende mythische Geschichte.
Äskulapius, der altgriechische Götterheld der Medizin, führt einen Stab mit sich, an dem sich zwei Schlangen emporwinden. Am oberen Ende des Stabs sehen sich die zwei Schlangen entgegen. Auch heute wird dieses Symbol vom medizinischen Beruf verwendet und wird häufig mit dem Merkurstab, dem Caduceus, verwechselt. Diese zwei sich entgegensehenden Schlangen symbolisieren die Gegenüberstellung des niedrigen Selbst dem höheren Selbst. In dieser Weise war es, dass Äskulapius die Kunst erlernen musste, zur wahrhaften Gewissheit des eigenen Selbst zu kommen. Chiron, ein zuvor durch einen giftigen Pfeil verwundeter Zentaur war es, der Äskulapius in solcher Selbsterkenntnis unterwies. Er weihte Äskulapius in die Wahrheit und die Mysterien des Körpers ein; er lehrte Äskulapius die heilende Kraft der Kräuter und die Geheimisse des Todes; er lehrte ihn, wie man die Fülle des Lebens lebt sowie darin, wie man den Tod als steten Begleiter des Lebens erlebt. Diese tiefe, geheimnisvolle Erfahrung ist die Basis der Wahrheit unseres Seins.
Der Ort, wo Äskulapius diese Mysterien lernte, war eine Höhle mit zwei Öffnungen. Nach vorne hinaus gab sie auf Pelathronian, ein Tal, in dem jedes Heilkraut der Welt wuchs. Die hintere Öffnung war ein Eingang in die Unterwelt. Äskulapius bewohnte diese zweischneidige Stätte, an der Heilung und Tod zugleich vorkamen, ohne dass die zwei mit einander in Konflikt standen. Das Bild der zweiköpfigen Schlange, der heilende Stab des Äskulapius, symbolisiert das verkörperte Selbst, das in diesen Gegensätzen leben kann, welche aber vom Ego nicht zu umfassen sind. So ist dieses Bild es Wert, dass man es meditiert, um allmählich zu einem Verständnis dessen zu kommen, was von demjenigen verlangt wird, der sich auf den alchemistischen Prozess des Übergangs vom Ego zum Selbst einlässt sowie auch eines auf das Eintreten in das verkörperte Selbst.
In einem Mythos der Kwakiutl-Indianer des pazifischen Nordwestens findet man eine lebhafte Darstellung der Konfiguration von Gegensätzen, der man sich stellen muss, um zur Gewissheit des eigenen Selbst zu erwachen. Dieser Mythos handelt von Sisiutl, einem Gott, der eine zweiköpfige Schlange und ein gefährliches Meerungeheuer darstellt. Der Mythos berichtet, wie man sich diesem mächtigen Monster entgegenzustellen hat:
Wenn du Sisiutl siehst, musst du fest stehen und dich ihm stellen. Stelle dich dem Entsetzen. Stelle dich der Furcht. Wenn du das verrätst, was du kennst, wenn du die Flucht ergreifst, so wird Sisiutl mit seinen beiden Mäulern zugleich zu prusten beginnen, und du wirst beginnen, dich im Wirbel herumzudrehen. Ohne wie die Bäume und die Felsen in der Erde verwurzelt zu sein, ohne wie die Gezeiten und die Meeresströmungen ewig zu sein, wird dein dich nach oben schraubendes Spinnen bewirken, dass du die Erde verlässt und als verlorene Seele für immer umherwanderst, eine verlorene Seele, und deine Stimme wird im kreischenden Wind des Frühherbstes zu hören sein, um Entlassung schluchzend, flehend, bettelnd... Wenn du Sisiutl den Erschreckenden siehst, bleibe fest stehen auch wenn du dich fürchtest. Im sich Fürchten besteht keine Schande; nur ein Tor hätte vor Sisiutl dem Entsetzlichen keine Furcht. Stehe fest, und wenn du schützende Worte weißt, so spreche sie aus. Zuerst der eine Kopf, dann der andere wird sich aus dem Wasser erheben. Näher. Näher. Auf dein Gesicht haben sie es abgesehen, die hässlichen Köpfe: näher, und der Gestank aus den verzehrenden Mäulern, und die Kälte und der Schrecken. Stehe fest. Noch bevor das Zwillingsgemäul des Sisiutl sich an deinem Gesicht festbeißen und dir die Seele rauben kann, muss sich jeder der Köpfe dir zuwenden. Wenn dies passiert, wird Sisiutl sein eigenes Gesicht sehen.
Der, der die andere Hälfte des Selbst sieht, schaut Wahrheit.
Sisiutl ist in aller Ewigkeit auf der Suche nach Wahrheit. Auf der Suche nach denjenigen, die die Wahrheit erkennen. Schaut er das eigene Antlitz, das eigene andere Antlitz, hat er einmal in die eigenen Augen geblickt: so hat er die Wahrheit gefunden.
Sodann wird er dich mit Magie segnen, er wird von dir weggehen, und seine Wahrheit wird ewig die deinige sein. Mag sie bisweilen auf die Probe gestellt, ja geschwächt werden: der Zauber des Sisiutl, sein Segen, ist der: deine Wahrheit wird überdauern. Und das süße Zauberwesen wird dich oft besuchen und dich daran erinnern, dass deine Wahrheit hinter deinen eigenen Augen sich finden wird. Und du wirst nie wieder alleine sein. (Cameron, Anne, 1981. Daughters of Copper Woman. Vancouver: Press Gang Publishers, 45f.)
Diese Geschichte erzählt uns, wie man sich der Tugend der Wahrheit nähern muss. Die Gegensätze in uns müssen sich gegenseitig anschauen. Das gegenseitige sich Ansehen von Gegensätzen steht auch am Anfang eines jeden alchemistischen Prozesses. So beginnt zum Beispiel das alchemistische Werk Rosarium Philosophorum mit der Radierung einer zweiköpfigen Schlange, bei der oben jeder Kopf in entgegengesetzte Richtung schaut, die aber unten zusammenkommt. Im alchemistischen Dokument mit dem Titel Splendor Solis und auch im Book of Lambspink kommt je ein ähnliches Bild von Gegensätzen vor.
Die Bilder, die zum Darstellen eines gegenseitigen sich Anschauens von Gegensätzen verwendet werden, sind unterschiedlich, aber die Anfangsstadien der alchemistischen Verwandlung haben immer mit diesem Vorgang zu tun. Die Bilder sind ein Mittel, zur Darstellung, des Umstandes, dass die Wahrheit des eigenen Wesens erst gefunden werden muss, bevor eine weitere Verwandlung stattfinden kann. Die Wahrheit unseres Seins liegt in der Erfahrung der Gegensätze Leben und Tod als koexistent. Diese Gewissheit des Seins ist das Fundament für die Tugend der Wahrheit.
Das Egobewusstsein ist weiter nichts als der oberflächliche Ausgangspunkt zum Eintreten in die Tugend der Wahrheit. Das Ego muss freiwillig seine Position als den erkennenden Aspekt unserer Psyche aufgeben, will er durchschauen, dass seine Erkenntnisweise nur eine – und zwar eine sehr beschränkte – Art zu erkennen ist. Aber kennen Sie jemanden, der das eigene persönliche Empfinden der Macht, der Kontrolle, des Wissens, kurz: das Empfinden der eigenen Identität freiwillig aufgeben würde? Vermutlich nicht.
Diesen Bewusstseinsmodus aufzugeben ist auch in der Alchemie nicht so sehr altruistisch. In der Alchemie geht eine Phase voraus, in welcher die Gegensätze einander anschauen. Diese frühere Phase wird stets als das Chaos gekennzeichnet. Durch irgendetwas, dem wir im Leben begegnen, werden wir in einen Zustand des Nichtwissens hineingestürzt. Für gewöhnlich unternehmen wir alles Mögliche, um uns von diesem Zustand des Nichtwissens zu erholen und die Macht unseres Egobewusstseins wiederherzustellen. Nur dann, wenn wir irgendeine Ahnung, eine innere Empfindung davon haben, dass dieser Verlust unseres Halts einen inneren haben muss – nur dann ergibt sich die Möglichkeit, mit diesem einmal in Gang gekommenen Vorgang fortzufahren, anstatt ihn abzuwürgen. Die einzige Instanz, von dem wir die Einsicht erhoffen können, dass das Egobewusstsein nicht alles ist, was es gibt, ist die Gnade. Die Alchemisten waren sich dieses Faktors wohl bewusst; darum beginnen so gut wie alle alchemistischen Schriften mit einem Gebet. Das weist ja auf die Klarheit darüber von Seiten der Alchemisten hin, dass der Prozess letzten Endes außerhalb ihrer Kontrolle lag. Auch die Tugend der Wahrheit tritt zwar oft als Gnade ein, und zwar meistens unter dem Umstand, dass wir am Ende sind, an der Stelle nämlich, wo Leben und Tod sich begegnen und wo wir nicht mehr die Kontrolle haben, sondern ins Chaos hineingestürzt wurden.
Dieser durch die ganze alchemistische Tradition hindurch dargestellte Anfang des Prozesses, sich vom Ego zum Selbst hin zu bewegen, zeigt uns, dass die Tugend der Wahrheit nicht etwas ist, was uns von selbst gegeben wird; sie muss vielmehr gesucht werden. Uns konfrontieren dabei aber allerlei innere Widerstände dagegen, uns der Wahrheit unseres Seins zu stellen. Allein durch Aufbieten unseres Willens lassen sich diese Widerstände nicht auflösen. In uns gibt es nichts, was das Egobewusstsein, ob zwangsläufig, ob freiwillig, beseitigen wird. Nicht einmal das Aufgreifen verschiedener Arten spiritueller Praxis kann auch nur die geringste Relativierung des Egobewusstseins sicherstellen. Nicht einmal wenn uns klar ist, dass es gerade dies ist, was wir uns mehr als alles andere wünschen.
Wieder ist es Novalis, der begriff, dass die Wahrheit des eigenen Seins etwas Anderes ist, als jede andere Wahrheitsauffassung, ja dass sie dieser vorausgeht und mit innerer Verwandlung zu tun hat. Die innerhalb unseres Seins zu erfahrende Gewissheit; das, was Novalis „Überzeugung“ nennt, ist nichts zu dem wir rein aus eigener Kraft gelangen. Er schreibt:
Alle Überzeugung ist unabhängig von der Naturwahrheit – Sie bezieht sich auf die magische oder die Wunderwahrheit. Von der Naturwahrheit kann man nur überzeugt werden – insofern sie Wunderwahrheit wird. Aller Beweis fußt auf Überzeugung, und ist mithin nur ein Notbehelf im Zustand des Mangels an durchgängiger Wunderwahrheit. Alle Naturwahrheiten beruhen demnach ebenfalls auf Wunderwahrheit.
Die Tugend der Wahrheit ist anders als der Glaube an objektive Vernunft. Die Korrespondenztheorie der Wahrheit, die besagt, die Wahrheit bestehe dann, wenn der Verstand / der Geist mit dem Objekt der Betrachtung in vollkommener Übereinstimmung ist, hat mit der Tugend wenig zu tun. Ferner beruht objektive Wahrheit immer auf einem inneren Überzeugtsein von der Wahrheit. Wahrheit ist nicht mittels der Logik zu erreichen. Wahrheit fühlen wir; wird sie nicht gefühlt, so sind alle zum Beweisen der Wahrheit angeführten Argumente die reinste Augenwischerei. Ohne dass irgendein unbekannter Faktor uns dazu bringt, uns den Gegensätzen innerhalb der Psyche zu stellen, kann es keine Möglichkeit geben, zu einer inneren Empfindung des Überzeugtseins zu kommen.
So scheint die Anfangsphase der Tugend der Wahrheit mehr oder weniger außerhalb unseres Kontrollbereiches zu liegen. Wenn aber mitten im Chaos wir doch eine Ahnung bekommen, dass das Auseinanderfallen kein bloßer Zusammenbruch, sondern ein Durchbruch sein könnte, so sind wir in dem Augenblick dazu aufgerufen, in einer ganz bestimmten, konkreten Weise darauf einzugehen. Wenn das nicht eintritt, so geht der Vorgang nicht weiter und wir müssen warten, bis sich eine nächste Gelegenheit ergibt. Die spezifische, von uns geforderte Antwort ist eine, mit der wir nicht versuchen, uns vom Zusammenbruch zu erholen, sondern mit der wir darauf verzichten etwas, was sich so anfühlt wie der Tod, für irgendein buchstäbliches Ende zu halten.
In der Alchemie wird diese Phase des Prozesses oft als ein Mensch mit einem Schwert dargestellt, der im Begriff ist, einem Drachen den Kopf abzuschlagen. Der Drache verbildlicht unsere Art, Dinge in buchstäblicher Weise zu erleben, eine Erlebens-Art, die bloß sieht und nicht hindurch sieht. Wir müssen aber unser eigenes Egobewusstsein erlegen; wir müssen uns sozusagen selbst enthaupten. Diese Handlung ist jedoch nicht dem Ende des Egobewusstseins gleichzusetzen; sie bedeutet vielmehr ein anfängliches Bewusstsein davon, dass das Seelenleben aus viel mehr bestehen muss, als aus dem kleinen Teil, durch den wir bisher funktionierten.
Der Hinweis darauf, dass wir begonnen haben, die Möglichkeit der Wahrheit, der Überzeugung des eigenen Seins zu berühren, ist die der Furcht, die in dem Augenblick zur Stelle ist, in dem wir aufhören, uns hoffnungsvoll einzubilden, dass mit ein wenig Reparaturarbeit alles so sein werde, wie noch vor unserem Gestürztwerden ins Reich des Chaos. Diese Furcht kommt im eben zitierten Kwakiutl-Mythos zum Ausdruck. Die Frage ist dann, ob wir denn das Entsetzen ertragen.
Die Aussage des Mythos ist die, dass die Wahrheit darin besteht, dass die eine Hälfte des Selbst die andere Hälfte des Selbst sieht. Egobewusstsein, dasjenige Bewusstsein, dass über die Teilung, die Trennung, das Zergliedern funktioniert, ist eigentlich ein Zerspalten des Selbst. Uns von den enteigneten Teilen unseres Selbst konfrontieren zu lassen, erfüllt uns mit Schrecken. Wir sind alles, was wir abgelehnt, verworfen, angefeindet, verachtet, verabscheut, gehasst, verteufelt haben.
Müssen wir immer, wenn wir zur Überzeugung unseres Seins, zur Tugend der Wahrheit kommen, einen scheinbaren Zusammenbruch erleiden? Nein, nicht wenn wir ein inneres Drängen fühlen, und zwar ein so starkes, dass wir uns nicht lange von ihm abwenden oder es vergessen können ohne das Gefühl zu haben, dass uns etwas Unentbehrliches verloren gegangen ist. Und doch ist diese Überzeugung, welche die Wahrheit unseres Seins ausmacht, nicht direkt zu erkennen; sie fällt nicht unter den Bereich des rationalen beziehungsweise intellektuellen Wissens.
Um vom gewöhnlichen Erkennen den Wechsel zum bildhaften Erkennen zu vollziehen, – denn das ist es, was es braucht, will man in bewusste Verbindung mit der Tugend der Wahrheit zu treten – ist es als Erstes erforderlich, dass die Furcht gehalten, umfasst werde, die im Augenblick auftritt, in dem das Egobewusstsein relativiert zu werden beginnt. Unter einem Halten oder Umfassen der Furcht verstehe ich den Verzicht darauf, dass die Furcht einerseits die Überhand bekommt und dass sie andererseits uns ins Egobewusstsein zurücktreibt. Es geht nicht darum, die Furcht zu vermeiden, sondern lediglich darum, ihr nicht ihren Willen zulassen. Die Frage hier ist die: Welche Instanz ist es in uns, die der Furcht in der gebotenen Art des Zurückhaltens zu begegnen vermag?
Die Furcht trennt uns, reißt uns auseinander, zerstückelt uns; so muss es etwas geben, irgendeinen psychischen Faktor, der vor Attacken der Furcht unverwundbar bleibt. Dieser Faktor ist unser individueller Geist, den Jung das Selbst nannte. Wenn angesichts einer starken Furcht wir es schaffen, ohne von ihr überwältigt zu werden und stattdessen mit und in ihr zu bleiben, so ist es diese Standhaftigkeit, die auf eine Verbindung mit dem Selbst hinweist – und wenn es auch eine unbewusste Verbindung wäre. Aus dieser neu gewonnenen Perspektive beginnt es möglich zu sein, Furchtattacken zu beobachten, ohne dass sie einen überwältigen.
Um auch nur bis zu diesem Punkt in der Entdeckung der Tugend der Wahrheit hinzukommen, muss wieder etwas Anderes eintreten. Die Relativierung des Egobewusstseins führt dazu, dass wir uns ohnmächtig, verwundbar, nackt und ganz und gar menschlich fühlen. Die allwissende Perspektive des Egobewusstseins zerbröselt und wir müssen feststellen, dass der Eintritt in die Wahrheit, in die Überzeugung unseres Seins, von jeder Gott-ähnlichen (Ego-)Perspektive weit entfernt liegt. In der Alchemie redet man bei dieser Anfangsphase des Näherungsprozesses an die Wahrheit vom nigredo. Den nigredo erlebt man oft als eine tiefe Depression die, wenn das Ego sich mit diesem Zustand identifiziert, zur klinischen Depression werden kann.
Was ist mit den enteigneten oder den unentdeckten Aspekten des Selbst, der „anderen Hälfte von Selbst“, von der im Kwakiutl-Mythos des Sisiutl die Rede ist? Die Wahrheit über uns selbst ist nicht allein in der Entdeckung unserer Verwundbarkeit als einzelner Mensch zu finden und auch nicht in der Verfinsterung, die von dieser Entdeckung verursacht werden kann. Die andere Hälfte des Selbst, mit der wir uns auseinandersetzen müssen (es genügt ja nicht, dass wir sie lediglich kennen), das ist unser Wahnsinn. Um in der Tugend der Wahrheit hineinzukommen, müssen wir den psychotischen Teilen unseres Selbst begegnen. Diese Begegnung bedeutet natürlich nicht, dass wir selbst psychotisch werden. Nur brauche ich einen genügend starken Ausdruck, um das Verhältnis zum – für einen jeden von uns durchaus vorhandenen – Aspekt des Wahnsinns herüberbringen zu können. „Psychose“ ist der Ausdruck, der das am besten beschreibt, dem wir da begegnen. Das altgriechische Wort psychosis bedeutet „Animation der Seele“.
So sind also die abgetrennten Teile unseres Selbst, zumal als gesunde Menschen, die psychotischen Teile von uns. Sie signalisieren hier nicht etwa, dass wir selbst psychotisch oder wahnsinnig werden. Beim Sprechen von „Seelen-Animation“ ist es mir wichtig, die für diesen Begriff üblichen Bezeichnungen wie „Unbewusstsein“ oder „Seele“ zu vermeiden. Gelingt mir das, so hoffe ich, in und mit der konkreten Erfahrung davon bleiben zu können, wie ungeheuer schwierig es ist, zur Tugend der Wahrheit zu gelangen. Gegenwärtig ist es populär, in den verschiedensten Büchern durch willkürlichen Gebrauch des Begriffes „Seele“ diesen Begriff zu romantisieren. Aber solche Romantisierung verfehlt in der Regel ganz den Pathos einer bewussten, verkörperten Begegnung mit dem Leben der Seele.
Die Gestalten, die der Wahnsinn annimmt, sind von Einzelperson zu Einzelperson sehr unterschiedlich. Die schwierigen Aspekte unseres frühen Lebens können oft als Pforten zu diesen abgetrennten Bereichen dienen. Es soll hier nicht nahegelegt werden, dass die einzige Möglichkeit, mit den abgetrennten Teilen von uns selbst in Beziehung zu treten, die ist, uns therapieren oder langfristig psychiatrisch behandeln zu lassen. Diese Teile kündigen sich allerdings oft als Verzweiflungsanfälle, als Wut, Panik, Angst und Gefühle der Verlassenheit an. Es bedarf daher irgendeiner Art der Seelenarbeit, deren Möglichkeiten vielfach sind. Hier einige Möglichkeiten einer solchen Seelenarbeit:
- die eigenen Träume beobachten (sie erinnern, sie durch den Tag hindurch mit sich nehmen, sie ernst nehmen);
- auf Körpersymptome achten (sie ehren, nicht sofort zu medikamentöser Behandlung von Beschwerden greifen, darauf achten, was für innere Bilder in Begleitung der Symptome auftreten mögen);
- auf die eigenen Beziehungen achten (die Anfangsmomente von Konfliktsituationen zu erfassen und einzusehen versuchen, dass und inwiefern die eigene Kritik an anderen mit den eigenen abgetrennten Teilen zu tun hat);
- auf innere Bilder Acht geben (sie bemerken, in sich die Fähigkeit ausbilden, sie als autonome Aktivität anzusehen anstatt als etwas, von dem wir meinen, wir würden es selber tun);
- Meditationspraktiken ausbilden, die auf Bilder basieren. Zu solchen Praktiken gehören die aktive Imagination nach Jung und die oben beschriebenen Herzübungen. Allein schon daraus eine tägliche Übung zu machen, das Zentrum des Bewusstseins vom Haupt ins Herz zu verlagern, macht viel aus.
Alle diese Praktiken haben Eines gemeinsam: einen seriösen Umgang mit der psychischen beziehungsweise seelischen Bildhaftigkeit (Imagination). Eine jede Praktik, die zum Schauen und Teilnehmen an der psychischen Imagination führt, wird „Seelenanimation“ fördern.
Zur Tugend der Wahrheit zu gelangen erfordert eine Menge der tiefsten Schichten der Geduld; als Vorbereitung auf die Tugend des Mutes kann es ferner keine bessere Vorbereitung geben, als zu den Regionen der Wahrheit den Zugang gefunden zu haben. Was kann man als Endergebnis der Befolgung dieses Prozesses erwarten? Als Erstes beginnen zwei Extreme der Tugend wegzufallen, nämlich das Fällen rascher Urteile und das Besitzen starrer Meinungen. Das überschnelle Urteilen bemüht sich um eine stark verfrühte, intellektuelle Erklärung der Wahrheit; mit festgefahrenen Meinungen ist es ähnlich. Diese beiden Versuchsweisen, Wahrheit zu erhaschen, umgehen just dasjenige psychische wie somatische Unterbewusstsein, welches der soeben in alchemistischer Weise beschriebene Vorgang erwecken soll. Als Zweites ergibt sich etwas Erstaunliches und Unerwartetes daraus, dass man sich in den Prozess der Entdeckung der Tugend der Wahrheit hineinbegibt: Wir werden in unserem physischen Sein verändert. Wir wenden uns nun dem zu, was es mit dieser Änderung auf sich hat.
Innerhalb der Überzeugung der eigenen Seele leben zu lernen stärkt den Leib. Wir fühlen uns fester in unserem Verkörpertsein, während zu gleicher Zeit unser Verkörpertsein auch durchsichtiger geworden ist. Mit „durchsichtig“ meine ich das Gewahrwerden, dass wir nicht – wie bisher angenommen – einen Körper haben, sondern dass wir ein geistiger Leib sind. Es wird uns bewusst, dass der Leib, der wir sind, nicht nur in physischen, stofflichen Prozessen besteht. Und zwar wissen wir das jetzt von innen her; es handelt sich nicht bloß um eine New-Age-Philosophie. Es ist, als gäbe es in uns eine zweite Person, und als wäre diese zweite, ätherische Person mehr „wir“, als wir von uns selbst wissen. Das Leben mit Seelen-Überzeugung erweckt diese zweite Person.
Der geistige Leib, der wir sind, lässt sich von der Seele, die wir sind und dem Geist, der wir sind, nicht sauber trennen. Ja der ganze Sinn und Zweck des alchemistischen Prozesses bestand darin, in das verkörperte Leben von Seele und Geist mit Bewusstheit hineinzufinden. Solange wir von dem inneren Sinn unseres lebendigen Leibes und zugleich auch von Seele und Geist dissoziiert sind, kann die Tugend der Wahrheit nur als Abstraktion bestehen. Das Erwachen dieser Tugend, welches vom Durchmachen der hier besprochenen Prüfungen und Schwierigkeiten abhängt, bedeutet das Leben in einem anderen Leib.
Dieser „neue“ Leib ist nicht als materiell zu beschreiben. Die Alchemisten, auch andere geistige Traditionen haben sich von jeher die Imagination eines feineren Leibes bedient, wenn sie von der Einheit von Leib, Seele und Geist reden wollten. Es ist durchaus möglich, über diesen Ausdruck hinauszugehen und die eigentliche Funktionsweise dieses feineren Leibes zu beschreiben, ohne auf solche Ausdrücke wie die Chakren, den Ätherleib, den Astralleib oder sonstige esoterische Begriffe zurückgreifen zu müssen. Solche esoterischen Begriffe sind unter Umständen extrem wertvoll, will man eine Tradition und eine Sprache schaffen, um die feineren Aspekte des Verkörpertseins beschreiben zu können. Wie ist es aber, diese feineren Dimensionen des Leibes zu leben?
Um die Tugend der Wahrheit als Leib der Überzeugung zu leben, muss man die innere Gewissheit des Seins, des verkörperten Selbst, als lebendes „Feld“ erleben: als eine Situation, die von ihrer Bildhaftigkeit her eine Ganzheit ist und in der die „Substanz“ des Körpers nicht nur einen selbst völlig ausfüllt und durchdringt, sondern zugleich auch andere Menschen, die weitere Welt und sogar den Raum, den es zwischen alledem gibt. Der so verstandene Leib ist ein umfassendes, durchdringendes, interaktives Feld und kein rein aus physischer Substanz bestehender Gegenstand.
Der hier zum Beschreiben der Tugend der Wahrheit verwendete Ausdruck „Feld“ unterscheidet sich von der Art, wie er in der klassischen Physik gebraucht wird. In der klassischen Physik erzeugt ein physikalischer Körper – etwa die Sonne oder die Erde – ein Feld, eine tatsächliche Modifikation des diesen Körper umgebenden Raumes. Dieses Feld enthält Energie und übt auf Körper wie etwa die Planeten, die in es hineingestellt werden, Kräfte aus. Zwar sind diese Felder unsichtbar, aber dennoch sind sie Substantiell, da Felder Energie und Schwungkraft mit sich führen und messbare Wirkungen haben. Auch das elektromagnetische Feld fällt in diese Denkweise hinein; ein Protonenpaar erzeugt elektrische Felder um sich herum, die deren gegenseitige Abstoßung vermitteln. In dieser Auffassung des Feldes ist der Gegenstand, das Objekt, die Substanz als erstes da, und diese erzeugen um sich herum Felder.
Indem ich vom verkörperten, bewussten Selbst als von einem Feld rede, beziehe ich mich nicht auf die klassische Physik, sondern auf die Randzonen der Tiefenpsychologie. Spräche ich vom Körper-Feld so, wie die Physik dies tut, so würde ich sagen, dass das Unbewusste unsichtbar, alldurchdringend und ständig dabei ist, auf den Leib und das Bewusstsein einen Einfluss auszuüben, und dass auch unsere Position des Bewusstseins ihrerseits das Unbewusstsein beeinflusst. Hier ist die Sprache rein substantiv und wir stellen uns dabei ein Feld als eine Art umgebende Hülle vor. Das Körper-Feld befindet sich nicht in der gewöhnlichen Räumlichkeit und Zeitlichkeit und ist auch nicht direkt messbar; so gilt hier keine Sprache der „Energie“ beziehungsweise des „Energieaustausches“ oder ähnliche Vorstellungen.
Hier gilt eine Sichtweise, die das Gegenteil der klassischen Feldtheorie ist: zuerst ist das Feld da, dann als sekundäre Erscheinung die Substantialität. Hinsichtlich der Tugend der Wahrheit hieße ein Erfahren-Lernen dieser Art des Feldes, dass wir die Wahrheit nicht „wissen“ beziehungsweise „haben“, sondern dass wir in dem interaktiven Feld der Wahrheit leben. Das ist eine hoch spezifische Erlebnisart.
In diesem interaktiven Feld der Wahrheit lebt man zum Beispiel in der Klarheit eines Bewusstseins, das sich aber zugleich nur als Eigenschaft des „nicht-Wissens“ kennzeichnet. Ferner ist diese Region als ein Bereich nichtkausaler Zusammenhänge zu kennzeichnen. Als Jung in seinen Studien über das Transferenz-Phänomens der Therapie zu forschen begann, bezeichnete er die Erfahrungen nichtkausaler Beziehungen als „Synchronizität“, aufgrund seiner Gespräche und seiner Freundschaft mit dem Physiker Wolfgang Pauli. So ist diese Region eine viel stärker in Fluss befindliche, als die Region, die durch das Egobewusstsein zu erfahren ist. Solche Fluidität ergibt sich nun nicht aus der Erzeugung eines Feldes durch einen physikalischen Körper; sondern der Vorrang gehört der Fluidität; diese tritt als Erstes auf, und die Empfindung des Körpers als Gegenstand entsteht aus diesem flüssigen Medium als Ergebnis einer mentalen Körper-Verobjektivierung.
Im Feld ganz darinnen zu sein erfordert eine Offenheit der Phantasie, der Gefühle, der Intuitionen, der Empfindungen und der Bilder. Diese Offenheit erlangt man durch die sehr schwierige Arbeit, die Gewissheit unseres Seins zu entdecken, worin ja das sich Hineinfinden in die Tugend der Wahrheit besteht. Ich muss hervorheben, dass die als seelischer Art begriffene Wahrheit keineswegs zu einer subjektiven blickweise auf die Wahrheit führt. Die herkömmliche intellektuelle Auffassung der Wahrheit ist die, dass diese vom beobachtenden beziehungsweise erkennenden Subjekt separat bestehe. Indem diese Auffassung überwunden wurde, tritt an deren Stelle nun keine Subjektivität auf, sondern eine neue Objektivität.
Diese Objektivität ist eine solche die, zusammen mit dem erlebten Gegenstand auch den Teilnehmer in die erlebte Wahrheit mit einschließt. Der Ort dieses Erkenntnismodus befindet sich aber nicht in der Person und auch nicht in der Konformität des Verstandes der Person zum Erkannten. Der Ort, an dem die Tugend der Wahrheit gelebt wird, ist die Tätigkeitsregion, die Jung als das „numinose“ Feld bezeichnete.
Vom Numinosen oder dem Ätherischen zu sprechen mag wohl abstrakt oder vielleicht mystisch klingen. In diesem Zusammenhang bedeuten diese Ausdrücke weiter nichts, als dass man die Tugend der Wahrheit dadurch erkennt, dass man sich in dieser Region (des Numinosen) befindet, anstatt dass man ein Wissen über etwas hat. Während des Eingebundenseins in dieser Region steigert sich die körperliche Vitalität, aber dergestalt, dass die Aufmerksamkeit nicht auf den Körper gezogen wird, was ja bei anderen Formen der Steigerung, wie etwa der Erotik, geschieht. Die Steigerung, von der hier die Rede ist, umfasst unsere Wahrnehmung, weshalb denn auch das Wahrnehmen wacher ist. Diese Steigerung lässt zwar die Umgebung lebhafter erscheinen, aber sie führt nicht dazu, dass wir uns etwa stärker in der Materialität hineinbegeben. Vielmehr bewirkt die Steigerung, dass die zwischen den Dingen befindlichen Regionen beinahe wahrnehmbar werden.
Das Ergebnis dieser Steigerung körperlicher Vitalität ist das Auftreten einer Tätigkeitsregion, welche die Substantialität der Dinge nahezu übersteigt; es ereignet sich eine Art Umkehrung von Figur und Hintergrund. Während in der gewöhnlichen Wahrnehmung der Dinge die wahrgenommenen Gegenstände figürlich sind, während das, innerhalb dessen sie sich befinden, unsichtbar bleibt, ist es bei der hier beschriebenen Art der Steigerung so, dass wir uns der zwischen den Gegenständen befindlichen Zwischenräume als substantiell bewusst werden, anstatt als leer. Allerdings ist die Substanz, um die es geht, eine äußerst feine.
Zur Beschreibung des Feldes in der Tugend der Wahrheit habe ich zwar ein sinnlich wahrnehmbares Beispiel verwendet; aber das so Beschriebene trifft zum Beispiel genauso für unser Denken und Fühlen. Während wir im Normalfall vom einen Ding zum nächsten denken und von dort wieder zum nächsten, ist es im gesteigerten Zustand so, dass wir vor dem bewussten Fluss stärker anwesend sind, der die Handlung des Denkens kennzeichnet. Der „Zwischenraum“ zwischen den Gedanken ist eher der Ort, wo die Wahrheit zu finden ist, als im Inhalt der Gedanken selbst. Mit dem Reich des Fühlens ist es ähnlich. In allen diesen Beispielen geht es mir darum, zu zeigen, dass, obgleich das streng materielle Erlebnis des Körpers zurückweicht, unser Empfinden des Verkörpertseins eben nicht abnimmt oder gar verschwindet.
Erfahrungen die man macht, wenn man sich im Feld der Tugend der Wahrheit bewegt, gehören nicht zu unserem gewöhnlichen Erfahrungsmodus, auch lassen sie sich nicht im Alltagsleben aufrechterhalten. Wohl ist es aber möglich, allmählich eine Art „nebeneinander“-Bewusstseins zu entfalten, innerhalb dessen dieser Erfahrungsmodus neben unseren normaleren und gewöhnlicheren Modi her lebt. Dieser zweifache Bewusstseinsmodus ist nicht als Defizit oder als Verzicht oder als ein Rückzug in etwas Veraltetes zu denken. Im Gegenteil: die Tugend der Wahrheit, das konkret erlebte Leben innerhalb dieser Tugend, besteht gerade darin, solche Polarität aufrechtzuerhalten. Sich in das Reich des Numinosen zu verlieben wäre töricht. Das Ergebnis davon wäre, das irgendwann einmal das Ego, welches ganz bestimmt nicht verschwunden ist oder sich gar aufgelöst hat, sich mit diesem neuen Bewusstseinsmodus identifizieren würde. Das hätte tragische Folgen. Diese Identifikation ist das, wovon Jung als Inflation gesprochen hat.
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