aus Die Macht der Seele. Wege zum Leben der Monatstugenden
von Robert Sardello
Kapitel 1: Die zwölf spirituellen Tugenden
Die Tugenden sind ihrem Wesen gemäß praktisch; haben sie es doch mit dem Guten zu tun und es genügt ja nie, über das Gute bloß nachzudenken oder es zu fühlen; man muss sich mit ihm handelnd auseinandersetzen. Für Platon existierten das Wahre, das Schöne und das Gute als drei Ursphären, es sind großartige Imaginationen, nach denen wir als Menschen streben. Wir richten unser Denken auf das Wahre, unser Fühlen auf das Schöne und unsere Handlungen, unser Wollen auf das Gute. In solchem Streben suchen wir unsere nur-menschliche Art mit der der geistigen Welten zu vereinen. Das Gute ist Gegenstand des Wollens, ist das, nach dessen Vollzug unsere Handlungen trachten, sofern wir aus einer Harmonie des Leibes, der Seele und des Geistes handeln.
Aristoteles hat zwar einen empirischeren Ansatz als Platon, sich den Tugenden zu nähern, ist aber in vielem ein Echo von ihm. In seiner Nikomachischen Ethik sucht er das Gute und gelangt dabei zur Definition: das, worauf wir im Leben zielen, als der Grund, weshalb wir hier sind. Da das Gute in vielfältiger Weise getan werden könne, müsse es ein hauptsächliches Gutes geben, mit dem alles andere, was gut ist, in Verbindung stehen. Dieses Hauptgute nennt Aristoteles Eudaimonia, was sich am besten mit dem schönen Wort „aufblühen“ oder „gedeihen“ übersetzen lässt. Das Hauptgute ist das Aufblühen, das Gedeihen eines harmonischen Lebens von Leib, Seele und Geist.
Welche Art des menschlichen Lebens gedeiht am besten? Für Aristoteles gilt: ein tugendhaftes. Das beste menschliche Leben sei ein Leben herausragender menschlicher Tätigkeit. Im dritten Buch der Ethik wendet er sich der Frage zu, was eine tugendhafte Tätigkeit denn ausmache. Tugenden seien zu allererst Aspekte von „Seele“, deren Haupttätigkeit es sei, unser emotionales Leben zu vermitteln. Eine Emotion wie etwa den Zorn lebe man dann in einer tugendhaften Weise aus, wenn man ihn weder zu heftig noch zu schwach empfinde. Bei der Tugend gehe es um ein Ausdrücken von Emotionen und um ein Handeln auf diese hin, welches die Mitte findet zwischen Extremen. Das Tun der Tugend habe nicht so sehr mit dem zu tun, was getan wird, als damit, wie gehandelt wird. Aristoteles sagt nicht, dass wir nicht tugendhaft seien, wenn wir zornig werden; im Gegenteil: wir seien womöglich gerade dann nicht tugendhaft, wenn wir unseren Zorn nicht zum Ausdruck bringen. Der Tugend sei es nicht darum zu tun, eine Liste von alledem zu machen, was als gut beziehungsweise als schlimm gelte, sich auf jenes zu konzentrieren und dieses zu vermeiden. Dieses zeigt, dass es eine Dynamik der Seele gibt, die einfachen Regeln und Bestimmungen nicht unterliegt.
Man kann sich das Leben in den Tugenden als die Pflege einer Kunst der Seele vorstellen. Den Dreh zu solcher Kunst bekommt man, indem man sie ausführt. Laut Aristoteles eignet man sich die Tugenden im Tun an. Man komme nicht mit ihnen auf die Welt; man erwerbe sie nicht anders, als indem man sie übe. Einer künstlerisch erübten Fertigkeit bedarf es beim Ausführen der Tugend. Und doch muss a priori etwas in der Seele vorhanden sein, was eine einmal wahrgenommene Tugend auch erkennt und sich von ihr angezogen fühlt. Sonst werde man in eine ziemliche Rückentwicklung hineingeraten.
Wenn nämlich die Tugenden von ganz außen kommen, wer ist es denn, der bestimmt, was als Tugend gilt und was nicht? Eine Tugend, die ausschließlich von außen käme, könnte nur sozial oder kulturell bestimmt sein. Wir müssen hier einen behutsamen Pfad betreten. Wann immer wir die Tugend aufgreifen und leben, müssen wir den jeweiligen Kontext berücksichtigen. Keine Handlung, in welchem Zusammenhang auch immer sie verrichtet wird, ist an sich tugendhaft. Eine Handlung zum Beispiel, die wahrhaft gerecht ist, lässt sich nicht in abstrakter Weise bestimmen. Sie muss eine Handlung sein, von der der Handelnde weiß, dass sie in dieser gegebenen Situation gerecht ist; sie muss eine solche sein, die er aus freien Stücken und um der Handlung selbst willen ausführen will und die er so ausführt, dass sie den Charakter seiner Seele ausdrückt.
Wir müssen dadurch einen Freiraum für eine Betrachtung der Tugend schaffen, dass wir sie zum einen von der Ethik und zum andern von den Werten scheiden. Was die Tugend sowohl von der Ethik als auch von den Werten zentral unterscheidet, das ist, dass es der Tugend ausdrücklich um den Zusammenhang mit der Seele geht. Hiermit werden wir uns auch ausdrücklich befassen. Wenn wir das Gute aus dem Innenleben der Seele heraus tun, so erfahren wir in dem, was wir tun, einen aktiven Genuss. Wir empfinden Freude an der eigenen tugendhaften Tätigkeit; sie ist keine Sache der Pflicht oder der Verbindlichkeit, des Befolgens eines ethischen Kodex oder des Gehorchens eines Befehls. Ethik ist ein auf moralischen Pflichten basierender Verhaltenskodex. Werte sind Kern-Glaubenssätze, die Haltungen und Handlungen leiten oder motivieren. Werte sind also nicht zwingend ethischer Art.
Man sehe sich zum Beispiel die faire Behandlung, anderer Menschen an. Fairness kann ein Wert sein, eine Charaktereigenschaft des sozialen Lebens, die emotional wertvoll ist. In solchem Fall handelt man anderen Menschen gegenüber deshalb fair, weil das es ist, was die Gruppe beziehungsweise die Gesellschaft wertschätzt; eine solche Handlung mag mit oder ohne Vergnügen einhergehen. Auch kann Fairness eine Ethik, eine Sache moralischer Pflicht und Verbindlichkeit sein, so hängt sie damit zusammen, was man für recht und unrecht hält. Damit Fairness eine Tugend sein kann, muss sie Ausdruck des Seelenlebens des in fairer Weise handelnden Menschen sein. Solches Handeln birgt eine spezifische Charaktereigenschaft dieses Menschen in sich. Ferner muss dieser Mensch aus freier Wahl so handeln und erfährt dabei Lust, Vergnügen, Freude, und zwar nicht bei dem, was dabei herauskommen könnte, sondern an der Handlung selbst.
Tugendhaftes Tun bringt der Seele also Lust. Wie erlebt man aber seelische Lust? Sie ist nicht dasselbe wie Sinneslust, wie emotionale Lust oder wie die Befriedigung, die wir erleben, wenn unser Handeln von anderen Menschen gebilligt wird; nicht einmal das gute Gefühl, etwas anständig ausgeführt zu haben. Man versuche, sich an eine mutige Tat zu erinnern, die man nur deshalb ausführte, weil sie von der gegebenen Situation verlangt wurde. Man führte sie nicht aus, um gelobt zu werden oder weil sie von einem erwartet wurde; man zog nicht einmal in Erwägung, ob man daraus irgendeinen Gewinn ziehen würde. Die Art der Lust, die mit dieser Tat einhergeht, kann man als Freiheitsgefühl beschreiben; ist es doch, als wäre eine innere Barriere entfernt worden und dass man in vollkommener Übereinstimmung mit demjenigen Menschen handeln würde, der man eigentlich ist.
Ja, in einem solchen Moment entdeckt man mehr als man zuvor gewusst hat von dem, was man als geistiges Wesen ist. Zwar hat die Lust, die mit jeder der Tugenden jeweils verbunden ist, ihre je eigene Qualität; aber die innere Qualität der Freiheit kennzeichnet sie alle.
Wie sollen wir uns der Frage nähern, welche der spezifischen Tugenden wir in Betracht ziehen sollen? Da gibt es die drei theologischen Tugenden von Glauben, Liebe und Caritas; ferner die vier Kardinaltugenden von Weisheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit (Hochsinn) und Mäßigkeit; das sind nicht die Tugenden, die wir behandeln werden. Der Kardinaltugenden bedarf man, um in der Welt edle Taten zu vollbringen. Auf dem Wege der theologischen Tugenden wird uns aus den geistigen Welten Gnade zuteil. Glaube, Hoffnung, Liebe erwerben wir nicht, sondern wir bekommen heraus, wie wir für diese Tugenden offen und empfänglich sein können. Zutreffender ist es zu sagen, dass uns Glauben, Hoffnung und Liebe geschenkt werden, als dass wir sie in uns ausbilden. In der „Göttlichen Komödie“ von Dante etwa begegnen dem Pilger erst dann diese Tugenden, als er im Paradies angekommen ist. Dort wird er auf seine Kenntnisse dieser Tugenden hin geprüft und er erklärt, dass sie Geschenke des Himmels seien.
Von den Kardinaltugenden war die heidnische Welt gekennzeichnet; sie waren das Kennzeichen des höchsten, von einem Menschen zu erlangenden Adels – arete, das heißt Vorzüglichkeit. Die theologischen Tugenden kennzeichneten die Welt des Mittelalters. Sie waren Merkmale der Empfänglichkeit der Menschen für die geistigen Welten. Die Art von Tugend, um die es in diesem Buch geht, sind Handlungen, die die Welt braucht und die unser Tun erheben und so das Getane zu einer Opfergabe an die geistige Welt machen. Die geistigen Tugenden sind eine Art und Weise, unsere Handlungen in der Welt zu spiritualisieren, unser Tun – jedes Tun – zu heiligen.
Die Anzahl der Tugenden ist unterschiedlich und kann sich von der einzigen Tugend der Liebe bis hin zu 545 verschiedenen Tugenden (in einer bestimmten Religion in Indien) erstrecken. Meine Methode festzustellen, auf welche Tugenden konzentriert werden soll, fußt auf drei Überlegungen. Die erste Überlegung leitet sich aus der Wortbedeutung selbst ab. Das englische Wort virtue bedeutet „die Macht beziehungsweise der waltende Einfluss, die einer übernatürlichen oder göttlichen Wesenheit innewohnen, oder: die Einverleibung einer solchen
Macht beziehungsweise eines solchen Einflusses, insbesondere aus der Reihe der himmlischen Hierarchien“; oder: „die Handlung eines göttlichen Wesens“.
von Robert Sardello
Kapitel 1: Die zwölf spirituellen Tugenden
Die Tugenden sind ihrem Wesen gemäß praktisch; haben sie es doch mit dem Guten zu tun und es genügt ja nie, über das Gute bloß nachzudenken oder es zu fühlen; man muss sich mit ihm handelnd auseinandersetzen. Für Platon existierten das Wahre, das Schöne und das Gute als drei Ursphären, es sind großartige Imaginationen, nach denen wir als Menschen streben. Wir richten unser Denken auf das Wahre, unser Fühlen auf das Schöne und unsere Handlungen, unser Wollen auf das Gute. In solchem Streben suchen wir unsere nur-menschliche Art mit der der geistigen Welten zu vereinen. Das Gute ist Gegenstand des Wollens, ist das, nach dessen Vollzug unsere Handlungen trachten, sofern wir aus einer Harmonie des Leibes, der Seele und des Geistes handeln.
Aristoteles hat zwar einen empirischeren Ansatz als Platon, sich den Tugenden zu nähern, ist aber in vielem ein Echo von ihm. In seiner Nikomachischen Ethik sucht er das Gute und gelangt dabei zur Definition: das, worauf wir im Leben zielen, als der Grund, weshalb wir hier sind. Da das Gute in vielfältiger Weise getan werden könne, müsse es ein hauptsächliches Gutes geben, mit dem alles andere, was gut ist, in Verbindung stehen. Dieses Hauptgute nennt Aristoteles Eudaimonia, was sich am besten mit dem schönen Wort „aufblühen“ oder „gedeihen“ übersetzen lässt. Das Hauptgute ist das Aufblühen, das Gedeihen eines harmonischen Lebens von Leib, Seele und Geist.
Welche Art des menschlichen Lebens gedeiht am besten? Für Aristoteles gilt: ein tugendhaftes. Das beste menschliche Leben sei ein Leben herausragender menschlicher Tätigkeit. Im dritten Buch der Ethik wendet er sich der Frage zu, was eine tugendhafte Tätigkeit denn ausmache. Tugenden seien zu allererst Aspekte von „Seele“, deren Haupttätigkeit es sei, unser emotionales Leben zu vermitteln. Eine Emotion wie etwa den Zorn lebe man dann in einer tugendhaften Weise aus, wenn man ihn weder zu heftig noch zu schwach empfinde. Bei der Tugend gehe es um ein Ausdrücken von Emotionen und um ein Handeln auf diese hin, welches die Mitte findet zwischen Extremen. Das Tun der Tugend habe nicht so sehr mit dem zu tun, was getan wird, als damit, wie gehandelt wird. Aristoteles sagt nicht, dass wir nicht tugendhaft seien, wenn wir zornig werden; im Gegenteil: wir seien womöglich gerade dann nicht tugendhaft, wenn wir unseren Zorn nicht zum Ausdruck bringen. Der Tugend sei es nicht darum zu tun, eine Liste von alledem zu machen, was als gut beziehungsweise als schlimm gelte, sich auf jenes zu konzentrieren und dieses zu vermeiden. Dieses zeigt, dass es eine Dynamik der Seele gibt, die einfachen Regeln und Bestimmungen nicht unterliegt.
Man kann sich das Leben in den Tugenden als die Pflege einer Kunst der Seele vorstellen. Den Dreh zu solcher Kunst bekommt man, indem man sie ausführt. Laut Aristoteles eignet man sich die Tugenden im Tun an. Man komme nicht mit ihnen auf die Welt; man erwerbe sie nicht anders, als indem man sie übe. Einer künstlerisch erübten Fertigkeit bedarf es beim Ausführen der Tugend. Und doch muss a priori etwas in der Seele vorhanden sein, was eine einmal wahrgenommene Tugend auch erkennt und sich von ihr angezogen fühlt. Sonst werde man in eine ziemliche Rückentwicklung hineingeraten.
Wenn nämlich die Tugenden von ganz außen kommen, wer ist es denn, der bestimmt, was als Tugend gilt und was nicht? Eine Tugend, die ausschließlich von außen käme, könnte nur sozial oder kulturell bestimmt sein. Wir müssen hier einen behutsamen Pfad betreten. Wann immer wir die Tugend aufgreifen und leben, müssen wir den jeweiligen Kontext berücksichtigen. Keine Handlung, in welchem Zusammenhang auch immer sie verrichtet wird, ist an sich tugendhaft. Eine Handlung zum Beispiel, die wahrhaft gerecht ist, lässt sich nicht in abstrakter Weise bestimmen. Sie muss eine Handlung sein, von der der Handelnde weiß, dass sie in dieser gegebenen Situation gerecht ist; sie muss eine solche sein, die er aus freien Stücken und um der Handlung selbst willen ausführen will und die er so ausführt, dass sie den Charakter seiner Seele ausdrückt.
Wir müssen dadurch einen Freiraum für eine Betrachtung der Tugend schaffen, dass wir sie zum einen von der Ethik und zum andern von den Werten scheiden. Was die Tugend sowohl von der Ethik als auch von den Werten zentral unterscheidet, das ist, dass es der Tugend ausdrücklich um den Zusammenhang mit der Seele geht. Hiermit werden wir uns auch ausdrücklich befassen. Wenn wir das Gute aus dem Innenleben der Seele heraus tun, so erfahren wir in dem, was wir tun, einen aktiven Genuss. Wir empfinden Freude an der eigenen tugendhaften Tätigkeit; sie ist keine Sache der Pflicht oder der Verbindlichkeit, des Befolgens eines ethischen Kodex oder des Gehorchens eines Befehls. Ethik ist ein auf moralischen Pflichten basierender Verhaltenskodex. Werte sind Kern-Glaubenssätze, die Haltungen und Handlungen leiten oder motivieren. Werte sind also nicht zwingend ethischer Art.
Man sehe sich zum Beispiel die faire Behandlung, anderer Menschen an. Fairness kann ein Wert sein, eine Charaktereigenschaft des sozialen Lebens, die emotional wertvoll ist. In solchem Fall handelt man anderen Menschen gegenüber deshalb fair, weil das es ist, was die Gruppe beziehungsweise die Gesellschaft wertschätzt; eine solche Handlung mag mit oder ohne Vergnügen einhergehen. Auch kann Fairness eine Ethik, eine Sache moralischer Pflicht und Verbindlichkeit sein, so hängt sie damit zusammen, was man für recht und unrecht hält. Damit Fairness eine Tugend sein kann, muss sie Ausdruck des Seelenlebens des in fairer Weise handelnden Menschen sein. Solches Handeln birgt eine spezifische Charaktereigenschaft dieses Menschen in sich. Ferner muss dieser Mensch aus freier Wahl so handeln und erfährt dabei Lust, Vergnügen, Freude, und zwar nicht bei dem, was dabei herauskommen könnte, sondern an der Handlung selbst.
Tugendhaftes Tun bringt der Seele also Lust. Wie erlebt man aber seelische Lust? Sie ist nicht dasselbe wie Sinneslust, wie emotionale Lust oder wie die Befriedigung, die wir erleben, wenn unser Handeln von anderen Menschen gebilligt wird; nicht einmal das gute Gefühl, etwas anständig ausgeführt zu haben. Man versuche, sich an eine mutige Tat zu erinnern, die man nur deshalb ausführte, weil sie von der gegebenen Situation verlangt wurde. Man führte sie nicht aus, um gelobt zu werden oder weil sie von einem erwartet wurde; man zog nicht einmal in Erwägung, ob man daraus irgendeinen Gewinn ziehen würde. Die Art der Lust, die mit dieser Tat einhergeht, kann man als Freiheitsgefühl beschreiben; ist es doch, als wäre eine innere Barriere entfernt worden und dass man in vollkommener Übereinstimmung mit demjenigen Menschen handeln würde, der man eigentlich ist.
Ja, in einem solchen Moment entdeckt man mehr als man zuvor gewusst hat von dem, was man als geistiges Wesen ist. Zwar hat die Lust, die mit jeder der Tugenden jeweils verbunden ist, ihre je eigene Qualität; aber die innere Qualität der Freiheit kennzeichnet sie alle.
Wie sollen wir uns der Frage nähern, welche der spezifischen Tugenden wir in Betracht ziehen sollen? Da gibt es die drei theologischen Tugenden von Glauben, Liebe und Caritas; ferner die vier Kardinaltugenden von Weisheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit (Hochsinn) und Mäßigkeit; das sind nicht die Tugenden, die wir behandeln werden. Der Kardinaltugenden bedarf man, um in der Welt edle Taten zu vollbringen. Auf dem Wege der theologischen Tugenden wird uns aus den geistigen Welten Gnade zuteil. Glaube, Hoffnung, Liebe erwerben wir nicht, sondern wir bekommen heraus, wie wir für diese Tugenden offen und empfänglich sein können. Zutreffender ist es zu sagen, dass uns Glauben, Hoffnung und Liebe geschenkt werden, als dass wir sie in uns ausbilden. In der „Göttlichen Komödie“ von Dante etwa begegnen dem Pilger erst dann diese Tugenden, als er im Paradies angekommen ist. Dort wird er auf seine Kenntnisse dieser Tugenden hin geprüft und er erklärt, dass sie Geschenke des Himmels seien.
Von den Kardinaltugenden war die heidnische Welt gekennzeichnet; sie waren das Kennzeichen des höchsten, von einem Menschen zu erlangenden Adels – arete, das heißt Vorzüglichkeit. Die theologischen Tugenden kennzeichneten die Welt des Mittelalters. Sie waren Merkmale der Empfänglichkeit der Menschen für die geistigen Welten. Die Art von Tugend, um die es in diesem Buch geht, sind Handlungen, die die Welt braucht und die unser Tun erheben und so das Getane zu einer Opfergabe an die geistige Welt machen. Die geistigen Tugenden sind eine Art und Weise, unsere Handlungen in der Welt zu spiritualisieren, unser Tun – jedes Tun – zu heiligen.
Die Anzahl der Tugenden ist unterschiedlich und kann sich von der einzigen Tugend der Liebe bis hin zu 545 verschiedenen Tugenden (in einer bestimmten Religion in Indien) erstrecken. Meine Methode festzustellen, auf welche Tugenden konzentriert werden soll, fußt auf drei Überlegungen. Die erste Überlegung leitet sich aus der Wortbedeutung selbst ab. Das englische Wort virtue bedeutet „die Macht beziehungsweise der waltende Einfluss, die einer übernatürlichen oder göttlichen Wesenheit innewohnen, oder: die Einverleibung einer solchen
Macht beziehungsweise eines solchen Einflusses, insbesondere aus der Reihe der himmlischen Hierarchien“; oder: „die Handlung eines göttlichen Wesens“.
Diese im Oxford English Dictionary an erster Stelle stehenden Definitionen gehen den gewöhnlicheren Definitionen der Tugend als Handlungen menschlichen Betragens voran.* Will man sich eine neue Vorstellung der Tugend bilden, muss man erst historisch durchschauen, dass die landläufigeren Auffassungen dadurch abgetötet wurden, dass sie in das Dogma der einen oder anderen Religion getaucht wurden. Mich interessiert mehr die Ausbildung der geistigen als der konventionell religiösen Art, das Leben der Tugend zu pflegen, weil die geistige Art einzelne Persönlichkeiten dazu einlädt, die eigene besondere Ausdrucksweise ihres Seelen- und Geisteslebens zu finden, anstatt nach vorherbestimmten Verhaltensmustern zu leben.
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*Anmerkung des Übersetzers: Hier eine Etymologie des deutschen Wortes Tugend aus Wikipedia:
Das deutsche Wort „Tugend“ (lateinisch virtus, altgriechisch ἀρετή = arete) ist abgeleitet von taugen; die ursprüngliche Grundbedeutung ist die Tauglichkeit (Tüchtigkeit, Vorzüglichkeit) eines Menschen. Allgemein versteht man unter Tugend eine hervorragende Eigenschaft oder vorbildliche Haltung. Im weitesten Sinn kann jede Fähigkeit, als wertvoll betrachtete Leistungen zu vollbringen, als Tugend bezeichnet werden. In der Ethik bezeichnet der Begriff eine als wichtig und erstrebenswert geltende Charaktereigenschaft, die ein Mensch befähigt, das sittlich Gute zu verwirklichen. Herkunft: mittelhochdeutsch „tougen“; um „taugen“ ordnen sich Wortbildungen, die im Zusammenhang mit tüchtig und Tugend stehen. |
Eine zweite Überlegung ist die folgende: Zwar kann man in der Regel nicht das Handeln geistiger Wesen wahrnehmen; und doch gibt es im Universum urbildliche Motive, die auf dieses Handeln hinweisen. In urbildlicher Weise können wir uns auch den Tugenden nähern, indem wir den imaginativen – respektive den geistigen – Hintergrund unseres Übens bestimmter Tugenden als Zugang suchen zu den göttlichen Gestaltungen des Kosmos. Es besteht zum Beispiel zwischen den zwölf Sternbildern des Tierkreises und den zwölf Tugenden eine Beziehung. Auf diese Beziehung haben verschiedene Persönlichkeiten hingewiesen; ausgearbeitet wurde sie aber noch nicht.
Helena Petrovna Blavatsky spricht in ihrer Geheimlehre eine solche Beziehung an. Rudolf Steiner bejahte die an ihn gerichtete Frage, ob er dieser von Blavatsky vorgeschlagenen Liste von zwölf Tugenden zustimme und füge hinzu, dass diese zwölf Tugenden auf den großen Eingeweihten Mani zurückgehen. In jüngerer Vergangenheit verfasste Herbert Witzenmann ein kurzes Werk über Die Tugenden auf der Grundlage der Hinweise sowohl von Blavatsky als auch von Steiner. Neuerdings bemühte sich der Astrologe Paul Platt in seinem Werk Qualities of Time um eine phänomenologische Bestätigung des Verhältnisses der zwölf einzelnen Tugenden zu den zwölf Konstellationen des Tierkreises. Mein Werk erweitert diese Bemühungen, verwendet dabei ausschließlich die Benennung der zwölf Tugenden. Die folgenden Kapitel dieses Buches enthalten keine Wiedergabe dieser vorangegangenen Bemühungen, sondern sind ausschließlich das Ergebnis eigener Forschungsarbeit.
Es geht im Wesentlichen nicht um eine wortwörtliche Verknüpfung der Tugenden mit dem Tierkreis, sondern darum, eine auf die Tugend bezogene kosmologische Imagination zu entwickeln. Eine solche Imagination wird uns dazu verhelfen, uns beim Handeln aus der Tugend heraus in harmonischem Verhältnis zum Kosmos zu empfinden. Eine kosmologische Imagination der Tugend wird ferner diese davor bewahren, zu einem zu befolgenden ethischen Verhaltenskodex oder zu einem moralistischen System zu werden, bei dem es gilt, bestimmte Verhaltensmodi durchzusetzen.
Eine weitere Überlegung, wenn man sich über ein Urbild des Tierkreises auf die Tugenden einlässt, betrifft die Beweglichkeit eines solchen Urbilds. Der Jahreslauf ist ein Archetyp des Werdens; wir bewegen uns vom einen zum nächsten Monat, von der einen zur nächsten Jahreszeit, dann kehren wir zum Ausgangspunkt zurück. So sind die Tugenden also keine festgesetzten Verhaltensweisen, sondern ein Pfad der inneren Entwicklung, den wir immer und immer wieder durchlaufen, wobei wir im Lauf des Lebens die eigene Erfahrung dieser Seelenattribute vertiefen und erweitern. Der Tierkreis ist für uns eine Imagination, innerhalb welcher wir diese Arbeit des Vertiefens und Erweiterns ergreifen können; er ist kein System, das irgendwie vorhersagen würde, dass etwa jemand, der unter einem bestimmten Sternbild geboren wurde, von der Vorherrschaft einer bestimmten Tugend gekennzeichnet wäre. Ebensowenig soll diese Imagination einem neuen System astrologischer Deutung dienen.
Wir können uns die Tugenden als zwölf Etappen der Entwicklung denken, nur dass sich diese zwölf Etappen wiederholen, da wir es nicht mit dem Erlernen von irgendetwas Konzeptuellem zu tun haben; wäre das der Fall, so besäßen wir auch schon Klarheit, wenn wir uns einmal den Begriff angeeignet hätten. Durch Tugend werden Emotionen und Gefühle veredelt; das verlangt nicht nur Übung, sondern auch Wiederholung.
Unseren Emotionen ist ein Aspekt eigen, der sehr der Traumsphäre ähnelt. Es kann vorkommen, dass man einen höchst lebhaften und bewegenden Traum hat, den man aber innerhalb von wenigen Stunden vergisst. Das Emotionsleben machen wir in ähnlicher Weise durch. Während wir uns inmitten einer bestimmten Emotion befinden, wird unser Bewusstsein von dieser vollkommen in Beschlag genommen. Nachdem die Emotion aber verklungen ist, fällt es uns in der Regel schwer, genau zu beschreiben, was wir soeben erlebt haben. So entwickelt sich das Emotionsleben also nicht in der Weise, wie etwa das Leben des Intellektes sich entwickelt. Die Tugenden sind keine intellektuellen Begriffe, sondern das Läutern der Emotionen. Daher ist es nicht der Theologe oder der Ethiker, sondern eine Tiefenpsychologie spiritueller Ausrichtung, die spirituelle Psychologie also, an die wir uns wegen Hilfe und Rat hinsichtlich der Ausübung von Tugend zu wenden haben.
Die Entsprechung der Sternbilder des Tierkreises zu den hier zu betrachtenden Tugenden sind die folgenden:
Helena Petrovna Blavatsky spricht in ihrer Geheimlehre eine solche Beziehung an. Rudolf Steiner bejahte die an ihn gerichtete Frage, ob er dieser von Blavatsky vorgeschlagenen Liste von zwölf Tugenden zustimme und füge hinzu, dass diese zwölf Tugenden auf den großen Eingeweihten Mani zurückgehen. In jüngerer Vergangenheit verfasste Herbert Witzenmann ein kurzes Werk über Die Tugenden auf der Grundlage der Hinweise sowohl von Blavatsky als auch von Steiner. Neuerdings bemühte sich der Astrologe Paul Platt in seinem Werk Qualities of Time um eine phänomenologische Bestätigung des Verhältnisses der zwölf einzelnen Tugenden zu den zwölf Konstellationen des Tierkreises. Mein Werk erweitert diese Bemühungen, verwendet dabei ausschließlich die Benennung der zwölf Tugenden. Die folgenden Kapitel dieses Buches enthalten keine Wiedergabe dieser vorangegangenen Bemühungen, sondern sind ausschließlich das Ergebnis eigener Forschungsarbeit.
Es geht im Wesentlichen nicht um eine wortwörtliche Verknüpfung der Tugenden mit dem Tierkreis, sondern darum, eine auf die Tugend bezogene kosmologische Imagination zu entwickeln. Eine solche Imagination wird uns dazu verhelfen, uns beim Handeln aus der Tugend heraus in harmonischem Verhältnis zum Kosmos zu empfinden. Eine kosmologische Imagination der Tugend wird ferner diese davor bewahren, zu einem zu befolgenden ethischen Verhaltenskodex oder zu einem moralistischen System zu werden, bei dem es gilt, bestimmte Verhaltensmodi durchzusetzen.
Eine weitere Überlegung, wenn man sich über ein Urbild des Tierkreises auf die Tugenden einlässt, betrifft die Beweglichkeit eines solchen Urbilds. Der Jahreslauf ist ein Archetyp des Werdens; wir bewegen uns vom einen zum nächsten Monat, von der einen zur nächsten Jahreszeit, dann kehren wir zum Ausgangspunkt zurück. So sind die Tugenden also keine festgesetzten Verhaltensweisen, sondern ein Pfad der inneren Entwicklung, den wir immer und immer wieder durchlaufen, wobei wir im Lauf des Lebens die eigene Erfahrung dieser Seelenattribute vertiefen und erweitern. Der Tierkreis ist für uns eine Imagination, innerhalb welcher wir diese Arbeit des Vertiefens und Erweiterns ergreifen können; er ist kein System, das irgendwie vorhersagen würde, dass etwa jemand, der unter einem bestimmten Sternbild geboren wurde, von der Vorherrschaft einer bestimmten Tugend gekennzeichnet wäre. Ebensowenig soll diese Imagination einem neuen System astrologischer Deutung dienen.
Wir können uns die Tugenden als zwölf Etappen der Entwicklung denken, nur dass sich diese zwölf Etappen wiederholen, da wir es nicht mit dem Erlernen von irgendetwas Konzeptuellem zu tun haben; wäre das der Fall, so besäßen wir auch schon Klarheit, wenn wir uns einmal den Begriff angeeignet hätten. Durch Tugend werden Emotionen und Gefühle veredelt; das verlangt nicht nur Übung, sondern auch Wiederholung.
Unseren Emotionen ist ein Aspekt eigen, der sehr der Traumsphäre ähnelt. Es kann vorkommen, dass man einen höchst lebhaften und bewegenden Traum hat, den man aber innerhalb von wenigen Stunden vergisst. Das Emotionsleben machen wir in ähnlicher Weise durch. Während wir uns inmitten einer bestimmten Emotion befinden, wird unser Bewusstsein von dieser vollkommen in Beschlag genommen. Nachdem die Emotion aber verklungen ist, fällt es uns in der Regel schwer, genau zu beschreiben, was wir soeben erlebt haben. So entwickelt sich das Emotionsleben also nicht in der Weise, wie etwa das Leben des Intellektes sich entwickelt. Die Tugenden sind keine intellektuellen Begriffe, sondern das Läutern der Emotionen. Daher ist es nicht der Theologe oder der Ethiker, sondern eine Tiefenpsychologie spiritueller Ausrichtung, die spirituelle Psychologie also, an die wir uns wegen Hilfe und Rat hinsichtlich der Ausübung von Tugend zu wenden haben.
Die Entsprechung der Sternbilder des Tierkreises zu den hier zu betrachtenden Tugenden sind die folgenden:
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Zeit
21. März – 21. April 21. April – 21. Mai 21. Mai – 21. Juni 21. Juni – 21. Juli 21. Juli – 21. August 21. August – 21. September 21. September – 21. Oktober 21. Oktober – 21. November 21. November – 21. Dezember 21. Dezember – 21. Januar 21. Januar – 21. Februar 21. Februar – 21. März |
Meine Bezeichnungen dieser zwölf Tugenden unterscheiden sich in vier Fällen
von den durch die oben erwähnten Persönlichkeiten vorgenommenen Bezeichnungen.
Anstelle der dem Tierkreisbild des Wassermanns zugeordneten Tugend, die bei
Blavatsky „Verschwiegenheit“ heißt, verwende ich den Ausdruck „Unterscheidungsvermögen“.
Das tue ich deshalb, weil die in meditativer Stille sich abspielende
Haupttätigkeit mir eben Urteils- oder Unterscheidungsvermögen zu sein scheint.
Ferner werden durch Rudolf Steiner die zwei miteinander verknüpft.
Verschwiegenheit ist keine Tugend an sich; das, was sich innerhalb ihrer
abspielt, kann eine Tugend sein.
Außerdem ist Unterscheidungsvermögen eine der Haupteigenschaften des
Sternbildes des Wassermanns, nämlich zwischen verschiedenen spirituellen
Vorgängen zu unterscheiden.
Eine zweite Abweichung meinerseits von meinen Vorgängern ist die, dass ich den Ausdruck „Treue“ statt des ursprünglich angegebenen Ausdrucks „Ausdauer“ verwende. Selbstverständlich sind die zwei miteinander verwandt. Aber „Treue“ spielt auf einen spirituelleren Aspekt an, als „Ausdauer“. Eine dritte von mir vorgenommene Veränderung ist die, dass ich den Ausdruck „Gleichmut“ statt „Zufriedenheit“ verwende. „Zufriedenheit“ vermittelt nicht besonders gut die Eigenschaft des Tätigseins.
Eine zweite Abweichung meinerseits von meinen Vorgängern ist die, dass ich den Ausdruck „Treue“ statt des ursprünglich angegebenen Ausdrucks „Ausdauer“ verwende. Selbstverständlich sind die zwei miteinander verwandt. Aber „Treue“ spielt auf einen spirituelleren Aspekt an, als „Ausdauer“. Eine dritte von mir vorgenommene Veränderung ist die, dass ich den Ausdruck „Gleichmut“ statt „Zufriedenheit“ verwende. „Zufriedenheit“ vermittelt nicht besonders gut die Eigenschaft des Tätigseins.
Die vierte Veränderung ist die, dass ich den Ausdruck „Wahrheit“ statt „Kontrolle des Sprechens“* verwende.
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*Anmerkung des Übersetzers: Bei Steiner steht an dieser Stelle „Verschwiegenheit“.
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Letzterer Ausdruck ist sperrig und gibt den Eindruck, als wollte er die Art vermitteln, wie man die Wahrheit zum Ausdruck bringen soll. Ferner wird „Wahrheit“ auch von Astrologen dem Tierkreisbild des Schützen zugeordnet.
Betonen möchte ich, dass alle vorhergehenden Schriften, die von den Tugenden handeln, auf einen Bericht zurückgehen, wonach Rudolf Steiner eine Liste gegeben worden sei, die angeblich dem Werk der H. P. Blavatsky entstamme. Der Mensch, durch der Steiner diese Liste gegeben worden sei, habe ihn gefragt, ob sie auch stimme. Steiner soll diese Frage bejaht und dabei gesagt haben, dass das Praktizieren der Tugenden zu bedeutenden Veränderungen im Seelenleben führen würde. Da also Steiner meines Wissens nie Vorträge über die Tugenden gehalten und sich auch nie schriftlich über sie geäußert hat, besteht reichlich Freiraum für die Art, wie sie dargestellt werden. Es geht bei dieser Darstellung um fortdauerndes Forschen. Bei meinen eigenen Bezeichnungen stütze ich mich auch auf die ausführliche Lektüre astrologischer Texte und auf die Eigenschaften und Attribute eines jeden der Tierkreiszeichen.
Es muss noch eine weitere Bemerkung gemacht werden mit Bezug auf das, was Steiner zu den zwölf Tugenden geäußert hat. Er sagte, das Üben der Tugenden führe zu sehr spezifischen Veränderungen im Seelenleben, und er nannte die mit jeder Tugend verbundene Veränderung:
- Ehrfurcht wird zu Opferkraft
- Inneres Gleichgewicht wird zu Fortschritt
- Ausdauer wird zu Treue
- Selbstlosigkeit wird zu Katharsis
- Mitleid wird zu Freiheit
- Höflichkeit wird zu Herzenstakt
- Zufriedenheit wird zu Gelassenheit
- Geduld wird zu Einsicht
- Gedankenkontrolle wird zu Wahrheitsempfinden
- Mut wird zu Erlöserkraft
- Verschwiegenheit wird zu Meditationskraft
- Großmut wird zu Liebe
Wohin aber das Praktizieren der Tugenden in der Seele führt, das hängt von klarem Verständnis sowie von einem Gespür für die Tugenden selbst ab. Es gilt, die Bemühung auf solches Verständnis und solches Gespür auszurichten und nicht darauf, was für spirituelle Fortschritte sich ergeben könnten. Ich kenne eine Reihe von Anthroposophen, Anhänger von Rudolf Steiner, die ein Kärtchen bei sich führen, auf dem alle Tugenden und deren Verwandlung in neue Eigenschaften stehen. Ich bat einst einen Arzt, der anthroposophische Medizin praktizierte und ein solches Kärtchen herausgezogen hatte, um es mir zu zeigen, mir eine einzige der Tugenden zu beschreiben; er vermochte dies nicht. Verständlicherweise habe ich mich nicht getraut, ihn zu fragen, was mit der Seelenentwicklung gemeint ist, die sich aus den Tugenden ergibt. Wir brauchen eine sorgfältige Phänomenologie dieser neuen Tugenden zusammen mit Anregungen dazu, wie man mit ihnen arbeiten kann und wie sie den Eingang in unsere alltäglichen Handlungen finden können.
Das Verfahren dieses Buches besteht darin, einleitend eine kurze Beschreibung einer jeden der oben angeführten zwölf Tugenden zu geben. Die darauf folgenden zwölf Kapitel führen dann die Phänomenologie jeder einzelnen Tugend aus. Danach werden einige spezifische Ratschläge zu Arbeitsmethoden im Umgang mit den Tugenden gegeben, zusammen mit einer Betrachtung des Wesens der Tugend überhaupt. Die Herausforderung bei diesen Beschreibungen wird darin bestehen, zu einem möglichst adäquaten Ansatz der Sprachfindung zu kommen. So gilt es, eine Sprache zu finden, die eine solche der Seele ist, hat man es doch bei der Tugend mit der Erziehung der Seele zu tun. In diesen zwölf Kapiteln schwankt die Sprache erheblich im Stil, da sie auch darum bemüht ist, je eine Sprache für ein jedes der Tierkreisbilder zu sein. Die Sprache des Wassermanns zum Beispiel ist zwingend eine abstraktere als die des Stiers.
Wenn wir uns den Tierkreis als ganzen Kreis vorstellen und zugleich auch versuchen, eine einzelne Region als für sich bestehend und dennoch als diesem Ganzen zugehörig, so ist es möglich zu fühlen, dass die eine Tugend von den übrigen nicht zu trennen ist. Es entsteht ein weiteres Gefühl: dass nämlich diese Tugenden als Ganzes genommen benennbar sind, genauso wie die Tugenden des Glaubens, der Hoffnung, der Caritas die theologischen Tugenden heißen, da es sich bei ihnen um die Tugenden handelt, die nötig sind, wenn man sich Gott nähern will. In ähnlicher Weise heißen die Tugend der Weisheit, Gerechtigkeit, Mäßigung und des Starkmuts die Kardinaltugenden, weil es sich bei ihnen darum handelt, unsere sittlichen Beziehungen zu anderen Menschen auszubilden.
Die oben angeführten zwölf Tugenden könnte man die spirituellen Tugenden nennen, sofern man sie durch die Imagination des Tierkreises – diese große Umarmung des Kosmos – sieht. Das Hauptanliegen dieser noch zu betrachtenden zwölf Tugenden ist, dass sich der Mensch darin übt, die eigenen fortdauernden Verbindungen zur spirituellen Realität zu finden und sich zugleich in die praktischen Handlungen des Alltags voll einzubinden.
Dieses Üben zielt auf das allmähliche Entstehen einer Gemeinschaft irdischer Wesen und helfender geistiger Wesen. Zwar bringen Versuche, intentionale Gemeinschaften zu bilden oder gezielt als die eine oder die andere Gemeinschaft zu leben, eher wenig. Was ich aber hier nahelegen möchte, ist dies: wenn wir uns aktiv auf die Tugenden einlassen, und zwar auf diejenigen, welche die geistige und die menschliche Welt als Ganzheit zusammenhalten, könnte der Fall eintreten, dass wir uns selbst als eine lebendige Gemeinschaft vorfinden. Indem wir uns also zu einer Beschreibung der zwölf Qualitäten des Ganzen anschicken, tun wir dies mit der Frage im Sinn, was eine gedeihliche Gemeinschaft denn ausmacht.
Ehrfurcht
Indem wir uns in die jeweilige Imagination einer Tugend hineinbegeben, müssen wir uns vor dem Impuls bewahren, die Gefühls-Stimme der Tugend als Erstes zu erkennen, noch bevor wir sie gefühlt haben; sonst wird diese Stimme übertönt. Eine Imagination ist kein statisches Bild, keine abgeschlossene Erkenntnis, sondern die Tätigkeit der Seele beim Erschaffen eines Bildes. Nur weil „die Ehrfurcht“ als statisches Wort dasteht, heißt das nicht zwingend, dass man sie verbildlichen kann. Als Wort lässt sie sich zwar definieren; sie zu verbildlichen geht aber nicht ohne Weiteres.
Als Hilfe zum Bilden einer Imagination beginne man damit, dass man die Position der Ehrfurcht auf dem Tierkreis zwischen Liebe und Gleichgewicht zur Kenntnis nimmt. Liebe geht der Ehrfurcht voraus und aus Ehrfurcht geht Gleichgewicht hervor. Die Ehrfurcht setzt Liebe voraus und nimmt das Gleichgewicht vorweg. Eine Eigenschaft der Tiefendimension der Liebe ist die Beständigkeit, und von dieser Beständigkeit hängt die Ehrfurcht ab: Das Praktizieren der Ehrfurcht hat nämlich mit dem Entwickeln der Fähigkeit zu tun, beständig, fortdauernd, ausgewogen – anstatt in sporadischer Weise – zu lieben. In der Ehrfurcht gehen wir an alles heran, was wir tun, gehen auf jeden Menschen ein, mit dem wir es zu tun haben, als ginge es um etwas Sakrales und Heiliges. Die Praxis dieser Tugend erfordert eine ganz bestimmte Art von Aufmerksamkeit, von Fokus, von Konzentration: die Konzentration der Liebe.
Jede Tugend lässt sich als Ausdruck ihres Exzesses und ihres Mangels betrachten. Diese zwei Eigenschaften sind der Schatten einer jeden Tugend, und es gilt, uns dieser Exzesse und Mängel in uns selbst genau anzusehen (vergleiche Kapitel 14). Solche Eigenschaften lassen sich nicht verleugnen, von ihnen dürfen wir uns nicht abwenden, als gäbe es sie nicht, denn dann fallen sie als Zwanghaftigkeit wieder auf uns zurück. Andererseits müssen wir uns diese nachteiligen Eigenschaften ansehen, ohne uns mit ihnen zu identifizieren. So ist zum Beispiel der Schatten der Ehrfurcht auf der Seite des Exzesses die Boshaftigkeit. Der Schatten dieser Tugend auf der Seite des Mangels ist die Unfähigkeit, die Liebe gebündelt auf ein bestimmtes Ziel gerichtet zu halten. Wenn wir die eigene Boshaftigkeit nicht durchschauen, kann die Ehrfurcht keine reelle, verkörperte Kraft besitzen. Durchschauen wir nicht die eigene Oberflächlichkeit, so wird unsere Ehrfurcht keine Breite besitzen.
Gleichgewicht
Um die Tugend des Gleichgewichtes erleben zu können, müssen wir im Begriff sein, uns in die Zukunft hineinzubewegen, und zwar seelisch wie auch geistig. Auch im Bereich des physischen Lebens kommt das Gleichgewicht ins Spiel, nämlich dann, wenn wir beim Gehen/Laufen zum „nächsten Schritt“ ausholen. Im Bereich des Geistigen ist ein geeignetes Bild für den Augenblick des Gleichgewichts der Kreuzungspunkt einer Lemniskate. Diese Imagination verbildlicht den Punkt, an dem sich zwei geistige Faktoren konzentrieren: zum einen die Anstrengung unsererseits um geistige Entwicklung, zum anderen die Anwesenheit einer spirituellen Realität. Letztere erschließt sich uns nach ihrer eigenen Gesetzmäßigkeit und nicht danach, wie hart wir an uns arbeiten, um es zu einer authentischen spirituellen Erfahrung zu bringen. Die Tugend des Gleichgewichts betrifft die Fähigkeit, sich ohne Mühe an diesem Kreuzungspunkt zu konzentrieren. Die eigenen persönlichen Bemühungen in Richtung spiritueller Entwicklung müssen mit der Gnade vollkommen im Gleichgewicht sein, die aus der geistigen Welt uns zuteil – oder eben nicht zuteil – wird.
Die Tugend des Gleichgewichts spiegelt sich auch im alltäglichen praktischen Leben. Einerseits bringen wir einer Situation unsere Bemühungen entgegen, um diese Situation zu beeinflussen; andererseits verlangt diese Situation das, was ihrer eigenen inneren und oft geheimnisvollen Ordnung entspricht. Mit der Beziehung zwischen unseren eigenen Bemühungen und dem, was die Sache selbst erfordert, hat die Tugend des Gleichgewichts zu tun. Funktionsstörungen des Gleichgewichts zeigen sich häufig entweder als Versuche, einer Situation die eigenen Ansprüche aufzudrängen oder aber als die Unfähigkeit, überhaupt handeln zu können, also als eine Art Apathie oder Schwerfälligkeit.
Das Ausbilden der Tugend des Gleichgewichts geht so vor sich, dass man sich aus den ständigen Schwingungen des mentalen Lebens hinaus- und in die rhythmische Bewegung des Herz-zentrierten Gefühlslebens hineinbegibt. Man findet dabei auch das genaue Verhältnis zwischen Angelegenheiten des Verstandes und denen des Herzens. Zwar ist das Gleichgewicht als Tugend nur im Rhythmus des Herzens zu finden; das bedeutet aber nicht, dass man das Denken dann aufgibt, wenn man in diese rhythmische Region hineintritt. Die Priorität setzt man allerdings neu. Mit was für einer Arbeit man es hier zu tun bekommt, davon vermittelt der Standort des Gleichgewichts im Tierkreis zwischen Ehrfurcht und Treue ein Bild. Gleichgewicht verlässt sich auf die Ehrfurcht des Herzens und zieht die Ausbildung der Treue – beziehungsweise die Verpflichtung gegenüber dem Weg des Herzens – nach sich.
Treue
Bei der Treue als Tugend geht es zuallererst um Treue gegenüber dem eigenen Seelen- und Geistesleben. Ziemlich häufig verlieren wir die konkrete Erleben von Seele und Geist. Treue besteht nur dann wahrhaftig, wenn sie der Abwesenheit abgetrotzt wird. Wenn ich etwa von jemandem als von einem treuen Freund rede, so meine ich, dass dieser Mensch jemand ist, der mich nicht im Stich lässt; jemand, der sich allem stellt, was die Umstände auch herbeiführen mögen; jemand, den ich auch dann bei mir finde, wenn ich mit Schwierigkeiten konfrontiert werde. Ein solcher Freund ist aber wahrhaft treu, wenn seine Anwesenheit nicht erzwungen und keine Sache der Pflicht oder der Verbindlichkeit ist.
Der Belang der Tugend der Treue für unsere Seele und unseren Geist ist der, dass wir immer in ihnen und für sie stehen, egal ob wir sie gerade konkret erleben oder nicht. Treu sein heißt ferner, dass wir für diese Reiche der Seele und des Geistes anwesend und für sie da sind; Treue ist etwas, was wir für diese tun, und nicht für uns selbst. Es mag die Behauptung vielleicht befremdlich klingen, dass die Welten der Seele und des Geistes von unserer aktiven Aufmerksamkeit abhängig sind; genießen sie doch in der Tat ein unabhängiges, autonomes Dasein. Und doch ist jeder individuelle Mensch ein Teil dieses Daseins. Unsere Einzelseele ist ein Tropfen in der Seele der anima mundi und unser Geist ein Tropfen im Geist des spiritus mundi. So ist die Aufmerksamkeit,S die wir auf unsere Seele und unseren Geist richten, eigentlich etwas, was auf diese größeren Reiche gerichtet ist; wir haben teil an ihnen und unterhalten sie mit. Was ich hier behaupten will, das ist, dass es nicht eigentlich möglich ist, im eigenen Leben die Tugend der Treue – einem anderen Menschen, einer Organisation, einer Arbeit gegenüber – zu praktizieren, es sei denn, wir sind zuallererst im Reich der Seele und des Geistes treu. Möglich ist es allerdings, beständig zu sein, sich selbst aus Pflicht dazu zu zwingen, konsequent und gewissenhaft anwesend zu sein. Die Treue geht aber über die Beständigkeit hinaus, da sie ein wesentliches Element der Spontaneität enthält. Nicht aus Verpflichtung bin ich treu; so muss also Treue etwas wesensgemäß Kreatives und in Freiheit Gegründetes sein.
Angenommen ich gehe eine Beziehung ein; sie mag persönlicher und intimer Art sein, oder auch von der Art, wie sich Beziehungen mit der alltäglichen Arbeit gestalten. Wie würde ich in dieser konkreten Beziehung die Tugend der Treue praktizieren? Es kann nicht bloß um eine Verpflichtung gehen, darum, dass ich mir vornehme, in der eigenen Verpflichtung niemals zu schwanken, komme was wolle. So kann keine Beziehung gedeihen. Treue entsteht im Handeln selbst. Treue muss also jeden Augenblick geschaffen werden, um überhaupt existieren zu können. Wir müssen uns nicht jeden Augenblick dieses Schaffens bewusst sein; aber schon ein wenig Achtsamkeit auf diese Kreativität, welche der Philosoph Gabriel Marcel „kreative Treue“ genannt hat, verwandelt die Last der Verpflichtung in die Freude der Treue.
Selbstlosigkeit
Die Tugend der Selbstlosigkeit liegt zwischen dem Exzess der Selbstaufgabe und dem Mangel am Zentriertsein im Selbst. Bei der Selbstaufgabe erleidet man einen Totalverlust der eigenen Grenzen, was die Möglichkeit eröffnet, dass man von den Bedürfnissen und Wünschen anderer in Beschlag genommen wird, während der in Beschlag Genommene sich einbildet, er würde tatsächlich dienen. Nach einer Weile wird derjenige, der in dieser Weise anderen gedient hat, komplett verwirrt und empfindet eine innere Leere. Wenn man andererseits bei allem, was man tut, stets sich selbst in den Mittelpunkt stellt, indem man absichert, dass für einen selbst ein Vorteil dabei herausspringt, geht der Mensch beziehungsweise die Institution, der in dieser Weise „gedient“ wird, leer aus.
Die Tugend der Selbstlosigkeit zu erreichen ist nicht leicht. Vieles von dem, was wir für andere tun, pflegt entweder eigenen Zwecken zu dienen oder von dem genauso egoistischen Bedürfnis nach Anerkennung durch andere Menschen motiviert zu sein. Der Weg an diesen zwei Gefahren vorbei verlangt nicht von uns, dass wir nach Egolosigkeit streben. Stattdessen muss dem Ego eine sakrale Aufgabe erteilt werden. Unser Ego rafft deshalb so gierig alles auf, was es für sich bekommen kann, weil es für gewöhnlich das nicht hat, was es braucht, nämlich eine Anbindung an etwas Heiliges. In Abwesenheit dieser Verknüpfung versucht unser Ego, alles in die Hände zu bekommen – Macht, Stellung, Status, materielle Gegenstände –, und da nichts von alledem befriedigend ist, verstrickt sich unser Ego darin, immer und immer wieder dasselbe auszuprobieren.
Die Entwicklung der Tugend der Selbstlosigkeit beginnt damit, unser Ego auf unser Selbst hin zu orientieren, und zwar auf uns selbst in unserer Eigenschaft als Geist. Wenn zum Beispiel jemand mit dem meditativen Üben beginnt, ist dies ein Sichorientieren des Egos zum Selbst hin. Hat er einmal diese Aufgabe aufgegriffen – und das erfordert Wiederholung und Disziplin –, so vermag das Selbst seine Arbeit in der Welt zu verrichten, sein Verlangen zu erfüllen, nämlich zu dienen.
Der Standort der Selbstlosigkeit im Tierkreis nach der Treue und vor dem Mitleid zeigt uns mehr bezüglich dieser Tugenden: Die Grundlage der Selbstlosigkeit muss die Fähigkeit sein, sich in schöpferischer Weise an anderen Menschen zu orientieren und muss sich auch auf die Erfahrungen anderer Menschen so einlassen können, wie wenn diese Erfahrungen die eigenen wären.
Mitleid
Mitleid hat als Tugend einen eingeschränkteren Sinngehalt als es der Zentralaspekt im Buddhismus besitzt. Auf diese eingeschränktere Bedeutung habe ich schon angespielt, indem ich dem Ego einen wichtigen Stellenwert in der Ausbildung der Tugend eingeräumt habe. Daher verlässt sich Mitleid hier nicht darauf, das Ego für Illusion zu halten, wie es in der großen Tradition des Buddhismus geschieht. Wohl verlangt Mitleid aber, dass das Leben und Wirken zusammen mit anderen Menschen und mit der Welt nicht so sehr aus dem Verstand heraus als aus dem Zentrum des Herzens geschieht. Dabei wird der Verstand beziehungsweise das Denken allerdings nicht ausgeschaltet, sondern wird vielmehr zu einem Fühlen-Denken. So kann man sehen, dass die Tugend der Selbstlosigkeit eine Art Vorbedingung des Mitleids ist; das Ego ist mit der sakralen Aufgabe beschäftigt, die Verbindung zu unserem Geist aufrechtzuerhalten und lässt so das Denken frei, damit dieses eine intime Beziehung zum Herzen eingehen kann.
Mitleid hat mit dem Fühlen der Gedanken, Gefühle, Freuden und Leiden anderer Menschen sowie mit denen der Dinge der Welt zu tun, als ginge es um die eigenen. Ich will Mitleid über ein Verhältnis mit anderen Menschen hinaus auch auf die Tier-, die Pflanzen- und sogar die mineralische Welt erweitern; indem ich das tue, stelle ich mich in die Tradition des anima mundi, einer Tradition, die bis Plato und gewiss noch weiter zurückreicht und die alles in der Welt als beseelt ansieht. Ferner werde ich bei eingehender Betrachtung dieser Tugend zeigen, dass es ohne einen solchen größeren, inklusiveren Sinn des Mitleids nicht möglich ist, für einen anderen Menschen – im engeren Sinn also – Mitleid zu fühlen.
Ein weiterer Aspekt des Mitleids betrifft die Weise, wie diese Tugend agiert. Sie ist nämlich nicht nur ein Gefühl, das man für andere hat; sie ist vielmehr etwas, was man für andere tut: eine Tätigkeit radikaler Empfänglichkeit mit reeller Auswirkung in der Welt. Und während es ohne Weiteres nachzuvollziehen ist, inwiefern das Fühlen des Leides anderer Menschen tatsächlich eine tugendhafte Handlung sein kann, obliegt es uns außerdem zu zeigen, wie diese Handlung ausgedehnt werden muss auf Menschen, die gar nicht zu leiden scheinen. Können wir für den Tyrannen Mitleid empfinden, oder für den Arbeitskollegen, der sich ausschließlich mit dem eigenen Vorankommen zu beschäftigen scheint, oder für die Menschen um uns herum, die für uns gar keine oder gar feindselige Gefühle zu zeigen scheinen?
Höflichkeit
Bei der Tugend der Höflichkeit geht es darum, die eigenen Emotionen zurückzuhalten; nicht sie zu unterdrücken oder zu leugnen, sondern Raum zu lassen, damit das Seelenleben des anderen Menschen zum Ausdruck kommen kann.
Betonen möchte ich, dass alle vorhergehenden Schriften, die von den Tugenden handeln, auf einen Bericht zurückgehen, wonach Rudolf Steiner eine Liste gegeben worden sei, die angeblich dem Werk der H. P. Blavatsky entstamme. Der Mensch, durch der Steiner diese Liste gegeben worden sei, habe ihn gefragt, ob sie auch stimme. Steiner soll diese Frage bejaht und dabei gesagt haben, dass das Praktizieren der Tugenden zu bedeutenden Veränderungen im Seelenleben führen würde. Da also Steiner meines Wissens nie Vorträge über die Tugenden gehalten und sich auch nie schriftlich über sie geäußert hat, besteht reichlich Freiraum für die Art, wie sie dargestellt werden. Es geht bei dieser Darstellung um fortdauerndes Forschen. Bei meinen eigenen Bezeichnungen stütze ich mich auch auf die ausführliche Lektüre astrologischer Texte und auf die Eigenschaften und Attribute eines jeden der Tierkreiszeichen.
Es muss noch eine weitere Bemerkung gemacht werden mit Bezug auf das, was Steiner zu den zwölf Tugenden geäußert hat. Er sagte, das Üben der Tugenden führe zu sehr spezifischen Veränderungen im Seelenleben, und er nannte die mit jeder Tugend verbundene Veränderung:
- Ehrfurcht wird zu Opferkraft
- Inneres Gleichgewicht wird zu Fortschritt
- Ausdauer wird zu Treue
- Selbstlosigkeit wird zu Katharsis
- Mitleid wird zu Freiheit
- Höflichkeit wird zu Herzenstakt
- Zufriedenheit wird zu Gelassenheit
- Geduld wird zu Einsicht
- Gedankenkontrolle wird zu Wahrheitsempfinden
- Mut wird zu Erlöserkraft
- Verschwiegenheit wird zu Meditationskraft
- Großmut wird zu Liebe
Wohin aber das Praktizieren der Tugenden in der Seele führt, das hängt von klarem Verständnis sowie von einem Gespür für die Tugenden selbst ab. Es gilt, die Bemühung auf solches Verständnis und solches Gespür auszurichten und nicht darauf, was für spirituelle Fortschritte sich ergeben könnten. Ich kenne eine Reihe von Anthroposophen, Anhänger von Rudolf Steiner, die ein Kärtchen bei sich führen, auf dem alle Tugenden und deren Verwandlung in neue Eigenschaften stehen. Ich bat einst einen Arzt, der anthroposophische Medizin praktizierte und ein solches Kärtchen herausgezogen hatte, um es mir zu zeigen, mir eine einzige der Tugenden zu beschreiben; er vermochte dies nicht. Verständlicherweise habe ich mich nicht getraut, ihn zu fragen, was mit der Seelenentwicklung gemeint ist, die sich aus den Tugenden ergibt. Wir brauchen eine sorgfältige Phänomenologie dieser neuen Tugenden zusammen mit Anregungen dazu, wie man mit ihnen arbeiten kann und wie sie den Eingang in unsere alltäglichen Handlungen finden können.
Das Verfahren dieses Buches besteht darin, einleitend eine kurze Beschreibung einer jeden der oben angeführten zwölf Tugenden zu geben. Die darauf folgenden zwölf Kapitel führen dann die Phänomenologie jeder einzelnen Tugend aus. Danach werden einige spezifische Ratschläge zu Arbeitsmethoden im Umgang mit den Tugenden gegeben, zusammen mit einer Betrachtung des Wesens der Tugend überhaupt. Die Herausforderung bei diesen Beschreibungen wird darin bestehen, zu einem möglichst adäquaten Ansatz der Sprachfindung zu kommen. So gilt es, eine Sprache zu finden, die eine solche der Seele ist, hat man es doch bei der Tugend mit der Erziehung der Seele zu tun. In diesen zwölf Kapiteln schwankt die Sprache erheblich im Stil, da sie auch darum bemüht ist, je eine Sprache für ein jedes der Tierkreisbilder zu sein. Die Sprache des Wassermanns zum Beispiel ist zwingend eine abstraktere als die des Stiers.
Wenn wir uns den Tierkreis als ganzen Kreis vorstellen und zugleich auch versuchen, eine einzelne Region als für sich bestehend und dennoch als diesem Ganzen zugehörig, so ist es möglich zu fühlen, dass die eine Tugend von den übrigen nicht zu trennen ist. Es entsteht ein weiteres Gefühl: dass nämlich diese Tugenden als Ganzes genommen benennbar sind, genauso wie die Tugenden des Glaubens, der Hoffnung, der Caritas die theologischen Tugenden heißen, da es sich bei ihnen um die Tugenden handelt, die nötig sind, wenn man sich Gott nähern will. In ähnlicher Weise heißen die Tugend der Weisheit, Gerechtigkeit, Mäßigung und des Starkmuts die Kardinaltugenden, weil es sich bei ihnen darum handelt, unsere sittlichen Beziehungen zu anderen Menschen auszubilden.
Die oben angeführten zwölf Tugenden könnte man die spirituellen Tugenden nennen, sofern man sie durch die Imagination des Tierkreises – diese große Umarmung des Kosmos – sieht. Das Hauptanliegen dieser noch zu betrachtenden zwölf Tugenden ist, dass sich der Mensch darin übt, die eigenen fortdauernden Verbindungen zur spirituellen Realität zu finden und sich zugleich in die praktischen Handlungen des Alltags voll einzubinden.
Dieses Üben zielt auf das allmähliche Entstehen einer Gemeinschaft irdischer Wesen und helfender geistiger Wesen. Zwar bringen Versuche, intentionale Gemeinschaften zu bilden oder gezielt als die eine oder die andere Gemeinschaft zu leben, eher wenig. Was ich aber hier nahelegen möchte, ist dies: wenn wir uns aktiv auf die Tugenden einlassen, und zwar auf diejenigen, welche die geistige und die menschliche Welt als Ganzheit zusammenhalten, könnte der Fall eintreten, dass wir uns selbst als eine lebendige Gemeinschaft vorfinden. Indem wir uns also zu einer Beschreibung der zwölf Qualitäten des Ganzen anschicken, tun wir dies mit der Frage im Sinn, was eine gedeihliche Gemeinschaft denn ausmacht.
Ehrfurcht
Indem wir uns in die jeweilige Imagination einer Tugend hineinbegeben, müssen wir uns vor dem Impuls bewahren, die Gefühls-Stimme der Tugend als Erstes zu erkennen, noch bevor wir sie gefühlt haben; sonst wird diese Stimme übertönt. Eine Imagination ist kein statisches Bild, keine abgeschlossene Erkenntnis, sondern die Tätigkeit der Seele beim Erschaffen eines Bildes. Nur weil „die Ehrfurcht“ als statisches Wort dasteht, heißt das nicht zwingend, dass man sie verbildlichen kann. Als Wort lässt sie sich zwar definieren; sie zu verbildlichen geht aber nicht ohne Weiteres.
Als Hilfe zum Bilden einer Imagination beginne man damit, dass man die Position der Ehrfurcht auf dem Tierkreis zwischen Liebe und Gleichgewicht zur Kenntnis nimmt. Liebe geht der Ehrfurcht voraus und aus Ehrfurcht geht Gleichgewicht hervor. Die Ehrfurcht setzt Liebe voraus und nimmt das Gleichgewicht vorweg. Eine Eigenschaft der Tiefendimension der Liebe ist die Beständigkeit, und von dieser Beständigkeit hängt die Ehrfurcht ab: Das Praktizieren der Ehrfurcht hat nämlich mit dem Entwickeln der Fähigkeit zu tun, beständig, fortdauernd, ausgewogen – anstatt in sporadischer Weise – zu lieben. In der Ehrfurcht gehen wir an alles heran, was wir tun, gehen auf jeden Menschen ein, mit dem wir es zu tun haben, als ginge es um etwas Sakrales und Heiliges. Die Praxis dieser Tugend erfordert eine ganz bestimmte Art von Aufmerksamkeit, von Fokus, von Konzentration: die Konzentration der Liebe.
Jede Tugend lässt sich als Ausdruck ihres Exzesses und ihres Mangels betrachten. Diese zwei Eigenschaften sind der Schatten einer jeden Tugend, und es gilt, uns dieser Exzesse und Mängel in uns selbst genau anzusehen (vergleiche Kapitel 14). Solche Eigenschaften lassen sich nicht verleugnen, von ihnen dürfen wir uns nicht abwenden, als gäbe es sie nicht, denn dann fallen sie als Zwanghaftigkeit wieder auf uns zurück. Andererseits müssen wir uns diese nachteiligen Eigenschaften ansehen, ohne uns mit ihnen zu identifizieren. So ist zum Beispiel der Schatten der Ehrfurcht auf der Seite des Exzesses die Boshaftigkeit. Der Schatten dieser Tugend auf der Seite des Mangels ist die Unfähigkeit, die Liebe gebündelt auf ein bestimmtes Ziel gerichtet zu halten. Wenn wir die eigene Boshaftigkeit nicht durchschauen, kann die Ehrfurcht keine reelle, verkörperte Kraft besitzen. Durchschauen wir nicht die eigene Oberflächlichkeit, so wird unsere Ehrfurcht keine Breite besitzen.
Gleichgewicht
Um die Tugend des Gleichgewichtes erleben zu können, müssen wir im Begriff sein, uns in die Zukunft hineinzubewegen, und zwar seelisch wie auch geistig. Auch im Bereich des physischen Lebens kommt das Gleichgewicht ins Spiel, nämlich dann, wenn wir beim Gehen/Laufen zum „nächsten Schritt“ ausholen. Im Bereich des Geistigen ist ein geeignetes Bild für den Augenblick des Gleichgewichts der Kreuzungspunkt einer Lemniskate. Diese Imagination verbildlicht den Punkt, an dem sich zwei geistige Faktoren konzentrieren: zum einen die Anstrengung unsererseits um geistige Entwicklung, zum anderen die Anwesenheit einer spirituellen Realität. Letztere erschließt sich uns nach ihrer eigenen Gesetzmäßigkeit und nicht danach, wie hart wir an uns arbeiten, um es zu einer authentischen spirituellen Erfahrung zu bringen. Die Tugend des Gleichgewichts betrifft die Fähigkeit, sich ohne Mühe an diesem Kreuzungspunkt zu konzentrieren. Die eigenen persönlichen Bemühungen in Richtung spiritueller Entwicklung müssen mit der Gnade vollkommen im Gleichgewicht sein, die aus der geistigen Welt uns zuteil – oder eben nicht zuteil – wird.
Die Tugend des Gleichgewichts spiegelt sich auch im alltäglichen praktischen Leben. Einerseits bringen wir einer Situation unsere Bemühungen entgegen, um diese Situation zu beeinflussen; andererseits verlangt diese Situation das, was ihrer eigenen inneren und oft geheimnisvollen Ordnung entspricht. Mit der Beziehung zwischen unseren eigenen Bemühungen und dem, was die Sache selbst erfordert, hat die Tugend des Gleichgewichts zu tun. Funktionsstörungen des Gleichgewichts zeigen sich häufig entweder als Versuche, einer Situation die eigenen Ansprüche aufzudrängen oder aber als die Unfähigkeit, überhaupt handeln zu können, also als eine Art Apathie oder Schwerfälligkeit.
Das Ausbilden der Tugend des Gleichgewichts geht so vor sich, dass man sich aus den ständigen Schwingungen des mentalen Lebens hinaus- und in die rhythmische Bewegung des Herz-zentrierten Gefühlslebens hineinbegibt. Man findet dabei auch das genaue Verhältnis zwischen Angelegenheiten des Verstandes und denen des Herzens. Zwar ist das Gleichgewicht als Tugend nur im Rhythmus des Herzens zu finden; das bedeutet aber nicht, dass man das Denken dann aufgibt, wenn man in diese rhythmische Region hineintritt. Die Priorität setzt man allerdings neu. Mit was für einer Arbeit man es hier zu tun bekommt, davon vermittelt der Standort des Gleichgewichts im Tierkreis zwischen Ehrfurcht und Treue ein Bild. Gleichgewicht verlässt sich auf die Ehrfurcht des Herzens und zieht die Ausbildung der Treue – beziehungsweise die Verpflichtung gegenüber dem Weg des Herzens – nach sich.
Treue
Bei der Treue als Tugend geht es zuallererst um Treue gegenüber dem eigenen Seelen- und Geistesleben. Ziemlich häufig verlieren wir die konkrete Erleben von Seele und Geist. Treue besteht nur dann wahrhaftig, wenn sie der Abwesenheit abgetrotzt wird. Wenn ich etwa von jemandem als von einem treuen Freund rede, so meine ich, dass dieser Mensch jemand ist, der mich nicht im Stich lässt; jemand, der sich allem stellt, was die Umstände auch herbeiführen mögen; jemand, den ich auch dann bei mir finde, wenn ich mit Schwierigkeiten konfrontiert werde. Ein solcher Freund ist aber wahrhaft treu, wenn seine Anwesenheit nicht erzwungen und keine Sache der Pflicht oder der Verbindlichkeit ist.
Der Belang der Tugend der Treue für unsere Seele und unseren Geist ist der, dass wir immer in ihnen und für sie stehen, egal ob wir sie gerade konkret erleben oder nicht. Treu sein heißt ferner, dass wir für diese Reiche der Seele und des Geistes anwesend und für sie da sind; Treue ist etwas, was wir für diese tun, und nicht für uns selbst. Es mag die Behauptung vielleicht befremdlich klingen, dass die Welten der Seele und des Geistes von unserer aktiven Aufmerksamkeit abhängig sind; genießen sie doch in der Tat ein unabhängiges, autonomes Dasein. Und doch ist jeder individuelle Mensch ein Teil dieses Daseins. Unsere Einzelseele ist ein Tropfen in der Seele der anima mundi und unser Geist ein Tropfen im Geist des spiritus mundi. So ist die Aufmerksamkeit,S die wir auf unsere Seele und unseren Geist richten, eigentlich etwas, was auf diese größeren Reiche gerichtet ist; wir haben teil an ihnen und unterhalten sie mit. Was ich hier behaupten will, das ist, dass es nicht eigentlich möglich ist, im eigenen Leben die Tugend der Treue – einem anderen Menschen, einer Organisation, einer Arbeit gegenüber – zu praktizieren, es sei denn, wir sind zuallererst im Reich der Seele und des Geistes treu. Möglich ist es allerdings, beständig zu sein, sich selbst aus Pflicht dazu zu zwingen, konsequent und gewissenhaft anwesend zu sein. Die Treue geht aber über die Beständigkeit hinaus, da sie ein wesentliches Element der Spontaneität enthält. Nicht aus Verpflichtung bin ich treu; so muss also Treue etwas wesensgemäß Kreatives und in Freiheit Gegründetes sein.
Angenommen ich gehe eine Beziehung ein; sie mag persönlicher und intimer Art sein, oder auch von der Art, wie sich Beziehungen mit der alltäglichen Arbeit gestalten. Wie würde ich in dieser konkreten Beziehung die Tugend der Treue praktizieren? Es kann nicht bloß um eine Verpflichtung gehen, darum, dass ich mir vornehme, in der eigenen Verpflichtung niemals zu schwanken, komme was wolle. So kann keine Beziehung gedeihen. Treue entsteht im Handeln selbst. Treue muss also jeden Augenblick geschaffen werden, um überhaupt existieren zu können. Wir müssen uns nicht jeden Augenblick dieses Schaffens bewusst sein; aber schon ein wenig Achtsamkeit auf diese Kreativität, welche der Philosoph Gabriel Marcel „kreative Treue“ genannt hat, verwandelt die Last der Verpflichtung in die Freude der Treue.
Selbstlosigkeit
Die Tugend der Selbstlosigkeit liegt zwischen dem Exzess der Selbstaufgabe und dem Mangel am Zentriertsein im Selbst. Bei der Selbstaufgabe erleidet man einen Totalverlust der eigenen Grenzen, was die Möglichkeit eröffnet, dass man von den Bedürfnissen und Wünschen anderer in Beschlag genommen wird, während der in Beschlag Genommene sich einbildet, er würde tatsächlich dienen. Nach einer Weile wird derjenige, der in dieser Weise anderen gedient hat, komplett verwirrt und empfindet eine innere Leere. Wenn man andererseits bei allem, was man tut, stets sich selbst in den Mittelpunkt stellt, indem man absichert, dass für einen selbst ein Vorteil dabei herausspringt, geht der Mensch beziehungsweise die Institution, der in dieser Weise „gedient“ wird, leer aus.
Die Tugend der Selbstlosigkeit zu erreichen ist nicht leicht. Vieles von dem, was wir für andere tun, pflegt entweder eigenen Zwecken zu dienen oder von dem genauso egoistischen Bedürfnis nach Anerkennung durch andere Menschen motiviert zu sein. Der Weg an diesen zwei Gefahren vorbei verlangt nicht von uns, dass wir nach Egolosigkeit streben. Stattdessen muss dem Ego eine sakrale Aufgabe erteilt werden. Unser Ego rafft deshalb so gierig alles auf, was es für sich bekommen kann, weil es für gewöhnlich das nicht hat, was es braucht, nämlich eine Anbindung an etwas Heiliges. In Abwesenheit dieser Verknüpfung versucht unser Ego, alles in die Hände zu bekommen – Macht, Stellung, Status, materielle Gegenstände –, und da nichts von alledem befriedigend ist, verstrickt sich unser Ego darin, immer und immer wieder dasselbe auszuprobieren.
Die Entwicklung der Tugend der Selbstlosigkeit beginnt damit, unser Ego auf unser Selbst hin zu orientieren, und zwar auf uns selbst in unserer Eigenschaft als Geist. Wenn zum Beispiel jemand mit dem meditativen Üben beginnt, ist dies ein Sichorientieren des Egos zum Selbst hin. Hat er einmal diese Aufgabe aufgegriffen – und das erfordert Wiederholung und Disziplin –, so vermag das Selbst seine Arbeit in der Welt zu verrichten, sein Verlangen zu erfüllen, nämlich zu dienen.
Der Standort der Selbstlosigkeit im Tierkreis nach der Treue und vor dem Mitleid zeigt uns mehr bezüglich dieser Tugenden: Die Grundlage der Selbstlosigkeit muss die Fähigkeit sein, sich in schöpferischer Weise an anderen Menschen zu orientieren und muss sich auch auf die Erfahrungen anderer Menschen so einlassen können, wie wenn diese Erfahrungen die eigenen wären.
Mitleid
Mitleid hat als Tugend einen eingeschränkteren Sinngehalt als es der Zentralaspekt im Buddhismus besitzt. Auf diese eingeschränktere Bedeutung habe ich schon angespielt, indem ich dem Ego einen wichtigen Stellenwert in der Ausbildung der Tugend eingeräumt habe. Daher verlässt sich Mitleid hier nicht darauf, das Ego für Illusion zu halten, wie es in der großen Tradition des Buddhismus geschieht. Wohl verlangt Mitleid aber, dass das Leben und Wirken zusammen mit anderen Menschen und mit der Welt nicht so sehr aus dem Verstand heraus als aus dem Zentrum des Herzens geschieht. Dabei wird der Verstand beziehungsweise das Denken allerdings nicht ausgeschaltet, sondern wird vielmehr zu einem Fühlen-Denken. So kann man sehen, dass die Tugend der Selbstlosigkeit eine Art Vorbedingung des Mitleids ist; das Ego ist mit der sakralen Aufgabe beschäftigt, die Verbindung zu unserem Geist aufrechtzuerhalten und lässt so das Denken frei, damit dieses eine intime Beziehung zum Herzen eingehen kann.
Mitleid hat mit dem Fühlen der Gedanken, Gefühle, Freuden und Leiden anderer Menschen sowie mit denen der Dinge der Welt zu tun, als ginge es um die eigenen. Ich will Mitleid über ein Verhältnis mit anderen Menschen hinaus auch auf die Tier-, die Pflanzen- und sogar die mineralische Welt erweitern; indem ich das tue, stelle ich mich in die Tradition des anima mundi, einer Tradition, die bis Plato und gewiss noch weiter zurückreicht und die alles in der Welt als beseelt ansieht. Ferner werde ich bei eingehender Betrachtung dieser Tugend zeigen, dass es ohne einen solchen größeren, inklusiveren Sinn des Mitleids nicht möglich ist, für einen anderen Menschen – im engeren Sinn also – Mitleid zu fühlen.
Ein weiterer Aspekt des Mitleids betrifft die Weise, wie diese Tugend agiert. Sie ist nämlich nicht nur ein Gefühl, das man für andere hat; sie ist vielmehr etwas, was man für andere tut: eine Tätigkeit radikaler Empfänglichkeit mit reeller Auswirkung in der Welt. Und während es ohne Weiteres nachzuvollziehen ist, inwiefern das Fühlen des Leides anderer Menschen tatsächlich eine tugendhafte Handlung sein kann, obliegt es uns außerdem zu zeigen, wie diese Handlung ausgedehnt werden muss auf Menschen, die gar nicht zu leiden scheinen. Können wir für den Tyrannen Mitleid empfinden, oder für den Arbeitskollegen, der sich ausschließlich mit dem eigenen Vorankommen zu beschäftigen scheint, oder für die Menschen um uns herum, die für uns gar keine oder gar feindselige Gefühle zu zeigen scheinen?
Höflichkeit
Bei der Tugend der Höflichkeit geht es darum, die eigenen Emotionen zurückzuhalten; nicht sie zu unterdrücken oder zu leugnen, sondern Raum zu lassen, damit das Seelenleben des anderen Menschen zum Ausdruck kommen kann.
Das Wort „Höflichkeit“ (Englisch courtesy) ist dem Ausdruck „jemandem den Hof machen“ (Englisch to court)* verwandt, was darin besteht, die Anwesenheit eines anderen Menschen zu ehren beziehungsweise in äußerlich sichtbarer Weise diesen Menschen als ein aus Seelen- und Geistsubstanz bestehendes Wesen anzuerkennen.
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*Deutsch der Hof = Englisch court.
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In mancher Hinsicht mag diese Tugend trivial zu sein scheinen; diese Fehleinschätzung ist darauf zurückzuführen, dass die Höflichkeit in äußerliche Manieren verfällt, die wenig inneres Gefühl haben. Diese Tugend ist mit der Tradition der höfischen Liebe verwandt, mit den Minnesängern und der richtigen Zurückhaltung bei Liebesbezeigungen.
Höflichkeit erkennt Schönheit als Zentrum des menschlichen Lebens selber. Ferner zeigt diese Tugend, dass Schönheit nicht etwas ist, was man betrachtet oder bewundert, sondern dass sie eine Tätigkeit, ein Tun, eine Disziplin sein kann. Interessanterweise ist das englische Wort courtesy (Deutsch Höflichkeit) auch dem Wort courtesan (Deutsch ursprünglich Höfling, später Kurtisane) verwandt, was einerseits „Wächter des Hofes“ bedeutet, der Beschützer des königlichen Wesens von Seele und Geist, aber andererseits auch „Prostituierte“. Wenn man für einen Augenblick vom Urteilen absieht, so kann man von der Prostituierten sagen, dass sie die körperlichen Bedürfnisse eines Menschen befriedigt. Das hilft uns zur Wahrnehmung, dass Höflichkeit eine höchst körperliche Handlung ist, welche die Seele und den Geist im Körper ehrt. Selbstverständlich kann diese Art, den Körper zu ehren, zu einer Perversion werden, sofern die Auffassung von Seele und Geist außen vor gelassen wird; Prostitution hat alle möglichen verschiedenen Formen.
Wir können uns über die Tatsache nicht hinwegsetzen, dass Höflichkeit das weibliche Antlitz der Welt ehrt. So können wir darüber nachsinnen, wie diese Tugend so ausgeweitet werden könnte, dass Manieren die Pflege unserer zwischenmenschlichen Beziehungen eröffnen können. Da Höflichkeit eine Sache des Herzens ist, ist die Art, wie wir etwas tun, ebensowichtig wie das, was wir tun; ja vielleicht noch wichtiger. Höflichkeit macht unsere Handlungen sinnlich, körperlich, erotisch – jede Handlung einen Liebesakt. Ohne Höflichkeit wird unser Mitleid sentimentalisiert; ohne Höflichkeit finden wir nicht den Weg zum Gleichmut. Stattdessen fallen wir in die Fahrlässigkeit oder den Leichtsinn hinein – was ein Mangel an Höflichkeit ist.
Gleichmut
Gleichmut könnte wohl die Haupttugend sein, die man benötigt, um die Entwicklung gemeinschaftlicher Beziehungen zu pflegen. Auf dem Rund der Tierkreiszeichen liegt diese Tugend der Ehrfurcht direkt gegenüber. Gegensätze im Tierkreis bedeuten nicht Konflikt, sondern eine Art förderlichen Verhältnisses, das zwischen Polaritäten vor sich geht. Wenn sich zum Beispiel der Planet Pluto bei jemandem zufällig im siebten Haus, dem Haus der Beziehungen befindet, und im Gegensatz zur im ersten Haus befindlichen Sonne steht, so darf man erwarten, dass bei diesem Menschen (Sonne) durch Beziehungen eine Verwandlung (Pluto) stattfinden wird.
Was die Tugend des Gleichmuts betrifft, könnte man sagen, dass Gleichmut durch Ehrfurcht und Ehrfurcht durch das Ausüben von Gleichmut herbeigeführt wird. In der Bhagavad Gita zum Beispiel ist ein Spruch zu finden, der wunderschön das Verhältnis zwischen Ehrfurcht und Gleichmut zum Ausdruck bringt (12:20): „Wer Tadel und Lob gleich bewertet, wer in seiner Rede zurückhaltend ist, wer sich mit allem zufrieden gibt, was ihm zustößt, wer keine feste Wohnstätte hat und im Geiste standhaft ist, dieser Mensch ist mir hingegeben und lieb.“ Ich bringe hier den Gedanken an, dass jede Tugend das Gegenteil einer anderen Tugend ist, um das Wesen der Tugend überhaupt verständlicher zu machen. Eine solche Gegenüberstellung lässt sich nicht nur beim Gleichmut vornehmen, sondern bei allen Tugenden.
Beim Gleichmut geht es um die Fähigkeit, im emotionalen Leben ausgeglichen zu sein, ohne in die Höhen abzuheben oder in die Tiefen hinunterzustürzen. Er ist keine Entkoppelung von den eigenen Emotionen, sondern die Fähigkeit, letztere zu beobachten, während sie sich behaupten. Kann man das, so vermeidet man, ganz von der gerade akuten Emotion überwältigt zu werden. Allen Emotionen wird beim Gleichmut gleiche Ehre gezollt. Durch Gleichmut geschieht eine Läuterung unseres Emotionslebens; und ohne diese Tugend bleiben die Emotionen derb. Eine übermäßige Verfeinerung führt andererseits zur Oberflächlichkeit.
Gleichmut ist extrem wichtig. Diese Tugend versetzt uns nämlich in die Lage, eine realistische Vorstellung unserer Fehler in Verbindung mit unseren Tugenden zu bilden und somit auszuschließen, dass die Ausführung der Tugend in eine unmögliche oder gar zerstörerische Richtung abhebt. Wenn ich etwa einen starken Zorn erlebe, so ermöglicht die Tugend des Gleichmuts meine völlige Anwesenheit vor diesem Zorn, ohne von ihm völlig eingenommen zu werden. In dieser Weise lässt sich der Zorn selbst in die Praxis der Tugend aufnehmen.
Geduld
Geduld ist die Tugend, die uns darauf hinweist, dass die Zeit der Seele und die Zeit des Geistes anders sind als die Zeit des Alltags. Es braucht Geduld, um mit Seele und Geist in gesunder Verbindung zu stehen. Bei der Geduld geht es um eine besondere Form oder Art des Ausharrens, welche mit Erwartung erfüllt ist. Man harrt geduldig aus in der Erwartung, dass etwas geschehen wird. Die Tugend erfordert, dass man in solcher Erwartung lebt, ohne hastig deren Erfüllung zu suchen. Lösen wir die Spannung dann doch auf und versuchen zu bewirken, dass etwas geschieht, so werden die Seele und der Geist, die an ihr beteiligt sind, im Stich gelassen. Geduld ist die Tugend, die die äußeren Lebensereignisse mit den inneren Seelen- und Geistwirkungen so zusammenhält, dass beide mit dem richtigen Timing zusammen auftreten.
Wenngleich Geduld als Tugend in einem erwartungsvollen Ausharren besteht, heißt das nicht, dass diese Stimmung der Erwartung mit irgendeinem Inhalt voll sein darf; im Gegenteil: sie ist eine Art erfüllter Leere. Füllen wir diese Leere aber mit unseren Vorstellungen dessen, was geschehen sollte und könnte oder mit dem, von dem wir wünschen, dass es geschehen würde, so leben wir in einer Illusion. Das Schwierige an solcher Illusion ist, dass sie die Möglichkeit verfinstert, das zu sehen, was in diesem Augenblick direkt vor uns liegt.
Die Lehre der Geduld ist die Geduld selbst; soll heißen: diese Tugend ist unendlich. Man ist nicht einfach so lange geduldig, bis etwas passiert. Geduld ist vielmehr ein anhaltender Zustand der Seele. Wenn dieser Zustand überhaupt einen Zweck hat, so ist er dazu da, um unser Vermögen zur Empfänglichkeit zu vertiefen. Die Geduld wird dadurch strapaziert, dass Dinge doch passieren. Das macht uns nämlich ungeduldig und angstvoll gespannt darauf, dass doch immer etwas am Passieren sein sollte. Die Ereignisse unseres Lebens sind aber immer – immer – geringer als das von der Seele erfahrene Leben der Möglichkeiten. Ja Geduld zeigt uns geradezu, wenn auch nur Schritt für Schritt, dass das Leben der Seele in der Imagination besteht; in der Tätigkeit nämlich, im Möglichen zu leben und nicht in irgendeinem bestimmten Inhalt.
Zu jedem Ereignis erleben wir eine Art Überschuss dazu, der über den Inhalt des Ereignisses hinausgeht. Dieser Überschuss ist es, der eine Umwandlung herbeizuführen vermag, ob in uns selbst, in anderen oder in der Welt. Die Ungeduld der Effizienz ist bestrebt, durch technische Mittel jeder Art diesen Überschuss zu tilgen. Deshalb mangelt es der Welt gänzlich an Geduld.
Wahrheit
Als Tugend geht es der Wahrheit nicht darum, Kenntnis davon zu besitzen, was richtig und was falsch ist. Die Tugend der Wahrheit ist eher mit Emotion verbunden; sie hat es zu tun mit der fortdauernden Entwicklung der Fähigkeit, die Wahrheit zu fühlen. Sie ähnelt mehr dem Schmecken als etwa dem Sehen. Man muss bei ihr ein Feingefühl für Unterschiede und Nuancen erwerben, anstatt sich etwas Eindeutiges und Fertiges darreichen zu lassen. Wir neigen dazu, Wahrheit mit Urteil zu verwechseln und halten dabei das, was wir als wahr beurteilen, für die Wahrheit. Solche Urteile offenbaren mehr über den, der urteilt, als über die Realität, über die geurteilt wird.
Das Bedürfnis nach Wahrheit zeigt sich in den von ihr abweichenden Erscheinungsformen, als da sind Lästern, Verleumdung, Moralisieren und Meinungssubjektivität. Alle diese Abweichungen legen die ziemlich universelle Bemühung bloß, die Wahrheit zu besitzen. Die Wahrheit besitzen wir niemals; besitzt sie doch ihre eigene Autonomie. Sie besteht unabhängig davon, was wir denken oder urteilen mögen. Nichtsdestoweniger: ihre Macht kann sich nur soweit offenbaren, wie wir uns selbst in der Tugend üben, nach der Wahrheit zu streben. Wir strecken die Arme nach der Wahrheit aus, versuchen sie zu ertasten, uns ihr zu nähern, mit ihr Bekanntschaft zu schließen, uns mit ihr anzufreunden.
Wenn wir versuchen die Wahrheit zu besitzen, sie ganz zu wissen, sind wir eigentlich dabei nicht die Wahrheit, sondern die ihr innewohnende Macht zu ergreifen. Im Augenblick, in dem wir sie zu haben meinen, verwandelt sich die Wahrheit, die wir zu haben uns einbilden, in subjektives Urteil, Lästerei, Verleumdung oder Moralisieren. Im übertragenen Sinn muss der nach Wahrheit Suchende ein Mensch ohne Heimat, muss immer unterwegs, peripatetisch sein. Will der Suchende stattdessen sesshaft werden, sich sicher fühlen, dann wird die Wahrheit zur Lüge.
Die Ausbildung eines Gefühls für die Wahrheit stärkt, steigert, gestaltet unsere Aufmerksamkeitskräfte, unseren Fokus, unsere Konzentration. Diese Fähigkeiten haben nicht nur mit dem Verstand zu tun, sondern auch mit den Gefühlen und dem Willen. Wir suchen nicht nur mit dem Verstand nach Wahrheit, sondern mit unserem ganzen Sein. Wir können bei uns feststellen, dass je stärker wir uns konzentrieren, umso mehr schweigen wir auch, pflegen der inneren Ruhe. Wir können auch feststellen, dass wann immer wir von der Wahrheit erheblich abgewichen sind, wir an der inneren Ruhe Gewalt verübt haben.
Mut
Einen Sinn für Mut als Tugend, die tagtäglich geübt werden kann – anstatt ihn nur als Ausdrucksform für heldenhafte Handlungen sich vorzustellen – kann man sich aneignen, indem sich man die anderen Seiten des Mutes vorstellt: Ehrgeiz und Ängstlichkeit. Ehrgeiz sieht dem Mut sehr ähnlich, nur bewegt er sich zu rasch und selbstbewusst. Dem Ehrgeiz haftet zu viel Eigenwille an, sodass kraftvolles, entschiedenes Handeln, welches durchaus mutig aussehen kann, doch nur dem Handelnden dient und nicht denjenigen, denen es zu dienen vorgibt. Auch Ängstlichkeit ist dem Mut verwandt; sie ist Mut, der dadurch blockiert wird, dass er im Bewusstsein hängen bleibt, anstatt in das Handeln überzugehen. Der ängstliche Mensch durchschaut Ereignisse und Situationen oft ganz klar, begnügt sich aber damit, sich ihrer bewusst zu sein. Dabei verzichtet er darauf, dem Durchschauten eine innere Form zu geben, verzichtet auf die Verantwortung dafür, dem gemäß zu handeln, was er als nötige Tat wahrgenommen hat.
Echte Handlungen des Mutes kommen nicht wirklich von einer Sekunde auf die andere und spontan zustande. Zwar mag es so aussehen, aber wenn, dann nur deshalb, weil wir den Entwicklungsstand und das Innenleben des mutig handelnden Menschen nicht nachvollziehen können oder weil wir von diesem Entwicklungsstand und Innenleben keine Kenntnis haben. Der Mensch, der die mutige Handlung ausgeführt hat, musste nämlich eine Entwicklung durchmachen; er lebt jetzt mehr aus der Herzmitte heraus, aber ohne sentimental zu sein. Ein aus Mut handelnder Mensch kann aber nicht „auf Entfernung“ wahrnehmen, wie das für so manche Menschen der Fall ist. Für den mutigen Menschen ist das Wahrnehmen engagiert und völlig wachbewusst, ohne aber selbstbezogen zu sein. In dieser Weise kann das Herz bewusst sein ohne Einmischung des Verstandes, der ewig dabei ist, sich selbst zu bespiegeln. Im Mut haben wir eine vollkommene, im Herzen zentrierte Harmonie zwischen körperlicher Erfahrung und dem Erleben von Seele und Geist. Aus diesem Grunde besitzt der mutige Mensch die größte imaginative Spannweite und vermag es, sich mit Leichtigkeit von den Tiefen in die Höhen zu bewegen.
Mut, zumal als Seinsmodus, offenbart sich sowohl im Denken und Fühlen, wie auch im körperlichen Handeln. Das ganze Leben eines Menschen kann eine Handlung des Mutes sein. Es ist gar nicht nötig, sich irgendeinem scheinbar unüberwindlichen Hindernis zu stellen, um diese Tugend an den Tag zu legen. Der Mensch, der mit klaren Zielen und Werten im Leben vorschreitet, indem er Schritt für Schritt sich auf diese Ziele und Werte hin bewegt, ist gewiss mutig zu nennen, vorausgesetzt sein Weg ist von dem Erleben der Seele und des Geistes begleitet. Ehrgeiz strebt in die Höhen, vermag aber nicht zu sehen, dass der hohe Gipfel eigentlich dem Geist zugehört; deshalb verkehrt sich beim ehrgeizigen Menschen der Mut in Machtgehabe anderen Menschen gegenüber, wo eigentlich die Autorität der geistigen Welten anerkannt werden müsste.
Unterscheidungsvermögen
Unterscheidungsvermögen stellen wir uns für gewöhnlich als die Fähigkeit vor, zwischen zwei oder mehr Alternativen eine Wahl zu treffen. Diese Wahl findet statt aufgrund der Bemühung, uns klar zu werden über den Unterschied zwischen diesen Alternativen. Besonders dann, wenn wir uns von mehreren Dingen auf einmal angezogen fühlen, ist Unterscheidungsvermögen gefragt. Als Tugend ist Unterscheidungsvermögen allerdings nicht ganz so leicht wie es sich hier anhört. Das hat zwei Gründe. Der erste Grund hat mit dem Wesen der Begierde zu tun, der zweite ist der, dass bei der Tugend die zur Wahl stehenden Alternativen nicht so leicht zu fassen sind. So muss der Vorgang des Unterscheidungsvermögens gleichzeitig in zweierlei Weise geschehen: wir müssen beim Fühlen der Begierde oft sehr feine Differenzierungen machen; und wir müssen zwischen Gegenständen unterscheiden können, die häufig kaum mehr physische Substanz haben als Luft – wie etwa Ideen, Schicksalspfaden, in der Zukunft ausstehenden Ausgängen einer Situation, oder die Auswirkungen dessen, was wir tun, auf das Leben anderer Menschen.
Wo finden wir die inneren Ressourcen, die uns zur Tugend des Unterscheidungsvermögens befähigen? Als Erstes müssen wir eine andere Art zu denken üben, als wir gewohnt sind. Wir müssen lernen, anwesend zu sein bei der Tätigkeit der Ideen, bei ihrem Entstehen, ihrem Prozess. Wenn uns ein Einfall kommt, so ist das ein bereits kristallisiertes Denken, das nicht mehr fließt, auch nicht mehr Teil des schöpferischen Prozesses ist. Solche geronnenen Einfälle, aus denen der Stoff des konventionellen Denkens besteht, kommen zu spät im Denkvorgang, als dass durch sie ein Unterscheidungsvermögen seelischer und geistiger Art stattfinden könnte.
Im Bereich des Fühlens ist eine ähnliche Art des Anwesendseins gefragt gefragt, soll Unterscheidungsvermögen ausgeübt werden können: ein Anwesendsein bei der Tätigkeit selbst anstatt bei deren momentanem Ergebnis. Wir müssen die Disziplin ausbilden, mehr bei dem Entstehen von Gefühlen dabei sein zu können, als diejenigen zu fühlen, die wir bereits haben.
Die Tugend des Unterscheidungsvermögens können wir uns als die Art vorstellen, wie wir gewissermaßen auf dem Strom unseres seelischen und geistigen Schicksals reiten. So geht es bei dieser Tugend eher um die Art, wie wir uns von unserer gegenwärtigen Lebenslage aus in das hinein bewegen, was uns aus der Zukunft entgegenkommt. Ohne Unterscheidungsvermögen leben wir eigentlich immer in der Vergangenheit – in vergangenen Einfällen, in vergangenen Emotionen und Gefühlen, in alten Gewohnheiten.
Unterscheidungsvermögen, wenn es eintritt, erkennen wir nicht einmal als etwas Wichtiges an – es sei denn, wir erleben dabei die konkrete Wirklichkeit der Freiheit unseres Geistes. Zwar hört sich Freiheit des Geistes nämlich wie etwas Wunderbares an, aber die Realität dieser Freiheit ist, dass sie mit einem Leben im Nichtwissen einhergeht sowie mit dem Lernenmüssen, sich in diesem Nichtwissen zurechtzufinden. Das geht nur, indem wir die verschiedenen Elemente unseres Innenlebens zu harmonisieren suchen – unser Denken mit unserem Fühlen, mit unserem Wahrnehmen, mit unseren Wünschen und Begierden, mit unseren Absichten. Wird eines dieser Elemente zu stark, dann wird das Unterscheidungsvermögen gerade dort verwirrt, wo wir uns im Prozess des Unterscheidens befinden. Daher besteht die Hauptdisziplin beim Ausbilden der Tugend des Unterscheidungsvermögens in innerer Ruhe und im Lauschen.
Liebe
Liebe macht einen riesigen Themenbereich an sich aus, und so muss klargestellt werden, dass uns hier nur die Liebe als Tugend interessiert. Letztere ist ja etwas leicht anderes, als das ganze konkrete Reich der Liebe. Die praktische Frage, diejenige, die die Tugend betrifft, ist die Frage danach, wie man Liebe eigentlich praktiziert. Wie tun wir sie? Wir können damit beginnen, dass wir sagen: Solange wir Liebe fühlen, tun wir sie nicht so vollkommen, wie es eigentlich möglich wäre. Gefühle der Liebe sind natürlich äußerst wichtig. Aber sie weisen auch darauf hin, dass wir etwas festzuhalten versuchen, deren ganzer Sinn es ist, dass wir sie verschenken: das Wesen der Liebe als Tugend ist es, verschenkt zu werden.
Liebe ist ja kein Gegenstand, kein Ding. Was bedeutet es also, sie zu geben? Um diese Tugend zu erleben, muss man sich mit dem eigenen Bedürfnis intimst vertraut machen, Liebe zu empfangen. An diesem Bedürfnis liegt es wohl, dass wir die Liebe festhalten, die doch frei sein will, damit sie in der Welt zirkulieren kann. So wird die Tugend der Liebe durch Selbstliebe verwirrt. Und doch ist Selbstliebe ohne Frage für die Tugend der Liebe notwendig – ja sie ist geradezu eine Voraussetzung dazu. Selbstliebe besteht im Bemühen, wir selbst zu sein und nicht jemand, von dem andere möchten, dass wir es seien. Liebe kann nicht verschenkt werden, außer sie wird es frei aus unserer eigenen Individualität. Sonst sind die Liebestaten, mit denen wir uns verbinden, eigentlich für uns selbst und nicht für andere und die Welt. Selbstliebe ermöglicht uns die freie Wahl, die Liebe zu verschenken anstatt sie festzuhalten.
Liebe soll hier zwar nicht definiert werden; wohl aber sollte versucht werden, sie so zu charakterisieren, dass man sie nicht mit bestimmten Gefühlszuständen verwechselt. Umgekehrt sollte sie auch nicht zu hastig spiritualisiert werden. Vielleicht können wir sagen, dass Liebe in einer universellen Freundlichkeit besteht, die mit Wohltätigkeit für alle Geschöpfe durchsetzt ist. Angesichts einer so breiten Charakterisierung wird deutlich, welche Weisheit darin besteht, dass auf dem Tierkreis die Liebe zwischen Unterscheidungsvermögen und Ehrfurcht liegt: Unterscheidungsvermögen ist für die Praxis der Liebe nötig, damit sie überall spezifisch sein kann. Und da die Liebe es ist, was uns sowohl in die ganze äußere Schöpfung konkret hineinträgt, als auch in das ganze innen-Reich der Seele und des Geistes, so muss sie darauf vorblicken, in je ganz spezifischer Art und Weise ausgeführt zu werden. In dieser Weise nimmt sie die Ehrfurcht vorweg.
Die Tugend der Liebe erlebt man als ein umfassendes Feld, das in uns selbst und dem/der Geliebten existiert, das aber auch den seelischen Raum durchsetzt, der beide umgibt. Der zentrale Aspekt bei der Liebe als Tugend ist ein zweifacher: dass wir lernen, die Realität dieser Strömungen der Liebe als autonome Wirklichkeit wahrzunehmen, und dass wir dazu aufgerufen sind, an dieser autonomen Wirklichkeit teilzunehmen und ihr zu folgen. Diese Strömungen der Liebe öffnen neue Ebenen des Wahrnehmens, sodass alles intensiver ins Schwingen kommt und uns dabei das eigene Seelen- und Geistwesen zeigt.
Mit diesen kurzen Charakteristiken der Tugenden als Ausgangspunkt können wir nun fortfahren und in umfassenderer und vertiefender Weise beschreiben, was die Tugenden jeweils sind, wie sie funktionieren und was sie in der Seele und als Mächte in der Welt bewirken.
Höflichkeit erkennt Schönheit als Zentrum des menschlichen Lebens selber. Ferner zeigt diese Tugend, dass Schönheit nicht etwas ist, was man betrachtet oder bewundert, sondern dass sie eine Tätigkeit, ein Tun, eine Disziplin sein kann. Interessanterweise ist das englische Wort courtesy (Deutsch Höflichkeit) auch dem Wort courtesan (Deutsch ursprünglich Höfling, später Kurtisane) verwandt, was einerseits „Wächter des Hofes“ bedeutet, der Beschützer des königlichen Wesens von Seele und Geist, aber andererseits auch „Prostituierte“. Wenn man für einen Augenblick vom Urteilen absieht, so kann man von der Prostituierten sagen, dass sie die körperlichen Bedürfnisse eines Menschen befriedigt. Das hilft uns zur Wahrnehmung, dass Höflichkeit eine höchst körperliche Handlung ist, welche die Seele und den Geist im Körper ehrt. Selbstverständlich kann diese Art, den Körper zu ehren, zu einer Perversion werden, sofern die Auffassung von Seele und Geist außen vor gelassen wird; Prostitution hat alle möglichen verschiedenen Formen.
Wir können uns über die Tatsache nicht hinwegsetzen, dass Höflichkeit das weibliche Antlitz der Welt ehrt. So können wir darüber nachsinnen, wie diese Tugend so ausgeweitet werden könnte, dass Manieren die Pflege unserer zwischenmenschlichen Beziehungen eröffnen können. Da Höflichkeit eine Sache des Herzens ist, ist die Art, wie wir etwas tun, ebensowichtig wie das, was wir tun; ja vielleicht noch wichtiger. Höflichkeit macht unsere Handlungen sinnlich, körperlich, erotisch – jede Handlung einen Liebesakt. Ohne Höflichkeit wird unser Mitleid sentimentalisiert; ohne Höflichkeit finden wir nicht den Weg zum Gleichmut. Stattdessen fallen wir in die Fahrlässigkeit oder den Leichtsinn hinein – was ein Mangel an Höflichkeit ist.
Gleichmut
Gleichmut könnte wohl die Haupttugend sein, die man benötigt, um die Entwicklung gemeinschaftlicher Beziehungen zu pflegen. Auf dem Rund der Tierkreiszeichen liegt diese Tugend der Ehrfurcht direkt gegenüber. Gegensätze im Tierkreis bedeuten nicht Konflikt, sondern eine Art förderlichen Verhältnisses, das zwischen Polaritäten vor sich geht. Wenn sich zum Beispiel der Planet Pluto bei jemandem zufällig im siebten Haus, dem Haus der Beziehungen befindet, und im Gegensatz zur im ersten Haus befindlichen Sonne steht, so darf man erwarten, dass bei diesem Menschen (Sonne) durch Beziehungen eine Verwandlung (Pluto) stattfinden wird.
Was die Tugend des Gleichmuts betrifft, könnte man sagen, dass Gleichmut durch Ehrfurcht und Ehrfurcht durch das Ausüben von Gleichmut herbeigeführt wird. In der Bhagavad Gita zum Beispiel ist ein Spruch zu finden, der wunderschön das Verhältnis zwischen Ehrfurcht und Gleichmut zum Ausdruck bringt (12:20): „Wer Tadel und Lob gleich bewertet, wer in seiner Rede zurückhaltend ist, wer sich mit allem zufrieden gibt, was ihm zustößt, wer keine feste Wohnstätte hat und im Geiste standhaft ist, dieser Mensch ist mir hingegeben und lieb.“ Ich bringe hier den Gedanken an, dass jede Tugend das Gegenteil einer anderen Tugend ist, um das Wesen der Tugend überhaupt verständlicher zu machen. Eine solche Gegenüberstellung lässt sich nicht nur beim Gleichmut vornehmen, sondern bei allen Tugenden.
Beim Gleichmut geht es um die Fähigkeit, im emotionalen Leben ausgeglichen zu sein, ohne in die Höhen abzuheben oder in die Tiefen hinunterzustürzen. Er ist keine Entkoppelung von den eigenen Emotionen, sondern die Fähigkeit, letztere zu beobachten, während sie sich behaupten. Kann man das, so vermeidet man, ganz von der gerade akuten Emotion überwältigt zu werden. Allen Emotionen wird beim Gleichmut gleiche Ehre gezollt. Durch Gleichmut geschieht eine Läuterung unseres Emotionslebens; und ohne diese Tugend bleiben die Emotionen derb. Eine übermäßige Verfeinerung führt andererseits zur Oberflächlichkeit.
Gleichmut ist extrem wichtig. Diese Tugend versetzt uns nämlich in die Lage, eine realistische Vorstellung unserer Fehler in Verbindung mit unseren Tugenden zu bilden und somit auszuschließen, dass die Ausführung der Tugend in eine unmögliche oder gar zerstörerische Richtung abhebt. Wenn ich etwa einen starken Zorn erlebe, so ermöglicht die Tugend des Gleichmuts meine völlige Anwesenheit vor diesem Zorn, ohne von ihm völlig eingenommen zu werden. In dieser Weise lässt sich der Zorn selbst in die Praxis der Tugend aufnehmen.
Geduld
Geduld ist die Tugend, die uns darauf hinweist, dass die Zeit der Seele und die Zeit des Geistes anders sind als die Zeit des Alltags. Es braucht Geduld, um mit Seele und Geist in gesunder Verbindung zu stehen. Bei der Geduld geht es um eine besondere Form oder Art des Ausharrens, welche mit Erwartung erfüllt ist. Man harrt geduldig aus in der Erwartung, dass etwas geschehen wird. Die Tugend erfordert, dass man in solcher Erwartung lebt, ohne hastig deren Erfüllung zu suchen. Lösen wir die Spannung dann doch auf und versuchen zu bewirken, dass etwas geschieht, so werden die Seele und der Geist, die an ihr beteiligt sind, im Stich gelassen. Geduld ist die Tugend, die die äußeren Lebensereignisse mit den inneren Seelen- und Geistwirkungen so zusammenhält, dass beide mit dem richtigen Timing zusammen auftreten.
Wenngleich Geduld als Tugend in einem erwartungsvollen Ausharren besteht, heißt das nicht, dass diese Stimmung der Erwartung mit irgendeinem Inhalt voll sein darf; im Gegenteil: sie ist eine Art erfüllter Leere. Füllen wir diese Leere aber mit unseren Vorstellungen dessen, was geschehen sollte und könnte oder mit dem, von dem wir wünschen, dass es geschehen würde, so leben wir in einer Illusion. Das Schwierige an solcher Illusion ist, dass sie die Möglichkeit verfinstert, das zu sehen, was in diesem Augenblick direkt vor uns liegt.
Die Lehre der Geduld ist die Geduld selbst; soll heißen: diese Tugend ist unendlich. Man ist nicht einfach so lange geduldig, bis etwas passiert. Geduld ist vielmehr ein anhaltender Zustand der Seele. Wenn dieser Zustand überhaupt einen Zweck hat, so ist er dazu da, um unser Vermögen zur Empfänglichkeit zu vertiefen. Die Geduld wird dadurch strapaziert, dass Dinge doch passieren. Das macht uns nämlich ungeduldig und angstvoll gespannt darauf, dass doch immer etwas am Passieren sein sollte. Die Ereignisse unseres Lebens sind aber immer – immer – geringer als das von der Seele erfahrene Leben der Möglichkeiten. Ja Geduld zeigt uns geradezu, wenn auch nur Schritt für Schritt, dass das Leben der Seele in der Imagination besteht; in der Tätigkeit nämlich, im Möglichen zu leben und nicht in irgendeinem bestimmten Inhalt.
Zu jedem Ereignis erleben wir eine Art Überschuss dazu, der über den Inhalt des Ereignisses hinausgeht. Dieser Überschuss ist es, der eine Umwandlung herbeizuführen vermag, ob in uns selbst, in anderen oder in der Welt. Die Ungeduld der Effizienz ist bestrebt, durch technische Mittel jeder Art diesen Überschuss zu tilgen. Deshalb mangelt es der Welt gänzlich an Geduld.
Wahrheit
Als Tugend geht es der Wahrheit nicht darum, Kenntnis davon zu besitzen, was richtig und was falsch ist. Die Tugend der Wahrheit ist eher mit Emotion verbunden; sie hat es zu tun mit der fortdauernden Entwicklung der Fähigkeit, die Wahrheit zu fühlen. Sie ähnelt mehr dem Schmecken als etwa dem Sehen. Man muss bei ihr ein Feingefühl für Unterschiede und Nuancen erwerben, anstatt sich etwas Eindeutiges und Fertiges darreichen zu lassen. Wir neigen dazu, Wahrheit mit Urteil zu verwechseln und halten dabei das, was wir als wahr beurteilen, für die Wahrheit. Solche Urteile offenbaren mehr über den, der urteilt, als über die Realität, über die geurteilt wird.
Das Bedürfnis nach Wahrheit zeigt sich in den von ihr abweichenden Erscheinungsformen, als da sind Lästern, Verleumdung, Moralisieren und Meinungssubjektivität. Alle diese Abweichungen legen die ziemlich universelle Bemühung bloß, die Wahrheit zu besitzen. Die Wahrheit besitzen wir niemals; besitzt sie doch ihre eigene Autonomie. Sie besteht unabhängig davon, was wir denken oder urteilen mögen. Nichtsdestoweniger: ihre Macht kann sich nur soweit offenbaren, wie wir uns selbst in der Tugend üben, nach der Wahrheit zu streben. Wir strecken die Arme nach der Wahrheit aus, versuchen sie zu ertasten, uns ihr zu nähern, mit ihr Bekanntschaft zu schließen, uns mit ihr anzufreunden.
Wenn wir versuchen die Wahrheit zu besitzen, sie ganz zu wissen, sind wir eigentlich dabei nicht die Wahrheit, sondern die ihr innewohnende Macht zu ergreifen. Im Augenblick, in dem wir sie zu haben meinen, verwandelt sich die Wahrheit, die wir zu haben uns einbilden, in subjektives Urteil, Lästerei, Verleumdung oder Moralisieren. Im übertragenen Sinn muss der nach Wahrheit Suchende ein Mensch ohne Heimat, muss immer unterwegs, peripatetisch sein. Will der Suchende stattdessen sesshaft werden, sich sicher fühlen, dann wird die Wahrheit zur Lüge.
Die Ausbildung eines Gefühls für die Wahrheit stärkt, steigert, gestaltet unsere Aufmerksamkeitskräfte, unseren Fokus, unsere Konzentration. Diese Fähigkeiten haben nicht nur mit dem Verstand zu tun, sondern auch mit den Gefühlen und dem Willen. Wir suchen nicht nur mit dem Verstand nach Wahrheit, sondern mit unserem ganzen Sein. Wir können bei uns feststellen, dass je stärker wir uns konzentrieren, umso mehr schweigen wir auch, pflegen der inneren Ruhe. Wir können auch feststellen, dass wann immer wir von der Wahrheit erheblich abgewichen sind, wir an der inneren Ruhe Gewalt verübt haben.
Mut
Einen Sinn für Mut als Tugend, die tagtäglich geübt werden kann – anstatt ihn nur als Ausdrucksform für heldenhafte Handlungen sich vorzustellen – kann man sich aneignen, indem sich man die anderen Seiten des Mutes vorstellt: Ehrgeiz und Ängstlichkeit. Ehrgeiz sieht dem Mut sehr ähnlich, nur bewegt er sich zu rasch und selbstbewusst. Dem Ehrgeiz haftet zu viel Eigenwille an, sodass kraftvolles, entschiedenes Handeln, welches durchaus mutig aussehen kann, doch nur dem Handelnden dient und nicht denjenigen, denen es zu dienen vorgibt. Auch Ängstlichkeit ist dem Mut verwandt; sie ist Mut, der dadurch blockiert wird, dass er im Bewusstsein hängen bleibt, anstatt in das Handeln überzugehen. Der ängstliche Mensch durchschaut Ereignisse und Situationen oft ganz klar, begnügt sich aber damit, sich ihrer bewusst zu sein. Dabei verzichtet er darauf, dem Durchschauten eine innere Form zu geben, verzichtet auf die Verantwortung dafür, dem gemäß zu handeln, was er als nötige Tat wahrgenommen hat.
Echte Handlungen des Mutes kommen nicht wirklich von einer Sekunde auf die andere und spontan zustande. Zwar mag es so aussehen, aber wenn, dann nur deshalb, weil wir den Entwicklungsstand und das Innenleben des mutig handelnden Menschen nicht nachvollziehen können oder weil wir von diesem Entwicklungsstand und Innenleben keine Kenntnis haben. Der Mensch, der die mutige Handlung ausgeführt hat, musste nämlich eine Entwicklung durchmachen; er lebt jetzt mehr aus der Herzmitte heraus, aber ohne sentimental zu sein. Ein aus Mut handelnder Mensch kann aber nicht „auf Entfernung“ wahrnehmen, wie das für so manche Menschen der Fall ist. Für den mutigen Menschen ist das Wahrnehmen engagiert und völlig wachbewusst, ohne aber selbstbezogen zu sein. In dieser Weise kann das Herz bewusst sein ohne Einmischung des Verstandes, der ewig dabei ist, sich selbst zu bespiegeln. Im Mut haben wir eine vollkommene, im Herzen zentrierte Harmonie zwischen körperlicher Erfahrung und dem Erleben von Seele und Geist. Aus diesem Grunde besitzt der mutige Mensch die größte imaginative Spannweite und vermag es, sich mit Leichtigkeit von den Tiefen in die Höhen zu bewegen.
Mut, zumal als Seinsmodus, offenbart sich sowohl im Denken und Fühlen, wie auch im körperlichen Handeln. Das ganze Leben eines Menschen kann eine Handlung des Mutes sein. Es ist gar nicht nötig, sich irgendeinem scheinbar unüberwindlichen Hindernis zu stellen, um diese Tugend an den Tag zu legen. Der Mensch, der mit klaren Zielen und Werten im Leben vorschreitet, indem er Schritt für Schritt sich auf diese Ziele und Werte hin bewegt, ist gewiss mutig zu nennen, vorausgesetzt sein Weg ist von dem Erleben der Seele und des Geistes begleitet. Ehrgeiz strebt in die Höhen, vermag aber nicht zu sehen, dass der hohe Gipfel eigentlich dem Geist zugehört; deshalb verkehrt sich beim ehrgeizigen Menschen der Mut in Machtgehabe anderen Menschen gegenüber, wo eigentlich die Autorität der geistigen Welten anerkannt werden müsste.
Unterscheidungsvermögen
Unterscheidungsvermögen stellen wir uns für gewöhnlich als die Fähigkeit vor, zwischen zwei oder mehr Alternativen eine Wahl zu treffen. Diese Wahl findet statt aufgrund der Bemühung, uns klar zu werden über den Unterschied zwischen diesen Alternativen. Besonders dann, wenn wir uns von mehreren Dingen auf einmal angezogen fühlen, ist Unterscheidungsvermögen gefragt. Als Tugend ist Unterscheidungsvermögen allerdings nicht ganz so leicht wie es sich hier anhört. Das hat zwei Gründe. Der erste Grund hat mit dem Wesen der Begierde zu tun, der zweite ist der, dass bei der Tugend die zur Wahl stehenden Alternativen nicht so leicht zu fassen sind. So muss der Vorgang des Unterscheidungsvermögens gleichzeitig in zweierlei Weise geschehen: wir müssen beim Fühlen der Begierde oft sehr feine Differenzierungen machen; und wir müssen zwischen Gegenständen unterscheiden können, die häufig kaum mehr physische Substanz haben als Luft – wie etwa Ideen, Schicksalspfaden, in der Zukunft ausstehenden Ausgängen einer Situation, oder die Auswirkungen dessen, was wir tun, auf das Leben anderer Menschen.
Wo finden wir die inneren Ressourcen, die uns zur Tugend des Unterscheidungsvermögens befähigen? Als Erstes müssen wir eine andere Art zu denken üben, als wir gewohnt sind. Wir müssen lernen, anwesend zu sein bei der Tätigkeit der Ideen, bei ihrem Entstehen, ihrem Prozess. Wenn uns ein Einfall kommt, so ist das ein bereits kristallisiertes Denken, das nicht mehr fließt, auch nicht mehr Teil des schöpferischen Prozesses ist. Solche geronnenen Einfälle, aus denen der Stoff des konventionellen Denkens besteht, kommen zu spät im Denkvorgang, als dass durch sie ein Unterscheidungsvermögen seelischer und geistiger Art stattfinden könnte.
Im Bereich des Fühlens ist eine ähnliche Art des Anwesendseins gefragt gefragt, soll Unterscheidungsvermögen ausgeübt werden können: ein Anwesendsein bei der Tätigkeit selbst anstatt bei deren momentanem Ergebnis. Wir müssen die Disziplin ausbilden, mehr bei dem Entstehen von Gefühlen dabei sein zu können, als diejenigen zu fühlen, die wir bereits haben.
Die Tugend des Unterscheidungsvermögens können wir uns als die Art vorstellen, wie wir gewissermaßen auf dem Strom unseres seelischen und geistigen Schicksals reiten. So geht es bei dieser Tugend eher um die Art, wie wir uns von unserer gegenwärtigen Lebenslage aus in das hinein bewegen, was uns aus der Zukunft entgegenkommt. Ohne Unterscheidungsvermögen leben wir eigentlich immer in der Vergangenheit – in vergangenen Einfällen, in vergangenen Emotionen und Gefühlen, in alten Gewohnheiten.
Unterscheidungsvermögen, wenn es eintritt, erkennen wir nicht einmal als etwas Wichtiges an – es sei denn, wir erleben dabei die konkrete Wirklichkeit der Freiheit unseres Geistes. Zwar hört sich Freiheit des Geistes nämlich wie etwas Wunderbares an, aber die Realität dieser Freiheit ist, dass sie mit einem Leben im Nichtwissen einhergeht sowie mit dem Lernenmüssen, sich in diesem Nichtwissen zurechtzufinden. Das geht nur, indem wir die verschiedenen Elemente unseres Innenlebens zu harmonisieren suchen – unser Denken mit unserem Fühlen, mit unserem Wahrnehmen, mit unseren Wünschen und Begierden, mit unseren Absichten. Wird eines dieser Elemente zu stark, dann wird das Unterscheidungsvermögen gerade dort verwirrt, wo wir uns im Prozess des Unterscheidens befinden. Daher besteht die Hauptdisziplin beim Ausbilden der Tugend des Unterscheidungsvermögens in innerer Ruhe und im Lauschen.
Liebe
Liebe macht einen riesigen Themenbereich an sich aus, und so muss klargestellt werden, dass uns hier nur die Liebe als Tugend interessiert. Letztere ist ja etwas leicht anderes, als das ganze konkrete Reich der Liebe. Die praktische Frage, diejenige, die die Tugend betrifft, ist die Frage danach, wie man Liebe eigentlich praktiziert. Wie tun wir sie? Wir können damit beginnen, dass wir sagen: Solange wir Liebe fühlen, tun wir sie nicht so vollkommen, wie es eigentlich möglich wäre. Gefühle der Liebe sind natürlich äußerst wichtig. Aber sie weisen auch darauf hin, dass wir etwas festzuhalten versuchen, deren ganzer Sinn es ist, dass wir sie verschenken: das Wesen der Liebe als Tugend ist es, verschenkt zu werden.
Liebe ist ja kein Gegenstand, kein Ding. Was bedeutet es also, sie zu geben? Um diese Tugend zu erleben, muss man sich mit dem eigenen Bedürfnis intimst vertraut machen, Liebe zu empfangen. An diesem Bedürfnis liegt es wohl, dass wir die Liebe festhalten, die doch frei sein will, damit sie in der Welt zirkulieren kann. So wird die Tugend der Liebe durch Selbstliebe verwirrt. Und doch ist Selbstliebe ohne Frage für die Tugend der Liebe notwendig – ja sie ist geradezu eine Voraussetzung dazu. Selbstliebe besteht im Bemühen, wir selbst zu sein und nicht jemand, von dem andere möchten, dass wir es seien. Liebe kann nicht verschenkt werden, außer sie wird es frei aus unserer eigenen Individualität. Sonst sind die Liebestaten, mit denen wir uns verbinden, eigentlich für uns selbst und nicht für andere und die Welt. Selbstliebe ermöglicht uns die freie Wahl, die Liebe zu verschenken anstatt sie festzuhalten.
Liebe soll hier zwar nicht definiert werden; wohl aber sollte versucht werden, sie so zu charakterisieren, dass man sie nicht mit bestimmten Gefühlszuständen verwechselt. Umgekehrt sollte sie auch nicht zu hastig spiritualisiert werden. Vielleicht können wir sagen, dass Liebe in einer universellen Freundlichkeit besteht, die mit Wohltätigkeit für alle Geschöpfe durchsetzt ist. Angesichts einer so breiten Charakterisierung wird deutlich, welche Weisheit darin besteht, dass auf dem Tierkreis die Liebe zwischen Unterscheidungsvermögen und Ehrfurcht liegt: Unterscheidungsvermögen ist für die Praxis der Liebe nötig, damit sie überall spezifisch sein kann. Und da die Liebe es ist, was uns sowohl in die ganze äußere Schöpfung konkret hineinträgt, als auch in das ganze innen-Reich der Seele und des Geistes, so muss sie darauf vorblicken, in je ganz spezifischer Art und Weise ausgeführt zu werden. In dieser Weise nimmt sie die Ehrfurcht vorweg.
Die Tugend der Liebe erlebt man als ein umfassendes Feld, das in uns selbst und dem/der Geliebten existiert, das aber auch den seelischen Raum durchsetzt, der beide umgibt. Der zentrale Aspekt bei der Liebe als Tugend ist ein zweifacher: dass wir lernen, die Realität dieser Strömungen der Liebe als autonome Wirklichkeit wahrzunehmen, und dass wir dazu aufgerufen sind, an dieser autonomen Wirklichkeit teilzunehmen und ihr zu folgen. Diese Strömungen der Liebe öffnen neue Ebenen des Wahrnehmens, sodass alles intensiver ins Schwingen kommt und uns dabei das eigene Seelen- und Geistwesen zeigt.
Mit diesen kurzen Charakteristiken der Tugenden als Ausgangspunkt können wir nun fortfahren und in umfassenderer und vertiefender Weise beschreiben, was die Tugenden jeweils sind, wie sie funktionieren und was sie in der Seele und als Mächte in der Welt bewirken.