aus Die Macht der Seele. Wege zum Leben der Monatstugenden
von Robert Sardello
Einleitung
Das Wort „Tugend“ hat eine große Bedeutungsvielfalt. Es ist ein Wort mit einer großartigen Geschichte, die vielleicht ebenso alt ist wie die Menschheit selbst. Es existiert sowohl in östlichen wie auch in westlichen Kulturen. Heutzutage hört man nicht viel von diesem Wort, zum Teil weil wir uns mehr für die Schattenseite des Lebens interessieren als dafür, das Gute zu tun. Ich glaube, unsere Kultur ist für eine Kehrtwendung reif. Die neue Tür zur Beschäftigung mit der Tugend wurde uns am 11. September 2001 in New York, Washington und im Flugraum über Pennsylvania gezeigt, indessen Folge alle die in diesem Buch beschriebenen Tugenden in Erscheinung traten; das war der Beginn eines neuen Zeitalters, das Gute zu tun (siehe Epilog). Angesichts dieser Situation unserer Kultur dürfte es als Einstieg hilfreich sein, wenn ich Ihnen erkläre, wie ich das Wort „Tugend“ verwende.
Aus religiöser Perspektive nähere ich mich der Tugend nicht. In diesem Buch geht es nicht darum, ein tugendhafter Mensch zu sein, sofern dieser Ausdruck mit einem pietätvollen Unterton gehört wird. Es geht vielmehr darum, dass wir das Wesen unserer Seele finden und dass wir uns einen inneren Sinn dafür aneignen, wie die Seele in der Welt funktionieren will, um das Gute herbeizuführen. Gegenwärtig sind wir daran gewöhnt, von der Seele in ihren Leiden, in ihrem Bedürfnis nach Schönheit, in ihrer Liebe zur Erzählung, zum Mythos, zur Kreativität zu hören. In jüngerer Zeit hört man ferner von „der Seele der Welt“. Auch handeln will die Seele. Und wenn wir uns tief in das Leben der Seele hineinbegeben, werden wir für das empfänglich, was aus den geistigen Welten zu uns kommt.
Die Tugenden sind das Aufleuchten von geistigen Impulsen innerhalb der Seele, um unser Leben mit den Rhythmen des Kosmos in Harmonie zu bringen. Tugend hat mit dem Schließen der Kluft zwischen der irdischen Welt und den geistigen Welten zu tun. Zwei Welten gibt es nicht – es sei denn, wir wenden uns vom Handeln in Übereinstimmung mit der Großen Welt ab und schaffen eine künstliche Trennung dort, wo keine echte existiert. Solche Trennung erzeugt eine kulturelle Selbstsucht der derbsten und grausamsten Art. Wir können ja vergessen, dass wir Bürger des Kosmos sind, dass die Erde und ihre Wesen Teil des Ganzen sind. Diese Schrift möchte daran erinnern, dass wir nicht nur zu diesem Ganzen dazugehören, sondern dass es auch an uns ist, im Einklang mit dessen Größe und Schönheit zu handeln.
Nach populärem Verständnis heißt spirituelle Entwicklung heutzutage oft, sich auf die Chakren konzentrieren lernen; verschiedene Formen der Meditation ausführen; nach dem eigenen höheren Selbst suchen; sich mit schamanischen Praktiken befassen, mit Seelenbildern, mit Traumdeutung und einer Vielzahl anderer möglicher Praktiken. Der inneren moralischen Entwicklung wird herzlich wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Und doch gibt jede spirituelle Tradition dem moralischen Charakter eine hohe Priorität zu und den Erfahrungsarten, die viele zeitgenössische spirituelle Praktiken suchen, einen eher geringen Wert. Eine der Wirkungen des Arbeitens an den Tugenden und an der eigenen Vertiefung ist nicht abzustreiten: man wird allmählich offen für Erlebnisse, die dem gewöhnlichen Bewusstsein nicht zugänglich sind. Es ist aber nicht der Fall, dass allein das sich Erarbeiten psychischer oder gar geistiger Fähigkeiten einen Menschen zu jemandem mache, der das Gute sucht und tut.
Spirituelle Entwicklung kann zu fragwürdigen Zwecken gesucht werden, und genau das kommt auch durchaus häufig vor. Leibfreier Erfahrungen machen, in andere Welten reisen, hellsichtig werden, Heilerfähigkeiten entwickeln, eine Beziehung zum höheren Selbst finden – alle solchen Anliegen gelten in den großen religiösen und geistigen Traditionen als von wenig Belang für eine spirituelle Entwicklung. Ja das Entwickeln solcher Fähigkeiten sieht man in den Traditionen sogar als große Herausforderung an. Man müsse daran vorbeischauen lernen und niemals sich in solche Fähigkeiten verlieben. Anders ausgedrückt: Wenn wir uns seelisch immer weiter vertiefen wollen, müssen wir tatsächlich lernen, die sich entwickelnden Fähigkeiten zu übersehen. Diese Mahnung hinsichtlich des Strebens nach geistigen Erfahrungen zeigt, dass spirituelle Arbeit so, wie sie seit Jahrtausenden verstanden wird, niemals nur um des Arbeitenden willen selbst, sondern stets der ganzen Welt zuliebe ausgeführt wird. Der Vorzug der Tugenden ist, dass durch sie unsere geistigen Bemühungen immer geerdet und mit den seelischen und geistigen Bedürfnissen anderer in Verbindung bleiben.
Der Kontext, in dem jeder Mensch in den Qualitäten der Tugenden vorankommen kann, ist unser alltägliches Leben, inmitten unserer Verbindungen, Prüfungen, Schwierigkeiten und Freuden mit anderen zusammen. Eine alternative Weise die Tugenden zu sehen wäre, sie als das seelische Medium unserer geistigen Beziehungen mit anderen zu sehen. Die Tugenden machen den Weg sakralen Dienens in der Welt aus, denn sie sind das Mittel, durch das wir der Seele und dem Geist anderer Menschen dienen. Nur wenn wir so dienen, kann eine ganze Gemeinschaft gedeihen. Es muss allerdings unterschieden werden, ob wir der Seele und dem Geist anderer Menschen dienen, oder ob es bloß ein anderer Mensch oder dessen äußere Bedürfnisse sind, denen wir dienen. Ferner muss solches Dienen freie Wahl sein und sich nicht auf Macht oder Autorität oder Stellung gründen.
Im alltäglichen Leben kommen wir oft in Situationen hinein, in denen eine Art dienstartigen Verhaltens anderen gegenüber gefordert ist. Solche Anforderungen treten im Familienleben, bei der Arbeit, in intimen Partnerbeziehungen, in gesellschaftlichen Situationen auf. In der Regel gehen wir aus Liebe zum anderen Menschen, aus Pflicht, Verbindlichkeit, Furcht auf sie ein. Keine dieser Verhaltensweisen kann als eine Handlung der Tugend gelten. Solche Situationen können aber zum Ort des Arbeitens, zum Labor für die Ausführung der Tugenden werden.
Wenn wir die Sache aus einer Seele-Geist-Perspektive betrachten, so ist das, was in allen diesen Zusammenhängen von uns verlangt wird, dass durch uns eine Forderung in eine Handlung der Tugend verwandelt werde, und zwar dem Menschen gegenüber, der die Forderung stellt. Bei dieser Verwandlung ist es nötig, dass auf die Forderung nicht direkt eingegangen, sondern dass sie durchschaut werde. Mit „durchschauen“ meine ich einen Akt der Imagination, in dem die leidende Seele und der leidende Geist des Menschen, der die Forderung stellt – sei diese offen oder versteckt – wahrgenommen und beantwortet werden kann. Mir ist zum Beispiel vielfach gesagt worden, dass ich bei meiner Arbeit als Kursleiter sehr geduldig bin. In meinen Kursen werden des öfteren Fragen gestellt, die ziemlich frivol wirken können. Ich bin bestrebt, mich weder von solchen Fragen abzuwenden, noch sie direkt zu beantworten. Entstammen sie doch meistens der Persönlichkeit des Fragenden. Ich bemühe mich, die Frage, den Kommentar, die Bemerkung eben bis auf das Seelen- und Geistwesen, das diese Person ist, zu durchschauen, und die seelische Substanz der Person direkt anzusprechen. Damit ich dies tun kann, muss meine unmittelbare emotionale Reaktion auf die Person gemildert sein. Es geht nicht darum, diese Dinge zu durchdenken, sondern um die Disziplin, mit der wir die Wahrnehmung des anderen Menschen suchen.
Ob die Tugend nach innen geht in Richtung Seelenentwicklung, oder nach oben in Richtung Entwicklung des Geistes: sie hat nicht nur mit einem selbst zu tun. Bei der Tugend geht es um die Seelen- und Geistesgeschenke, die wir anderen machen. Ferner sind diese Geschenke nichts, was wir schon zur Hand und fertig zum Verschenken haben. Der andere Mensch schenkt uns, dass wir diese Geschenke erst erzeugen müssen, damit wir sie verschenken können. So haben alle Tugenden etwas Polares an sich. So müssen wir zum Beispiel in der Tugend der Geduld Fortschritte machen, und Geduld ist zugleich auch unser geistiges Geschenk an andere. Oder wir müssen in der Tugend des Gleichgewichts Fortschritte machen, und Gleichgewicht ist zugleich auch unser geistiges Geschenk an andere.
Dann gibt es einen weiteren Aspekt: Tugend als Handlungsmodus anderen Menschen gegenüber soll sich nicht an deren unmittelbaren Bedürfnissen orientieren, sondern an der Ebene ihrer Seele und ihres Geistes. So kann es sehr wohl sein, dass das Schenken und Empfangen der Tugend ein unsichtbarer Vorgang bleibt. Zwar tauchen die Wirkungen eines solchen Hin und Her schon in der sichtbaren Welt auf, indem Beziehungen sich allmählich auf niveauvollere, verfeinertere Ebenen hinaufverwandeln; aber diese Wirkungen sind fast immer sehr fein und daher kaum wahrnehmbar.
Der Ausdruck „verfeinertere Ebenen“ bedarf der Klärung. Tugend funktioniert in keiner einfachen Weise; es handelt sich nicht darum, dass meine gütige Behandlung von jemandem dazu führt, dass dieser seine Haltung mir gegenüber verändert und mir im Gegenzug auch Güte bezeigt. Die Schwierigkeit bei einem solchen Denkansatz sowie bei einem entsprechenden Verhalten anderen gegenüber wäre, dass dies rasch zu einer Machtstrategie würde mit dem Sinn und Zweck, ein gewünschtes Ergebnis herbeizuführen.
Tugend funktioniert nicht in dieser Weise; das würde Seelen- und Geistbeziehungen zu materialistischen Ursache-Wirkung-Beziehungen machen. Wir können nicht einfach Tugenden in unser Leben einfügen und auf derselben Bewusstseinsstufe bleiben wie bisher. Lassen wir uns einmal auf die Aufgabe ein, uns in der Tugend zu entwickeln, dann treten wir in einen alchemistischen Prozess ein: Das eigene Seelenleben verwandelt sich in Fähigkeiten um anderen Menschen mit Takt und Grazie, nuanciert und unauffällig zu helfen.
Die Alchemie der Tugend, indem diese in einen Vorgang seelischer Verfeinerung hineingezogen wird, verändert schwierige Situationen nicht im einzelnen, sondern verändert, verfeinert das Funktionieren des Ganzen. Man nehme etwa an, meine Situation am Arbeitsplatz verlangt von mir, dass ich in meiner Beziehung zu einem bestimmten Menschen mich in der Kapazität der Treue weiterentwickele. In dieser Tugend Fortschritt zu machen würde in dem Fall bedeuten, dass ich es unterlasse, meine Ansichten und Meinungen danach einzurichten, was mir im Augenblick am dienlichsten ist und stattdessen die Fähigkeit ausbilde, in Seele und Geist vor dem anderen Menschen fest und unbeirrt anwesend zu sein. Das hieße, ich hätte mich darin zu vertiefen, den anderen so im Sinn zu haben, dass ich eine Empfindung der Verehrung für die Seele dieses Menschen in mir trage. Indem diese Fähigkeit sich bildet, erfährt der Charakter der ganzen Arbeitsgemeinschaft dahingehend eine leichte Veränderung, dass sie seelenvoller wird; wir stellen fest, dass die Menschen anfangen, sich umeinander zu kümmern, anstatt gegeneinander zu konkurrieren.
Während wir einerseits in uns eine Vorstellung von einer jeden und ein inneres Gefühl für eine jede Tugend ausbilden und andererseits auch an deren Ausführung arbeiten, wird das Wesen von Tugend überhaupt klarer. Tugend wird ein Modus, ganzheitlich in der Welt zu handeln. Diese lange Zeit verborgene Sphäre öffnet sich derzeit auch in der breiteren Kultur, wenn auch nur indirekt. Ist es nicht so, dass wo immer wir einen ganzheitlichen Ansatz etwa in der Wissenschaft, der Heilkunst bzw. der Medizin, der Ökologie oder sonst einem Bestreben finden, wir in diesen Bemühungen auch immer eine ihnen innewohnende ethische Dimension finden, die in deren Ausformulierung eine zentrale Rolle spielt? Vielleicht haben die heilenden Eigenschaften, die das ganzheitliche Wissen auszeichnen, mit den Qualitäten der Tugend zu tun, die ja ganzheitlichen Praktiken überhaupt innewohnen. In ganzheitlichen Verfahren kommt etwas hinzu, was über die bloße Erforschung neuer Paradigmen des Heilens hinausgeht. Dieses „Etwas, das hinzukommt“ ist dies: die Seele des Heilenden wird als ein zentraler, für uns wesentlicher Aspekt der Arbeit mit erfasst.
Diese neuen Erkenntnismodi sehen ein, dass der Erkenntnisakt keine neutrale Handlung ist; dass wir nur anhand der Tugend ganzheitlich erkennen können. Eine solche Einsicht hält unsere Erkenntnis nicht etwa für eine subjektive Angelegenheit; ganz im Gegenteil. Das Bewusstsein, dass Tugend hineinspielt sowohl in die Art wie, als auch in das, was wir erkennen, macht uns objektiver, während Unkenntnis dieser Faktoren ein unbewusstes subjektives Element im Zentrum der Erkenntnis zementiert. Das heißt, die Auffassung, dass Erkenntnis ethisch neutral sei, bewirkt entweder, dass die ethische Dimension der Erkenntnis Privatsache bleibt, oder aber dass sie zur Debatte an die Experten, die Ethiker ausgelagert wird.
Wir können uns Tugend als ein so unermessliches wie differenziertes kosmisches Medium vorstellen, durch das es möglich wird, seelische wie auch geistige Beziehungen einzugehen, und zwar nicht nur mit anderen Menschen, sondern auch mit dem menschlichen Leib sowie mit der Naturwelt, also mit der Pflanzenwelt, der Tierwelt und sogar auch mit der mineralischen Welt. Hätten wir nicht eine völlig andere Wissenschaft – eine andere Biologie, Chemie, Medizin, Botanik, Landwirtschaft, Technologie –, wenn man sich diesen Bereichen durch die zwölf Tugenden Gelassenheit, Geduld, Selbstlosigkeit, Liebe, Mitleid, Hingabe, Gleichgewicht, Treue, Höflichkeit, Wahrheit, Mut und Urteilsvermögen nähern würde? Wenn eine Erziehung zur Tugend einen wesentlichen Teil des Prozesses ausmachen würde, durch den man Wissenschaftler oder Forscher oder Lehrer oder Erzieher oder Anwalt wird, dann sähen die Sphären der Forschung und der Praxis ganz anders aus, als sie in den Augen eines Menschen aussehen, der nach dem derzeitigen Stand des jeweiligen Berufes ausgebildet wird.
Bei der Bergung der Tugend aus ihrer Vergessenheit geht es um viel mehr als um das Vorschreiben einer Liste von Dingen, die es zu erledigen gilt und die, wenn sie richtig ausgeführt werden, uns zu ehrenhaften Menschen machen. Es geht darum, das Bewusstsein neu zu betrachten, so dass die Tugend kognitive, emotionale, spirituelle und seelische Handlungen sowie auch unser Verhalten umfasst.
Anscheinend sind die Tugenden innere Qualitäten, die – suchen wir übend uns ihrer bewusst zu werden und sie zu stärken – wir in Verhaltensmodi hereinbringen können, die eine Auswirkung auf andere Menschen haben. Mir ist wichtig, indem ich in dieser Weise über die Tugend rede, vorsichtig und vor einem möglichen Missverständnis auf der Hut zu sein. Dieses Missverständnis wäre die Auffassung, dass die Tugenden, einmal ausgebildet, würden, sie etwas wären, was in der äußeren Welt direkt Veränderungen verursachen kann. Angesichts des wissenschaftlichen und technologischen Weltbilds, in dem wir (noch) leben, ist ein solches Missverständnis nahezu unvermeidlich. Eine Facette dieses Weltbildes ist alles, was in der Welt vorgeht, als Ausdruck von Ursache und Wirkung anzusehen. Aber nichts, was dem Reich der Seele oder dem des Geistes angehört, gehört so der Sphäre von Ursache und Wirkung an, wie diese landläufig verstanden werden. Wir können zum Beispiel nicht behaupten, die Praxis der Geduld werde als Ursache die Wirkung erzeugen, dass andere Menschen einen besser behandeln würden. Ebensowenig können wir behaupten, dass Geduld eine wahrnehmbare Auswirkung auf die Menschen haben werde, die in der Nähe dessen sind, der sie ausführt.
Aber die Sache ist sogar noch komplexer. Die Tugend der Geduld etwa ist von der Gegenwart derjenigen abhängig, die unsere Geduld auf die Probe stellen. Solche Hindernisse gilt es als Teil des Phänomens mit zu erwägen; das heißt, wir müssen uns eine Art kreisförmiger Kausalität vorstellen. Wir brauchen verstockte, sture Menschen, um die Tugend der Geduld auszubilden. Das Gleiche lässt sich entsprechend auch auf alle anderen Tugenden übertragen.
Die Tugenden gehören zu den elementaren Qualitäten menschlicher Existenz, zur Macht der Seele selber. Sie gehören zum grundlegenden, ja definierenden Aspekt dessen, was es heißt, verkörperte Wesen aus Seele und Geist zu sein, die sich dieser menschlichen Existenz bewusst sind und die in der Welt hervorragen und stets zu anderen Menschen in Beziehung stehen. Von den Tugenden können wir sagen, dass sie zu den existentiellen Kategorien des Menschseins gehören. Dieser Ansatz fundiert die Haltung und die Sichtweise der in diesem Buch angegebenen Meditationen über die Tugend. Wenn ich vom Üben der Tugenden spreche, so meine ich nicht das Erlernen einer Fertigkeit, sondern die Einsicht, dass wir daran arbeiten müssen, uns unseres vollen Menschseins bewusst zu sein – das heißt: gegenüber unserem Dasein als Geschöpfe aus Leib, Seele und Geist wach zu sein. Was uns auf unserem Erdenweg mitgegeben wird ist, wie es scheint, weiter nichts als das Potential, Mensch zu sein. Uns obliegt es, dieses Potential umzusetzen. Die Beschreibungen der Tugend, die den Kern dieses Buches ausmachen, sind nicht als Anweisungen zu verstehen, was man tun muss, um ein Mensch zu sein; sie sind Veranschaulichungen unserer potentiell moralischen Existenz.
Ist der Ausdruck „Tugend“ noch brauchbar? Diese Frage mag komisch wirken angesichts der Tatsache, dass ich einen Versuch unternommen habe, nicht nur die Idee der Tugend überhaupt wiederzugewinnen, sondern auch für eine Anzahl spezifischer Tugenden eine Phänomenologie herauszuarbeiten. Ferner bemühe ich mich darum, manche spezifischen Vorschläge zu machen für das Leben der Tugenden in unserer Zeit. Nichtsdestoweniger bleibt es eine fortdauernde Arbeit, die Vorstellung „Tugend“ aus jeglicher veralteten Konfessionalität, Pietät oder aus einem Dogma zu befreien und ihre Vitalität und Energie wiederherzustellen, die in der heutigen Welt Geltung haben können. In vergangenen Zeiten arbeiteten die Menschen gezielt daran, ein tugendhaftes Leben zu führen. Heute hört sich das nicht nur veraltet an; veraltet ist es wirklich.
Wir wissen zu viel über die finsteren Seiten der menschlichen Natur sowie über die Notwendigkeit, die Schattenaspekte der Seele zu durchschauen, als dass wir an Tugendhaftigkeit so glauben könnten, wie sie einstmals aufgefasst wurde. Während es in der Vergangenheit beim Üben darauf ankam, durch Reue und Sühne zu einer Tugend zu finden, die darin bestand, sich bestimmter Handlungen zu enthalten und sich dagegen zu wehren, dass bestimmte Gedanken und Gefühle ins Bewusstsein eindringen, ist heute die Selbstbeobachtung wichtig. Wir müssen in uns die Fähigkeiten ausbilden, nicht nur die subtilsten unserer inneren Zustände und äußeren Handlungen, sondern auch die Verbindung (beziehungsweise das Fehlen einer Verbindung) zwischen diesen zu beobachten, ja sogar die unterschwelligen, fast unmerklichen Folgen unserer Handlungen müssen wir beobachten lernen. Diese Praktiken bilden das neue Feld, auf dem die Tugend wieder aufleben kann.
In diesem Buch habe ich mich weder auf die Idee (beziehungsweise auf ein Ideal) des Tugendhaft-Seins bezogen noch eine solche Idee gefördert. Das Anliegen beim Ausführen der verschiedenen Tugenden ist es nicht, sich selbst in einen tugendhaften Menschen zu verwandeln. Es ist wohl besser, das Unterfangen, bei sich selbst seelische Eigenschaften auszubilden, als einen Weg zur Umwandlung der eigenen Handlungsweisen zu beschreiben. Auch unsere scheinbar altruistischsten Handlungen sind für gewöhnlich mit Selbstinteresse durchsetzt. Diese Beobachtung ist nicht wertend gemeint; die Sache verhält sich vielmehr so: Da die Selbstsucht – sofern sie sich selbst überlassen wird – streng dem Gesetz des Sicherveiterns, des Sichabsetzens von anderen, der Befangenheit in sich selbst gehorcht, so besteht in jedem Menschen das Bedürfnis und der Impuls, das Ego zum echten Interesse an anderen, zur Sorge um die Welt, zur Liebe zum Göttlichen umzuorientieren. In diesem Buch vertrete ich den Standpunkt, dass der Egoismus hauptsächlich deswegen entsteht, weil unser Standard-Bewusstsein, da es nichts Sakrales, nichts Heiliges hat als Beschäftigung, sich von dem eigenen Vergnügen, dem eigenen Fortleben, der eigenen Zunahme völlig in Anspruch nehmen lässt. Eine Neuorientierung tut not.
Das Leben der Tugenden verlangt nicht von uns, dass wir auf unser Ego verzichten, als den psychischen Faktor, der uns allen eine unmittelbar konkrete Empfindung von uns selbst verleiht. In früheren Zeiten war es vielleicht so, dass das Ausführen der Tugend einen solchen Verzicht forderte. Es war, wie wenn die Menschen sich vor dem gerade entdeckten und vom Ego mitgebrachten Gefühl der Selbstbezogenheit fürchteten und sie deshalb die Hoffnung hegten, durch Ausmerzen dieses seelischen Faktors noch vor dessen endgültiger Festsetzung in der Seele, in unschuldiger Ergebung an das Göttliche weiterleben zu können. Allerdings ließ sich diese Hoffnung immer weniger und weniger erfüllen.
Da die Menschen nun die Ego-Dimension des Seelenlebens äußerst sorgfältig ausgebildet haben, haben sie eine andere Aufgabe. Es ist inzwischen hoffnungslos, durch Verzicht auf diesen Faktor eine Verbindung mit der Gnade der Heiligkeit zu erhalten. Unsere neue Aufgabe ist vielmehr die, das Ego zu verwandeln, statt es zu ignorieren, zu eliminieren oder es in der Illusion leben zu lassen, dass es unser ganzes bewusstes Sein ausmache. Eine solche Verwandlung besteht darin, dass wir zulassen, dass unser Egobewusstsein die Seelensubstanz empfängt, die durch Handlungen der Tugend entsteht.
Ich gehe mit den Tugenden um als mit einer Arbeit an der Metamorphose des Egobewusstseins. Der Prozess der Metamorphose funktioniert nicht in Opposition zum Ego; er ist vielmehr ein Weg für unser gewöhnliches Bewusstsein, mehr als nur sich selbst zu umfassen und mit mehr als nur sich selbst erfüllt zu sein. So, wie sich die Puppe in den Schmetterling verwandelt, so kann auch Egobewusstsein sich in ein Seelenbewusstsein verwandeln, das den geistigen Welten gegenüber offen und empfänglich ist. Bei der Puppe bleibt der Abdruck des früheren Zustandes im Körper des Schmetterlings erhalten, nur besitzt der umgewandelte Körper jetzt Flügel. In ähnlicher Weise wird das Ego durch den Prozess der Tugend nicht vermindert, sondern dessen Form verändert, ihm das Fliegen ermöglicht. Der Prozess der Tugend lässt Ego das sein, worauf es vorbereitet wurde und wonach es sich sehnt. Das Ego wird zu einem geistigen Ich, ohne aber wegen der Anziehungskraft der Höhen die Welt verlassen zu wollen. Es sucht alles, was hier ist, in seelenvoller Weise zu erfahren.
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Weiterlesen in Die Macht von Seele. Wege zum Leben der zwölf Monatstugenden
The Power of Soul. Living the Twelve Virtues ist bei Goldenstone Press zu erwerben.
von Robert Sardello
Einleitung
Das Wort „Tugend“ hat eine große Bedeutungsvielfalt. Es ist ein Wort mit einer großartigen Geschichte, die vielleicht ebenso alt ist wie die Menschheit selbst. Es existiert sowohl in östlichen wie auch in westlichen Kulturen. Heutzutage hört man nicht viel von diesem Wort, zum Teil weil wir uns mehr für die Schattenseite des Lebens interessieren als dafür, das Gute zu tun. Ich glaube, unsere Kultur ist für eine Kehrtwendung reif. Die neue Tür zur Beschäftigung mit der Tugend wurde uns am 11. September 2001 in New York, Washington und im Flugraum über Pennsylvania gezeigt, indessen Folge alle die in diesem Buch beschriebenen Tugenden in Erscheinung traten; das war der Beginn eines neuen Zeitalters, das Gute zu tun (siehe Epilog). Angesichts dieser Situation unserer Kultur dürfte es als Einstieg hilfreich sein, wenn ich Ihnen erkläre, wie ich das Wort „Tugend“ verwende.
Aus religiöser Perspektive nähere ich mich der Tugend nicht. In diesem Buch geht es nicht darum, ein tugendhafter Mensch zu sein, sofern dieser Ausdruck mit einem pietätvollen Unterton gehört wird. Es geht vielmehr darum, dass wir das Wesen unserer Seele finden und dass wir uns einen inneren Sinn dafür aneignen, wie die Seele in der Welt funktionieren will, um das Gute herbeizuführen. Gegenwärtig sind wir daran gewöhnt, von der Seele in ihren Leiden, in ihrem Bedürfnis nach Schönheit, in ihrer Liebe zur Erzählung, zum Mythos, zur Kreativität zu hören. In jüngerer Zeit hört man ferner von „der Seele der Welt“. Auch handeln will die Seele. Und wenn wir uns tief in das Leben der Seele hineinbegeben, werden wir für das empfänglich, was aus den geistigen Welten zu uns kommt.
Die Tugenden sind das Aufleuchten von geistigen Impulsen innerhalb der Seele, um unser Leben mit den Rhythmen des Kosmos in Harmonie zu bringen. Tugend hat mit dem Schließen der Kluft zwischen der irdischen Welt und den geistigen Welten zu tun. Zwei Welten gibt es nicht – es sei denn, wir wenden uns vom Handeln in Übereinstimmung mit der Großen Welt ab und schaffen eine künstliche Trennung dort, wo keine echte existiert. Solche Trennung erzeugt eine kulturelle Selbstsucht der derbsten und grausamsten Art. Wir können ja vergessen, dass wir Bürger des Kosmos sind, dass die Erde und ihre Wesen Teil des Ganzen sind. Diese Schrift möchte daran erinnern, dass wir nicht nur zu diesem Ganzen dazugehören, sondern dass es auch an uns ist, im Einklang mit dessen Größe und Schönheit zu handeln.
Nach populärem Verständnis heißt spirituelle Entwicklung heutzutage oft, sich auf die Chakren konzentrieren lernen; verschiedene Formen der Meditation ausführen; nach dem eigenen höheren Selbst suchen; sich mit schamanischen Praktiken befassen, mit Seelenbildern, mit Traumdeutung und einer Vielzahl anderer möglicher Praktiken. Der inneren moralischen Entwicklung wird herzlich wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Und doch gibt jede spirituelle Tradition dem moralischen Charakter eine hohe Priorität zu und den Erfahrungsarten, die viele zeitgenössische spirituelle Praktiken suchen, einen eher geringen Wert. Eine der Wirkungen des Arbeitens an den Tugenden und an der eigenen Vertiefung ist nicht abzustreiten: man wird allmählich offen für Erlebnisse, die dem gewöhnlichen Bewusstsein nicht zugänglich sind. Es ist aber nicht der Fall, dass allein das sich Erarbeiten psychischer oder gar geistiger Fähigkeiten einen Menschen zu jemandem mache, der das Gute sucht und tut.
Spirituelle Entwicklung kann zu fragwürdigen Zwecken gesucht werden, und genau das kommt auch durchaus häufig vor. Leibfreier Erfahrungen machen, in andere Welten reisen, hellsichtig werden, Heilerfähigkeiten entwickeln, eine Beziehung zum höheren Selbst finden – alle solchen Anliegen gelten in den großen religiösen und geistigen Traditionen als von wenig Belang für eine spirituelle Entwicklung. Ja das Entwickeln solcher Fähigkeiten sieht man in den Traditionen sogar als große Herausforderung an. Man müsse daran vorbeischauen lernen und niemals sich in solche Fähigkeiten verlieben. Anders ausgedrückt: Wenn wir uns seelisch immer weiter vertiefen wollen, müssen wir tatsächlich lernen, die sich entwickelnden Fähigkeiten zu übersehen. Diese Mahnung hinsichtlich des Strebens nach geistigen Erfahrungen zeigt, dass spirituelle Arbeit so, wie sie seit Jahrtausenden verstanden wird, niemals nur um des Arbeitenden willen selbst, sondern stets der ganzen Welt zuliebe ausgeführt wird. Der Vorzug der Tugenden ist, dass durch sie unsere geistigen Bemühungen immer geerdet und mit den seelischen und geistigen Bedürfnissen anderer in Verbindung bleiben.
Der Kontext, in dem jeder Mensch in den Qualitäten der Tugenden vorankommen kann, ist unser alltägliches Leben, inmitten unserer Verbindungen, Prüfungen, Schwierigkeiten und Freuden mit anderen zusammen. Eine alternative Weise die Tugenden zu sehen wäre, sie als das seelische Medium unserer geistigen Beziehungen mit anderen zu sehen. Die Tugenden machen den Weg sakralen Dienens in der Welt aus, denn sie sind das Mittel, durch das wir der Seele und dem Geist anderer Menschen dienen. Nur wenn wir so dienen, kann eine ganze Gemeinschaft gedeihen. Es muss allerdings unterschieden werden, ob wir der Seele und dem Geist anderer Menschen dienen, oder ob es bloß ein anderer Mensch oder dessen äußere Bedürfnisse sind, denen wir dienen. Ferner muss solches Dienen freie Wahl sein und sich nicht auf Macht oder Autorität oder Stellung gründen.
Im alltäglichen Leben kommen wir oft in Situationen hinein, in denen eine Art dienstartigen Verhaltens anderen gegenüber gefordert ist. Solche Anforderungen treten im Familienleben, bei der Arbeit, in intimen Partnerbeziehungen, in gesellschaftlichen Situationen auf. In der Regel gehen wir aus Liebe zum anderen Menschen, aus Pflicht, Verbindlichkeit, Furcht auf sie ein. Keine dieser Verhaltensweisen kann als eine Handlung der Tugend gelten. Solche Situationen können aber zum Ort des Arbeitens, zum Labor für die Ausführung der Tugenden werden.
Wenn wir die Sache aus einer Seele-Geist-Perspektive betrachten, so ist das, was in allen diesen Zusammenhängen von uns verlangt wird, dass durch uns eine Forderung in eine Handlung der Tugend verwandelt werde, und zwar dem Menschen gegenüber, der die Forderung stellt. Bei dieser Verwandlung ist es nötig, dass auf die Forderung nicht direkt eingegangen, sondern dass sie durchschaut werde. Mit „durchschauen“ meine ich einen Akt der Imagination, in dem die leidende Seele und der leidende Geist des Menschen, der die Forderung stellt – sei diese offen oder versteckt – wahrgenommen und beantwortet werden kann. Mir ist zum Beispiel vielfach gesagt worden, dass ich bei meiner Arbeit als Kursleiter sehr geduldig bin. In meinen Kursen werden des öfteren Fragen gestellt, die ziemlich frivol wirken können. Ich bin bestrebt, mich weder von solchen Fragen abzuwenden, noch sie direkt zu beantworten. Entstammen sie doch meistens der Persönlichkeit des Fragenden. Ich bemühe mich, die Frage, den Kommentar, die Bemerkung eben bis auf das Seelen- und Geistwesen, das diese Person ist, zu durchschauen, und die seelische Substanz der Person direkt anzusprechen. Damit ich dies tun kann, muss meine unmittelbare emotionale Reaktion auf die Person gemildert sein. Es geht nicht darum, diese Dinge zu durchdenken, sondern um die Disziplin, mit der wir die Wahrnehmung des anderen Menschen suchen.
Ob die Tugend nach innen geht in Richtung Seelenentwicklung, oder nach oben in Richtung Entwicklung des Geistes: sie hat nicht nur mit einem selbst zu tun. Bei der Tugend geht es um die Seelen- und Geistesgeschenke, die wir anderen machen. Ferner sind diese Geschenke nichts, was wir schon zur Hand und fertig zum Verschenken haben. Der andere Mensch schenkt uns, dass wir diese Geschenke erst erzeugen müssen, damit wir sie verschenken können. So haben alle Tugenden etwas Polares an sich. So müssen wir zum Beispiel in der Tugend der Geduld Fortschritte machen, und Geduld ist zugleich auch unser geistiges Geschenk an andere. Oder wir müssen in der Tugend des Gleichgewichts Fortschritte machen, und Gleichgewicht ist zugleich auch unser geistiges Geschenk an andere.
Dann gibt es einen weiteren Aspekt: Tugend als Handlungsmodus anderen Menschen gegenüber soll sich nicht an deren unmittelbaren Bedürfnissen orientieren, sondern an der Ebene ihrer Seele und ihres Geistes. So kann es sehr wohl sein, dass das Schenken und Empfangen der Tugend ein unsichtbarer Vorgang bleibt. Zwar tauchen die Wirkungen eines solchen Hin und Her schon in der sichtbaren Welt auf, indem Beziehungen sich allmählich auf niveauvollere, verfeinertere Ebenen hinaufverwandeln; aber diese Wirkungen sind fast immer sehr fein und daher kaum wahrnehmbar.
Der Ausdruck „verfeinertere Ebenen“ bedarf der Klärung. Tugend funktioniert in keiner einfachen Weise; es handelt sich nicht darum, dass meine gütige Behandlung von jemandem dazu führt, dass dieser seine Haltung mir gegenüber verändert und mir im Gegenzug auch Güte bezeigt. Die Schwierigkeit bei einem solchen Denkansatz sowie bei einem entsprechenden Verhalten anderen gegenüber wäre, dass dies rasch zu einer Machtstrategie würde mit dem Sinn und Zweck, ein gewünschtes Ergebnis herbeizuführen.
Tugend funktioniert nicht in dieser Weise; das würde Seelen- und Geistbeziehungen zu materialistischen Ursache-Wirkung-Beziehungen machen. Wir können nicht einfach Tugenden in unser Leben einfügen und auf derselben Bewusstseinsstufe bleiben wie bisher. Lassen wir uns einmal auf die Aufgabe ein, uns in der Tugend zu entwickeln, dann treten wir in einen alchemistischen Prozess ein: Das eigene Seelenleben verwandelt sich in Fähigkeiten um anderen Menschen mit Takt und Grazie, nuanciert und unauffällig zu helfen.
Die Alchemie der Tugend, indem diese in einen Vorgang seelischer Verfeinerung hineingezogen wird, verändert schwierige Situationen nicht im einzelnen, sondern verändert, verfeinert das Funktionieren des Ganzen. Man nehme etwa an, meine Situation am Arbeitsplatz verlangt von mir, dass ich in meiner Beziehung zu einem bestimmten Menschen mich in der Kapazität der Treue weiterentwickele. In dieser Tugend Fortschritt zu machen würde in dem Fall bedeuten, dass ich es unterlasse, meine Ansichten und Meinungen danach einzurichten, was mir im Augenblick am dienlichsten ist und stattdessen die Fähigkeit ausbilde, in Seele und Geist vor dem anderen Menschen fest und unbeirrt anwesend zu sein. Das hieße, ich hätte mich darin zu vertiefen, den anderen so im Sinn zu haben, dass ich eine Empfindung der Verehrung für die Seele dieses Menschen in mir trage. Indem diese Fähigkeit sich bildet, erfährt der Charakter der ganzen Arbeitsgemeinschaft dahingehend eine leichte Veränderung, dass sie seelenvoller wird; wir stellen fest, dass die Menschen anfangen, sich umeinander zu kümmern, anstatt gegeneinander zu konkurrieren.
Während wir einerseits in uns eine Vorstellung von einer jeden und ein inneres Gefühl für eine jede Tugend ausbilden und andererseits auch an deren Ausführung arbeiten, wird das Wesen von Tugend überhaupt klarer. Tugend wird ein Modus, ganzheitlich in der Welt zu handeln. Diese lange Zeit verborgene Sphäre öffnet sich derzeit auch in der breiteren Kultur, wenn auch nur indirekt. Ist es nicht so, dass wo immer wir einen ganzheitlichen Ansatz etwa in der Wissenschaft, der Heilkunst bzw. der Medizin, der Ökologie oder sonst einem Bestreben finden, wir in diesen Bemühungen auch immer eine ihnen innewohnende ethische Dimension finden, die in deren Ausformulierung eine zentrale Rolle spielt? Vielleicht haben die heilenden Eigenschaften, die das ganzheitliche Wissen auszeichnen, mit den Qualitäten der Tugend zu tun, die ja ganzheitlichen Praktiken überhaupt innewohnen. In ganzheitlichen Verfahren kommt etwas hinzu, was über die bloße Erforschung neuer Paradigmen des Heilens hinausgeht. Dieses „Etwas, das hinzukommt“ ist dies: die Seele des Heilenden wird als ein zentraler, für uns wesentlicher Aspekt der Arbeit mit erfasst.
Diese neuen Erkenntnismodi sehen ein, dass der Erkenntnisakt keine neutrale Handlung ist; dass wir nur anhand der Tugend ganzheitlich erkennen können. Eine solche Einsicht hält unsere Erkenntnis nicht etwa für eine subjektive Angelegenheit; ganz im Gegenteil. Das Bewusstsein, dass Tugend hineinspielt sowohl in die Art wie, als auch in das, was wir erkennen, macht uns objektiver, während Unkenntnis dieser Faktoren ein unbewusstes subjektives Element im Zentrum der Erkenntnis zementiert. Das heißt, die Auffassung, dass Erkenntnis ethisch neutral sei, bewirkt entweder, dass die ethische Dimension der Erkenntnis Privatsache bleibt, oder aber dass sie zur Debatte an die Experten, die Ethiker ausgelagert wird.
Wir können uns Tugend als ein so unermessliches wie differenziertes kosmisches Medium vorstellen, durch das es möglich wird, seelische wie auch geistige Beziehungen einzugehen, und zwar nicht nur mit anderen Menschen, sondern auch mit dem menschlichen Leib sowie mit der Naturwelt, also mit der Pflanzenwelt, der Tierwelt und sogar auch mit der mineralischen Welt. Hätten wir nicht eine völlig andere Wissenschaft – eine andere Biologie, Chemie, Medizin, Botanik, Landwirtschaft, Technologie –, wenn man sich diesen Bereichen durch die zwölf Tugenden Gelassenheit, Geduld, Selbstlosigkeit, Liebe, Mitleid, Hingabe, Gleichgewicht, Treue, Höflichkeit, Wahrheit, Mut und Urteilsvermögen nähern würde? Wenn eine Erziehung zur Tugend einen wesentlichen Teil des Prozesses ausmachen würde, durch den man Wissenschaftler oder Forscher oder Lehrer oder Erzieher oder Anwalt wird, dann sähen die Sphären der Forschung und der Praxis ganz anders aus, als sie in den Augen eines Menschen aussehen, der nach dem derzeitigen Stand des jeweiligen Berufes ausgebildet wird.
Bei der Bergung der Tugend aus ihrer Vergessenheit geht es um viel mehr als um das Vorschreiben einer Liste von Dingen, die es zu erledigen gilt und die, wenn sie richtig ausgeführt werden, uns zu ehrenhaften Menschen machen. Es geht darum, das Bewusstsein neu zu betrachten, so dass die Tugend kognitive, emotionale, spirituelle und seelische Handlungen sowie auch unser Verhalten umfasst.
Anscheinend sind die Tugenden innere Qualitäten, die – suchen wir übend uns ihrer bewusst zu werden und sie zu stärken – wir in Verhaltensmodi hereinbringen können, die eine Auswirkung auf andere Menschen haben. Mir ist wichtig, indem ich in dieser Weise über die Tugend rede, vorsichtig und vor einem möglichen Missverständnis auf der Hut zu sein. Dieses Missverständnis wäre die Auffassung, dass die Tugenden, einmal ausgebildet, würden, sie etwas wären, was in der äußeren Welt direkt Veränderungen verursachen kann. Angesichts des wissenschaftlichen und technologischen Weltbilds, in dem wir (noch) leben, ist ein solches Missverständnis nahezu unvermeidlich. Eine Facette dieses Weltbildes ist alles, was in der Welt vorgeht, als Ausdruck von Ursache und Wirkung anzusehen. Aber nichts, was dem Reich der Seele oder dem des Geistes angehört, gehört so der Sphäre von Ursache und Wirkung an, wie diese landläufig verstanden werden. Wir können zum Beispiel nicht behaupten, die Praxis der Geduld werde als Ursache die Wirkung erzeugen, dass andere Menschen einen besser behandeln würden. Ebensowenig können wir behaupten, dass Geduld eine wahrnehmbare Auswirkung auf die Menschen haben werde, die in der Nähe dessen sind, der sie ausführt.
Aber die Sache ist sogar noch komplexer. Die Tugend der Geduld etwa ist von der Gegenwart derjenigen abhängig, die unsere Geduld auf die Probe stellen. Solche Hindernisse gilt es als Teil des Phänomens mit zu erwägen; das heißt, wir müssen uns eine Art kreisförmiger Kausalität vorstellen. Wir brauchen verstockte, sture Menschen, um die Tugend der Geduld auszubilden. Das Gleiche lässt sich entsprechend auch auf alle anderen Tugenden übertragen.
Die Tugenden gehören zu den elementaren Qualitäten menschlicher Existenz, zur Macht der Seele selber. Sie gehören zum grundlegenden, ja definierenden Aspekt dessen, was es heißt, verkörperte Wesen aus Seele und Geist zu sein, die sich dieser menschlichen Existenz bewusst sind und die in der Welt hervorragen und stets zu anderen Menschen in Beziehung stehen. Von den Tugenden können wir sagen, dass sie zu den existentiellen Kategorien des Menschseins gehören. Dieser Ansatz fundiert die Haltung und die Sichtweise der in diesem Buch angegebenen Meditationen über die Tugend. Wenn ich vom Üben der Tugenden spreche, so meine ich nicht das Erlernen einer Fertigkeit, sondern die Einsicht, dass wir daran arbeiten müssen, uns unseres vollen Menschseins bewusst zu sein – das heißt: gegenüber unserem Dasein als Geschöpfe aus Leib, Seele und Geist wach zu sein. Was uns auf unserem Erdenweg mitgegeben wird ist, wie es scheint, weiter nichts als das Potential, Mensch zu sein. Uns obliegt es, dieses Potential umzusetzen. Die Beschreibungen der Tugend, die den Kern dieses Buches ausmachen, sind nicht als Anweisungen zu verstehen, was man tun muss, um ein Mensch zu sein; sie sind Veranschaulichungen unserer potentiell moralischen Existenz.
Ist der Ausdruck „Tugend“ noch brauchbar? Diese Frage mag komisch wirken angesichts der Tatsache, dass ich einen Versuch unternommen habe, nicht nur die Idee der Tugend überhaupt wiederzugewinnen, sondern auch für eine Anzahl spezifischer Tugenden eine Phänomenologie herauszuarbeiten. Ferner bemühe ich mich darum, manche spezifischen Vorschläge zu machen für das Leben der Tugenden in unserer Zeit. Nichtsdestoweniger bleibt es eine fortdauernde Arbeit, die Vorstellung „Tugend“ aus jeglicher veralteten Konfessionalität, Pietät oder aus einem Dogma zu befreien und ihre Vitalität und Energie wiederherzustellen, die in der heutigen Welt Geltung haben können. In vergangenen Zeiten arbeiteten die Menschen gezielt daran, ein tugendhaftes Leben zu führen. Heute hört sich das nicht nur veraltet an; veraltet ist es wirklich.
Wir wissen zu viel über die finsteren Seiten der menschlichen Natur sowie über die Notwendigkeit, die Schattenaspekte der Seele zu durchschauen, als dass wir an Tugendhaftigkeit so glauben könnten, wie sie einstmals aufgefasst wurde. Während es in der Vergangenheit beim Üben darauf ankam, durch Reue und Sühne zu einer Tugend zu finden, die darin bestand, sich bestimmter Handlungen zu enthalten und sich dagegen zu wehren, dass bestimmte Gedanken und Gefühle ins Bewusstsein eindringen, ist heute die Selbstbeobachtung wichtig. Wir müssen in uns die Fähigkeiten ausbilden, nicht nur die subtilsten unserer inneren Zustände und äußeren Handlungen, sondern auch die Verbindung (beziehungsweise das Fehlen einer Verbindung) zwischen diesen zu beobachten, ja sogar die unterschwelligen, fast unmerklichen Folgen unserer Handlungen müssen wir beobachten lernen. Diese Praktiken bilden das neue Feld, auf dem die Tugend wieder aufleben kann.
In diesem Buch habe ich mich weder auf die Idee (beziehungsweise auf ein Ideal) des Tugendhaft-Seins bezogen noch eine solche Idee gefördert. Das Anliegen beim Ausführen der verschiedenen Tugenden ist es nicht, sich selbst in einen tugendhaften Menschen zu verwandeln. Es ist wohl besser, das Unterfangen, bei sich selbst seelische Eigenschaften auszubilden, als einen Weg zur Umwandlung der eigenen Handlungsweisen zu beschreiben. Auch unsere scheinbar altruistischsten Handlungen sind für gewöhnlich mit Selbstinteresse durchsetzt. Diese Beobachtung ist nicht wertend gemeint; die Sache verhält sich vielmehr so: Da die Selbstsucht – sofern sie sich selbst überlassen wird – streng dem Gesetz des Sicherveiterns, des Sichabsetzens von anderen, der Befangenheit in sich selbst gehorcht, so besteht in jedem Menschen das Bedürfnis und der Impuls, das Ego zum echten Interesse an anderen, zur Sorge um die Welt, zur Liebe zum Göttlichen umzuorientieren. In diesem Buch vertrete ich den Standpunkt, dass der Egoismus hauptsächlich deswegen entsteht, weil unser Standard-Bewusstsein, da es nichts Sakrales, nichts Heiliges hat als Beschäftigung, sich von dem eigenen Vergnügen, dem eigenen Fortleben, der eigenen Zunahme völlig in Anspruch nehmen lässt. Eine Neuorientierung tut not.
Das Leben der Tugenden verlangt nicht von uns, dass wir auf unser Ego verzichten, als den psychischen Faktor, der uns allen eine unmittelbar konkrete Empfindung von uns selbst verleiht. In früheren Zeiten war es vielleicht so, dass das Ausführen der Tugend einen solchen Verzicht forderte. Es war, wie wenn die Menschen sich vor dem gerade entdeckten und vom Ego mitgebrachten Gefühl der Selbstbezogenheit fürchteten und sie deshalb die Hoffnung hegten, durch Ausmerzen dieses seelischen Faktors noch vor dessen endgültiger Festsetzung in der Seele, in unschuldiger Ergebung an das Göttliche weiterleben zu können. Allerdings ließ sich diese Hoffnung immer weniger und weniger erfüllen.
Da die Menschen nun die Ego-Dimension des Seelenlebens äußerst sorgfältig ausgebildet haben, haben sie eine andere Aufgabe. Es ist inzwischen hoffnungslos, durch Verzicht auf diesen Faktor eine Verbindung mit der Gnade der Heiligkeit zu erhalten. Unsere neue Aufgabe ist vielmehr die, das Ego zu verwandeln, statt es zu ignorieren, zu eliminieren oder es in der Illusion leben zu lassen, dass es unser ganzes bewusstes Sein ausmache. Eine solche Verwandlung besteht darin, dass wir zulassen, dass unser Egobewusstsein die Seelensubstanz empfängt, die durch Handlungen der Tugend entsteht.
Ich gehe mit den Tugenden um als mit einer Arbeit an der Metamorphose des Egobewusstseins. Der Prozess der Metamorphose funktioniert nicht in Opposition zum Ego; er ist vielmehr ein Weg für unser gewöhnliches Bewusstsein, mehr als nur sich selbst zu umfassen und mit mehr als nur sich selbst erfüllt zu sein. So, wie sich die Puppe in den Schmetterling verwandelt, so kann auch Egobewusstsein sich in ein Seelenbewusstsein verwandeln, das den geistigen Welten gegenüber offen und empfänglich ist. Bei der Puppe bleibt der Abdruck des früheren Zustandes im Körper des Schmetterlings erhalten, nur besitzt der umgewandelte Körper jetzt Flügel. In ähnlicher Weise wird das Ego durch den Prozess der Tugend nicht vermindert, sondern dessen Form verändert, ihm das Fliegen ermöglicht. Der Prozess der Tugend lässt Ego das sein, worauf es vorbereitet wurde und wonach es sich sehnt. Das Ego wird zu einem geistigen Ich, ohne aber wegen der Anziehungskraft der Höhen die Welt verlassen zu wollen. Es sucht alles, was hier ist, in seelenvoller Weise zu erfahren.
Ausdruckbare pdf-Version der Einleitung zu "Die Macht von Seele. Wege zum Leben der zwölf Monatstugenden"
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The Power of Soul. Living the Twelve Virtues ist bei Goldenstone Press zu erwerben.