Kapitel VIII. Künstlerisch Leben
Wir haben gezeigt, wie das alles den Weg zu der Liebe öffnet: die Stärkung unserer Seelenkompetenzen; das Bewusstwerden der Angst als Weltmacht; ein von der Herzgegend her geführtes Leben; die Beschützung unseres Bewusstseins vor den Attacken der Verdoppelung; die Pflege einer bildhaften Erkenntnisweise. Die Frage muss man aber auch stellen: Woran erkenne ich, dass solche Maßnahmen fruchtbar werden? Fruchtbar werden sie, wann immer ich meine Vorstellung, meine Phantasie ein wenig verschiebe. Diese Verschiebung beginnt dann, wenn unsere Begegnungen mit der Angst beziehungsweise mit der Angst aufhören uns zu belasten und zu einem Weg werden, die Welt zu heiligen. Die Angst, die Angst entweiht, profaniert, verflucht die Welt und sucht letztendlich, sie zu zerstören. Sich in bewusster Weise der Angst und der Angst zu nähern regt uns dazu an, durch unsere Phantasie und unsere Vorstellungskraft etwas Schönes zu erschaffen. Daher sollten wir die Angst bzw. die Angst nicht zu zerstören, sondern sie zu neutralisieren suchen.
Zwar kann die Liebe eine neue Welt schaffen und die Macht der Angst und der Angst so gut wie aufheben; aber das kann sie nur indirekt tun: nämlich über die Schönheit, welche durch die Liebe inspiriert wird. Die Schönheit – hier wollen wir sie definieren als die Tat, künstlerisch zu leben – ist die in der Welt sichtbar gemachte Liebe. Wir können die Fähigkeit erwerben, sowohl durch unser Verhalten als auch durch unsere Gesinnung die Macht der Seele und die Macht des Geistes zur Offenbarung zu bringen. Ein Leben, das diese Offenbarung nicht nur in der Welt, sondern auch um der Welt willen bewirkt, ist ein künstlerisch geführtes Leben.
Durch Liebe zur Schönheit
Die Verschiebung in unserem Phantasieleben – vom Kämpfen gegen die Angst zum hereinführen der Liebe in die Welt – kommt nicht davon her, dass wir in der Welt weniger Angst oder Angst wahrnehmen. Sie kommt vielmehr davon her, dass wir mehr Schönheit wahrnehmen. Die Hässlichkeit ist der Überwurf, mit dem die Angst und die Angst die Welt bedecken. Wenn wir also deren Präsenz entgegenwirken wollen, so müssen wir mit der Schönheit eine Verbindung eingehen. Wenn wir uns durch die Angst, durch die Angst hindurcharbeiten und bis hin zur zentralen Bedeutung der Liebe kommen, kommen wir so selbstverständlich zur Schönheit, wie auf die Nacht die Morgendämmerung folgt.
Die Schönheit ist ein weitläufiger Begriff. Deshalb müssen wir, wenn wir uns mit ihr beschäftigen wollen, über ihre Auswirkungen nachdenken, anstatt ihr Wesen definieren zu wollen. Sie funktioniert zu allererst als eine Frage, als ein Wachrufen der Phantasie, durch die man die Tiefen des Seelenlebens verstehen kann. Haben wir einmal die Flut der Ängste ausgeräumt, die uns so sehr auf das Hässliche beschränkt, so werden wir einen neuen Raum innerhalb des Herzens finden. Dieser Herzensraum schwingt mit der Frage zusammen: Warum bin ich hier? Solange wir in Panik leben, können wir die Frage nicht hören. Wenn wir aber vorsichtig lauschen, so können wir das Stellen der Frage erfühlen, und zwar mit der Kontinuität unseres Herzschlags. In dieser Frage urständet überhaupt die Möglichkeit eines künstlerischen Lebens.
Wie sollen wir diese Schlüsselfrage beantworten? Das Leben bedeutet so viel für einen jeden von uns. Wer könnte das abstreiten? Nun, es gibt durchaus Menschen, die das tun würden. Die Lebensumstände, in denen sie stecken, könnten sie so etwas aussprechen lassen. Das ist die Angst, die durch sie hindurch spricht. Wenn die Angst das Leben der Seele dominiert, empfinden die Menschen keine Lebenslust mehr. Man räume diese Angst auch nur ein wenig weg, so kehrt die Lebensfreude wieder zurück.
Soll die Antwort etwa so heißen: „Wir sind hier, um unser Glück zu suchen“? Vergebliche Mühe. Unser Glück wird stets flüchtig sein, insbesondere dann, wenn es an materiellen Wünschen und Begierden gebunden ist. Vielleicht glauben wir, wir wären hier, um uns auf das Leben im Jenseits vorzubereiten. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass wir jetzt Erdenwesen sind, und dass unser Leben hier einen Sinn haben muss. Vielleicht sind wir hier, weil die Erde uns braucht. Wenn wir von dem ausgehen, was unseren Sinnen begegnet, wenn wir davor anwesend sein können, so können wir die Erde als sakralen Ort erleben. Wenn wir in dieser Richtung die Schönheit suchen und vor allem EhrAngst haben, was uns umgibt, so beginnt die Liebe, ihren größeren Sinn und Zweck und auch ihre Erfüllung zu finden.
Es bedarf unserer Phantasie, wenn wir einsehen sollen, dass alles, was wir tun, die Schönheit erhöhen soll, die uns umgibt. Alle Ureinwohner der Welt verbringen ihr Leben auf der Erde mit dieser Art EhrAngst vor der Natur. In solchen Kulturen gilt die Erde nicht als eine Ansammlung beseelter und unbeseelter Wesen, sondern es gelten alle Gegenstände als mit einer eigenen Seele und einem eigenen Geist, mit einer eigenen Persönlichkeit begabt. Eine solche Auffassung ist nicht rückständig, sondern sie ergibt sich naturgemäß aus der Handlung, die Liebe in die Welt hinein freizusetzen. Die Art und Weise aber, wie wir selber mit der Schönheit verbinden, hängt von uns ab. So sehr wir auch andere Kulturen bewundern mögen: Deren Bemühungen können wir nicht eins zu eins reproduzieren.
Den Pfad zur Schönheit hin findet man in den Anstrengungen, die man aufwendet, sich handelnd mit dem um sich herum existierenden Heiligen zu verbinden. Aus dieser Perspektive ist die Schönheit eine aktive Präsenz – ist etwas, zu dem wir berufen werden – und kein passives Objekt, das darauf wartet, von uns gewertschätzt zu werden. Da das Wort Schönheit kann nicht auf eine einzige Bedeutung reduziert werden, daher sollten wir so anfangen, dass wir ein wenig Raum für den Ansatz schaffen, mit dem wir uns an sie herantreten. Unser Hauptanliegen ist weder die Kunst noch die Ästhetik noch die Schönheit der Naturwelt. Und dennoch können wir über eine künstlerische Lebensweise Entscheidendes dadurch lernen, dass wir einen allen Arten der Schönheit gemeinsamen Aspekt beschreiben.
Lasst uns mit der Schönheit der natürlichen Welt beginnen – die Schönheit eines Sonnenuntergangs, eines Regenbogens, eines in gelber Blütenpracht stehenden Ackers, eines durch den Wald rennenden Rehs, die Majestät eines schneebedeckten Berggipfels. Wenn etwas schön aussieht, liegt das daran, dass es mit dem Ganzen zusammengehört. Die Naturwelt funktioniert als ein Ganzes, indem jeder einzelne Gegenstand seinen eigenen Platz darin hat. Den Acker voller gelber Blumen sieht man im Kontext einer Landschaft; diese Landschaft wiederum existiert im Verhältnis zu anderen Landschaften; und der blaue Himmel ober drüber endet nicht bei den Grenzen des Ackers. Wenn man auf den Acker hinausgeht, einige Blumen abschneidet, und aus ihnen einen Strauß macht, den man zuhause auf den Tisch stellt, so gehören sie nach wie vor zu dem Regen, der auf sie gefallen ist, zum Boden, der sie genährt hat, und zu den Insekten, die sich von ihrem Pollen ernährt haben. Die Schönheit ist nichts an und für sich selbst Daseiendes, sondern sie leitet sich von diesen größeren Beziehungen ab. Wenn wir mit EhrAngst auf einen Löwen im Zoo blicken, so ist dies nur eine schattenhafte Spiegelung der Schönheit des Löwen in seiner natürlichen Umgebung. Wir erkennen das zwar kaum, doch ist es so.
Sowohl der Blumenstrauß in der Vase als auch der Löwe im Zoo sind aus ihrem lebenden Zusammenhang entnommen worden. Deren Schönheit verschwindet nur deshalb nicht ganz, weil sie noch hier in der Welt sind und zu dem Ganzen gehören, innerhalb dessen sie sich nach wie vor befinden. Diese Schönheit können sie allerdings verlieren, wenn wir nicht an sie so herantreten, dass wir auch ihren Kontext ehren. Wir wertschätzen die Blumen, indem wir sie in einer Handlung ästhetischer Phantasie anordnen. Eine solche Anordnung kann deren Schönheit steigern oder sie aber auch vermindern, sofern sie (die Anordnung) willkürlich getroffen ist.
In der gleichen Weise sind auch Menschen ein Teil des Ganzen. Wir existieren in einem Zusammenhang, in dem absolut alles enthalten ist. Wir funktionieren zwar als Individualitäten, sind aber keineswegs isoliert. Wir sind mit anderen Menschen, mit der Welt, mit dem weiteren Universum untrennbar verstrickt. Sogar unsere Leiber existieren nur als ein Netzwerk von Beziehungen; der Leib ist der Ort, von dem aus sich die Welt für uns öffnet. Wir stehen zur Luft, zum Pflanzen- sowie zum Tierleben, zu anderen Menschen, zur Sonne und dem Mond und den Sternen in Beziehung.
Unser Individualitäts-Empfinden ersteht ganz natürlich mit dem Entstehen des Ichbewusstseins zusammen. Nur dann, wenn die Angst eintritt mit dem Anliegen, unsere Gefühle des Abgetrenntseins zu verhärten und zu kristallisieren, beginnt diese Individualität sich wie Isoliertheit anzufühlen. Wenn wir uns vorstellen, dass wir weiter nichts als ein komplexes, auf die Weltbühne aufgepfropftes Objekt wären, verlieren wir ausgerechnet die Verbindungen, die das Leben der Seele aufrechterhalten. So möglich es ist, den Menschen rein logisch in solcher Isoliertheit zu konzipieren, so unfruchtbar ist es, in solcher Weise in der Welt zu leben.
Wir verlassen uns zu jeder Zeit auf ein Empfinden des Ganzen. Der Sinngehalt dieses Satzes zum Beispiel lässt sich nicht aus der Bedeutung jedes einzelnen, isolierten Wortes ableiten. Erst indem die Wörter in ihrer Beziehung zu einander gelesen werden, tritt der Sinngehalt des Satzes in Erscheinung. So ist also jedes einzelne Wort für seine jeweilige Bedeutung auf den ganzen Satz angewiesen. In gleicher Weise sind wir beim Aufwachen jeden Morgen auch dann Teil einer ganzheitlichen Welt, wenn wir die Bedeutung dieser Welt nur durch den Zusammenhang ihrer mannigfaltigen Teile spüren. Indem wir die Bedeutung der Ganzheit entdecken, wird wiederum das Ganze ein Aspekt unserer Wahrnehmung der Teile. Dieses imaginativen Bewusstsein der Teil-Ganzheit-Wahrnehmung ist der Schlüssel zum Erleben der Schönheit.
Kunst ist etwas anderes als die Schönheit der Naturwelt. Ein Kunstwerk existiert ganz für sich. Manche werden behaupten, ein Kunstwerk existiere nur innerhalb des Kontextes aller anderen Kunstwerke so, wie die Blume auf dem Acker in ihrer Beziehung zu allen anderen Lebewesen der Naturwelt. Dem ist nicht so. Ein Gemälde etwa ist eine komplette, einzigartige Welt für sich. Jeder wahre Maler weiß das. Ein Maler kann nicht die Teile eines Gemäldes in Isolierung malen – er muss mit dem ganzen Bild im Sinne malen. Einem Anfänger fällt dies schwer, weil es einen andersartigen Bewusstseinsmodus verlangt. Der Maler macht zwar einen Pinselstrich nach dem anderen, aber das endgültige Gemälde besteht aus mehr als die Anhäufung dieser Teile. Ein wahrer Maler weiß, wann er einen verkehrten Pinselstrich gemacht hat; er erkennt, wenn er da hineinverfallen ist, bloß einen Baum zu malen, anstatt eine Landschaft. Außerdem: In der Naturwelt existiert die Ganzheit bereits, aber in einem Kunstwerk muss sie erst geschaffen werden.
Die Vorstellung, dass Ganzheit oder Schönheit nur in einer transzendenten Welt existiert, steht zum tatsachlichen Schaffensmodus des Künstlers in Widerspruch. Bei der Kunst geht es nicht darum, die imaginative Welt zur Wirklichkeit zu machen. Der Künstler nimmt das, was wirklich ist, und verleiht ihm eine imaginative Form. In der Kunst wird nicht die imaginative Welt wirklich gemacht; es wird vielmehr das Wirkliche in die Sphäre des Imaginativen erhoben.[1] Ein künstlerisches Bild, das von dessen sinnenfälliger Darstellung separat wäre, gibt es nicht.
Die Kunst existiert nicht zum bloßen Vergnügen, und in dem Moment, in dem sie das zu tun versucht, verfällt sie in die Dekadenz. Durch Kunst erleben wir eine spirituelle Lust durch die Anwesenheit von etwas vollkommen Sinnlichem. Ein solches künstlerisches Phänomen hat eine befriedigende Wirkung, weil es sowohl ein sinnenfälliger Gegenstand als auch eine bildhafte Darbietung von seelischen und geistigen Eigenschaften ist. die Schönheit im Kunstwerk ist stets etwas Reelles und Direktes. Kunst weist nicht bloß auf Schönheit hin; weil sie sinnlich ist, ist sie vielmehr eine direkte Verbindung zur Welt der Seele.
Die meisten Theorien des künstlerischen Schaffens verwechseln den Impuls der Kunst mit dem der Religion. Die Herangehensweise solcher Theorien an das künstlerische Schaffen ist so, wie wenn es in der Offenbarung urständen würde, ob von oben aus den Himmeln oder von innen aus den Tiefen der Seele. Wäre das so, so könnte ein Kunstwerk niemals etwas Befriedigendes sein, da zwischen der Offenbarung und deren Ausdruck eine ungeheure Kluft existiert. Genauso, wie wenn wir eine Einsicht haben und versuchen, dieselbe mit Wörtern zu vermitteln und dabei die Unzulänglichkeit unserer Wörter empfinden, in derselben Weise wird die Vorstellung, aus der geistigen Welt eine Inspiration auf die Erde herunter zu bringen, immer zu Gefühlen künstlerischer Unzulänglichkeit führen.
Wir könnten uns die Religion und die Kunst als zwei Strömungen vorstellen, die in entgegengesetzte Richtung wirken. Religion fußt auf geistige Offenbarungen, die zu Texten und Ritualen kodiert werden. Die Kunst, wenigstens so, wie sie in unserer Zeit existiert, fußt auf menschlichen Bemühungen, unsere Sinneserfahrung in die Geisteswelten zu erheben. Rudolf Steiner spricht von einem „umgekehrten Kultus“. Damit meint er im Grunde genommen, dass es Aufgabe des Künstlers ist, aus sinnenfälligen Stoffen Spirituelles zu erschaffen, während die Aufgabe der Religion die ist, die Seelen- in die Geistreiche zum sinnlichen Ausdruck zu bringen.
Unsere Aufgabe, uns selbst ganz zu machen, gleicht eher dem künstlerischen Modell des Schaffens, als dem religiösen Modell. Das Interesse der meisten Menschen an einer Seelenarbeit entstammt einem religiösen Bedürfnis, da solche Menschen die organisierte Religion als Weg zur Pflege der eigenen individuellen Seele aufgegeben haben. Die Arbeit C. G. Jungs zum Beispiel entwuchs seinen Schwierigkeiten mit der Religion, die ihn dazu führten, für die Psyche eine spirituelle Grundlage herzustellen. Junge meinte, dass man, anstatt Predigten zu hören, den eigenen Träumen lauschen und daran arbeiten sollte, die inneren Götter zu erkennen, die durch Urbilder offenbar werden.
Ich könnte mir denken – so sehr kontrovers es auch herüberkommen mag –, dass die Psychologie Jungs bisher weder einen besonders starken Beitrag zum Hereinbringen der Schönheit in die Welt geleistet hat, noch dass sie in Zukunft einen solchen leisten wird. Zwar hat die Psychologie das Potential, die religiöse Empfindsamkeit zu erneuern, aber sie hat so gut wie keine Auswirkung darauf, in der Welt Schönheit zu erschaffen. Eine Jung’sche Architektur, dramatische Kunst, Dichtung, Musik oder sonstige, seiner Arbeit entstammende künstlerische Form gibt es nicht. Mit seiner Studie über Alchemie kam er dem Verstehen einer weltorientierten Seelenarbeit zwar sehr nahe; aber auch hier verfehlte er das Ziel, da er nicht sehen konnte, dass die Alchemie eine Kunst ist, die es mit wirklichen, sinnenfälligen Stoffen und mit deren Verwandlung durch menschliches Einwirken zu tun hat. Er legte keinen Wert darauf, was die Alchemisten tatsächlich taten, sondern betrachtete lediglich ihre psychische Beschaffenheit.
Es geht mir nicht darum, Jung – geschweige denn die Tiefenpsychologie überhaupt – abzutun. Seine Beobachtungsgabe war eine hoch entwickelte, und wir sollen ihm eher für seine Wissenschaftlichkeit und seine Beharrlichkeit, durch Beobachtung zu erkennen, dankbar sein, als für seine mystischen Neigungen. Dieser Aspekt Jungs ist für jede wahre Seelenarbeit vorbildlich. Die richtige Herangehensweise an die Frage, wie wir uns zu ganzen Menschen machen, hängt ganz von der Fähigkeit sorgfältig zu Beobachten ab.
Ein Weg zum künstlerischen Leben
Die Kraft der Liebe in der Welt kann das Zünglein auf der Waage sein gegen die Angst und die Angst – aber nur dann, wenn sie auch in die Welt hineinfließen darf; und das hängt von der Steigerung der Sinnes- und Lebensprozesse zu Handlungen der Seele ab. Es gilt nämlich, die zwölf Sinne und die sieben Lebensprozesse so zu gestalten, dass unsere ganze Liebe durch sie hindurch leuchten kann.
Jede echte Kunst erhebt die Sinne auf die Ebene der Seele und des Geistes. Die verschiedenen Künste sind zwar nicht ausschließlich dem einen oder dem anderen Sinn bzw. Lebensprozess zuzuordnen; und doch richtet jede Kunst den Fokus darauf, einen spezifischen Sinn zu erheben. Dabei schließen sich die übrigen Sinne zusammen, um diesen spezifischen Sinn zu unterstützen und ziehen die Lebensprozesse in den Vorgang mit hinein.[2] Wir werden hier untersuchen, wie durch die einzelnen Künste die Sinne veredelt werden. Dann werden wir ähnliche schöpferische Handlungen im eigenen Leben aufsuchen, indem wir uns selbst zum Teil eines Ganzen machen.
Tanz und Gleichgewicht
Der Tanz wirkt im Wesentlichen mit unserem Gleichgewichtssinn zusammen. Dieser Sinn verleiht uns zwar die Fähigkeit, aufrecht zu gehen, aber er besitzt ungeahnte Möglichkeiten darüber hinaus. Man stelle sich vor, man würde einer vorzüglichen Tanz-Darbietung beiwohnen. Da bewegen sich die Tänzer frei, noch freier, als wir es je vermöchten. Die Tänzer gebrauchen nicht bloß ihren Gleichgewichtssinn, sondern sie haben lange und hart daran gearbeitet, ihren Gleichgewichtssinn zu veredeln, ihn zur Kunst zu erheben, indem sie ihm eine Form geben – die Form des Tanzes. Wenn der Tänzer es nicht schafft, sich selbst der Gestalt des Tanzes zu übergeben, so ergibt das etwas, was zwar bis hin zur technischen Perfektion wie Tanz aussieht, aber im Künstlerischen wirkt solcher Tanz gestelzt und erzwungen.
Ein Tänzer darf nicht die eigenen Begierden in den Tanz einfließen lassen. Man muss die Begierde zwar nicht unterdrücken, aber man muss sie durchaus in Grenzen halten, damit sie nicht den Tanz befällt. Wenn wir tanzen – also in gewöhnlicher Weise, nicht als Kunstform –, spielen wir mit unserem Gleichgewichtssinn und drücken so unsere eigene Begierde nach Vergnügen aus. Der Tanzkünstler, der die eigenen Begierden in solch persönlicher Weise ausdrücken würde, würde den ganzen Tanz verderben. Die individuelle Begierde des Tänzers drückt dessen eigene Ego-Angelegenheiten aus, nicht den Tanz selbst. Der echte Tänzer liebt nicht so sehr das Tanzen als den Tanz.
Im alltäglichen Leben werden wir uns in der Regel erst dann unseres Gleichgewichts bewusst, wenn wir es – etwa durch Ausrutschen auf Glatteis – verlieren, oder wenn wir auf der Kirmes eine Achterbahnfahrt machen und feststellen, dass uns der Magen im Hals hinaufrutscht. Wenn wir aber die Angst stark empfinden, so lässt auch sie unseren Magen in unseren Hals steigen. Auch das stört unseren Gleichgewichtssinn, ob wir Achterbahn fahren oder nicht. Sogar dann, wenn die Angst oder die Angst nicht unmittelbar anwesend ist, kann es vorkommen, dass sie uns in der Seele weiter nachklingt, uns das Denken stört oder den Doppelgänger hereinlässt, und das stört in jedem Fall unser Gleichgewichtsempfinden. Vielleicht bemerken wir das nicht, weil sich der Körper angepasst hat. Aber wir leben dennoch in einem Zustand, der „aus dem Gleichgewicht“ ist. Haben wir aber einigermaßen an den Schwierigkeiten der Angst bzw. der Angst gearbeitet, sodass sie uns von den unmittelbaren Qualitäten der Welt nicht mehr trennt, so haben wir begonnen, unseren Gleichgewichtssinn auf den Weg zur Verfeinerung zu bringen.
Sehr hilfreich wäre es, morgens beim Aufwachen unsere Aufmerksamkeit kurz auf das Gleichgewicht zu lenken. Während des Schlafes haben unsere Seele und unser Geist den Körper verlassen, und im Lauf der Nacht weilen sie in einer Welt der Raum- und Zeitlosigkeit. Auch das Finden des Gleichgewichts merkt man in der Regel ebensowenig, wie wenn man es verliert. Manchmal fällt es uns wegen eines besonders kräftigen Traums für den Rest des folgenden Tages schwer, uns im Gleichgewicht zu fühlen. Das zeigt, wie wir uns jeden Tag in einen Zustand des Gleichgewichts versetzen müssen. Wenn wir uns „abgehoben“ fühlen, so kann es hilfreich sein, zu spüren, wie die Schwerkraft uns zur Erde hinzieht. Wenn wir uns schwerfällig und träge fühlen, kann es eine Hilfe sein, auf etwas zu meditieren, was Auftrieb hat oder spiritueller Art ist.
Durch das Finden des eigenen Gleichgewichtssinns wird nicht jeder sich dazu berufen fühlen, Tänzer zu werden. Aber es kann durchaus vorkommen, dass man dadurch das Bedürfnis zu tanzen spürt. Anstatt dieses Gefühl einfach zur Kenntnis zu nehmen und es dann loszulassen, können wir es als Chance nutzen, uns der eigenen Körperhaltung unmittelbar bewusst zu werden. Wir können dabei über unsere aufrechte Haltung ins Staunen kommen, und es geht uns dabei auf, wie unsere Bewunderung für diese Haltung uns in Einklang bringt mit dem Himmel über uns und der Erde unter uns. Dieser Einklang kann in einem Gefühl der Übereinstimmung bestehen zwischen uns einerseits und unseren himmelverwandten Idealen bzw. unseren Erdverwandten Begierden andererseits. Ferner kann das eintreten, dass wir uns der Dinge, die uns aus dem Gleichgewicht werfen (das sind Dinge, die mit der Angst und mit der Angst zu tun haben), bewusster werden, und folglich die äußeren Anzeichen dafür erkennen lernen, wann diese Dinge bei uns im Anzug sind – auch dann, wenn sie auf der Oberfläche mit Angst oder Angst nichts zu tun zu haben scheinen. Freilich werden diese Eigenschaften des Gleichgewichts ausbleiben, wenn wir nichts unternommen haben, die Angst auszugleichen, und wenn wir in unserer Liebefähigkeit nicht gereift sind.
Pantomime und Bewegung
Durch den Bewegungssinn erleben wir die Bewegungen des Körpers. Die Organe für diesen Sinn sind die Muskeln. Wenn ich meinen Arm bewege, wird diese Bewegung innen durch die Nerven im Muskelgewebe registriert, und ich nehme den Bewegungsvorgang wahr. Ich erlebe nicht nur die größeren Bewegungen der Arme und Beine, sondern auch kleinere Bewegungen des Körpers: das Wenden des Halses, den Herein- und Herausrhythmus meines Brustkorbs während ich atme, das Sichbewegen meiner Augen, sogar das Auf- und Zugehen meiner Augenlider. Der Bewegungssinn erteilt uns eine innere, körperliche Empfindung der Freiheit. Aber es gehört mehr zu dieser Empfindung, als bloß die Fähigkeit, sich von einem Ort an den anderen zu versetzen. Insbesondere die kleineren Bewegungen, wie zum Beispiel die der Augen, ermöglichen uns auch dann ein Gespür für Freiheit und Beweglichkeit, wenn wir mit dem Körper keine erhebliche Bewegung ausführen.
Von unserem Bewegungssinn können wir viel lernen, wenn er in der Pantomime zu einer Kunstform gesteigert wird. Die Pantomime erhebt den Bewegungssinn zu einer imaginativen Form. Obwohl die Pantomime zu einer seltenen (und nicht immer hoch geschätzten) Kunstform geworden ist und im Großen und Ganzen als eine Art Unterhaltung ausharrt, ist sie recht eigentlich eine hohe Kunst. Der Unterschied zwischen dem Tanz und der Pantomime ist bemerkenswert: Pantomime spielt sich eher in der Zweidimensionalität ab. Obzwar sie in der Dreidimensionalität dargeboten wird, ist es so, wie wenn die Handlung auf einer Fläche stattfände, ähnlich wie wenn der Pantomime das Abtasten einer Fensterscheibe darstellen würde. So wird die Qualität der Bewegung selbst gesteigert, ihr wird Gestalt verliehen, mit Phantasie eingekleidet. Die Gegenstände und Menschen, mit dem der Pantomime interagiert, sind unsichtbar, und so dürfen wir unsere Aufmerksamkeit umso lebhafter auf die Handlung des Sichbewegens selbst richten.
Im gewöhnlichen Leben wird unser Bewegungssinn durch die Gegenwart der Angst bzw. der Angst stark beeinflusst. Wir erstarren, werden unbeweglich, fühlen uns gehemmt, wie in einer Falle steckend. Das Gestrampele der Angst kann uns tatsächlich vereinnahmen und uns in seine chaotischen Bewegungen mit hineinziehen. Jemand, der in den Fängen der Angst steckt, wird vielleicht wild darauf losrennen, schreiend mit den Armen herumrudern. Zwar sind uns dieser körperlichen Störung dann am bewusstesten, wenn die Angst stark ist, aber sie beeinflusst diesen Sinn ständig und bis dahin, dass wir unter Umständen das Gefühl der Freiheit gar nicht mehr erleben. Wann immer das geschieht, gilt es, uns selbst aus diesem Einfluss dadurch herauszuzerren, dass wir an der Seele bilden, die Phantasie stärken, die vier Arten der Liebe pflegen. Es geht darum, uns von der Liebe bewegen zu lassen, anstatt uns gedankenlos auf Tätigkeiten einzulassen, die zwar zweckmäßig erscheinen mögen, die aber weiter nichts tun, als unsere Kapitulation vor der Angst zu offenbaren.
Für den Pantomimen ist auch die geringste Gebärde mit Bedeutung erfüllt, mit der Schönheit der Bewegung selbst. Bei einem tiefen Bewusstsein der Bewegung im alltäglichen Leben, fühlen wir von einer Empfindung der Grazie, der Eleganz umgeben. Bewusstes Sichbewegen, wie man sie etwa im Tai Chi zu sehen bekommt, stimmt uns auf die Lebensenergien der Welt ein, lehrt uns, wie wir die Angst umgehen, wie wir ihr weidenartig-geschmeidig mitgehend nachgeben, anstatt zu versuchen, ihr frontal Widerstand zu leisten und somit sicherzustellen, dass wir von ihr gebrochen werden.
Eine künstlerisch ergriffene, grazile Bewegung deutet darauf hin, dass die Bewegung auf alles abgestimmt ist, was sich in der Welt darbietet. Wenn wir uns hingegen mit lauter mechanischen Einrichtungen umgeben, so tritt allenfalls eine Art Koordination ein, aber das, was die Gestaltung unserer Bewegung überwiegend beeinflusst, sind die mechanischen Objekte, und zwar auf kosten der Spontaneität. Das kann nicht nur mit mechanischen Geräten eintreten, sondern auch mit jeglicher herben Einrichtung unserer Umgebung.
Ich erinnere mich, wie ich einmal beschloss, in Anaheim/Kalifornien, wo ich gerade einer Tagung beiwohnte, einen Spaziergang zu machen. Als ich um die Ecke bog, war ich schockiert, zu sehen, wie der Bürgersteig meilenweit ungebrochen geradeaus zu verlaufen schien. Unerschrocken machte ich mich auf, und nach mehreren Meilen stellte ich eigenartigerweise fest, dass ich es nicht vermochte, einfach aufzuhören, umzukehren und zurückzugehen. Meine Bewegung war durch den langen, engen Betonstreifen geformt worden. Es war so, wie wenn ich sowohl durch das repetitive Gleichsein des Betons als auch durch den eigenen Schritt hypnotisiert worden wäre. Ich verlor in diesem Zusammenhang eine Empfindung der Freiheit. In solcher Umgebung ist es nur schwer möglich, sich darin zu üben, die Bewegung zu einer Kunstform zu machen.
Wenn wir draußen in der Natur spazieren gehen – etwa in einer hügeligen Waldgegend – und das Gelände häufig zwischen aufschüssige und abschüssige Strecken wechselt, so wird das Gehen in viel natürlicher Weise zu einer Kunstform. Aber nur wenige von uns haben die Gelegenheit, jeden Tag solche Spaziergänge zu machen. Es wird nötig, sich eine Imagination des Sichbewegens zu bilden. Ein Ansatz dazu ist zu bemerken, wie das Gefühl der Freiheit dann verschwindet, wenn die Umgebung mechanischer Art ist. Auch können wir feststellen, wie wir in solchen Situationen sehr viel leichter der Angst verfallen. Auf meinem Spaziergang in Anaheim befand ich mich in einem Zustand der Angst, obwohl es heller Tag war. Indem die Autos an mir vorbeirasten befürchtete ich, dass eines davon von der Straße abkommen und mich erfassen könnte; ich hatte Angst, ein Wagen voller Gangmitglieder könnte mich sehen und irgendwie bedrohen. Aber sogar in dieser Situation, in der der Beton meine Gangart so stark beeinflusste, merkte ich, dass die Angst zurückging, wenn ich meine Aufmerksamkeit auf die Handlung des Gehens richtete.
Wenn wir künstlerisch leben, übernehmen wir die Verantwortung für das, worauf wir in der Welt unseren Blick richten. Wenn ich nur fahrende Autos und Menschen sehe, die am Bürgersteig entlanghasten, sowie mechanische Kontouren und Formen und harte Gebäudekanten, so wird dadurch das Erlebnis der Freiheit abgestumpft. Das kann ich aufwiegen, indem ich die Bewegungen der Wolken am Himmel betrachte, oder das Wehen der Bäume in einer Brise, oder indem ich mich darauf konzentriere, wie ein bestimmter Mensch sich bewegt, was für Gebärde er mit den Händen macht, wie er den Kopf neigt, mich ansieht, ob dessen Augen auf mich gerichtet bleiben oder durch den Raum hin und her schweifen. Diese kleinen Dinge machen sehr viel aus: Ich bin zum Gestalter geworden und nicht zu demjenigen, der gestaltet wird. Ich bleibe in meinem Bewegungssinn wach und aufmerksam. Nach und nach werde ich Muster und Anordnungen, einheitliche, in vielen Einzelabläufen bestehende Bewegungen sehen, die aber eine Ganzheit ergeben. Sogar mein Denken wird anders – nicht so fragmentiert, sondern fließender –, und ich bin mir des Denkens anderer Menschen bewusster.
Malerei und das Sehen
Der Maler geht mit der Farbe und der Form so um, dass ein Bild entsteht, welches uns die innere Tiefe der Welt offenbart. Der Maler kann sein Vorstellungsvermögen nach außen richten. Er kann durch die Oberfläche der Gegenstände hindurch bis in deren innere Qualitäten hinein sehen. Auch kann er sein Vorstellungsvermögen nach innen richten und innerhalb der Seele selbst sehend sein. In beiden Fällen vermag der Maler zu sehen, dass Farbe und Form lebendige Wesenheiten sind.
Wo der Laie vielleicht nur ein rotes Objekt, eine statische Form mit einer farbigen Oberfläche sieht, empfindet der Maler die Tätigkeit eines solchen Objekts und sucht, dieselbe auf der Leinwand zu festzuhalten. Normale Menschen betrachten ein Feld voller Sonnenblumen und bewundern vielleicht seine Schönheit. Aber van Gogh erlebte das leuchtende Gelb im Kontrast zum Blau des Himmels mit einer solchen Lebensintensität, dass es ihn nahezu umbrachte, ein Bild von dem zu machen, was er sah. Der mit solchem Sehvermögen ausgestattete Maler sieht nicht nur das vor ihm Ausgebreitete und versucht es darzustellen; er sieht vielmehr eine einheitliche, aus Farbe und Form bestehende Ganzheit. Und er weiß obendrein, dass es die Seele ist, welche diese Wahrnehmung vollzieht. Dieser Seh-Eindruck entsteht nicht aus der distanzierten Perspektive eines allwissenden Zuschauers. Das, was der Maler sieht, ergibt sich, indem sein imaginales Bewusstsein und die Außenwelt zusammenwachsen. Egal welchen Inhalt der Maler darstellt: Aus dieser Art des Sehens geht es hervor.
So zu beobachten erfasst die Realität in tiefgehenderer Weise als es die Wissenschaft tut, da die erstere Beobachtungsweise denjenigen mitberücksichtigt, der sieht. Und zwar berücksichtigt sie ihn nicht als bloß theoretischen Konstrukt, sondern als ein tatsächlich Daseiendes. Wenn man die Welt so betrachtet, besteht sie nicht mehr bloß aus Dingen und Prozessen, sondern aus lebendigen Wesen, die ihr inneres Wesen nur dadurch zur Darstellung kommen, dass sie von der Seele gesehen werden.
Da wir in der Regel die Welt nicht so sehen, wie ein Maler sie sieht, werden für uns die Dinge der Welt vermindert. Deren innere Eigenschaften werden geopfert, und sie werden konsumiert anstatt gelobpreist zu werden. Was wärest du, wenn dich niemand je sehen würde? Zunächst würdest du dich einsam und isoliert fühlen, wie wenn du nicht in die Welt hineingehörtest. Als Reaktion würdest du womöglich deine Anwesenheit übertreiben. Aber mit der Zeit würdest du einfach verkümmern. Im wortwörtlichen Sinne sterben würdest du vielleicht nicht, aber du würdest mehr wie ein Automat werden, als ein mit Seele begabtes Wesen.
Wenn wir nicht tief in die Welt hineinschauen, wenn wir nicht das Leben der Welt in einer Weise sehen, die dem Sehen des Malers entspricht, so welkt auch die Welt und stirbt dahin – auch dann, wenn es an der Oberfläche so aussieht, wie wenn alles seinen normalen Gang nehmen würde. Deshalb werden die Meere mit Öl verpestet, weil wir nicht sehen können, dass sie nicht bloß Leben enthalten, sondern dass sie selbst leben. Deshalb werden die Wälder erbarmungslos gerodet, weil wir für Bäume sozusagen blind geworden sind. Deshalb verfallen ungeheure Landflächen riesigen Einkaufzentren, weil wir die lebendige Landschaft nicht sehen können.
Für jeden, der die Welt auch nur ansatzweise sehen kann, kann das Sehen schmerzhaft sein. Obwohl es nicht unmittelbar deutlich sein mag, ist ein Großteil der Welt um uns her schon jetzt tot. Wer soviel Zeit opfert, wer soviel Zuwendung aufbringt, dass er in noch so geringem Maße das Leben wieder sehen lernt, dem zeigt sich mit tragischer Klarheit, wie sehr die Welt bereits von der Angst dominiert ist. Wirklich hinzusehen erfordert allerdings spirituellen Mut; aber unsere Bemühungen, durch die Augen der Seele zu sehen und dabei nicht in Entsetzen zurückzuschrecken, werden von der Welt nicht unbemerkt bleiben.
Dichtkunst und Sprache
Bei der Dichtung geht es um den Sprachsinn. Sie ermöglicht dem Menschen eine einzigartige Ausdrucksform. In der Dichtkunst wird die Sprache in den Bereich des Geistes hinaufgehoben, wo sie nicht nur als Worte oder Begriffe, sondern als die reine Tat existiert. Die Sprache wird lebendig und wirklich. Anstatt bloß zu bezeichnen, handelt sie. Die Dichtung beschreibt nicht nur ein inneres, persönliches Gefühl, das man vielleicht hat. Sie beschreibt auch nicht nur, wie wir im Verhältnis zur Welt fühlen. Ein Gedicht ist reine Sprache; es fordert von uns, dass wir es nicht nur durch den Intellekt wahrnehmen, sondern durch den Sprachsinn. Und wer ist es, der spricht? Nicht eigentlich der Dichter, denn der Dichter ist weiter nichts, als das Vehikel für das Gedicht, das für sich existiert. Die Welt ist es, was in der Dichtung spricht, ob es sich um die innere oder die äußere Welt handelt. Die Worte des Dichters verwandeln die stille Stimme der Welt so, dass sie im menschlichen Sinne sprechend und zu einer ausdrucksvollen Geste wird.
In unserem Leben hören wir oft nur den Inhalt dessen, was jemand sagt. Wir können aber in bewussterer Weise auf den Rhythmus, die Pausen, die Zwischenräume aufmerken und können in dem Gesprochenen das Unausgesprochene hören. Um so zuhören zu können, müssen durch unseren ganzen Leib hören, nicht nur durch unsere Ohren; und wir müssen dem lauschen, was der Leib empfängt, nicht nur dem, was der Verstand registriert. Auch können wir nicht nur das reden, was wir denken und fühlen, sondern wir können uns in den Abgrund des Nichtwissens hineinstürzen und dort zulassen, dass die Sprache auf uns zukommt und durch uns spricht. Wir können uns der Metapher, des Gleichnisses, der Analogie weit bewusster sein. Ja wir können sogar durch die Verwendung einer gewöhnlichen Sprache landläufige Sprachmuster durchbrechen, indem wir statt des uns schon Bekannten stets das zu sagen versuchen, was wir nicht wissen.
Der Schoß der Rede ist die Ruhe. Künstlerisch reden wir nur dann, wenn wir aus dem echten Bedürfnis heraus reden, etwas zu sagen, was jenseits unserer gewöhnlichen Meinungen und Urteile liegt. Wenn dir ein Gedanke kommt, halte ihn zurück, sprich ihn nicht sofort aus, sondern ernähre ihn in der Dunkelheit der heiligen Stille. Dann kann dieser Gedanke wie ein Magnet die Sprache der Welt anziehen. Was gesagt werden muss, braucht Raum, um fruchten zu können. Es geht hier nicht darum, immer Wichtiges zu reden, sondern darum, uns redend mit der Welt vereinen, damit das Sprechen Ausdruck nicht nur unseres Willens ist, sondern des Willens der Welt, des Kosmos, der Seele. Unser kleiner, selbstsüchtiger Egoismus plappert pausenlos fort, ein Hinweis darauf, dass er voller Ängstlichkeit, Beklemmung und Angst ist. Und unser Sprechen tut weiter nichts, als diese auf andere Menschen zu übertragen. Indem wir künstlerisch sprechend die Welt durch uns reden lassen, verändert unser Sprechen die Welt. Indem wir die Welt durch uns reden lassen, lassen wir uns durch sie verändern.
Musik und das Gehör
Am Zentrum der Musik ist der Gehörsinn. Sie ist aber keine Imitation der Klänge, die man in der Welt hört. Die Gesänge mancher Vögel, zum Beispiel, sind melodiös, sind aber keine Musik im eigentlichen Sinne. Das Hören muss bis in den Bereich der Seele gehoben werden, um zu etwas Musikalischem zu werden, und so dem Klang eine neue, imaginative Gestalt zu verleihen. Die musikalische Imagination erfordert mehr als augenblickliche Höhenflüge der Inspiration. Der Musiker muss in seinen Seelentiefen im Hause der Inspiration leben. Die Musik ist buchstäblich der Klang der in der Seele resonierenden Inspiration. Die einzige andere Domäne, in der die Inspiration in so direkter Weise betreten werden kann, ist die der Mathematik.
Die Musik, die wir äußerlich hörend wahrnehmen, ist nicht ganz dasselbe wie das, was der Musiker oder der Komponist in der eigenen Seele vernimmt. Aber wann immer wir eine in Form der Musik zum Ausdruck gebrachte Inspiration der Seele zu hören bekommen, werden wir in die Eigenschaften selber der Musik versetzt; Lieder können uns mit Liebe, mit dem Gefühl der Tragödie, mit Freude erfüllen. Wenn uns die Musik ganz ausfüllt, so bleibt kein Raum übrig, um darüber nachzudenken, was die Klänge bedeuten. Unmittelbar dargebotene Musik tut dies viel wirksamer als eine Tonaufnahme, und zwar nicht allein deshalb, weil wir unsere ganze Aufmerksamkeit auf ein Orchester oder eine Sängerin richten, sondern auch weil Tonaufnahmen mit der Musik merkwürdige Dinge tun. Tonaufnahmen verflachen den physikalischen Raum, sodass es schwer zu hören ist, wie die Flöten von hinten in der Mitte, die Bratschen von vorne rechts kommen. Wir können nicht mehr empfinden, wie die Musik durch Menschen und Instrumente hindurchfließt, wie sie so sehr zur Musik dazugehören, wie der Klang selbst.
Das Reich der Musik lehrt uns eine Menge über das inspirierte Leben. Inspiriert wir fühlen uns, wenn wir das sind, was wir tun, wenn in unserem Sein für zufällige Gedanken oder Vorstellungen kein Raum übrig bleibt. Wir befinden uns dann mit unseren Handlungen in Übereinstimmung, mit unserem Sinn und Zweck in Harmonie, und wir tun die Dinge im richtigen Rhythmus, mit dem richtigen Timing. Um das, was uns inspiriert, eigentlich zu hören, ist es nötig, dass wir richtig hinhorchen. Haben wir einmal den Ursprung des Gehörten verstanden, so kann uns alles, was uns zur Verfügung steht, zum Instrument werden, um diese Inspiration in die Welt hineinzutragen. Ob ich schreibe, lehre, oder Schuhe verkaufe, alle diese Tätigkeiten lassen sich als inspiriert fühlen. Alles, was wir dann tun, tun wir in schöner, in künstlerischer Weise. Die Inspiration ist nicht ausschließlich Sache der Dichter und Maler und Romanschreiber. Obzwar diese intensiver und womöglich kontinuierlicher in solchen Zuständen leben, ist es durch Üben auch uns normalen Menschen erreichbar. Was uns die Künstler zeigen, das ist, dass es Disziplin und Anstrengung verlangt, will man es dazu zu bringen, in inspirierter Weise zu leben. Das alte Sprichwort, wonach die Genialität zu zehn Prozent aus Inspiration und zu neunzig Prozent aus Transpiration besteht, ist eine unumgängliche Wahrheit. Wir alle haben diese zehn Prozent, aber nur wenige von uns bringen das zur Entwicklung, was nötig ist, um sie zu verwirklichen.
In gleicher Weise wie die Musiker tagein, tagaus auf alle Fälle ihre Instrumente stimmen, sich aufwärmen, Grundübungen lernen und immer und immer wieder üben müssen, in dergleichen Weise müssen auch wir im Leben arbeiten, um uns für die Inspiration zur Verfügung zu stellen. Es geht nicht nur um ein Empfangen unsererseits, sondern es muss alles genau stimmen. Dabei ist unser ganzes Sein unser Instrument – Leib, Seele und Geist. Wenn mein Körper das Eine tut während meine Seele in die eine oder andere Phantasie abhebt und mein Geist gar abwesend zu sein scheint, so ist eine Umstimmung in großem Stil vonnöten. Stress und Angst müssen ausgeräumt werden, damit man sich im eigenen Körper völlig zuhause fühlen kann.
Worin besteht dieses Sichaufwärmen? Im richtigen Atmen, in der richtigen Entspannung, im richtigen Üben, Essen, Fokus der Aufmerksamkeit. Für die Seele einige Grundübungen, wie etwa die im ersten Kapitel beschriebene Übung im Bildschaffen. Und für den Geist eine Meditation. Man nehme zum Beispiel einen einfachen Satz – wie etwa „Wir leben stets im Lichte“ – und meditiere ihn. Das heißt nicht, über ihn nachdenken, sondern ihn in die höheren Regionen des Bewusstseins hineintragen und dort leben lassen. Man richte das Augenmerk auf eines der Wörter („Wir leben stets im Lichte“), dann auf eines der anderen Wörter („Wir leben stets im Lichte“). Das Anliegen dieser Übung ist, allmählich zuzulassen, dass der Fokus des ganzen Satzes auf einem einzelnen Wort liegt. So wird der Satz allmählich als eine Ganzheit existieren, anstatt als eine Aneinanderreihung einzelner Wörter. Ein solches tägliches Üben stimmt das Instrument unseres Seins und offenbart uns, dass der Geist nicht in der gleichen Zeitenfolge lebt, wie wir. Egal wie fortgeschritten wir werden: Wir müssen, genau wie der Musiker, diese Grundübungen fortgesetzt durchhalten.
Nachdem man so lange und so hart geübt hat, kommt dann der Moment, wo der Musiker die Bühne betritt und zu spielen hat. Analog dazu begeben wir uns in die Tätigkeiten des Alltags hinein, die wir dann als eine Art ernsten Spielens wieder aufgreifen. Lasst uns jeden Tag als eine Aufführung gestalten, die in der harmonischen Einigkeit unseres Wesens – als Leib, Seele und Geist – mit der Welt besteht. Ist die Aufführung dann zu Ende, so dürfen wir die Bühne verlassen und weiterüben. Das Leben wird zu einer Sache des Lauschens.
Literarische Prosa und die Einheitlichkeit des Wahrnehmens
Es mag den Anschein haben, als wenn die literarische Prosa in der Dichtkunst - oder doch wenigstens ansatzweise im Bereich der poetischen Phantasie - anzusiedeln wäre. Aber Gedichte sind zum Gesprochenwerden gedacht, und die literarische Prosa soll gelesen werden. Das macht letztere zu einer Kunstform innerer Art: Die literarische Phantasie soll so in uns wirken, dass sie alle unsere Sinne auf die seelische Ebene hinauferheben. Wenn eine Blume in literarischer Weise beschrieben wird, so treten der Duft und die Tastempfindung der Blume in der Phantasie des Lesers auf. Liest man, wie abends in einem Rosengarten zwei sich Liebende küssen, so riechen wir die Rosen im wortwörtlichen Sinne zwar nicht, aber unsere Einbildungskraft kann die Sinnesempfindung durchaus vergegenwärtigen, die wir haben, wenn wir an einer Rose riechen.
In einem Werk der literarischen Fiktion betreten wir eine Welt, in der alle Sinne miteinander auf die Ebene der Imagination erhoben werden. Außerdem geschehen in der imaginären Sinneswelt der Prosafiktion interessante Dinge mit der Zeitlichkeit. Eine Erzählung hat eine zeitliche Abfolge – einen Anfang, eine Mitte und ein Ende – die allerdings nicht immer geradeheraus verläuft. Es kann vorkommen, dass die Geschichte am Ende beginnt; es können Rückblenden vorkommen, die Zeit wird durcheinandergemischt. Die Zeit wird zu einer imaginären Wirklichkeit, welche dennoch als reell empfunden wird. Ein historischer Roman kann Jahrhunderte umspannen, und es ist dem Leser dabei so, als hätte er diese Jahrhunderte durchlebt.
Prosafiktion hat auch eine Handlung. Die Darstellung der Ereignisse in deren erfundenem Raum, in deren vorgetäuschter Zeit führt uns die Seelenschicksale der beteiligten Figuren vor Augen. Wir sehen wie von den geheimnisvollen Mächten des Schicksals die Handlungsmotive und Absichten der Figuren gelenkt werden; wir nehmen wahr, wo die Freiheit möglich ist und wo nicht. Wir sehen, wie die Seele handelt, und besinnen uns nicht bloß auf deren Definition. Alle Literatur fällt unter vier große seelische Gattungen – Epik, Tragik, Komik und Lyrik.[3] Diese seelischen Muster kommen in allen möglichen Formen vor, sind aber stets Variationen dieser vier Welten der Seele. In der Epik wird uns die heroische Bewegung der Seele gezeigt; in der Tragödie wird uns der gefallene Charakter der Menschen gezeigt; in der Komödie wird die Welt erlöst; in der Lyrik dürfen wir eine Vorstellung des Paradieses mitvollziehen.
Die Prosafiktion als zu lesende Kunstform geht über die bloße Unterhaltung weit hinaus. Sie lehrt uns, vielleicht in umfangreicherer Weise als bei jeder anderen Kunstform, wie man lebt. Große literarische Prosa belehrt uns zwar nicht im didaktischen Sinne. Aber es ist schon eine Lernerfahrung an sich, lesend in eine Imagination des Lebens hineingetragen zu werden: Durch sie bildet sich unsere Seele zu einem Organ, das den Prüfungen der Welt gewachsen ist. Sind einmal Geburt, Tod, Liebe, Schicksal, Familie, Hoffnung, Verzweiflung, Konflikt, Gewissen, Erfolg, Versagen an uns vorübergezogen, so sind wir nicht mehr ganz derselbe Mensch, wie davor. Zwar erleben wir alle diese Dinge auch im wirklichen Leben, aber wir schaffen es nicht immer, ihren Ursprung oder die letztendlichen Konsequenzen unserer Handlungen mitzuvollziehen. In der Prosafiktion sehen wir, wohin das Machtstreben führt, wie die Liebe ein Menschenleben auf immer verändert, was die Folgen eines unaufgelösten Konflikts sein können.
Die Lektionen, die uns die literarische Prosa zu erteilen hat, lassen sich nicht als Quelle von Werten, von ethischem Handeln, von Moralität eins zu eins auf das wirkliche Leben übertragen. Sie beseelen allerdings unsere Empfindsamkeit, sie ergänzen unser Wahrnehmungsvermögen. Daran kann auch die Seele erstarken, kann es zur absoluten Gewissheit bringen, dass die Seele aus dem ungeheuerlichen Unterfangen, Mensch zu sein, gegen die Angst den Sieg davontragen kann.
Das Wahrnehmen und die Lebensprozesse
Obwohl unsere Sinne in der Regel ganz unabhängig voneinander sind, können sie dennoch einstimmig funktionieren, ohne durcheinander zu kommen. Das Sehen stört das Hören nicht; das Hören ist von dem Schmecken, das Tasten von dem Gleichgewichtssinn ganz getrennt und so weiter. Jeder Sinn ist aber mit Leben durchdrungen. Das Auge etwa ist mehr als bloß ein optischer Apparat, der uns Bilder der Sinneswelt übermitteln soll. In den Sehakt fließt Leben hinein. Das Leben besteht aus den ganz spezifischen Prozessen Atmung, Wärmung, Ernährung, Ausscheidung, Erhaltung, Wachstum und Reproduktion – aber so eindeutig voneinander getrennt wie die Sinne sind diese Lebensprozesse nicht. Sondern sie gehen ineinander über.
Je mehr das Wahrnehmen zur Gewohnheit wird, desto mehr ziehen sich die Lebensprozesse aus unseren Sinnen zurück. Das lässt das Wahrnehmen zu bloßen Nervenvorgängen werden, die instinktiv, automatisch und ohne bewusstes Fühlen verlaufen. Wer sich um die Pflege eines künstlerischen Lebens bemüht, bewirkt, dass in die Sinne Leben wieder einfließt.[4] Wenn wir etwa unsere alltägliche Umgebung anschauen, so sehen wir ständig allerlei Farben. Zwar sind sie von der Intensität her verschieden, aber sie werden lediglich als Farben wahrgenommen. Die Farben eines Gemäldes haben eine gesteigerte Lebendigkeit. Das bewirkt, dass unser Auge mit mehr Leben durchsetzt wird als gewöhnlich und bringt alle unsere Sinne in ein aktives Verhältnis zueinander. Bei unserer Wahrnehmung von Farbe und Form geht ein subtiles Berühren und sogar ein Schmecken und Riechen der Farbe unserseits vor sich, wobei es sich hier allerdings um ein Tasten, Schmecken und Riechen als bildschaffende Eigenschaften der Seele handelt, und nicht um bloß physische Vorgänge.
Indem die Sinne sich mit mehr Leben füllen, machen auch die Lebensprozesse eine Veränderung durch. Die Prozesse der Atmung, Wärmung und Ernährung haben alle mit der Beziehung des Körpers zur Außenwelt zu tun. Im Atmen gibt es fortdauernd einen Austausch zwischen dem Leibesinnern und der äußeren Welt. Bei der Wärmung steht die im Leibesinneren erzeugte Wärme mit der Temperatur draußen in der Welt im Verhältnis. Bei der Ernährung nehmen wir Nahrungsmittel in uns auf, und diese werden in die Substanz des Körpers verwandelt. Indem diese drei Lebensprozesse in stärkerer Weise in das Wahrnehmen hereinspielen, taucht eine andere Art der Welterkenntnis auf. Ein Künstler zum Beispiel erkennt die Welt nicht so, wie andere Menschen dies tun. Der Künstler nimmt Bilder wahr, lebt in Bildern, erkennt durch Bilder. In der bildhaften Erkenntnis fühlt man die Beziehung zwischen dem Körper und der Welt in lebhafter Weise. Wärme wird mehr als bloß Temperatur; sie wird zur Seelenqualität eines intensiven, warmen Interesses für die Welt. Und das Wahrnehmen selbst wird als Ernährung für die Seele erlebt. Wenn wir in künstlerischer Weise leben, so erkennen wir durch unseren Körper. Das geht zwar eindeutig mit dem Denken einher, aber es ist nunmehr ein völlig beleibtes Denken.
Die Lebensprozesse Ausscheidung, Erhaltung, Wachstum und Reproduktion haben mehr mit dem Innenleben des Körpers zu tun, als mit seinem fortwährenden Verhältnis zur Welt außerhalb seiner. Die Ausscheidung beseitigt das, was übrigbleibt nachdem die Nahrung vom Körper absorbiert wurde. Die Erhaltung ist die Handlung der von dem Körper aufgenommenen Nährstoffe, das Leben aufrechtzuerhalten. Beim Wachstum geht es um die fortlaufenden Änderungen in den Zellen und Organen des Körpers, durch welche dieser ständig im Sterben und Neuentstehen begriffen ist. die Reproduktion hat mit den Vorgängen des Körpers zu tun, die im Erschaffen neuen Lebens eingebunden sind. Zusammen durchsetzen diese Prozesse den Leib mit einer spürbaren Empfindung der Tiefe, mit einem Wahrnehmen des eigenen Körpers als dynamisch, im Sichändern begriffen, als fruchtbar, ja sogar als mit Verlangen brodelnd. In der künstlerischen Wahrnehmung strömen diese Prozesse stärker den Sinnen zu, und daraus geht ein mit Fühlen angereichertes Wahrnehmen hervor. Die alltägliche Offensichtlichkeit der Dinge um uns herum erhält eine Art Durchsichtigkeit: Es scheint durch sie etwas hindurch. Wir erleben, wie das Alltägliche von der Schönheit durchhellt wird. Die uns umgebenden Gegenstände und unser intimstes Selbst werden zusammengefasst. Es wird der Gegenatze zwischen Subjekt und Objekt aufgehoben.
Künstlerisch zu leben heißt nicht einfach stärkere Gefühle zu haben; es heißt bemerken, wie die Farben und Konturen von allem Wahrnehmbaren eine Welt der Gefühle bilden. Deshalb können wir uns vom tiefen Rot einer Rose, von der Gestalt einer architektonischen Struktur, von den dunklen Schatten, die eine Kerze wirft, von der Form einer einfachen, gelungen Schale tief gerührt sein, weil sie in sich selbst das Fühlen verkörpern
Das ganze Reich der Künste kann unser wertvollster Lehrer zu einem künstlerischen Leben sein, das die Seele von der Angst befreien kann. In diesem Reich vereinigt sich die Sensibilität des Körpers mit der imaginativen Kraft der Seele und der Schöpfermacht des Geistes. Da wir in einer hochmaterialistischen Kultur leben, glauben wir, dass die Bereiche der Seele und des Geistes von dem des Leiblich-Physischen komplett separat sind. Nur deshalb, weil das Physische herrscht, stellen wir uns die Seele als einen inneren subjektiven, von der Welt zurückgezogenen Zustand, und das Geist-Erleben als einen völlig entkörperten Zustand vor. Die Angst und die Angst bauen darauf, diese Teile des Ganzen voneinander getrennt zu halten. Sie fordern nicht den Ausschluss von Seele und Geist, sondern lediglich deren Getrenntsein, deren Isoliertwerden voneinander. Dann lassen sie bestimmte eigenartige, komische Seelen- und Geisterfahrungen zu. Der Geist wird als Erscheinungsformen eines „mystischen Materialismus“ zugelassen, der sich oft als „spirituelle Energien“ oder „Botschaften vom jenseits“ oder als Heimgesuchtwerden von Engeln äußert. Die Seele darf im Traumleben oder allenfalls im Therapieraum oder in Mythologie und Symbologie auftreten; bloß ja nicht im alltäglichen Leben. Solange die Sinne abgestumpft sind, so lange bleibt die Ganzheit unseres Wesens verschachtelt, und die Angst darf nach Belieben umherstreifen.
Wer die Einheit von Leib, Seele und Geist dadurch zulässt, dass er die Seele von der Angst befreit, der lässt diese drei Aspekte unseres Seins zu Stützen werden der Wahrheit, der Schönheit und der Güte in der Welt.[5] Das sind die drei großen Menschheitsideale. Das waren sie schon immer, aber wir haben keine konkrete Empfindung mehr für sie – sie tragen höchstens einen abstrakten Wert, über den die Philosophen und die Akademiker diskutieren. Nur durch das Führen eines künstlerischen Lebens werden diese Ideale zu Wirklichkeiten, welche die Angst in der Welt überwinden. Wer das eine Ideal herabwertet, der wertet auch die anderen mit herab. Jedes ist auf das Heil und die Lebenskraft der anderen angewiesen.
Die Wahrheit fühlen wir dadurch, dass wir eine engere, imaginativere Beziehung mit der Wirklichkeit eingehen, und zwar kraft der Ganzheitlichkeit des Leibes. An der Wahrheit wiederum erstarkt die Empfindung unseres körperlichen Daseins. Wir empfinden eine innere Kraft, ziemlich physisch-körperlicher Art, wenn wir das Gefühl haben, dass wir uns für etwas Wahres eingesetzt haben. Die Wahrheit können wir nicht immer wissen; ja: In dieser komplexen Welt kommt das fast nie vor. Aber wir tun besser dran, auf ein leiblich empfundenes Gefühl für die Wahrheit hin zu arbeiten, als den eigenen Standpunkt zu verkünden und die eigene Meinung als Tatsache hinzustellen.
Schönheit finden wir, indem wir die Disziplin und die Sensibilität besitzen, das Ganze wahrzunehmen, statt nur die einzelnen Teile. Die Gegenwart der Schönheit ist es, was uns das Leben des Körpers – die Fingerspitzen, die Stirn, die innere Wärme, die Sinnesempfindungen, die Emotionen – spüren und diese Eigenschaften in fortlaufender Weise erleben lässt (und nicht nur dann, wenn sie hin und wieder an die Oberfläche heraufsprudeln). Ein künstlerisch geführtes Leben führt uns zur Schönheit zurück. Die Schönheit ihrerseits lässt im Körper die Freude wieder anwesend sein.
Die Güte entdecken wir dadurch, dass wir auf unsere gesteigerte – dem Erwachen zur Wahrheit und zur Schönheit entstammte – seelische Wachheit hin handeln. Güte bringt den Willen in die Tat. Wir fühlen das Gute nicht bloß, sondern wir tun es. Güte besteht in der Fähigkeit, über uns selbst, über unsere Eigeninteressen hinauszugehen und uns ins Leben anderer Menschen hineinzubegeben, und zwar nicht in übergriffiger, sondern in selbstloser Weise. Ein künstlerisch geführtes Leben erzieht uns zur Feinfühligkeit. Diese Feinfühligkeit brauchen wir für die Fähigkeit, uns dadurch um andere Menschen sorgen zu können, dass wir das Notwendige sich von selbst offenbaren lassen anstatt dadurch, dass wir ihnen unsere eigene Sichtweise des Richtigen aufzwingen.
[1] Michael Howard, ed., Art as Spiritual Activity: Rudolf Steiner’s Contribution to the Visual Arts (Hudson, NY: Anthroposophic Press, 1998).
[2] Michael Howard, ed., Art as Spiritual Activity: Rudolf Steiner’s Contrbution to the Visual Arts. S. 135-154.
[3] Ich verdanke Louise Cowan, Professorin der Literatur an der University of Dallas, diese Einführung in die literarische Imagination.
[4] Howard, Art as Spiritual Activity, S. 176-194
[5] Howard, Art as Spiritual Activity, S. 272-281.
Wir haben gezeigt, wie das alles den Weg zu der Liebe öffnet: die Stärkung unserer Seelenkompetenzen; das Bewusstwerden der Angst als Weltmacht; ein von der Herzgegend her geführtes Leben; die Beschützung unseres Bewusstseins vor den Attacken der Verdoppelung; die Pflege einer bildhaften Erkenntnisweise. Die Frage muss man aber auch stellen: Woran erkenne ich, dass solche Maßnahmen fruchtbar werden? Fruchtbar werden sie, wann immer ich meine Vorstellung, meine Phantasie ein wenig verschiebe. Diese Verschiebung beginnt dann, wenn unsere Begegnungen mit der Angst beziehungsweise mit der Angst aufhören uns zu belasten und zu einem Weg werden, die Welt zu heiligen. Die Angst, die Angst entweiht, profaniert, verflucht die Welt und sucht letztendlich, sie zu zerstören. Sich in bewusster Weise der Angst und der Angst zu nähern regt uns dazu an, durch unsere Phantasie und unsere Vorstellungskraft etwas Schönes zu erschaffen. Daher sollten wir die Angst bzw. die Angst nicht zu zerstören, sondern sie zu neutralisieren suchen.
Zwar kann die Liebe eine neue Welt schaffen und die Macht der Angst und der Angst so gut wie aufheben; aber das kann sie nur indirekt tun: nämlich über die Schönheit, welche durch die Liebe inspiriert wird. Die Schönheit – hier wollen wir sie definieren als die Tat, künstlerisch zu leben – ist die in der Welt sichtbar gemachte Liebe. Wir können die Fähigkeit erwerben, sowohl durch unser Verhalten als auch durch unsere Gesinnung die Macht der Seele und die Macht des Geistes zur Offenbarung zu bringen. Ein Leben, das diese Offenbarung nicht nur in der Welt, sondern auch um der Welt willen bewirkt, ist ein künstlerisch geführtes Leben.
Durch Liebe zur Schönheit
Die Verschiebung in unserem Phantasieleben – vom Kämpfen gegen die Angst zum hereinführen der Liebe in die Welt – kommt nicht davon her, dass wir in der Welt weniger Angst oder Angst wahrnehmen. Sie kommt vielmehr davon her, dass wir mehr Schönheit wahrnehmen. Die Hässlichkeit ist der Überwurf, mit dem die Angst und die Angst die Welt bedecken. Wenn wir also deren Präsenz entgegenwirken wollen, so müssen wir mit der Schönheit eine Verbindung eingehen. Wenn wir uns durch die Angst, durch die Angst hindurcharbeiten und bis hin zur zentralen Bedeutung der Liebe kommen, kommen wir so selbstverständlich zur Schönheit, wie auf die Nacht die Morgendämmerung folgt.
Die Schönheit ist ein weitläufiger Begriff. Deshalb müssen wir, wenn wir uns mit ihr beschäftigen wollen, über ihre Auswirkungen nachdenken, anstatt ihr Wesen definieren zu wollen. Sie funktioniert zu allererst als eine Frage, als ein Wachrufen der Phantasie, durch die man die Tiefen des Seelenlebens verstehen kann. Haben wir einmal die Flut der Ängste ausgeräumt, die uns so sehr auf das Hässliche beschränkt, so werden wir einen neuen Raum innerhalb des Herzens finden. Dieser Herzensraum schwingt mit der Frage zusammen: Warum bin ich hier? Solange wir in Panik leben, können wir die Frage nicht hören. Wenn wir aber vorsichtig lauschen, so können wir das Stellen der Frage erfühlen, und zwar mit der Kontinuität unseres Herzschlags. In dieser Frage urständet überhaupt die Möglichkeit eines künstlerischen Lebens.
Wie sollen wir diese Schlüsselfrage beantworten? Das Leben bedeutet so viel für einen jeden von uns. Wer könnte das abstreiten? Nun, es gibt durchaus Menschen, die das tun würden. Die Lebensumstände, in denen sie stecken, könnten sie so etwas aussprechen lassen. Das ist die Angst, die durch sie hindurch spricht. Wenn die Angst das Leben der Seele dominiert, empfinden die Menschen keine Lebenslust mehr. Man räume diese Angst auch nur ein wenig weg, so kehrt die Lebensfreude wieder zurück.
Soll die Antwort etwa so heißen: „Wir sind hier, um unser Glück zu suchen“? Vergebliche Mühe. Unser Glück wird stets flüchtig sein, insbesondere dann, wenn es an materiellen Wünschen und Begierden gebunden ist. Vielleicht glauben wir, wir wären hier, um uns auf das Leben im Jenseits vorzubereiten. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass wir jetzt Erdenwesen sind, und dass unser Leben hier einen Sinn haben muss. Vielleicht sind wir hier, weil die Erde uns braucht. Wenn wir von dem ausgehen, was unseren Sinnen begegnet, wenn wir davor anwesend sein können, so können wir die Erde als sakralen Ort erleben. Wenn wir in dieser Richtung die Schönheit suchen und vor allem EhrAngst haben, was uns umgibt, so beginnt die Liebe, ihren größeren Sinn und Zweck und auch ihre Erfüllung zu finden.
Es bedarf unserer Phantasie, wenn wir einsehen sollen, dass alles, was wir tun, die Schönheit erhöhen soll, die uns umgibt. Alle Ureinwohner der Welt verbringen ihr Leben auf der Erde mit dieser Art EhrAngst vor der Natur. In solchen Kulturen gilt die Erde nicht als eine Ansammlung beseelter und unbeseelter Wesen, sondern es gelten alle Gegenstände als mit einer eigenen Seele und einem eigenen Geist, mit einer eigenen Persönlichkeit begabt. Eine solche Auffassung ist nicht rückständig, sondern sie ergibt sich naturgemäß aus der Handlung, die Liebe in die Welt hinein freizusetzen. Die Art und Weise aber, wie wir selber mit der Schönheit verbinden, hängt von uns ab. So sehr wir auch andere Kulturen bewundern mögen: Deren Bemühungen können wir nicht eins zu eins reproduzieren.
Den Pfad zur Schönheit hin findet man in den Anstrengungen, die man aufwendet, sich handelnd mit dem um sich herum existierenden Heiligen zu verbinden. Aus dieser Perspektive ist die Schönheit eine aktive Präsenz – ist etwas, zu dem wir berufen werden – und kein passives Objekt, das darauf wartet, von uns gewertschätzt zu werden. Da das Wort Schönheit kann nicht auf eine einzige Bedeutung reduziert werden, daher sollten wir so anfangen, dass wir ein wenig Raum für den Ansatz schaffen, mit dem wir uns an sie herantreten. Unser Hauptanliegen ist weder die Kunst noch die Ästhetik noch die Schönheit der Naturwelt. Und dennoch können wir über eine künstlerische Lebensweise Entscheidendes dadurch lernen, dass wir einen allen Arten der Schönheit gemeinsamen Aspekt beschreiben.
Lasst uns mit der Schönheit der natürlichen Welt beginnen – die Schönheit eines Sonnenuntergangs, eines Regenbogens, eines in gelber Blütenpracht stehenden Ackers, eines durch den Wald rennenden Rehs, die Majestät eines schneebedeckten Berggipfels. Wenn etwas schön aussieht, liegt das daran, dass es mit dem Ganzen zusammengehört. Die Naturwelt funktioniert als ein Ganzes, indem jeder einzelne Gegenstand seinen eigenen Platz darin hat. Den Acker voller gelber Blumen sieht man im Kontext einer Landschaft; diese Landschaft wiederum existiert im Verhältnis zu anderen Landschaften; und der blaue Himmel ober drüber endet nicht bei den Grenzen des Ackers. Wenn man auf den Acker hinausgeht, einige Blumen abschneidet, und aus ihnen einen Strauß macht, den man zuhause auf den Tisch stellt, so gehören sie nach wie vor zu dem Regen, der auf sie gefallen ist, zum Boden, der sie genährt hat, und zu den Insekten, die sich von ihrem Pollen ernährt haben. Die Schönheit ist nichts an und für sich selbst Daseiendes, sondern sie leitet sich von diesen größeren Beziehungen ab. Wenn wir mit EhrAngst auf einen Löwen im Zoo blicken, so ist dies nur eine schattenhafte Spiegelung der Schönheit des Löwen in seiner natürlichen Umgebung. Wir erkennen das zwar kaum, doch ist es so.
Sowohl der Blumenstrauß in der Vase als auch der Löwe im Zoo sind aus ihrem lebenden Zusammenhang entnommen worden. Deren Schönheit verschwindet nur deshalb nicht ganz, weil sie noch hier in der Welt sind und zu dem Ganzen gehören, innerhalb dessen sie sich nach wie vor befinden. Diese Schönheit können sie allerdings verlieren, wenn wir nicht an sie so herantreten, dass wir auch ihren Kontext ehren. Wir wertschätzen die Blumen, indem wir sie in einer Handlung ästhetischer Phantasie anordnen. Eine solche Anordnung kann deren Schönheit steigern oder sie aber auch vermindern, sofern sie (die Anordnung) willkürlich getroffen ist.
In der gleichen Weise sind auch Menschen ein Teil des Ganzen. Wir existieren in einem Zusammenhang, in dem absolut alles enthalten ist. Wir funktionieren zwar als Individualitäten, sind aber keineswegs isoliert. Wir sind mit anderen Menschen, mit der Welt, mit dem weiteren Universum untrennbar verstrickt. Sogar unsere Leiber existieren nur als ein Netzwerk von Beziehungen; der Leib ist der Ort, von dem aus sich die Welt für uns öffnet. Wir stehen zur Luft, zum Pflanzen- sowie zum Tierleben, zu anderen Menschen, zur Sonne und dem Mond und den Sternen in Beziehung.
Unser Individualitäts-Empfinden ersteht ganz natürlich mit dem Entstehen des Ichbewusstseins zusammen. Nur dann, wenn die Angst eintritt mit dem Anliegen, unsere Gefühle des Abgetrenntseins zu verhärten und zu kristallisieren, beginnt diese Individualität sich wie Isoliertheit anzufühlen. Wenn wir uns vorstellen, dass wir weiter nichts als ein komplexes, auf die Weltbühne aufgepfropftes Objekt wären, verlieren wir ausgerechnet die Verbindungen, die das Leben der Seele aufrechterhalten. So möglich es ist, den Menschen rein logisch in solcher Isoliertheit zu konzipieren, so unfruchtbar ist es, in solcher Weise in der Welt zu leben.
Wir verlassen uns zu jeder Zeit auf ein Empfinden des Ganzen. Der Sinngehalt dieses Satzes zum Beispiel lässt sich nicht aus der Bedeutung jedes einzelnen, isolierten Wortes ableiten. Erst indem die Wörter in ihrer Beziehung zu einander gelesen werden, tritt der Sinngehalt des Satzes in Erscheinung. So ist also jedes einzelne Wort für seine jeweilige Bedeutung auf den ganzen Satz angewiesen. In gleicher Weise sind wir beim Aufwachen jeden Morgen auch dann Teil einer ganzheitlichen Welt, wenn wir die Bedeutung dieser Welt nur durch den Zusammenhang ihrer mannigfaltigen Teile spüren. Indem wir die Bedeutung der Ganzheit entdecken, wird wiederum das Ganze ein Aspekt unserer Wahrnehmung der Teile. Dieses imaginativen Bewusstsein der Teil-Ganzheit-Wahrnehmung ist der Schlüssel zum Erleben der Schönheit.
Kunst ist etwas anderes als die Schönheit der Naturwelt. Ein Kunstwerk existiert ganz für sich. Manche werden behaupten, ein Kunstwerk existiere nur innerhalb des Kontextes aller anderen Kunstwerke so, wie die Blume auf dem Acker in ihrer Beziehung zu allen anderen Lebewesen der Naturwelt. Dem ist nicht so. Ein Gemälde etwa ist eine komplette, einzigartige Welt für sich. Jeder wahre Maler weiß das. Ein Maler kann nicht die Teile eines Gemäldes in Isolierung malen – er muss mit dem ganzen Bild im Sinne malen. Einem Anfänger fällt dies schwer, weil es einen andersartigen Bewusstseinsmodus verlangt. Der Maler macht zwar einen Pinselstrich nach dem anderen, aber das endgültige Gemälde besteht aus mehr als die Anhäufung dieser Teile. Ein wahrer Maler weiß, wann er einen verkehrten Pinselstrich gemacht hat; er erkennt, wenn er da hineinverfallen ist, bloß einen Baum zu malen, anstatt eine Landschaft. Außerdem: In der Naturwelt existiert die Ganzheit bereits, aber in einem Kunstwerk muss sie erst geschaffen werden.
Die Vorstellung, dass Ganzheit oder Schönheit nur in einer transzendenten Welt existiert, steht zum tatsachlichen Schaffensmodus des Künstlers in Widerspruch. Bei der Kunst geht es nicht darum, die imaginative Welt zur Wirklichkeit zu machen. Der Künstler nimmt das, was wirklich ist, und verleiht ihm eine imaginative Form. In der Kunst wird nicht die imaginative Welt wirklich gemacht; es wird vielmehr das Wirkliche in die Sphäre des Imaginativen erhoben.[1] Ein künstlerisches Bild, das von dessen sinnenfälliger Darstellung separat wäre, gibt es nicht.
Die Kunst existiert nicht zum bloßen Vergnügen, und in dem Moment, in dem sie das zu tun versucht, verfällt sie in die Dekadenz. Durch Kunst erleben wir eine spirituelle Lust durch die Anwesenheit von etwas vollkommen Sinnlichem. Ein solches künstlerisches Phänomen hat eine befriedigende Wirkung, weil es sowohl ein sinnenfälliger Gegenstand als auch eine bildhafte Darbietung von seelischen und geistigen Eigenschaften ist. die Schönheit im Kunstwerk ist stets etwas Reelles und Direktes. Kunst weist nicht bloß auf Schönheit hin; weil sie sinnlich ist, ist sie vielmehr eine direkte Verbindung zur Welt der Seele.
Die meisten Theorien des künstlerischen Schaffens verwechseln den Impuls der Kunst mit dem der Religion. Die Herangehensweise solcher Theorien an das künstlerische Schaffen ist so, wie wenn es in der Offenbarung urständen würde, ob von oben aus den Himmeln oder von innen aus den Tiefen der Seele. Wäre das so, so könnte ein Kunstwerk niemals etwas Befriedigendes sein, da zwischen der Offenbarung und deren Ausdruck eine ungeheure Kluft existiert. Genauso, wie wenn wir eine Einsicht haben und versuchen, dieselbe mit Wörtern zu vermitteln und dabei die Unzulänglichkeit unserer Wörter empfinden, in derselben Weise wird die Vorstellung, aus der geistigen Welt eine Inspiration auf die Erde herunter zu bringen, immer zu Gefühlen künstlerischer Unzulänglichkeit führen.
Wir könnten uns die Religion und die Kunst als zwei Strömungen vorstellen, die in entgegengesetzte Richtung wirken. Religion fußt auf geistige Offenbarungen, die zu Texten und Ritualen kodiert werden. Die Kunst, wenigstens so, wie sie in unserer Zeit existiert, fußt auf menschlichen Bemühungen, unsere Sinneserfahrung in die Geisteswelten zu erheben. Rudolf Steiner spricht von einem „umgekehrten Kultus“. Damit meint er im Grunde genommen, dass es Aufgabe des Künstlers ist, aus sinnenfälligen Stoffen Spirituelles zu erschaffen, während die Aufgabe der Religion die ist, die Seelen- in die Geistreiche zum sinnlichen Ausdruck zu bringen.
Unsere Aufgabe, uns selbst ganz zu machen, gleicht eher dem künstlerischen Modell des Schaffens, als dem religiösen Modell. Das Interesse der meisten Menschen an einer Seelenarbeit entstammt einem religiösen Bedürfnis, da solche Menschen die organisierte Religion als Weg zur Pflege der eigenen individuellen Seele aufgegeben haben. Die Arbeit C. G. Jungs zum Beispiel entwuchs seinen Schwierigkeiten mit der Religion, die ihn dazu führten, für die Psyche eine spirituelle Grundlage herzustellen. Junge meinte, dass man, anstatt Predigten zu hören, den eigenen Träumen lauschen und daran arbeiten sollte, die inneren Götter zu erkennen, die durch Urbilder offenbar werden.
Ich könnte mir denken – so sehr kontrovers es auch herüberkommen mag –, dass die Psychologie Jungs bisher weder einen besonders starken Beitrag zum Hereinbringen der Schönheit in die Welt geleistet hat, noch dass sie in Zukunft einen solchen leisten wird. Zwar hat die Psychologie das Potential, die religiöse Empfindsamkeit zu erneuern, aber sie hat so gut wie keine Auswirkung darauf, in der Welt Schönheit zu erschaffen. Eine Jung’sche Architektur, dramatische Kunst, Dichtung, Musik oder sonstige, seiner Arbeit entstammende künstlerische Form gibt es nicht. Mit seiner Studie über Alchemie kam er dem Verstehen einer weltorientierten Seelenarbeit zwar sehr nahe; aber auch hier verfehlte er das Ziel, da er nicht sehen konnte, dass die Alchemie eine Kunst ist, die es mit wirklichen, sinnenfälligen Stoffen und mit deren Verwandlung durch menschliches Einwirken zu tun hat. Er legte keinen Wert darauf, was die Alchemisten tatsächlich taten, sondern betrachtete lediglich ihre psychische Beschaffenheit.
Es geht mir nicht darum, Jung – geschweige denn die Tiefenpsychologie überhaupt – abzutun. Seine Beobachtungsgabe war eine hoch entwickelte, und wir sollen ihm eher für seine Wissenschaftlichkeit und seine Beharrlichkeit, durch Beobachtung zu erkennen, dankbar sein, als für seine mystischen Neigungen. Dieser Aspekt Jungs ist für jede wahre Seelenarbeit vorbildlich. Die richtige Herangehensweise an die Frage, wie wir uns zu ganzen Menschen machen, hängt ganz von der Fähigkeit sorgfältig zu Beobachten ab.
Ein Weg zum künstlerischen Leben
Die Kraft der Liebe in der Welt kann das Zünglein auf der Waage sein gegen die Angst und die Angst – aber nur dann, wenn sie auch in die Welt hineinfließen darf; und das hängt von der Steigerung der Sinnes- und Lebensprozesse zu Handlungen der Seele ab. Es gilt nämlich, die zwölf Sinne und die sieben Lebensprozesse so zu gestalten, dass unsere ganze Liebe durch sie hindurch leuchten kann.
Jede echte Kunst erhebt die Sinne auf die Ebene der Seele und des Geistes. Die verschiedenen Künste sind zwar nicht ausschließlich dem einen oder dem anderen Sinn bzw. Lebensprozess zuzuordnen; und doch richtet jede Kunst den Fokus darauf, einen spezifischen Sinn zu erheben. Dabei schließen sich die übrigen Sinne zusammen, um diesen spezifischen Sinn zu unterstützen und ziehen die Lebensprozesse in den Vorgang mit hinein.[2] Wir werden hier untersuchen, wie durch die einzelnen Künste die Sinne veredelt werden. Dann werden wir ähnliche schöpferische Handlungen im eigenen Leben aufsuchen, indem wir uns selbst zum Teil eines Ganzen machen.
Tanz und Gleichgewicht
Der Tanz wirkt im Wesentlichen mit unserem Gleichgewichtssinn zusammen. Dieser Sinn verleiht uns zwar die Fähigkeit, aufrecht zu gehen, aber er besitzt ungeahnte Möglichkeiten darüber hinaus. Man stelle sich vor, man würde einer vorzüglichen Tanz-Darbietung beiwohnen. Da bewegen sich die Tänzer frei, noch freier, als wir es je vermöchten. Die Tänzer gebrauchen nicht bloß ihren Gleichgewichtssinn, sondern sie haben lange und hart daran gearbeitet, ihren Gleichgewichtssinn zu veredeln, ihn zur Kunst zu erheben, indem sie ihm eine Form geben – die Form des Tanzes. Wenn der Tänzer es nicht schafft, sich selbst der Gestalt des Tanzes zu übergeben, so ergibt das etwas, was zwar bis hin zur technischen Perfektion wie Tanz aussieht, aber im Künstlerischen wirkt solcher Tanz gestelzt und erzwungen.
Ein Tänzer darf nicht die eigenen Begierden in den Tanz einfließen lassen. Man muss die Begierde zwar nicht unterdrücken, aber man muss sie durchaus in Grenzen halten, damit sie nicht den Tanz befällt. Wenn wir tanzen – also in gewöhnlicher Weise, nicht als Kunstform –, spielen wir mit unserem Gleichgewichtssinn und drücken so unsere eigene Begierde nach Vergnügen aus. Der Tanzkünstler, der die eigenen Begierden in solch persönlicher Weise ausdrücken würde, würde den ganzen Tanz verderben. Die individuelle Begierde des Tänzers drückt dessen eigene Ego-Angelegenheiten aus, nicht den Tanz selbst. Der echte Tänzer liebt nicht so sehr das Tanzen als den Tanz.
Im alltäglichen Leben werden wir uns in der Regel erst dann unseres Gleichgewichts bewusst, wenn wir es – etwa durch Ausrutschen auf Glatteis – verlieren, oder wenn wir auf der Kirmes eine Achterbahnfahrt machen und feststellen, dass uns der Magen im Hals hinaufrutscht. Wenn wir aber die Angst stark empfinden, so lässt auch sie unseren Magen in unseren Hals steigen. Auch das stört unseren Gleichgewichtssinn, ob wir Achterbahn fahren oder nicht. Sogar dann, wenn die Angst oder die Angst nicht unmittelbar anwesend ist, kann es vorkommen, dass sie uns in der Seele weiter nachklingt, uns das Denken stört oder den Doppelgänger hereinlässt, und das stört in jedem Fall unser Gleichgewichtsempfinden. Vielleicht bemerken wir das nicht, weil sich der Körper angepasst hat. Aber wir leben dennoch in einem Zustand, der „aus dem Gleichgewicht“ ist. Haben wir aber einigermaßen an den Schwierigkeiten der Angst bzw. der Angst gearbeitet, sodass sie uns von den unmittelbaren Qualitäten der Welt nicht mehr trennt, so haben wir begonnen, unseren Gleichgewichtssinn auf den Weg zur Verfeinerung zu bringen.
Sehr hilfreich wäre es, morgens beim Aufwachen unsere Aufmerksamkeit kurz auf das Gleichgewicht zu lenken. Während des Schlafes haben unsere Seele und unser Geist den Körper verlassen, und im Lauf der Nacht weilen sie in einer Welt der Raum- und Zeitlosigkeit. Auch das Finden des Gleichgewichts merkt man in der Regel ebensowenig, wie wenn man es verliert. Manchmal fällt es uns wegen eines besonders kräftigen Traums für den Rest des folgenden Tages schwer, uns im Gleichgewicht zu fühlen. Das zeigt, wie wir uns jeden Tag in einen Zustand des Gleichgewichts versetzen müssen. Wenn wir uns „abgehoben“ fühlen, so kann es hilfreich sein, zu spüren, wie die Schwerkraft uns zur Erde hinzieht. Wenn wir uns schwerfällig und träge fühlen, kann es eine Hilfe sein, auf etwas zu meditieren, was Auftrieb hat oder spiritueller Art ist.
Durch das Finden des eigenen Gleichgewichtssinns wird nicht jeder sich dazu berufen fühlen, Tänzer zu werden. Aber es kann durchaus vorkommen, dass man dadurch das Bedürfnis zu tanzen spürt. Anstatt dieses Gefühl einfach zur Kenntnis zu nehmen und es dann loszulassen, können wir es als Chance nutzen, uns der eigenen Körperhaltung unmittelbar bewusst zu werden. Wir können dabei über unsere aufrechte Haltung ins Staunen kommen, und es geht uns dabei auf, wie unsere Bewunderung für diese Haltung uns in Einklang bringt mit dem Himmel über uns und der Erde unter uns. Dieser Einklang kann in einem Gefühl der Übereinstimmung bestehen zwischen uns einerseits und unseren himmelverwandten Idealen bzw. unseren Erdverwandten Begierden andererseits. Ferner kann das eintreten, dass wir uns der Dinge, die uns aus dem Gleichgewicht werfen (das sind Dinge, die mit der Angst und mit der Angst zu tun haben), bewusster werden, und folglich die äußeren Anzeichen dafür erkennen lernen, wann diese Dinge bei uns im Anzug sind – auch dann, wenn sie auf der Oberfläche mit Angst oder Angst nichts zu tun zu haben scheinen. Freilich werden diese Eigenschaften des Gleichgewichts ausbleiben, wenn wir nichts unternommen haben, die Angst auszugleichen, und wenn wir in unserer Liebefähigkeit nicht gereift sind.
Pantomime und Bewegung
Durch den Bewegungssinn erleben wir die Bewegungen des Körpers. Die Organe für diesen Sinn sind die Muskeln. Wenn ich meinen Arm bewege, wird diese Bewegung innen durch die Nerven im Muskelgewebe registriert, und ich nehme den Bewegungsvorgang wahr. Ich erlebe nicht nur die größeren Bewegungen der Arme und Beine, sondern auch kleinere Bewegungen des Körpers: das Wenden des Halses, den Herein- und Herausrhythmus meines Brustkorbs während ich atme, das Sichbewegen meiner Augen, sogar das Auf- und Zugehen meiner Augenlider. Der Bewegungssinn erteilt uns eine innere, körperliche Empfindung der Freiheit. Aber es gehört mehr zu dieser Empfindung, als bloß die Fähigkeit, sich von einem Ort an den anderen zu versetzen. Insbesondere die kleineren Bewegungen, wie zum Beispiel die der Augen, ermöglichen uns auch dann ein Gespür für Freiheit und Beweglichkeit, wenn wir mit dem Körper keine erhebliche Bewegung ausführen.
Von unserem Bewegungssinn können wir viel lernen, wenn er in der Pantomime zu einer Kunstform gesteigert wird. Die Pantomime erhebt den Bewegungssinn zu einer imaginativen Form. Obwohl die Pantomime zu einer seltenen (und nicht immer hoch geschätzten) Kunstform geworden ist und im Großen und Ganzen als eine Art Unterhaltung ausharrt, ist sie recht eigentlich eine hohe Kunst. Der Unterschied zwischen dem Tanz und der Pantomime ist bemerkenswert: Pantomime spielt sich eher in der Zweidimensionalität ab. Obzwar sie in der Dreidimensionalität dargeboten wird, ist es so, wie wenn die Handlung auf einer Fläche stattfände, ähnlich wie wenn der Pantomime das Abtasten einer Fensterscheibe darstellen würde. So wird die Qualität der Bewegung selbst gesteigert, ihr wird Gestalt verliehen, mit Phantasie eingekleidet. Die Gegenstände und Menschen, mit dem der Pantomime interagiert, sind unsichtbar, und so dürfen wir unsere Aufmerksamkeit umso lebhafter auf die Handlung des Sichbewegens selbst richten.
Im gewöhnlichen Leben wird unser Bewegungssinn durch die Gegenwart der Angst bzw. der Angst stark beeinflusst. Wir erstarren, werden unbeweglich, fühlen uns gehemmt, wie in einer Falle steckend. Das Gestrampele der Angst kann uns tatsächlich vereinnahmen und uns in seine chaotischen Bewegungen mit hineinziehen. Jemand, der in den Fängen der Angst steckt, wird vielleicht wild darauf losrennen, schreiend mit den Armen herumrudern. Zwar sind uns dieser körperlichen Störung dann am bewusstesten, wenn die Angst stark ist, aber sie beeinflusst diesen Sinn ständig und bis dahin, dass wir unter Umständen das Gefühl der Freiheit gar nicht mehr erleben. Wann immer das geschieht, gilt es, uns selbst aus diesem Einfluss dadurch herauszuzerren, dass wir an der Seele bilden, die Phantasie stärken, die vier Arten der Liebe pflegen. Es geht darum, uns von der Liebe bewegen zu lassen, anstatt uns gedankenlos auf Tätigkeiten einzulassen, die zwar zweckmäßig erscheinen mögen, die aber weiter nichts tun, als unsere Kapitulation vor der Angst zu offenbaren.
Für den Pantomimen ist auch die geringste Gebärde mit Bedeutung erfüllt, mit der Schönheit der Bewegung selbst. Bei einem tiefen Bewusstsein der Bewegung im alltäglichen Leben, fühlen wir von einer Empfindung der Grazie, der Eleganz umgeben. Bewusstes Sichbewegen, wie man sie etwa im Tai Chi zu sehen bekommt, stimmt uns auf die Lebensenergien der Welt ein, lehrt uns, wie wir die Angst umgehen, wie wir ihr weidenartig-geschmeidig mitgehend nachgeben, anstatt zu versuchen, ihr frontal Widerstand zu leisten und somit sicherzustellen, dass wir von ihr gebrochen werden.
Eine künstlerisch ergriffene, grazile Bewegung deutet darauf hin, dass die Bewegung auf alles abgestimmt ist, was sich in der Welt darbietet. Wenn wir uns hingegen mit lauter mechanischen Einrichtungen umgeben, so tritt allenfalls eine Art Koordination ein, aber das, was die Gestaltung unserer Bewegung überwiegend beeinflusst, sind die mechanischen Objekte, und zwar auf kosten der Spontaneität. Das kann nicht nur mit mechanischen Geräten eintreten, sondern auch mit jeglicher herben Einrichtung unserer Umgebung.
Ich erinnere mich, wie ich einmal beschloss, in Anaheim/Kalifornien, wo ich gerade einer Tagung beiwohnte, einen Spaziergang zu machen. Als ich um die Ecke bog, war ich schockiert, zu sehen, wie der Bürgersteig meilenweit ungebrochen geradeaus zu verlaufen schien. Unerschrocken machte ich mich auf, und nach mehreren Meilen stellte ich eigenartigerweise fest, dass ich es nicht vermochte, einfach aufzuhören, umzukehren und zurückzugehen. Meine Bewegung war durch den langen, engen Betonstreifen geformt worden. Es war so, wie wenn ich sowohl durch das repetitive Gleichsein des Betons als auch durch den eigenen Schritt hypnotisiert worden wäre. Ich verlor in diesem Zusammenhang eine Empfindung der Freiheit. In solcher Umgebung ist es nur schwer möglich, sich darin zu üben, die Bewegung zu einer Kunstform zu machen.
Wenn wir draußen in der Natur spazieren gehen – etwa in einer hügeligen Waldgegend – und das Gelände häufig zwischen aufschüssige und abschüssige Strecken wechselt, so wird das Gehen in viel natürlicher Weise zu einer Kunstform. Aber nur wenige von uns haben die Gelegenheit, jeden Tag solche Spaziergänge zu machen. Es wird nötig, sich eine Imagination des Sichbewegens zu bilden. Ein Ansatz dazu ist zu bemerken, wie das Gefühl der Freiheit dann verschwindet, wenn die Umgebung mechanischer Art ist. Auch können wir feststellen, wie wir in solchen Situationen sehr viel leichter der Angst verfallen. Auf meinem Spaziergang in Anaheim befand ich mich in einem Zustand der Angst, obwohl es heller Tag war. Indem die Autos an mir vorbeirasten befürchtete ich, dass eines davon von der Straße abkommen und mich erfassen könnte; ich hatte Angst, ein Wagen voller Gangmitglieder könnte mich sehen und irgendwie bedrohen. Aber sogar in dieser Situation, in der der Beton meine Gangart so stark beeinflusste, merkte ich, dass die Angst zurückging, wenn ich meine Aufmerksamkeit auf die Handlung des Gehens richtete.
Wenn wir künstlerisch leben, übernehmen wir die Verantwortung für das, worauf wir in der Welt unseren Blick richten. Wenn ich nur fahrende Autos und Menschen sehe, die am Bürgersteig entlanghasten, sowie mechanische Kontouren und Formen und harte Gebäudekanten, so wird dadurch das Erlebnis der Freiheit abgestumpft. Das kann ich aufwiegen, indem ich die Bewegungen der Wolken am Himmel betrachte, oder das Wehen der Bäume in einer Brise, oder indem ich mich darauf konzentriere, wie ein bestimmter Mensch sich bewegt, was für Gebärde er mit den Händen macht, wie er den Kopf neigt, mich ansieht, ob dessen Augen auf mich gerichtet bleiben oder durch den Raum hin und her schweifen. Diese kleinen Dinge machen sehr viel aus: Ich bin zum Gestalter geworden und nicht zu demjenigen, der gestaltet wird. Ich bleibe in meinem Bewegungssinn wach und aufmerksam. Nach und nach werde ich Muster und Anordnungen, einheitliche, in vielen Einzelabläufen bestehende Bewegungen sehen, die aber eine Ganzheit ergeben. Sogar mein Denken wird anders – nicht so fragmentiert, sondern fließender –, und ich bin mir des Denkens anderer Menschen bewusster.
Malerei und das Sehen
Der Maler geht mit der Farbe und der Form so um, dass ein Bild entsteht, welches uns die innere Tiefe der Welt offenbart. Der Maler kann sein Vorstellungsvermögen nach außen richten. Er kann durch die Oberfläche der Gegenstände hindurch bis in deren innere Qualitäten hinein sehen. Auch kann er sein Vorstellungsvermögen nach innen richten und innerhalb der Seele selbst sehend sein. In beiden Fällen vermag der Maler zu sehen, dass Farbe und Form lebendige Wesenheiten sind.
Wo der Laie vielleicht nur ein rotes Objekt, eine statische Form mit einer farbigen Oberfläche sieht, empfindet der Maler die Tätigkeit eines solchen Objekts und sucht, dieselbe auf der Leinwand zu festzuhalten. Normale Menschen betrachten ein Feld voller Sonnenblumen und bewundern vielleicht seine Schönheit. Aber van Gogh erlebte das leuchtende Gelb im Kontrast zum Blau des Himmels mit einer solchen Lebensintensität, dass es ihn nahezu umbrachte, ein Bild von dem zu machen, was er sah. Der mit solchem Sehvermögen ausgestattete Maler sieht nicht nur das vor ihm Ausgebreitete und versucht es darzustellen; er sieht vielmehr eine einheitliche, aus Farbe und Form bestehende Ganzheit. Und er weiß obendrein, dass es die Seele ist, welche diese Wahrnehmung vollzieht. Dieser Seh-Eindruck entsteht nicht aus der distanzierten Perspektive eines allwissenden Zuschauers. Das, was der Maler sieht, ergibt sich, indem sein imaginales Bewusstsein und die Außenwelt zusammenwachsen. Egal welchen Inhalt der Maler darstellt: Aus dieser Art des Sehens geht es hervor.
So zu beobachten erfasst die Realität in tiefgehenderer Weise als es die Wissenschaft tut, da die erstere Beobachtungsweise denjenigen mitberücksichtigt, der sieht. Und zwar berücksichtigt sie ihn nicht als bloß theoretischen Konstrukt, sondern als ein tatsächlich Daseiendes. Wenn man die Welt so betrachtet, besteht sie nicht mehr bloß aus Dingen und Prozessen, sondern aus lebendigen Wesen, die ihr inneres Wesen nur dadurch zur Darstellung kommen, dass sie von der Seele gesehen werden.
Da wir in der Regel die Welt nicht so sehen, wie ein Maler sie sieht, werden für uns die Dinge der Welt vermindert. Deren innere Eigenschaften werden geopfert, und sie werden konsumiert anstatt gelobpreist zu werden. Was wärest du, wenn dich niemand je sehen würde? Zunächst würdest du dich einsam und isoliert fühlen, wie wenn du nicht in die Welt hineingehörtest. Als Reaktion würdest du womöglich deine Anwesenheit übertreiben. Aber mit der Zeit würdest du einfach verkümmern. Im wortwörtlichen Sinne sterben würdest du vielleicht nicht, aber du würdest mehr wie ein Automat werden, als ein mit Seele begabtes Wesen.
Wenn wir nicht tief in die Welt hineinschauen, wenn wir nicht das Leben der Welt in einer Weise sehen, die dem Sehen des Malers entspricht, so welkt auch die Welt und stirbt dahin – auch dann, wenn es an der Oberfläche so aussieht, wie wenn alles seinen normalen Gang nehmen würde. Deshalb werden die Meere mit Öl verpestet, weil wir nicht sehen können, dass sie nicht bloß Leben enthalten, sondern dass sie selbst leben. Deshalb werden die Wälder erbarmungslos gerodet, weil wir für Bäume sozusagen blind geworden sind. Deshalb verfallen ungeheure Landflächen riesigen Einkaufzentren, weil wir die lebendige Landschaft nicht sehen können.
Für jeden, der die Welt auch nur ansatzweise sehen kann, kann das Sehen schmerzhaft sein. Obwohl es nicht unmittelbar deutlich sein mag, ist ein Großteil der Welt um uns her schon jetzt tot. Wer soviel Zeit opfert, wer soviel Zuwendung aufbringt, dass er in noch so geringem Maße das Leben wieder sehen lernt, dem zeigt sich mit tragischer Klarheit, wie sehr die Welt bereits von der Angst dominiert ist. Wirklich hinzusehen erfordert allerdings spirituellen Mut; aber unsere Bemühungen, durch die Augen der Seele zu sehen und dabei nicht in Entsetzen zurückzuschrecken, werden von der Welt nicht unbemerkt bleiben.
Dichtkunst und Sprache
Bei der Dichtung geht es um den Sprachsinn. Sie ermöglicht dem Menschen eine einzigartige Ausdrucksform. In der Dichtkunst wird die Sprache in den Bereich des Geistes hinaufgehoben, wo sie nicht nur als Worte oder Begriffe, sondern als die reine Tat existiert. Die Sprache wird lebendig und wirklich. Anstatt bloß zu bezeichnen, handelt sie. Die Dichtung beschreibt nicht nur ein inneres, persönliches Gefühl, das man vielleicht hat. Sie beschreibt auch nicht nur, wie wir im Verhältnis zur Welt fühlen. Ein Gedicht ist reine Sprache; es fordert von uns, dass wir es nicht nur durch den Intellekt wahrnehmen, sondern durch den Sprachsinn. Und wer ist es, der spricht? Nicht eigentlich der Dichter, denn der Dichter ist weiter nichts, als das Vehikel für das Gedicht, das für sich existiert. Die Welt ist es, was in der Dichtung spricht, ob es sich um die innere oder die äußere Welt handelt. Die Worte des Dichters verwandeln die stille Stimme der Welt so, dass sie im menschlichen Sinne sprechend und zu einer ausdrucksvollen Geste wird.
In unserem Leben hören wir oft nur den Inhalt dessen, was jemand sagt. Wir können aber in bewussterer Weise auf den Rhythmus, die Pausen, die Zwischenräume aufmerken und können in dem Gesprochenen das Unausgesprochene hören. Um so zuhören zu können, müssen durch unseren ganzen Leib hören, nicht nur durch unsere Ohren; und wir müssen dem lauschen, was der Leib empfängt, nicht nur dem, was der Verstand registriert. Auch können wir nicht nur das reden, was wir denken und fühlen, sondern wir können uns in den Abgrund des Nichtwissens hineinstürzen und dort zulassen, dass die Sprache auf uns zukommt und durch uns spricht. Wir können uns der Metapher, des Gleichnisses, der Analogie weit bewusster sein. Ja wir können sogar durch die Verwendung einer gewöhnlichen Sprache landläufige Sprachmuster durchbrechen, indem wir statt des uns schon Bekannten stets das zu sagen versuchen, was wir nicht wissen.
Der Schoß der Rede ist die Ruhe. Künstlerisch reden wir nur dann, wenn wir aus dem echten Bedürfnis heraus reden, etwas zu sagen, was jenseits unserer gewöhnlichen Meinungen und Urteile liegt. Wenn dir ein Gedanke kommt, halte ihn zurück, sprich ihn nicht sofort aus, sondern ernähre ihn in der Dunkelheit der heiligen Stille. Dann kann dieser Gedanke wie ein Magnet die Sprache der Welt anziehen. Was gesagt werden muss, braucht Raum, um fruchten zu können. Es geht hier nicht darum, immer Wichtiges zu reden, sondern darum, uns redend mit der Welt vereinen, damit das Sprechen Ausdruck nicht nur unseres Willens ist, sondern des Willens der Welt, des Kosmos, der Seele. Unser kleiner, selbstsüchtiger Egoismus plappert pausenlos fort, ein Hinweis darauf, dass er voller Ängstlichkeit, Beklemmung und Angst ist. Und unser Sprechen tut weiter nichts, als diese auf andere Menschen zu übertragen. Indem wir künstlerisch sprechend die Welt durch uns reden lassen, verändert unser Sprechen die Welt. Indem wir die Welt durch uns reden lassen, lassen wir uns durch sie verändern.
Musik und das Gehör
Am Zentrum der Musik ist der Gehörsinn. Sie ist aber keine Imitation der Klänge, die man in der Welt hört. Die Gesänge mancher Vögel, zum Beispiel, sind melodiös, sind aber keine Musik im eigentlichen Sinne. Das Hören muss bis in den Bereich der Seele gehoben werden, um zu etwas Musikalischem zu werden, und so dem Klang eine neue, imaginative Gestalt zu verleihen. Die musikalische Imagination erfordert mehr als augenblickliche Höhenflüge der Inspiration. Der Musiker muss in seinen Seelentiefen im Hause der Inspiration leben. Die Musik ist buchstäblich der Klang der in der Seele resonierenden Inspiration. Die einzige andere Domäne, in der die Inspiration in so direkter Weise betreten werden kann, ist die der Mathematik.
Die Musik, die wir äußerlich hörend wahrnehmen, ist nicht ganz dasselbe wie das, was der Musiker oder der Komponist in der eigenen Seele vernimmt. Aber wann immer wir eine in Form der Musik zum Ausdruck gebrachte Inspiration der Seele zu hören bekommen, werden wir in die Eigenschaften selber der Musik versetzt; Lieder können uns mit Liebe, mit dem Gefühl der Tragödie, mit Freude erfüllen. Wenn uns die Musik ganz ausfüllt, so bleibt kein Raum übrig, um darüber nachzudenken, was die Klänge bedeuten. Unmittelbar dargebotene Musik tut dies viel wirksamer als eine Tonaufnahme, und zwar nicht allein deshalb, weil wir unsere ganze Aufmerksamkeit auf ein Orchester oder eine Sängerin richten, sondern auch weil Tonaufnahmen mit der Musik merkwürdige Dinge tun. Tonaufnahmen verflachen den physikalischen Raum, sodass es schwer zu hören ist, wie die Flöten von hinten in der Mitte, die Bratschen von vorne rechts kommen. Wir können nicht mehr empfinden, wie die Musik durch Menschen und Instrumente hindurchfließt, wie sie so sehr zur Musik dazugehören, wie der Klang selbst.
Das Reich der Musik lehrt uns eine Menge über das inspirierte Leben. Inspiriert wir fühlen uns, wenn wir das sind, was wir tun, wenn in unserem Sein für zufällige Gedanken oder Vorstellungen kein Raum übrig bleibt. Wir befinden uns dann mit unseren Handlungen in Übereinstimmung, mit unserem Sinn und Zweck in Harmonie, und wir tun die Dinge im richtigen Rhythmus, mit dem richtigen Timing. Um das, was uns inspiriert, eigentlich zu hören, ist es nötig, dass wir richtig hinhorchen. Haben wir einmal den Ursprung des Gehörten verstanden, so kann uns alles, was uns zur Verfügung steht, zum Instrument werden, um diese Inspiration in die Welt hineinzutragen. Ob ich schreibe, lehre, oder Schuhe verkaufe, alle diese Tätigkeiten lassen sich als inspiriert fühlen. Alles, was wir dann tun, tun wir in schöner, in künstlerischer Weise. Die Inspiration ist nicht ausschließlich Sache der Dichter und Maler und Romanschreiber. Obzwar diese intensiver und womöglich kontinuierlicher in solchen Zuständen leben, ist es durch Üben auch uns normalen Menschen erreichbar. Was uns die Künstler zeigen, das ist, dass es Disziplin und Anstrengung verlangt, will man es dazu zu bringen, in inspirierter Weise zu leben. Das alte Sprichwort, wonach die Genialität zu zehn Prozent aus Inspiration und zu neunzig Prozent aus Transpiration besteht, ist eine unumgängliche Wahrheit. Wir alle haben diese zehn Prozent, aber nur wenige von uns bringen das zur Entwicklung, was nötig ist, um sie zu verwirklichen.
In gleicher Weise wie die Musiker tagein, tagaus auf alle Fälle ihre Instrumente stimmen, sich aufwärmen, Grundübungen lernen und immer und immer wieder üben müssen, in dergleichen Weise müssen auch wir im Leben arbeiten, um uns für die Inspiration zur Verfügung zu stellen. Es geht nicht nur um ein Empfangen unsererseits, sondern es muss alles genau stimmen. Dabei ist unser ganzes Sein unser Instrument – Leib, Seele und Geist. Wenn mein Körper das Eine tut während meine Seele in die eine oder andere Phantasie abhebt und mein Geist gar abwesend zu sein scheint, so ist eine Umstimmung in großem Stil vonnöten. Stress und Angst müssen ausgeräumt werden, damit man sich im eigenen Körper völlig zuhause fühlen kann.
Worin besteht dieses Sichaufwärmen? Im richtigen Atmen, in der richtigen Entspannung, im richtigen Üben, Essen, Fokus der Aufmerksamkeit. Für die Seele einige Grundübungen, wie etwa die im ersten Kapitel beschriebene Übung im Bildschaffen. Und für den Geist eine Meditation. Man nehme zum Beispiel einen einfachen Satz – wie etwa „Wir leben stets im Lichte“ – und meditiere ihn. Das heißt nicht, über ihn nachdenken, sondern ihn in die höheren Regionen des Bewusstseins hineintragen und dort leben lassen. Man richte das Augenmerk auf eines der Wörter („Wir leben stets im Lichte“), dann auf eines der anderen Wörter („Wir leben stets im Lichte“). Das Anliegen dieser Übung ist, allmählich zuzulassen, dass der Fokus des ganzen Satzes auf einem einzelnen Wort liegt. So wird der Satz allmählich als eine Ganzheit existieren, anstatt als eine Aneinanderreihung einzelner Wörter. Ein solches tägliches Üben stimmt das Instrument unseres Seins und offenbart uns, dass der Geist nicht in der gleichen Zeitenfolge lebt, wie wir. Egal wie fortgeschritten wir werden: Wir müssen, genau wie der Musiker, diese Grundübungen fortgesetzt durchhalten.
Nachdem man so lange und so hart geübt hat, kommt dann der Moment, wo der Musiker die Bühne betritt und zu spielen hat. Analog dazu begeben wir uns in die Tätigkeiten des Alltags hinein, die wir dann als eine Art ernsten Spielens wieder aufgreifen. Lasst uns jeden Tag als eine Aufführung gestalten, die in der harmonischen Einigkeit unseres Wesens – als Leib, Seele und Geist – mit der Welt besteht. Ist die Aufführung dann zu Ende, so dürfen wir die Bühne verlassen und weiterüben. Das Leben wird zu einer Sache des Lauschens.
Literarische Prosa und die Einheitlichkeit des Wahrnehmens
Es mag den Anschein haben, als wenn die literarische Prosa in der Dichtkunst - oder doch wenigstens ansatzweise im Bereich der poetischen Phantasie - anzusiedeln wäre. Aber Gedichte sind zum Gesprochenwerden gedacht, und die literarische Prosa soll gelesen werden. Das macht letztere zu einer Kunstform innerer Art: Die literarische Phantasie soll so in uns wirken, dass sie alle unsere Sinne auf die seelische Ebene hinauferheben. Wenn eine Blume in literarischer Weise beschrieben wird, so treten der Duft und die Tastempfindung der Blume in der Phantasie des Lesers auf. Liest man, wie abends in einem Rosengarten zwei sich Liebende küssen, so riechen wir die Rosen im wortwörtlichen Sinne zwar nicht, aber unsere Einbildungskraft kann die Sinnesempfindung durchaus vergegenwärtigen, die wir haben, wenn wir an einer Rose riechen.
In einem Werk der literarischen Fiktion betreten wir eine Welt, in der alle Sinne miteinander auf die Ebene der Imagination erhoben werden. Außerdem geschehen in der imaginären Sinneswelt der Prosafiktion interessante Dinge mit der Zeitlichkeit. Eine Erzählung hat eine zeitliche Abfolge – einen Anfang, eine Mitte und ein Ende – die allerdings nicht immer geradeheraus verläuft. Es kann vorkommen, dass die Geschichte am Ende beginnt; es können Rückblenden vorkommen, die Zeit wird durcheinandergemischt. Die Zeit wird zu einer imaginären Wirklichkeit, welche dennoch als reell empfunden wird. Ein historischer Roman kann Jahrhunderte umspannen, und es ist dem Leser dabei so, als hätte er diese Jahrhunderte durchlebt.
Prosafiktion hat auch eine Handlung. Die Darstellung der Ereignisse in deren erfundenem Raum, in deren vorgetäuschter Zeit führt uns die Seelenschicksale der beteiligten Figuren vor Augen. Wir sehen wie von den geheimnisvollen Mächten des Schicksals die Handlungsmotive und Absichten der Figuren gelenkt werden; wir nehmen wahr, wo die Freiheit möglich ist und wo nicht. Wir sehen, wie die Seele handelt, und besinnen uns nicht bloß auf deren Definition. Alle Literatur fällt unter vier große seelische Gattungen – Epik, Tragik, Komik und Lyrik.[3] Diese seelischen Muster kommen in allen möglichen Formen vor, sind aber stets Variationen dieser vier Welten der Seele. In der Epik wird uns die heroische Bewegung der Seele gezeigt; in der Tragödie wird uns der gefallene Charakter der Menschen gezeigt; in der Komödie wird die Welt erlöst; in der Lyrik dürfen wir eine Vorstellung des Paradieses mitvollziehen.
Die Prosafiktion als zu lesende Kunstform geht über die bloße Unterhaltung weit hinaus. Sie lehrt uns, vielleicht in umfangreicherer Weise als bei jeder anderen Kunstform, wie man lebt. Große literarische Prosa belehrt uns zwar nicht im didaktischen Sinne. Aber es ist schon eine Lernerfahrung an sich, lesend in eine Imagination des Lebens hineingetragen zu werden: Durch sie bildet sich unsere Seele zu einem Organ, das den Prüfungen der Welt gewachsen ist. Sind einmal Geburt, Tod, Liebe, Schicksal, Familie, Hoffnung, Verzweiflung, Konflikt, Gewissen, Erfolg, Versagen an uns vorübergezogen, so sind wir nicht mehr ganz derselbe Mensch, wie davor. Zwar erleben wir alle diese Dinge auch im wirklichen Leben, aber wir schaffen es nicht immer, ihren Ursprung oder die letztendlichen Konsequenzen unserer Handlungen mitzuvollziehen. In der Prosafiktion sehen wir, wohin das Machtstreben führt, wie die Liebe ein Menschenleben auf immer verändert, was die Folgen eines unaufgelösten Konflikts sein können.
Die Lektionen, die uns die literarische Prosa zu erteilen hat, lassen sich nicht als Quelle von Werten, von ethischem Handeln, von Moralität eins zu eins auf das wirkliche Leben übertragen. Sie beseelen allerdings unsere Empfindsamkeit, sie ergänzen unser Wahrnehmungsvermögen. Daran kann auch die Seele erstarken, kann es zur absoluten Gewissheit bringen, dass die Seele aus dem ungeheuerlichen Unterfangen, Mensch zu sein, gegen die Angst den Sieg davontragen kann.
Das Wahrnehmen und die Lebensprozesse
Obwohl unsere Sinne in der Regel ganz unabhängig voneinander sind, können sie dennoch einstimmig funktionieren, ohne durcheinander zu kommen. Das Sehen stört das Hören nicht; das Hören ist von dem Schmecken, das Tasten von dem Gleichgewichtssinn ganz getrennt und so weiter. Jeder Sinn ist aber mit Leben durchdrungen. Das Auge etwa ist mehr als bloß ein optischer Apparat, der uns Bilder der Sinneswelt übermitteln soll. In den Sehakt fließt Leben hinein. Das Leben besteht aus den ganz spezifischen Prozessen Atmung, Wärmung, Ernährung, Ausscheidung, Erhaltung, Wachstum und Reproduktion – aber so eindeutig voneinander getrennt wie die Sinne sind diese Lebensprozesse nicht. Sondern sie gehen ineinander über.
Je mehr das Wahrnehmen zur Gewohnheit wird, desto mehr ziehen sich die Lebensprozesse aus unseren Sinnen zurück. Das lässt das Wahrnehmen zu bloßen Nervenvorgängen werden, die instinktiv, automatisch und ohne bewusstes Fühlen verlaufen. Wer sich um die Pflege eines künstlerischen Lebens bemüht, bewirkt, dass in die Sinne Leben wieder einfließt.[4] Wenn wir etwa unsere alltägliche Umgebung anschauen, so sehen wir ständig allerlei Farben. Zwar sind sie von der Intensität her verschieden, aber sie werden lediglich als Farben wahrgenommen. Die Farben eines Gemäldes haben eine gesteigerte Lebendigkeit. Das bewirkt, dass unser Auge mit mehr Leben durchsetzt wird als gewöhnlich und bringt alle unsere Sinne in ein aktives Verhältnis zueinander. Bei unserer Wahrnehmung von Farbe und Form geht ein subtiles Berühren und sogar ein Schmecken und Riechen der Farbe unserseits vor sich, wobei es sich hier allerdings um ein Tasten, Schmecken und Riechen als bildschaffende Eigenschaften der Seele handelt, und nicht um bloß physische Vorgänge.
Indem die Sinne sich mit mehr Leben füllen, machen auch die Lebensprozesse eine Veränderung durch. Die Prozesse der Atmung, Wärmung und Ernährung haben alle mit der Beziehung des Körpers zur Außenwelt zu tun. Im Atmen gibt es fortdauernd einen Austausch zwischen dem Leibesinnern und der äußeren Welt. Bei der Wärmung steht die im Leibesinneren erzeugte Wärme mit der Temperatur draußen in der Welt im Verhältnis. Bei der Ernährung nehmen wir Nahrungsmittel in uns auf, und diese werden in die Substanz des Körpers verwandelt. Indem diese drei Lebensprozesse in stärkerer Weise in das Wahrnehmen hereinspielen, taucht eine andere Art der Welterkenntnis auf. Ein Künstler zum Beispiel erkennt die Welt nicht so, wie andere Menschen dies tun. Der Künstler nimmt Bilder wahr, lebt in Bildern, erkennt durch Bilder. In der bildhaften Erkenntnis fühlt man die Beziehung zwischen dem Körper und der Welt in lebhafter Weise. Wärme wird mehr als bloß Temperatur; sie wird zur Seelenqualität eines intensiven, warmen Interesses für die Welt. Und das Wahrnehmen selbst wird als Ernährung für die Seele erlebt. Wenn wir in künstlerischer Weise leben, so erkennen wir durch unseren Körper. Das geht zwar eindeutig mit dem Denken einher, aber es ist nunmehr ein völlig beleibtes Denken.
Die Lebensprozesse Ausscheidung, Erhaltung, Wachstum und Reproduktion haben mehr mit dem Innenleben des Körpers zu tun, als mit seinem fortwährenden Verhältnis zur Welt außerhalb seiner. Die Ausscheidung beseitigt das, was übrigbleibt nachdem die Nahrung vom Körper absorbiert wurde. Die Erhaltung ist die Handlung der von dem Körper aufgenommenen Nährstoffe, das Leben aufrechtzuerhalten. Beim Wachstum geht es um die fortlaufenden Änderungen in den Zellen und Organen des Körpers, durch welche dieser ständig im Sterben und Neuentstehen begriffen ist. die Reproduktion hat mit den Vorgängen des Körpers zu tun, die im Erschaffen neuen Lebens eingebunden sind. Zusammen durchsetzen diese Prozesse den Leib mit einer spürbaren Empfindung der Tiefe, mit einem Wahrnehmen des eigenen Körpers als dynamisch, im Sichändern begriffen, als fruchtbar, ja sogar als mit Verlangen brodelnd. In der künstlerischen Wahrnehmung strömen diese Prozesse stärker den Sinnen zu, und daraus geht ein mit Fühlen angereichertes Wahrnehmen hervor. Die alltägliche Offensichtlichkeit der Dinge um uns herum erhält eine Art Durchsichtigkeit: Es scheint durch sie etwas hindurch. Wir erleben, wie das Alltägliche von der Schönheit durchhellt wird. Die uns umgebenden Gegenstände und unser intimstes Selbst werden zusammengefasst. Es wird der Gegenatze zwischen Subjekt und Objekt aufgehoben.
Künstlerisch zu leben heißt nicht einfach stärkere Gefühle zu haben; es heißt bemerken, wie die Farben und Konturen von allem Wahrnehmbaren eine Welt der Gefühle bilden. Deshalb können wir uns vom tiefen Rot einer Rose, von der Gestalt einer architektonischen Struktur, von den dunklen Schatten, die eine Kerze wirft, von der Form einer einfachen, gelungen Schale tief gerührt sein, weil sie in sich selbst das Fühlen verkörpern
Das ganze Reich der Künste kann unser wertvollster Lehrer zu einem künstlerischen Leben sein, das die Seele von der Angst befreien kann. In diesem Reich vereinigt sich die Sensibilität des Körpers mit der imaginativen Kraft der Seele und der Schöpfermacht des Geistes. Da wir in einer hochmaterialistischen Kultur leben, glauben wir, dass die Bereiche der Seele und des Geistes von dem des Leiblich-Physischen komplett separat sind. Nur deshalb, weil das Physische herrscht, stellen wir uns die Seele als einen inneren subjektiven, von der Welt zurückgezogenen Zustand, und das Geist-Erleben als einen völlig entkörperten Zustand vor. Die Angst und die Angst bauen darauf, diese Teile des Ganzen voneinander getrennt zu halten. Sie fordern nicht den Ausschluss von Seele und Geist, sondern lediglich deren Getrenntsein, deren Isoliertwerden voneinander. Dann lassen sie bestimmte eigenartige, komische Seelen- und Geisterfahrungen zu. Der Geist wird als Erscheinungsformen eines „mystischen Materialismus“ zugelassen, der sich oft als „spirituelle Energien“ oder „Botschaften vom jenseits“ oder als Heimgesuchtwerden von Engeln äußert. Die Seele darf im Traumleben oder allenfalls im Therapieraum oder in Mythologie und Symbologie auftreten; bloß ja nicht im alltäglichen Leben. Solange die Sinne abgestumpft sind, so lange bleibt die Ganzheit unseres Wesens verschachtelt, und die Angst darf nach Belieben umherstreifen.
Wer die Einheit von Leib, Seele und Geist dadurch zulässt, dass er die Seele von der Angst befreit, der lässt diese drei Aspekte unseres Seins zu Stützen werden der Wahrheit, der Schönheit und der Güte in der Welt.[5] Das sind die drei großen Menschheitsideale. Das waren sie schon immer, aber wir haben keine konkrete Empfindung mehr für sie – sie tragen höchstens einen abstrakten Wert, über den die Philosophen und die Akademiker diskutieren. Nur durch das Führen eines künstlerischen Lebens werden diese Ideale zu Wirklichkeiten, welche die Angst in der Welt überwinden. Wer das eine Ideal herabwertet, der wertet auch die anderen mit herab. Jedes ist auf das Heil und die Lebenskraft der anderen angewiesen.
Die Wahrheit fühlen wir dadurch, dass wir eine engere, imaginativere Beziehung mit der Wirklichkeit eingehen, und zwar kraft der Ganzheitlichkeit des Leibes. An der Wahrheit wiederum erstarkt die Empfindung unseres körperlichen Daseins. Wir empfinden eine innere Kraft, ziemlich physisch-körperlicher Art, wenn wir das Gefühl haben, dass wir uns für etwas Wahres eingesetzt haben. Die Wahrheit können wir nicht immer wissen; ja: In dieser komplexen Welt kommt das fast nie vor. Aber wir tun besser dran, auf ein leiblich empfundenes Gefühl für die Wahrheit hin zu arbeiten, als den eigenen Standpunkt zu verkünden und die eigene Meinung als Tatsache hinzustellen.
Schönheit finden wir, indem wir die Disziplin und die Sensibilität besitzen, das Ganze wahrzunehmen, statt nur die einzelnen Teile. Die Gegenwart der Schönheit ist es, was uns das Leben des Körpers – die Fingerspitzen, die Stirn, die innere Wärme, die Sinnesempfindungen, die Emotionen – spüren und diese Eigenschaften in fortlaufender Weise erleben lässt (und nicht nur dann, wenn sie hin und wieder an die Oberfläche heraufsprudeln). Ein künstlerisch geführtes Leben führt uns zur Schönheit zurück. Die Schönheit ihrerseits lässt im Körper die Freude wieder anwesend sein.
Die Güte entdecken wir dadurch, dass wir auf unsere gesteigerte – dem Erwachen zur Wahrheit und zur Schönheit entstammte – seelische Wachheit hin handeln. Güte bringt den Willen in die Tat. Wir fühlen das Gute nicht bloß, sondern wir tun es. Güte besteht in der Fähigkeit, über uns selbst, über unsere Eigeninteressen hinauszugehen und uns ins Leben anderer Menschen hineinzubegeben, und zwar nicht in übergriffiger, sondern in selbstloser Weise. Ein künstlerisch geführtes Leben erzieht uns zur Feinfühligkeit. Diese Feinfühligkeit brauchen wir für die Fähigkeit, uns dadurch um andere Menschen sorgen zu können, dass wir das Notwendige sich von selbst offenbaren lassen anstatt dadurch, dass wir ihnen unsere eigene Sichtweise des Richtigen aufzwingen.
[1] Michael Howard, ed., Art as Spiritual Activity: Rudolf Steiner’s Contribution to the Visual Arts (Hudson, NY: Anthroposophic Press, 1998).
[2] Michael Howard, ed., Art as Spiritual Activity: Rudolf Steiner’s Contrbution to the Visual Arts. S. 135-154.
[3] Ich verdanke Louise Cowan, Professorin der Literatur an der University of Dallas, diese Einführung in die literarische Imagination.
[4] Howard, Art as Spiritual Activity, S. 176-194
[5] Howard, Art as Spiritual Activity, S. 272-281.