Die Befreiung der Seele von der Angst
Kapitel VI: Der Doppelgänger
Wie kommt es, dass wir die Angst nicht weit mächtiger und weit kontinuierlicher erleben, als es ohnehin schon der Fall ist? Haben wir uns so sehr an sie gewöhnt, dass sie uns nicht eigentlich stört, außer wenn sie mit einer Intensität auftritt, die wir nicht ignorieren können? Sind wir wirklich derart betäubt? Die Betäubung hinsichtlich unserer Ängste stammt nicht davon her, dass wir sie unterdrücken, sondern von etwas viel ernsthafterem: Wir befinden uns in einer existentiellen Situation, in der wir zu jeder Zeit zu ihren Komplizen werden können, und zwar ohne, dass wir es überhaupt bemerken. Wann immer eine solche Komplizenschaft – unwissend – eingegangen wird, wird die Wesenheit eines Menschen durch etwas ausgewechselt, was zwar ein menschliches Aussehen und eine menschliche Handlungsweise besitzt, was aber kein Mensch ist.
Wir sind nicht immer wir selbst. Das ist eine wohlbekannte Tatsache, und das Studium und die Behandlung von Menschen, die es schwer haben, sie selbst zu sein, ist ein Feld der therapeutischen Psychologie.
Etwa zeitgleich mit der Tiefenpsychologie Freuds und Jungs tritt eine Reihe von Schriftstellern auf, die Erzählungen ziemlich merkwürdiger Erlebnisse erfanden – Geschichten von Figuren, die sie selbst nicht waren, die in Zuständen verfielen, die noch erschreckender waren, als eine so genannte psychische Erkrankung. Diese Geschichten handelten von Individualitäten, die sich von einer Art Gespenst konfrontiert fanden, einem Phantom von sich selbst in der äußeren Welt: dem Phänomen des Doppelgängers. Recht häufig kommt in der Literatur des mittleren bis späten 19. Jahrhunderts der Doppelgänger vor: von Oscar Wilde, Guy de Maupassant, E.T.A. Hoffmann, Dostojewski und Mary Shelley, um nur einige wenige aufzuzählen. Solche Beispiele des Doppelgängers in der Literatur werden von Otto Rank, dem Psychoanalytiker und Zeitgenossen Freuds, in dessen Werk Der Doppelgänger. Eine psychoanalytische Studie, untersucht.[1]
Es ist einmal so, dass in literarischen Werken und in Filmen dieses Phänomen weit besser dargestellt ist, als in der Psychologie. Das Genre scheint verblasst zu haben und mit ihm auch unser Verständnis davon, wie die Angst unser Menschsein usurpieren kann. Übriggeblieben sind uns nur landläufige psychologische Kategorien, welche den Verlust der menschlichen Authentizität auf psychologische Schwierigkeiten zurückführen.
So viele die diversen Gestalten auch sind, die der Doppelgänger annehmen kann: In der Regel enthält er Aspekte des eigenen Selbstbildes, wobei ihm dennoch ein eigener Wille zugeschrieben wird. Guy de Maupassants Erzählung „Der Horla“ etwa stellt einen gespenstartigen Doppelgänger dar, dem es aber um mehr als das Einjagen eines nur kurzzeitigen Schreckens zu tun ist.[2] Er laugt die Lebenskraft selbst aus der Hauptfigur der Erzählung (die nicht benannt wird). Die Erscheinung des Doppelgängers ereignet sich ganz plötzlich:
Beginnend im Herbst vergangenen Jahres wurde ich plötzlich von eigenartigen, unerklärlichen Anfällen des Unbehagens heimgesucht. Das war zunächst eine Art nervöser Ängstlichkeit, die mich ganze Nächte wachhielt. Ich befand mich hierbei in einem Zustand solcher Spannung, dass auch das leiseste Geräusch mich aufschrecken ließ. Ich wurde übellaunig. Ich geriet ohne Grund in Zorn. Ich ließ einen Arzt kommen. Der verschrieb Kaliumbromid und Duschen.
Der Erzähler berichtet einer Versammlung von Ärzten und Wissenschaftlern die vielen geheimnisvollen Dinge, die ihm zugestoßen sind. Eine auf seinem Nachttisch gestellte Wasserkaraffe, die vor dem Schlafengehen gefüllt worden war, fand er am anderen Morgen immer leer vor. Nach einiger Zeit denkt er sich eine Probe aus, um sicherzustellen, dass es nicht er selbst ist, der während der Nacht das Wasser austrinkt. Er beschreibt, wie er eines Tages eine Rose sieht, die wie von unsichtbarer Hand vom Strauch abgebrochen und in die Luft gehoben wird, wie wenn jemand sie sich an die Nase halten würde. Er berichtet davon, wie er, als er eines Tages in seinem Zimmer beim Lesen war, eine Präsenz spürte, als würde ihm jemand über die Schulter sehen und wie, als er sich umdrehte, der auf der anderen Seite des Zimmers befindliche Spiegel sein Bild nicht widerspiegelte; und wie nach einem Moment sein Spiegelbild wieder in Erscheinung trat, als hätte sich etwas, was zwischen ihm und dem Spiegel gestanden hatte, wieder aus dem Weg bewegt.
Am Ende seines Berichts an die Ärzte und Forscher erklärt der Erzähler, für wen er diese unsichtbare Präsenz wohl halte dürfe:
So sehen Sie also, meine Herren, eine Wesenheit. Eine neue Wesenheit, die zweifelsohne sich so vermehren wird, wie auch wir es getan haben, ist soeben auf der Erde erschienen… Was ist das? Meine Herren, es handelt sich um die Wesenheit, die nach dem Menschen kommen soll und auf deren Ankunft die Erde wartet! Diese Wesenheit ist gekommen, um uns zu entthronen, uns zu unterwerfen, uns zu zähmen, womöglich um sich in derselben Weise von uns zu ernähren, wie wir uns von Vieh und Schweinen ernähren. Wir hatten immer eine böse Vorahnung von ihr, seit Jahrhunderten graut uns vor ihr, seit Jahrhunderten verkündigen wir ihr Kommen. … Und in allem, was Sie selbst, meine Herren, seit Jahren tun, in dem, was Sie Hypnose, Suggestion, tierischen Magnetismus nennen, verkündigen sie ihn seit Jahren. … Ich sage Ihnen, er ist gekommen. Er streift – zurückhaltend, wie es wohl auch die ersten Menschen waren – auf der Erde umher, weiß noch nicht das volle Ausmaß seiner Stärke und seiner Kraft. Bald genug – ja allzu bald – wird er es wissen.
Die Erscheinung des Doppelgängers in der Weltliteratur zur gleichen Zeit als das Entstehen der Tiefenpsychologie ist ein Indiz dafür, dass die Künstler und Psychologen zwar aus verschiedenen Blickwinkeln, aber ein ähnliches Phänomen behandelten. Beide Gruppen beschäftigten sich damit, wie wir unser Selbstempfinden verlieren. Die Psychologen bestimmten, dass der Ursprung aller solchen Phänomene innerhalb der individuellen Psyche liege, und zwar als Ergebnis der persönlichen Lebensgeschichte. Otto Rank etwa reduziert ausdrücklich die künstlerische Darstellung des Doppelgängers auf persönliche Schwierigkeiten von Seiten des jeweiligen Schriftstellers. Er beschreibt de Maupassant als Produkt einer hysterischen Mutter, der außerdem noch eine Anlage zur Psychose gehabt habe, eine Behauptung, die wiederum dadurch unterstützt wird, dass de Maupassants jüngerer Bruder unter einer hysterischen Lähmung litt. Andere Schriftsteller, die den Doppelgänger darstellen, werden von Rank in ähnlicher Weise diagnostiziert. Er führt den Ursprung der Erzählungen des E. T. A. Hoffmann ebenfalls auf eine hysterische Mutter zurück. Die eigenartigen Doppelgänger-Geschichten des E. A. Poe, etwa William Wilson, schreibt er Poes Alkoholgenuss zu. Dostojewskis Faszination mit dem Doppelgänger erklärt er anhand von dessen Epilepsieerkrankung. Die Psychologie fasste das Problem des Doppelgängers als ein bloßes Symptom psychischer Störungen zusammen. Es wurde zu einem Anzeichen der Psychose, der Paranoia, oder aber zu einem Hinweis auf exzessive egozentrische Tendenzen. Der Doppelgänger wurde auf eine halluzinatorische Erfahrung reduziert und nicht als eine kulturelle Wirklichkeit erkannt.
Angesichts der Tatsache, dass in vielen Fällen die Erscheinung des Doppelgängers in der Literatur dem Leben des Schriftstellers parallel verläuft, ist Ranks Erklärung nachvollziehbar. Ein solches Vorkommnis berichtet Goethe in seiner Autobiographie Dichtung und Wahrheit:
[D]a überfiel mich eine der sonderbarsten Ahndungen. Ich sah nämlich, nicht mit den Augen des Leibes, sondern des Geistes, mich mir selbst, denselben Weg, zu Pferde wieder entgegenkommen, und zwar in einem Kleide, wie ich es nie getragen: es war hechtgrau mit etwas Gold. Sobald ich mich aus diesem Traum aufschüttelte, war die Gestalt ganz hinweg. Sonderbar ist es jedoch, dass ich nach acht Jahren, in dem Kleide, das mir geträumt hatte, und das ich nicht aus Wahl, sondern aus Zufall gerade trug, mich auf demselben Wege fand, um Friedriken noch einmal zu besuchen.
Der Doppelgänger erscheint oft als jemand, der genau so aussieht, wie man selbst. Aber die Erfahrung hat so manche Variationen. In de Maupassants Erzählung offenbart sich die Präsenz nicht ganz in dieser Form. Er trinkt allerdings das Wasser, das dem Ich-Erzähler gehört, und es hat den Anschein, als würde er die Bücher des Ich-Erzählers lesen, während er über dessen Schulter schaut und alles das tut, was auch der Ich-Erzähler tut. In den meisten dieser Geschichten aus dem 19. Jahrhundert gibt sich der Doppelgänger als eine externe Erscheinung. Goethes Bericht enthält insofern eine überraschende Wendung, als dass er die Gestalt des Doppelgängers zwar nicht physisch wahrnimmt, wohl aber wie wenn er physisch gewesen wäre und mit dem inneren Auge. In der Beschreibung Goethes findet sich dieser auf derselben Straße, die er früher geritten ist, und auch so gekleidet, wie die Erscheinung acht Jahre zuvor. Die psychische Erscheinung des Doppelgängers scheint immer ein tatsächliches physisches Ergebnis nach sich zu ziehen. Seine Erkenntnis, dass der Doppelgänger durch das geistige und nicht durch das physische Auge erscheint, zeugt davon, dass Goethe viel wacher war als andere, die solche Erlebnisse hatten. Seine Beobachtungskräfte waren tiefer, was vermutlich seiner Arbeit nicht nur als Dichter, sondern als wissenschaftlicher Forscher zu verdanken war. Wer keine solchen Fähigkeiten besitzt, dem kommen Bild und Wahrnehmungswirklichkeit leicht durcheinander. Dieses Detail ist aus dem Grund wichtig, weil es nahelegt, dass völlige Wachheit erforderlich ist, will man feststellen, wann wir vom Doppelgänger beeinflusst werden.
Um das Phänomen des Doppelgängers erforschen zu können, müssen wir uns vom Vorurteil psychologischer Erklärungen befreien. Rank, zum Beispiel, verstand den Doppelgänger als eine Manifestation des Narzissmus. Wann immer das Ego von der Auflösung bedroht ist, ob durch den nahenden Tod oder durch den Verlust der Liebe, sucht es sich dadurch zu retten, dass es ein externes Bild von sich schafft. Das ist die typische psychologische Erklärung des Doppelgängers.
Ich betrachte die Künstler, die den Doppelgänger zum ersten Mal darstellten, lieber als
Propheten denn als psychisch krank. Ganz bestimmt haben Dostojewski, Goethe, Hoffmann, Poe, Stevenson, Shelley, Wilde, Stoker und Baudelaire Tieferes und Bedeutenderes zum Ausdruck gebracht, als ihre eigenen Probleme mit Mutti. Das, was diese Künstler in prophetischer Weise fantasierten, war eine intuitive Wahrnehmung in Form von Bildern – Bilder nicht von deren eigener, mutmaßlich geistesgestörter Psyche, sondern Bilder der Zukunft, welche die Richtung darstellen, in der die Menschheit unterwegs ist. Wenn der Ich-Erzähler in der Erzählung von de Maupassant berichtet, dass etwas kommt, um die Menschheit einzuholen, so bietet er auch ein Bild davon. Ganz am Ende seiner Erzählung sagt er, dass er intuitiv fühlt, dass die Ankunft des Doppelgängers etwas mit einem brasilianischen Schiff zu tun habe, das er im Hafen ankommen sah, als er einmal von seinem Haus hinausspähte (das Haus blickt auf die Seine hinaus). Er spekuliert darüber, dass das auf dem Schiff ankommende gespenstische Wesen einen Bezug hat zu einem Fluch, der eine Gegend von Brasil verwüstet hat, und zitiert einen Bericht, den er in der Zeitung gelesen hat:
Eine Art Wahnsinns-Epidemie scheint seit einiger Zeit im Staate Sao Paulo gewütet zu haben. Die Bewohner mehrerer Dörfer sind geflüchtet, haben ihre Äcker und Häuser aufgegeben, da, wie sie behaupten, sie von unsichtbaren Vampiren verfolgt und gefressen worden seien, die von ihrem Atem zehrten, während sie schliefen, und die weiter nichts tranken, als Wasser und Milch.
Der Erzähler suggeriert, dass das Gespenst zu dem Schiff hingefunden hätte, aber es bleibt dem Leser überlassen, das mit der erbarmungslosen Zerstörung der brasilianischen Landschaft in Verbindung bringen. Das Schiff sei mit einer Fracht geladen gewesen, die den in der Gegend der brasilianischen Dörfer befindlichen Bodenschätzen entnommen worden sei, und de Maupassant malt ein Bild eines ausbeuterischen Kommerzialismus, von Ländern, die verwüstet worden seien, um die materiellen Bedürfnisse der Welt zu befriedigen. Es ist, wie wenn das Fällen der Bäume, das Ausgraben der Mineralien kein Versteck mehr für diese eigenartige Wesenheit übriggelassen hätte.
Der Erzähler suggeriert, dass das Gespenst zu dem Schiff hingefunden habe, überlässt es aber dem Leser, dies mit der erbarmungslosen Zerstörung der brasilianischen Landschaft in Verbindung bringen. Das Schiff sei mit einer Fracht geladen gewesen, die den in der Gegend der brasilianischen Dörfer befindlichen Bodenschätzen entnommen worden sei, und de Maupassant malt das Bild eines ausbeuterischen Kommerzialismus, ein Bild von Ländern, die verwüstet worden seien, um die materiellen Bedürfnisse der Welt zu befriedigen. Es ist, wie wenn das Fällen der Bäume, das Ausgraben der Mineralien kein Versteck mehr für diese eigenartige Wesenheit übriggelassen hätte.
Das Bild, das von dieser leidenden Wesenheit dargeboten wird – eine Welt, die den materialistischen Begierden und der Technik vollkommen ausgeliefert ist – ist nun in unserem Hafen angekommen. In dieser Welt sehen wir unsere Umgebung nicht mehr als Ganzes, sondern wir sehen nur uns selbst, und zwar nur ein ungeheuer reduziertes Bild von uns selbst. Wir sehen unseren materialistischen Geiz und fühlen uns vom Jenseits abgetrennt. Nur: Diese Trennung ist von uns selbst vollzogen worden. Indem wir uns nun die Welt vorstellen, ist sie nicht mehr die Fülle der Seelenwelt zusammen mit der irdischen Welt, nicht mehr die große Vereinigung des Sichtbaren mit dem Unsichtbaren, sondern sie ist eine Doppelwelt.
Diese Teilung in zwei Welten erhält sich durch die Anwesenheit der Angst aufrecht. Wir würden den Schmerz ob des Verlustes der Daseinsfülle noch viel deutlicher und klarer empfinden, gäbe es nicht die Angst und deren Beauftragten, den Doppelgänger, durch welchen sie uns das vergessen lässt, was wir verloren haben. Psychologische Deutungen der oben geschilderten Art reduzieren allerdings den Doppelgänger auf ein Problem des Narzissmus. Die literarischen Autoren waren aber nicht in Egoismus verstrickt. Vielmehr nahmen sie den Doppelgänger – eine eifrige, lüsterne, hochmütige, neidische, egoistische Macht – in der Welt wahr; als eine autonome Kraft, die in ihrem Streben nach Weltbeherrschung oftmals unsere menschliche Form annimmt.
Anstatt zu versuchen, die Gewalt zu bestimmen, die hinter dem Doppelgänger steckt (das würde uns auf das Feld der Theologie bringen), ist es vielleicht nützlicher, wenn wir uns dranmachen, ihre Funktionsweise und ihre diversen Erscheinungsformen zu beschreiben. Die vom Doppelgänger angewandten Methoden, um uns unsere Menschlichkeit vergessen zu lassen, wurden in vorangehenden Kapiteln behandelt: die Manifestationen der Angst in der Welt vervielfachen sich, lassen den Leib zusammenzucken, treten mit Macht in unser Bewusstsein ein, und wir funktionieren dann als etwas, was nicht wir selbst ist. Die oben erwähnten Schriftsteller haben sich den Doppelgänger als äußere Figur vorgestellt; aber inzwischen ist er in unser eigenstes Wesen eingetreten. Dort besteht seine Funktionsweise darin, uns mittels der überwältigenden Gegenwart der Angst in einem Dauerzustand der Betäubung zu erhalten. So kommt es, dass die Ängste in der Welt weitgehend ungehemmt zunehmen dürfen.
Der individuelle Doppelgänger
Wir können vor die entsetzlichsten Gräueltaten der Welt hingestellt werden, und dennoch dringt die Tiefe der Tragödie nicht bis zum Kern unserer Seele. Wir können sogar darüber staunen, dass wir so fühllos, so unempfänglich sind. Sind wir da wirklich wir selbst, oder sind wir zum Doppelgänger von uns selbst geworden? Ein Doppelgänger hat keine Seele; er sieht aus und handelt so, wie ein Mensch; er wirkt auf andere so, als wäre er menschlich, aber er ist weiter nichts als eine Art Automat. Wenn wir feststellen, dass wir unempfänglich geworden sind angesichts des Leidens in der Welt und dass wir stattdessen mit unserem eigenen Komfort beschäftigt sind, so kann das mit dem Einfluss der Verdoppelung zu tun haben. Wir können im Fernseher die Ergebnisse eines vernichtenden Erdbebens sehen, das tausende von Menschen getötet hat, und kaum gerührt mit unserem Leben weitermachen. Wir können jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit an den schlimmsten Slums der Stadt vorbeifahren, und das Leiden hinterlässt nur in geringem Maße einen dauerhaften Eindruck. Man muss den Schluss ziehen, dass wir in unseren Seelen den Kontakt zu uns selbst verloren haben.
Auch in heutiger Zeit erscheint der Doppelgänger manchmal als ein äußeres Bild. Wer Hätte nicht einmal das Gefühl erlebt, dass jemand direkt hinter einem steht, oder dass jemand, den wir kennen, in der Nähe ist? Oder es kann vorkommen, dass wir das Gefühl haben, als befänden wir uns wieder einmal an einem uns bekannten Ort, von dem wir aber wissen, dass wir noch nie da gewesen sind – ein so genanntes Deja-vu-Erlebnis. Oder wir hören, wie unser Name gerufen wird, und drehen uns um, ohne irgendwen zu sehen, den wir kennen. Im Jahre 1917 sagte Rudolf Steiner, dass in Zukunft die Kinder sich immer mehr von einem unsichtbaren Gefährten begleitet finden würden, der sie dazu drängt, zerstörerische Dinge zu tun, und es war ihm dabei nicht um phantasierte Spielkameraden zu tun. Der individuelle Doppelgänger kann auftreten, während man unter dem Einfluss von Drogen steht, oder sich in einem Zustand übermäßiger Einsamkeit, Isolierung oder der Unfähigkeit zu lieben befindet. Auch kann er in Träumen als ein Bild von einem selbst erscheinen, das typischerweise widerliche Eigenschaften besitzt – was etwas gründlich anderes ist als das, was Jung den Schatten nannte, und auch Anderes ist, als wenn man sich bloß als eine der Figuren im Traum sieht.
Der Erzähler in de Maupassants Geschichte sagt den Ärzten, dass die Hypnose-Experimente eine Vorbereitung für das In-Erscheinung-Treten des Doppelgängers gewesen seien. In der Tat: in der Hypnose, den Rückführungen und in schamanistischen Reisen wird mit dem individuellen Doppelgänger als zentrale Gestalt gerechnet. Alle diese Erlebnisse sind darauf angewiesen, dass ein Trance-Zustand herbeigeführt wird. Wann immer wir nicht vollbewusst sind, ist das eine Gelegenheit für den Doppelgänger, dazwischenzufahren und sich unser zu bemächtigen. Zum Beispiel: Wenn man eine schamanistische Reise unternimmt, beginnt die Reise in der Regel mit rhythmischem Trommeln. Dann wird man dazu angewiesen, sich zu einer inneren Landschaft hinzubegeben und dort einer bestimmten magischen Figur zu begegnen – einem Tier, einer Fee, einem Elfen, einem Gnomen, einem Heiler. Der- oder diejenige allerdings, der/die sich auf diese Reise begibt, sind nicht wir selbst. Man selbst ist mit herabgedämpftem Bewusstsein im Trancezustand im Zimmer zurückgeblieben. Der Doppelgänger ist es, der für uns die Reise macht.
Ich habe zahlreiche mit schamanischer Arbeit beschäftigte Menschen gefragt, wer auf die Reise geht, und keiner von ihnen gibt eine klare Antwort. Die meisten sagen, es sei ein Teil der Seele. Aber es muss vielmehr etwas sein, was mit dem Ego zu tun hat, denn das Wesen, das die Reise macht, ist eine Widerspiegelung von uns selbst. Der Doppelgänger hat anscheinend die Fähigkeit, zwischen den Welten zu reisen, und vielleicht sogar die Fähigkeit, andere Zeiten zu bereisen. Die gegenwärtige Popularisierung der Hypnose, die Praxis der Rückführung, auch schamanische Praktiken betrachten einen jeden veränderten Bewusstseinszustand als etwas Hilfreiches. Dabei ist bei jeder Bewusstseinsveränderung große Vorsicht geboten, denn wir uns dem ausliefern, was eine Bewusstseinserweiterung zu sein scheint, könnte es eigentlich eine Verdoppelung von uns selbst sein.
Wer jegliche Art von hypnotischer Technik anwendet, riskiert den Geist des hypnotisierten Menschen an sich zu binden. Dieses Ansichbinden ist offensichtlich. Es zeigt sich darin, dass der hypnotisierte Mensch den eigenen Körper und das eigene Bewusstsein an den Hypnotiseur sowie an die jeweiligen Dinge abtritt, die der Hypnotisierte unter der suggestiven Macht des Hypnotiseurs ausführen mag. Wir brauchen nur zu fragen, wer denn diese Dinge ausführt. Der Hypnotiseur suggeriert sie, und es sieht so aus, als würde der Hypnotisierte sie ausführen, aber der Letztere ist nicht eigentlich da. Der individuelle Geist kann an den Doppelgänger gebunden werden. Auch wenn die Menschen einer solchen Herabstimmung ihres Bewusstseins zustimmen, heißt das nicht, dass sie dabei eine freie Handlung vollzogen hätten. Sie haben lediglich eingewilligt, auf ihre Freiheit zu verzichten. Jeder Vorteil, der dabei herausspringen mag, ist dem, was verlorengeht, zweitrangig. Der gebundene Geist wird eine Portion der schöpferischen Fähigkeit verlieren, die er braucht, um die Umstände des alltäglichen Lebens zu bewältigen. Nicht einmal vorübergehende Vorteile überwiegen die Schwere eines verminderten Geistes.
Der Wunsch nach Kräften über der Spannweite des gewöhnlichen Bewusstseins hinaus kann weiter nichts sein, als eine Ablenkung von der Aufgabe, sich der Angst zu stellen. Ein In-Sich-Gehen mittels dieser inzwischen populär gewordenen Trance-Techniken kann zu einer Form von Flucht werden. Es muss gesagt werden, dass die Popularisierung der Trance-Zustände von der Tiefe der Tradition erheblich abweicht, welche die wahren schamanistischen Praktiken auszeichnet. Wochenend-Schamanismus hat wenig zu tun mit über Jahrhunderte hin als Kultur entwickelter Erkenntnis und Weisheit. In solchen Kulturen ist der Schamanismus eine Berufung, die über viele Jahre hin ausgebildet werden muss, und die stets innerhalb einer bestimmten Gemeinschaft, Kultur, und religiösen Weltsicht existiert.
Es muss auch keine direkte Hypnose sein, was uns dem individuellen Doppelgänger unterwirft. Wenn ich extrem wütend werde, könnte in der Wut ein Augenblick eintreten, wo ich deutlich bemerke, dass ein anderes Bewusstsein die Macht ergriffen hat. Während eines Wutanfalls ist es sogar möglich, zum passiven Zeugen der wütenden Person zu werden, die mir genau ähnelt; diese Person anzusehen und zur Kenntnis zu nehmen, dass ich das nicht bin. Oder ich gehe einkaufen, schaue ins Fenster und sehe etwas sehr Teures, das ich besitzen möchte. Wiederum kann ich dastehen und der Zeuge sein von dem, der nun von dem begehrten Gegenstand vollkommen eingenommen ist, der in den Laden hineingeht, die Kreditkarte herausholt und das kauft, was ich mir nicht leisten kann. Die ganze Werbekampagne für diese Ware, die ich vielleicht im Fernsehen gesehen habe und an die ich mich jetzt nicht erinnere, hat mich in eine Art Trancezustand eingelullt und dadurch dem Doppelgänger die Möglichkeit eröffnet, dazwischenzufahren.
Der Charakter des individuellen Doppelgängers ist mit der Art und Weise unerbittlich verbunden, wie die Angst in die Welt hereingeholt wird. In seiner Studie über die Nazi-Ärzte, welche die grausamen Versuche an Menschen durchführten, kam Robert J. Lifton zur Schlussfolgerung, dass es wegen der Verdoppelung war, dass diese teuflischen Forscher dazu in die Lage versetzt wurden, solche Gräuel zu begehen.[3] Laut Liftons Forschungsergebnissen besitzt die Verdoppelung erkennbare Eigenschaften. Die Ärzte sahen sich als Humanmediziner, als Ehemänner und als Väter. Zu gleicher Zeit sahen sie sich als freie Ausführende dieser Gräueltaten, die keinerlei Zwang unterstanden. Diese Dualität zeugt uns, dass der Doppelgänger ohne jeden erkennbaren Konflikt neben dem her funktionieren kann, was wir für unser normales Selbst halten.
Lifton führt fünf Merkmale des Verdoppelungsprozesses auf: 1) Ein zweites Selbst bildet sich neben dem gewöhnlichen Selbst. 2) Dieses zweite Selbst entsteht als ein direktes Ergebnis davon, in einem fortdauernden Zustand der Angst leben zu müssen. 3) Das zweite Selbst verleiht einem solchen Zustand die Kohärenz. Es lässt eine solche Situation wie normal erscheinen. 4) Das zweite Selbst führt inakzeptable und greuliche Taten aus. 5) Das normale Selbst tritt diesem zweiten Selbst sein eigenes Gewissen ab.
Die Dualität des Verdoppelungsvorgangs ist anders als die kognitive Dissoziation, die ich als Betäubung bezeichnet habe. Damit die Nazis den von ihnen begangenen Terror verüben konnten, war keine Betäubung des gesunden, normal funktionierenden Selbst erforderlich. Der Doppelgänger erreichte es, für das ganze Selbst sprechen zu können, ohne dass dieses Selbst den Austausch überhaupt durchschaute. Das, was die Verdoppelung herbeiführte, war die Angst, innerhalb welcher die Ärzte selbst lebten. Sie lebten tagtäglich unter der Bedrohung, dass sie selbst ausgelöscht würden, falls sie die ihnen erteilten Befehle nicht ausführten. Die Schäden, die sie anderen Menschen zufügten, galten ihnen als Pflicht, als Treue der eigenen Gruppe gegenüber. So empfanden die Ärzte also wegen ihrer ungeheuerlichen Handlungen keinerlei Verantwortung oder Schuld. Ohne es zu durchschauen, hatte sich ihr moralisches Bewusstsein radikal verändert.
Indem Lifton den Vorgang der Verdoppelung beschreibt, entschuldigt er keineswegs die Handlungen der Ärzte, auch behauptet er nicht, dass sie dieselben nicht zu verantworten hätten. Wenn wir uns einmal des Doppelgängers bewusst geworden sind, tut sich für uns geradezu eine neue Dimension der Verantwortlichkeit auf. Wir verantworten nunmehr nicht nur das, was wir tun, sondern auch die Befindlichkeit, den Zustand unseres moralischen Bewusstseins. Die Verdoppelung einer außerordentlichen Instanz des Bösen oder irgendeiner Besessenheit zuzuschreiben, anstatt sie als Teil des alltäglichen Daseins anzuerkennen, lenkt uns von der Arbeit ab, die wir verrichten müssen, um unser Seelenleben aufrechtzuerhalten.
Die von den Ärzten durchmachte Verdoppelung fand im Rahmen einer institutionellen Struktur statt, welche sie förderte und auch forderte. Es gibt Hinweise, denen zufolge Adolf Hitler an okkulten Ritualen teilnahm, die mit tranceartigen Bewusstseinszustanden einhergingen. Hitler war ein untersetzter Mann, aber wenn er vor Menschenmassen trat und diese beschwor, wurde er von etwas ergriffen bzw. fuhr in ihn etwas hinein, wodurch er in die Lage versetzt wurde, eine Veränderung im moralischen Bewusstsein seiner Zuhörer herbeizuführen. Im Lauf der Zeit nahm er immer größere Dosierungen von Drogen ein, um den eigenen Zustand der Verdoppelung aufrechtzuerhalten. Da heraus vermochte er es, die institutionalisierte Struktur der Angst zu schaffen, als die sich der Nationalsozialismus darstellte. Von dieser Institution sagte Hitler: „Diejenigen, die im Nationalsozialismus weiter nichts als eine politische Bewegung sehen, wissen kaum etwas darüber. Er ist sogar mehr noch, als eine Religion. Er ist der Wille, eine Neuerschaffung der Menschheit herbeizuführen.“
Der einzige Jugendfreund, den Hitler hatte, August Kubizek, war in dem Moment zugegen, als Hitlers Doppelgänger zum ersten Mal in Erscheinung trat. Hitler war zu dieser Zeit siebzehn Jahre alt, und hatte soeben eine Aufführung der Wagneroper Rienzi gesehen. Kubizek sagte:
Es war, als würde ein anderes Wesen aus seinem Körper sprechen und ihn so sehr bewegen als auch mich. Es handelte sich gar nicht um einen Sprechenden, der von den eigenen Worten mitgerissen wurde. Ich hatte vielmehr den Eindruck, dass er selbst dem, was mit elementarer Wucht aus ihm hervorbrach, mit Staunen und Rührung lauschte… es war ein Zustand vollkommener Ekstase und Seligkeit… Er sprach von einer besonderen Mission, mit welcher er eines Tages betraut werden würde.
Wenn wir heute auf den Holocaust zurückblicken, so könnten wir uns in Sicherheit darüber wiegen, dass solange wir diese Tragödie in unserem Kollektivgedächtnis präsent halten, sie nicht wiederholt werden könne. Eine solche Haltung ist völlig naiv. Je mehr sich in der Welt die Angst verdichtet, umso größer wird die Möglichkeit, dass sich genauso eine Verdoppelung in großem Ausmaß ereignet, ohne dass wir es merken.
Institutionelle Doppelgänger
Der Prozess der Verdoppelung hat nichts zu tun mit der Dissoziation, mit multiplen Persönlichkeitsstörungen oder mit dem, was heute in der Psychologie als Borderline-Erkrankung bezeichnet wird. Der potentielle Verlust des Sinnes für das, was wir sind, existiert für jeden, der mit einem überwältigenden Maß an Angst zu leben hat. Das öffnet Tür und Tor für dein Eintritt des Doppelgängers:
Eine Kultur wie unsere also, die in so großem Stil auf materialistische Werte fixiert ist, ist dazu reif, in ihren grundlegenden institutionellen Strukturen vom Doppelgänger befallen zu werden.
Als Beispiel dafür, wie eine Institution vom Doppelgänger durchsetzt wird, können wir die Wissenschaft in Betracht ziehen. Wissenschaftliche Entdeckungen, die in das allgemeine Kulturleben rasch übernommen werden, werden oft als mit einem plötzlichen Durchbruch von Seiten der Forscher in Verbindung gebracht. Ein jüngeres Beispiel ist die Person, die den Gencode entdeckt hat. Diese Person arbeitete viele Jahre an dem Problem. Als er eines Tages über eine kalifornische Autobahn gerade zur Arbeit fuhr und über seine Arbeit nachdachte, wurde er durch die wiederholte Tätigkeit des Autobahnfahrens in ein eine Art Trance-Zustand eingelullt. In diesem Zustand kam ihm plötzlich die Lösung des Problems des Gencodes. Seine Lösung stellte sich als richtig heraus, und innerhalb kurzer Zeit wurden die technischen Mittel entwickelt, um „genetische Fingerabdrucke“ zu erzeugen. Diese Technologie wird inzwischen weitläufig eingesetzt, um festzustellen, ob jemand schuldig ist, der eines Verbrechens wie Vergewaltigung oder Mord bezichtigt wird. Wenn eine Blut- oder Samenprobe entnommen werden kann, so kann deren genetischen Code mit der des beschuldigen Menschen in Übereinstimmung gebracht werden. Inzwischen bedauert dieser Forscher interessanterweise, dass seine Entdeckung von der Scientific Community so bereitwillig aufgegriffen wurde – wegen der Möglichkeiten des Missbrauchs, zu dem seine Forschungsergebnisse führen könnten.
Die Geschichte der Wissenschaft ist mit solchen Vorkommnissen reichlich bestückt. Wir haben die Tendenz, auch dann solche Ereignisse dem Paradigma der wissenschaftlichen Kreativität und Entdeckung zuzuzählen, wenn sie ohne jedes bewusste Verständnis der Auswirkung auf das Seelenleben eintreten. Manche wissenschaftlichen Entdeckungen verdanken wir einem Menschen, der es zu einer imaginativen Fähigkeit des Bewusstseins gebracht hatte. Jemand wie David Bohm, zum Beispiel, der wichtige Entdeckungen in der Physik gemacht hat, besaß eine gut ausgebildete Weltanschauung. Bohms ganzes Leben war der Ausbildung der Fähigkeit gewidmet, das einzelne Ereignis im Kontext der Ganzheit wahrzunehmen, da heraus entsprangen seine wissenschaftlichen Entdeckungen. Schnelle Entdeckungen haben aber oftmals keinen so gediegenen Hintergrund; deshalb ist die Gefahr erheblich, dass diese Entdeckungen nicht einer voll ausgebildeten Phantasie, sondern einer Art dunklen Begabung des Doppelgängers entstammen.
Es muss eine phantasievolle Wissenschaft von einer technologisch brillanten Wissenschaft unterschieden werden. Jene geht im Licht einer bildhaften Erkenntnis vor sich, diese verlässt sich gläubig auf die wissenschaftliche Methodik als der Entdeckungsweg. Dieser bringt häufig Ergebnisse hervor, die zu Beginn wohltuend aussehen, sich aber mit der Zeit als zerstörerisch herausstellen. DDT schien eine Lösung des Problems der durch Insekte verbreiteten Krankheiten zu sein; Jahre später stellte es sich als Karzinom heraus. Wie viele für hilfreich erachtete Drogen bewirken langfristige Schäden? Technologische Neuerungen verhalten sich gemäß einem ähnlichen Muster. Das Internet zum Beispiel wirkt wie eine revolutionäre technische Errungenschaft. Bislang hat aber noch niemand die Phantasiekraft aufgebracht, um es im Hinblick auf seine Auswirkung auf das Seelenleben zu betrachten. Zwar wird das Internet als größtes Werkzeug der Kommunikation seit der Erfindung des Buchdrucks hochgehalten; es könnte aber wohl sein, dass es eine Art Doppelgänger der Kommunikation darstellt. Man bedenke, wie viel dadurch ausgelöscht wird, dass man im Cyberspace Beziehungen pflegt. Der Leib wird ausgeschlossen, die Nuancen des Sprechens ausgeschaltet, die Wichtigkeit dessen, was unausgesprochen bleibt ist weg. Email etwa lässt sich mit dem Schreiben von Briefen gar nicht vergleichen. Das Mailen wird normalerweise mit Hast getan. Wir erwarten eine sofortige Antwort. Die Kommunikation ist mehr oder weniger auf reine Informationsübertragung reduziert.
Das Problematische einer technologischen Wissenschaft, deren Innovationen nicht von einem mit der Seele durchdrungenen Bewusstsein gelenkt werden, ist, dass das Handeln der Erkenntnis vorauseilt. Es ist hauptsächlich durch die Lücken in unserer Erkenntnis, dass der Doppelgänger in das Leben von Institutionen einverleibt wird, ob es sich um das institutionelle Leben der Wissenschaft, der Wirtschaft, der Bildung oder sonst einem Feld handelt.
Der Doppelgänger findet den Eingang in das Kulturleben und das Leben der Institutionen insbesondere durch Disziplinen, in denen die Menschlichkeit eine zentrale Rolle spielen soll. Viele dieser Disziplinen haben die wissenschaftliche Methode adoptiert, ohne jede Vorstellung davon zu haben, mit was für einer Wirklichkeit sie es zu tun haben. Im 19. Jahrhundert ergriffen die Psychologie, die Soziologie, die Wirtschaftslehre und die Politikwissenschaft die wissenschaftliche Methode und wandten sie direkt auf Menschen an, als ginge es, die für diese Wirklichkeitsebene wesentlichen Elemente – wie etwa die Seele, der Geist, die Freiheit, der Wille – zu objektifizieren und zu quantifizieren. Die Verhaltenspsychologie begreift die Menschen im Hinblick auf elementarere Aspekte des Verhaltens, und dann verwendet die Werbung dieses Verständnis, um uns zu manipulieren. Die moderne Wirtschaftstheorie steckt hinter der Manipulation der Zinsraten und setzt voraus, dass der Mensch rein von dem Eigeninteresse gesteuert ist. Um die Politik zu bestimmen, verlässt sich die Politik auf Umfragen und nicht auf den Begriff des Gemeinwohls. Alle diese Auffassungen machen die Schleusen weit für den Doppelgänger.
Angenommen ein Kulturwelt-Doppelgänger hat sich einmal etabliert: Auch dann, wenn die entsprechenden Probleme offenkundig werden, werden Versuche, die Situation zu berichtigen, scheitern. Denn sie werden von der gleichen Bewusstseinsart gelenkt, wie die Bewusstseinsart, welche die Probleme erst verursachten. Da uns die Tatsache verborgen bleibt, dass wir in einer verdoppelten Welt leben, kann es gar nicht anders sein. Die einzig mögliche Lösung wird dann der völlige Zusammenbruch der Institution sein, in der der Doppelgänger seinen Wohnort gefunden hat. Es ist so, wie wenn unsere Kollektivseele in einer chinesischen Puzzelbox eingeschlossen worden wäre, und die einzige Chance, die wir haben, darin besteht, die Puzzlebox zu zerschmettern. In dieser Weise schafft es der Doppelgänger, die Menschen in einem andauernden Zustand der Angst zu behalten. Es scheint, als hätten wir keine andere Wahl, als einen Vollkollaps abzuwarten – was wiederum mehr Angst erzeugt, zusammen mit dem Bedürfnis, uns noch fester an der Illusion zu klammern. Man unterschätze die Schläue des Doppelgängers ja nicht. Er wird stets die Angst gebrauchen, um immer cleverere Ausführungen von ihr zu erschaffen.
Wie man sich des Doppelgängers bewusst wird
Die Arbeit, sich der Zeiten bewusst zu werden, in denen wir nicht ganz wir selbst sind, kann eine beängstigende Aufgabe sein. Wenn es Zeiten gibt, in denen wir uns nicht so benehmen, wie wir selbst sind, so meinen wir, es müsse mit uns psychologisch etwas nicht in Ordnung sein. Wir glauben ferner, dass solche Probleme durch Therapie oder einen Drogeneingriff wieder zu heilen wären. Das Problem der Verdoppelung ist aber kein bloßes Problem der individuellen Psychologie, sondern ein Problem, das daher stammt, dass man in einer Kultur der Angst lebt.
Der erste Schritt zum Wachwerden für die Möglichkeit der Verdoppelung besteht darin, vor alledem auf der Hut zu sein, was unser Bewusstsein vermindert. Leider werden häufig Dinge, die das Bewusstsein vermindern, als etwas angepriesen, was genau das Gegenteil tun soll. Neben der Hypnose und den schon erwähnten schamanischen Praktiken gibt es viele Bewegungen, die eine Erweiterung des Bewusstseins anbieten, es aber recht eigentlich verringern. Das neurolinguistische Programmieren, Motivationstechniken, die das Gehen über glühenden Kohlen ermöglichen, EST, transzendentale Meditation, Meditations-CDs und viele New Age-Praktiken sind alle mit großer Vorsicht zu genießen. Sogar manche Psychotherapien können einen Menschen den Mächten der Suggestion unterwerfen – darauf scheinen Vorkommnisse von False-Memory-Syndrom hinzuweisen. Der Umstand, dass diese Praktiken hilfreich zu sein beabsichtigen, ändert nichts daran, dass sie dazu aufrufen, den zartesten und kostbarsten Teil von uns selbst an andere Menschen auszuliefern, oftmals an Menschen, die von dem keine Ahnung haben, womit sie es zu tun haben.
Im alltäglichen Leben ist es möglich, die Handlungsweise des Doppelgängers aus dem Augenwinkel zu erblicken. Augenblicke, in denen uns bewusst wird, dass unser Bewusstsein der Raub des Fernsehens, der Computer, der Werbung, des Journalismus oder des politischen Jargons geworden sind – solche lichten Augenblicke können dem Doppelgänger vor der Haustür Einhalt gebieten. In dieser Domäne wird die Erkenntnis allwichtig. Aber es kann sich hier um keine gewöhnliche Erkenntnis handeln. Das Herz lässt sich vom Doppelgänger nicht befallen. So wird also die Ausbildung der seelischen Kapazitäten des Herzens zum zentralen Schutzmittel. Das intuitive Wahrnehmen lässt sich nicht betrügen. Durch andere Menschen kann uns diese Fähigkeit nicht geschenkt werden; es gilt, sie rein aus der inneren Freiheit und aus dem fortwährenden Erforschen des eigenen Bewusstseins heraus zu entwickeln. Ein Bewusstseinsaspekt bietet einen besonders wertvollen Schutz vor dem unwissentlichen Verlieren unseres Selbstsinns: das Gewissen. Das Gewissen ist der größte Beschützer vor Doppelgängern aller Art.
Das Gewissen wird herkömmlich als innere Stimme aufgefasst, die uns warnt, wenn wir im Begriff sind, uns auf einen falschen Pfad lenken zu lassen. Der Begriff des Gewissens muss aber neu überdacht werden – zumal im Lichte der Macht, die die Angst in der Welt an sich gerissen hat, und auch im Lichte des Ausmaßes, in dem das Phänomen der Verdoppelung in das Wachleben eingedrungen ist. Wir können das Gewissen überhaupt erst dann erleben, wenn wir das Bewusstsein als ein Ereignis des ganzen Leibes erkennen. Und zwar so: Wann immer wir – mit der Angst zusammen – von der Gelegenheit konfrontiert werden, der Angst auszuweichen, indem wir uns etwas unterwerfen, was „wir selbst“ zu sein nur scheint aber nicht ist, so müsste sich unser Leib ob dieser Möglichkeit geradezu winden, dass wir etwas sein könnten, was nicht ganz Mensch ist. In dieser Weise müssten wir diese Gefahr bis ins Leibliche hinein empfinden.
Ein erster Schritt zum Erwachen des Gewissens kann darin bestehen, dass wir am Ende des Tages auf den Verlauf unserer Handlungen an diesem Tag zurückblicken. Wichtig dabei ist nicht nur, dass wir darüber nachdenken, was wir getan haben, sondern dass wir auch das Sichentfalten der Ereignisse und unserer Begegnungen mit anderen Menschen an diesem Tag als Bild in uns hervorrufen. Wir können noch weitergehen und uns die Auswirkungen unserer Handlungen auf das Leben anderer Menschen vorstellen, indem wir uns davon ein inneres Bild zu machen versuchen, was anderen Menschen als Ergebnis unserer Handlungen konkret zustößt. Uns selbst richten sollen wir nicht, sondern wir sollen nur unvoreingenommen unsere eigenen Handlungen beobachten. Ein solches Üben kann uns dazu verhelfen, die innere Stimme des Gewissens wiederherzustellen. Aber das genügt nicht. Je abgestumpfter unser Körper ist, umso schwerer wird es, auch dann unsere Handlungen zu verändern, wenn wir uns deren Auswirkungen in der Welt bewusster werden. Wir müssen uns auch vornehmen, auf eine innere, leibliche Wachheit hin zu arbeiten.
Unser Körper wird dann zu erwachen beginnen, wenn wir das, was wir sehen – die Pflanzen, die Berge, die Tiere, die Häuser, andere Menschen –, nicht bloß in seiner physischen Form betrachten, sondern indem wir beobachten, wie alles das, was uns umgibt, zusammengewoben ist. Wir können unsere Aufmerksamkeit auf das dynamische Zusammenspiel der Dinge der Welt lenken, anstatt direkt auf die Dinge selbst zu blicken. Siehe dir das Sichüberlagern der Wolken an, oder die aufsteigenden Nebel, oder die Art, wie das Licht durchbricht, oder wie in kaltem Wetter die Landschaft sich zusammenzieht und in warmem Wetter sich weitet, wie Konturen sich bilden und wieder verschwinden – siehe dir das alles an. Wenn du das zu einer übenden Fertigkeit ausbildest, wirst du wahrnehmen, wie in dir ganz bestimmte Gefühle erstehen: eine Traurigkeit, die in paradoxer Weise mit Freude zusammengesetzt ist. Wer kennt diese Gefühlseigenschaft beim Betrachten der roten Glut eines Sonnenuntergangs nicht – die von Augenblick zu Augenblick sich ändernde Färbung der Wolken, die jetzt golden leuchten, dann in Orange-Töne, darauf in Schattierungen von Lila übergehen, und allmählich zu Grau verblassen? Nicht nur EhrAngst empfinden wir vor einer solchen Schönheit, sondern auch ein Bisschen Traurigkeit.
Indem wir für die Rhythmen der Welt erwachen, werden wir für das empfindlich, was hinter diesen Offenbarungen als etwas Planvolles steckt, als etwas, was alles das verbindet, was entsteht und vergeht. Die Illusion, dass wir an uns selbst gebunden wären, dass wir in unserem Körper, vielleicht sogar in unserem Kopf gefangen seien, beginnt sich aufzulösen. Auch wir sind Teil des größeren Weltprozesses, indem wir geboren werden und versterben, und zwar nicht nur am Anfang und am Ende unseres Lebens sondern als ein beständiger Vorgang, der von Moment zu Moment fortschreitet. Uns selbst als Teil dieses fortlaufenden Weltenrhythmus zu empfinden kann dazu beitragen, dass wir unsere Eitelkeit abstreifen.
Da heraus, dass wir uns in die subtilen Gewebe der Weltprozesse hineintauchen, von denen wir ein Teil sind, entsteht ein neuer Sinn für das Gewissen. Kein Mensch, der in solcher Weise mit der Naturwelt Zeit verbracht hat, geht aus dieser Erfahrung ohne tief über die Bedeutung des eignen Lebens zu staunen, ohne das zu prüfen, was er gerade tut und etwa sich darüber Gedanken zu machen, wie weit er sich von dem entfernt hat, worauf es wirklich ankommt. Der starke Impuls, den wir oftmals empfinden, dem Alltag zu entfliehen, zu verreisen, in der Wildnis Zeit zu verbringen, überkommt uns nicht lediglich als eine von uns vorgestellte Befreiung vom Stress des alltäglichen Lebens, sondern auch als ein gesundes Warnsignal, dass wir auf bestem Wege sind, uns selbst zu verlieren. Die Seele hält uns dazu an, das wieder zurückzugewinnen, was wir dabei sind, zu verlieren.
Der Dichter Novalis nähert sich in seinem Romanfragment Heinrich von Ofterdingen der Frage des Gewissens in neuartiger Weise.[4] In dem diesbezüglichen Romanpassus findet ein Gespräch statt zwischen dem Protagonisten Heinrich und dem Pilger Sylvester:
»Wann wird es doch«, sagte Heinrich, »gar keiner Schrecken, keiner Schmerzen, keiner Not und keines Übels mehr im Weltall bedürfen?«
»Wenn es nur Eine Kraft gibt – die Kraft des Gewissens – Wenn die Natur züchtig und sittlich geworden ist. Es gibt nur Eine Ursache des Übels – die allgemeine Schwäche, und diese Schwäche ist nichts, als geringe sittliche Empfänglichkeit, und Mangel an Reiz der Freiheit.«
»Macht mir doch die Natur des Gewissens begreiflich.«
»Wenn ich das könnte, so wär ich Gott, denn indem man das Gewissen begreift, entsteht es.“
Indem Sylvester sagt, dass aus dem Kosmos alle Angst dann gebannt werden würde, wenn die Natur keusch und moralisch wird, schließt er die Menschen in die Rhythmen der Natur mit ein. Zwar sehen wir es vielleicht nicht, aber unsere Handlungen, wenn sie unter dem Einfluss des Doppelgängers stehen, schaden nicht nur uns selbst und anderen, sondern sie vermindern auch das Leben der Natur. Kommt uns die Welt nicht ein klein wenig erstarrter vor, wenn wir aus Wut, Hass, Neid oder Angst gehandelt haben? Das Gefühl, als wären wir von der Traurigkeit berührt worden, wann immer wir die Rhythmen der Natur erleben, ist ein Weg zum Erkennen, wie sehr wir uns von dem Ganzen entfernt haben. Unsere moralische Empfänglichkeit schwächelt umso mehr, je mehr wir uns von den Rhythmen der Welt abtrennen. Sylvester äußert ein interessantes Aperçu – dass sich nämlich auch die Schwäche aus einem Mangel an Interesse für die Freiheit ergibt. Die Freiheit heißt in der Regel, von externen Zwängen frei zu sein, frei zu sein, etwas zu tun. Diese gewohnte Auffassung des Wortes hat aber mit dem Wesen der menschlichen Freiheit nichts zu tun, welches darin besteht, dass wir alle genau der Mensch sind, der wir sind, und zwar nicht nur in äußerlicher Weise, sondern sowohl in unserer Seele wie auch in unserem Geist.
Nicht nur durch unseren Leib in seiner Teilhabe an den Weltenrhythmen erwacht das Gewissen, sondern auch aus einem inneren Gespür für die Konsequenzen unserer Taten. Dieses Reich des Fühlens ist anders, als landläufige Schuldgefühle. Schuldgefühle entstammen moralischen Grundsätzen, die uns durch andere Menschen eingeimpft wurden – durch unsere Eltern, unsere Schulbildung, unsere Religion. Verhalten wir uns dem Sittenkodex nicht konform, der uns eingepflanzt worden ist, so erleben wir Schuldgefühle. Die ethischen Situationen aber, mit denen wir aktuell zu tun bekommen, sind weit komplizierter geworden, als unsere veraltete Moral bewältigen kann, und an Schuldgefühlen können wir uns nicht mehr wirksam orientieren. Ferner sind wir uns viel bewusster geworden, wie die Moral zu Zwecken eingesetzt wird, die nicht im eigentlichen Sinne moralisch gemeint sind. Millionenfach wurden Menschen genötigt, weil so genannte moralische Autoritäten ihre Macht dazu missbraucht haben, in von ihnen abhängigen Menschen Schuldgefühle hervorzurufen. Ein neues, ein inneres Feld des moralischen Fühlens muss erstehen: ein im Herzen zentriertes Gefühl dafür, ob man selbst zu der dynamischen Ordnung der Kräfte dazugehört, die die Welt zusammenweben, oder ob man von dieser Ordnung abweicht.
Werde ich für die Rhythmen der Naturwelt leiblich empfindlich, so bin ich dazu in der Lage, es ganz deutlich zu spüren, wenn ich nicht mit den seelischen und geistigen Qualitäten im Leben Konform gehe. In einem solchen Moment weiß ich zwar vielleicht nicht, worauf dieses Gefühl der Disharmonie zurückzuführen ist; dennoch veranlasst es mich zum Nachdenken. Es kann passieren, dass ich mich in solchem Augenblick an spezifische Handlungen erinnere, die die Anwesenheit des Doppelgängers zu verkündigen schienen. Ich erinnere mich etwa daran, dass ich meine Partnerin angeschrien habe, und verstehe das jetzt nicht bloß als einen Moment des Ungehaltenseins, sondern ich stelle fest, dass es nicht ganz ich selbst war, der ungehalten wurde. Das befreit mich allerdings nicht von der Verantwortung für meine Tat – meinem Doppelgänger kann ich sie nicht andrehen. Im Gegenteil: Meine Verantwortung nimmt zu, denn ich empfinde noch akuter, wie wichtig es ist, vor dem, was ich gerade tue, anwesend und wach zu sein und nicht bloß impulsiv zu handeln. Mit dieser Steigerung des Bewusstseins schmiede ich eine neue Auffassung davon, einen neuen Sinn dafür, was das Gewissen ist.
Man mag meinen, der Versuch, eine neue Auffassung des Gewissens dadurch zu erwecken, dass man eine körperliche Präsenz vor den Weltenrhythmen entwickelt, würde uns direkt in den Kessel der Angst hineinstürzen. Ist doch auch – wie oben beschrieben – die Naturwelt von der Angst durchsetzt. Und in der Tat: Wir nähern uns einer Zeit, in der die natürlichen Rhythmen der Welt dermaßen gestört sein werden, dass dieser Weg zum Erwecken des Bewusstseins nicht mehr gangbar sein wird. Es gibt noch Sonnenauf- und -untergang, noch bilden sich und lösen sich Wolken auf, die Pflanzen wachsen noch, und Tiere laufen noch frei herum. Aber es besteht kein Zweifel daran, dass die Angst auch noch anwesend ist. Das bedeutet, dass, um das Gewissen in der beschriebenen Weise zu erwecken, es nicht mehr genügt, lediglich die Eigenschaften der Naturwelt zu genießen. Es gilt, ein mehr gegenseitiges Verhältnis mit den Rhythmen der natürlichen Welt zur Entwicklung zu bringen. Es geht nicht mehr an, dass wir uns des eigenen Genusses, der eigenen Erfrischung, der eigenen Erholung wegen der Natur zuwenden. Unsere Teilhabe an der Natur muss zu einer Praktik werden, welche sich daran orientiert, uns in ein rechtes Verhältnis zu unserem Leib hineinzuversetzen. Unter diesen Umständen können wir durch das von unserer Zeit so benötigte moralische Bewusstsein uns zu erden suchen. Dann wird die Angst nicht die Oberhand gewinnen können.
[1] Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Leipzig 1925; Nachdruck: Turia & Kant, Wien 1993, ISBN 3-85132-062-X.
[2] Text bei http://gutenberg.spiegel.de/buch/der-horla-2518/1
[3] Robert Jay Lifton, Ärzte im Dritten Reich, Stuttgart: Klett-Cotta, 1988
[4] Rudolf Steiner, GA 110: Geistige Hierarchien und ihre Widerspiegelung in der physischen Welt: Tierkreis, Planeten, Kosmos.
Wie kommt es, dass wir die Angst nicht weit mächtiger und weit kontinuierlicher erleben, als es ohnehin schon der Fall ist? Haben wir uns so sehr an sie gewöhnt, dass sie uns nicht eigentlich stört, außer wenn sie mit einer Intensität auftritt, die wir nicht ignorieren können? Sind wir wirklich derart betäubt? Die Betäubung hinsichtlich unserer Ängste stammt nicht davon her, dass wir sie unterdrücken, sondern von etwas viel ernsthafterem: Wir befinden uns in einer existentiellen Situation, in der wir zu jeder Zeit zu ihren Komplizen werden können, und zwar ohne, dass wir es überhaupt bemerken. Wann immer eine solche Komplizenschaft – unwissend – eingegangen wird, wird die Wesenheit eines Menschen durch etwas ausgewechselt, was zwar ein menschliches Aussehen und eine menschliche Handlungsweise besitzt, was aber kein Mensch ist.
Wir sind nicht immer wir selbst. Das ist eine wohlbekannte Tatsache, und das Studium und die Behandlung von Menschen, die es schwer haben, sie selbst zu sein, ist ein Feld der therapeutischen Psychologie.
- Freud stellte im Menschen psychische Abwehrmechanismen fest, die als Verteidigung gegen innere Aspekte eines Menschen dienen sollen, die diesem als inakzeptabel gelten. Freuds Theorie gemäß bildet der Mensch dann eine Art Alter Ego, wenn das, was unter der Bewusstseinsoberfläche liegt, nicht geduldet werden darf.
- C. G. Jung behauptete, dass wir von der Fülle unseres Selbst abgespalten werden, wenn wir von der inneren, spontanen, bildschaffenden Tätigkeit der Seele getrennt werden. Laut Jung bleiben die uns widerwärtigen Aspekte von uns selbst in uns vergraben und bilden eine andere Seite unserer Persönlichkeit: den Schatten.
Etwa zeitgleich mit der Tiefenpsychologie Freuds und Jungs tritt eine Reihe von Schriftstellern auf, die Erzählungen ziemlich merkwürdiger Erlebnisse erfanden – Geschichten von Figuren, die sie selbst nicht waren, die in Zuständen verfielen, die noch erschreckender waren, als eine so genannte psychische Erkrankung. Diese Geschichten handelten von Individualitäten, die sich von einer Art Gespenst konfrontiert fanden, einem Phantom von sich selbst in der äußeren Welt: dem Phänomen des Doppelgängers. Recht häufig kommt in der Literatur des mittleren bis späten 19. Jahrhunderts der Doppelgänger vor: von Oscar Wilde, Guy de Maupassant, E.T.A. Hoffmann, Dostojewski und Mary Shelley, um nur einige wenige aufzuzählen. Solche Beispiele des Doppelgängers in der Literatur werden von Otto Rank, dem Psychoanalytiker und Zeitgenossen Freuds, in dessen Werk Der Doppelgänger. Eine psychoanalytische Studie, untersucht.[1]
Es ist einmal so, dass in literarischen Werken und in Filmen dieses Phänomen weit besser dargestellt ist, als in der Psychologie. Das Genre scheint verblasst zu haben und mit ihm auch unser Verständnis davon, wie die Angst unser Menschsein usurpieren kann. Übriggeblieben sind uns nur landläufige psychologische Kategorien, welche den Verlust der menschlichen Authentizität auf psychologische Schwierigkeiten zurückführen.
So viele die diversen Gestalten auch sind, die der Doppelgänger annehmen kann: In der Regel enthält er Aspekte des eigenen Selbstbildes, wobei ihm dennoch ein eigener Wille zugeschrieben wird. Guy de Maupassants Erzählung „Der Horla“ etwa stellt einen gespenstartigen Doppelgänger dar, dem es aber um mehr als das Einjagen eines nur kurzzeitigen Schreckens zu tun ist.[2] Er laugt die Lebenskraft selbst aus der Hauptfigur der Erzählung (die nicht benannt wird). Die Erscheinung des Doppelgängers ereignet sich ganz plötzlich:
Beginnend im Herbst vergangenen Jahres wurde ich plötzlich von eigenartigen, unerklärlichen Anfällen des Unbehagens heimgesucht. Das war zunächst eine Art nervöser Ängstlichkeit, die mich ganze Nächte wachhielt. Ich befand mich hierbei in einem Zustand solcher Spannung, dass auch das leiseste Geräusch mich aufschrecken ließ. Ich wurde übellaunig. Ich geriet ohne Grund in Zorn. Ich ließ einen Arzt kommen. Der verschrieb Kaliumbromid und Duschen.
Der Erzähler berichtet einer Versammlung von Ärzten und Wissenschaftlern die vielen geheimnisvollen Dinge, die ihm zugestoßen sind. Eine auf seinem Nachttisch gestellte Wasserkaraffe, die vor dem Schlafengehen gefüllt worden war, fand er am anderen Morgen immer leer vor. Nach einiger Zeit denkt er sich eine Probe aus, um sicherzustellen, dass es nicht er selbst ist, der während der Nacht das Wasser austrinkt. Er beschreibt, wie er eines Tages eine Rose sieht, die wie von unsichtbarer Hand vom Strauch abgebrochen und in die Luft gehoben wird, wie wenn jemand sie sich an die Nase halten würde. Er berichtet davon, wie er, als er eines Tages in seinem Zimmer beim Lesen war, eine Präsenz spürte, als würde ihm jemand über die Schulter sehen und wie, als er sich umdrehte, der auf der anderen Seite des Zimmers befindliche Spiegel sein Bild nicht widerspiegelte; und wie nach einem Moment sein Spiegelbild wieder in Erscheinung trat, als hätte sich etwas, was zwischen ihm und dem Spiegel gestanden hatte, wieder aus dem Weg bewegt.
Am Ende seines Berichts an die Ärzte und Forscher erklärt der Erzähler, für wen er diese unsichtbare Präsenz wohl halte dürfe:
So sehen Sie also, meine Herren, eine Wesenheit. Eine neue Wesenheit, die zweifelsohne sich so vermehren wird, wie auch wir es getan haben, ist soeben auf der Erde erschienen… Was ist das? Meine Herren, es handelt sich um die Wesenheit, die nach dem Menschen kommen soll und auf deren Ankunft die Erde wartet! Diese Wesenheit ist gekommen, um uns zu entthronen, uns zu unterwerfen, uns zu zähmen, womöglich um sich in derselben Weise von uns zu ernähren, wie wir uns von Vieh und Schweinen ernähren. Wir hatten immer eine böse Vorahnung von ihr, seit Jahrhunderten graut uns vor ihr, seit Jahrhunderten verkündigen wir ihr Kommen. … Und in allem, was Sie selbst, meine Herren, seit Jahren tun, in dem, was Sie Hypnose, Suggestion, tierischen Magnetismus nennen, verkündigen sie ihn seit Jahren. … Ich sage Ihnen, er ist gekommen. Er streift – zurückhaltend, wie es wohl auch die ersten Menschen waren – auf der Erde umher, weiß noch nicht das volle Ausmaß seiner Stärke und seiner Kraft. Bald genug – ja allzu bald – wird er es wissen.
Die Erscheinung des Doppelgängers in der Weltliteratur zur gleichen Zeit als das Entstehen der Tiefenpsychologie ist ein Indiz dafür, dass die Künstler und Psychologen zwar aus verschiedenen Blickwinkeln, aber ein ähnliches Phänomen behandelten. Beide Gruppen beschäftigten sich damit, wie wir unser Selbstempfinden verlieren. Die Psychologen bestimmten, dass der Ursprung aller solchen Phänomene innerhalb der individuellen Psyche liege, und zwar als Ergebnis der persönlichen Lebensgeschichte. Otto Rank etwa reduziert ausdrücklich die künstlerische Darstellung des Doppelgängers auf persönliche Schwierigkeiten von Seiten des jeweiligen Schriftstellers. Er beschreibt de Maupassant als Produkt einer hysterischen Mutter, der außerdem noch eine Anlage zur Psychose gehabt habe, eine Behauptung, die wiederum dadurch unterstützt wird, dass de Maupassants jüngerer Bruder unter einer hysterischen Lähmung litt. Andere Schriftsteller, die den Doppelgänger darstellen, werden von Rank in ähnlicher Weise diagnostiziert. Er führt den Ursprung der Erzählungen des E. T. A. Hoffmann ebenfalls auf eine hysterische Mutter zurück. Die eigenartigen Doppelgänger-Geschichten des E. A. Poe, etwa William Wilson, schreibt er Poes Alkoholgenuss zu. Dostojewskis Faszination mit dem Doppelgänger erklärt er anhand von dessen Epilepsieerkrankung. Die Psychologie fasste das Problem des Doppelgängers als ein bloßes Symptom psychischer Störungen zusammen. Es wurde zu einem Anzeichen der Psychose, der Paranoia, oder aber zu einem Hinweis auf exzessive egozentrische Tendenzen. Der Doppelgänger wurde auf eine halluzinatorische Erfahrung reduziert und nicht als eine kulturelle Wirklichkeit erkannt.
Angesichts der Tatsache, dass in vielen Fällen die Erscheinung des Doppelgängers in der Literatur dem Leben des Schriftstellers parallel verläuft, ist Ranks Erklärung nachvollziehbar. Ein solches Vorkommnis berichtet Goethe in seiner Autobiographie Dichtung und Wahrheit:
[D]a überfiel mich eine der sonderbarsten Ahndungen. Ich sah nämlich, nicht mit den Augen des Leibes, sondern des Geistes, mich mir selbst, denselben Weg, zu Pferde wieder entgegenkommen, und zwar in einem Kleide, wie ich es nie getragen: es war hechtgrau mit etwas Gold. Sobald ich mich aus diesem Traum aufschüttelte, war die Gestalt ganz hinweg. Sonderbar ist es jedoch, dass ich nach acht Jahren, in dem Kleide, das mir geträumt hatte, und das ich nicht aus Wahl, sondern aus Zufall gerade trug, mich auf demselben Wege fand, um Friedriken noch einmal zu besuchen.
Der Doppelgänger erscheint oft als jemand, der genau so aussieht, wie man selbst. Aber die Erfahrung hat so manche Variationen. In de Maupassants Erzählung offenbart sich die Präsenz nicht ganz in dieser Form. Er trinkt allerdings das Wasser, das dem Ich-Erzähler gehört, und es hat den Anschein, als würde er die Bücher des Ich-Erzählers lesen, während er über dessen Schulter schaut und alles das tut, was auch der Ich-Erzähler tut. In den meisten dieser Geschichten aus dem 19. Jahrhundert gibt sich der Doppelgänger als eine externe Erscheinung. Goethes Bericht enthält insofern eine überraschende Wendung, als dass er die Gestalt des Doppelgängers zwar nicht physisch wahrnimmt, wohl aber wie wenn er physisch gewesen wäre und mit dem inneren Auge. In der Beschreibung Goethes findet sich dieser auf derselben Straße, die er früher geritten ist, und auch so gekleidet, wie die Erscheinung acht Jahre zuvor. Die psychische Erscheinung des Doppelgängers scheint immer ein tatsächliches physisches Ergebnis nach sich zu ziehen. Seine Erkenntnis, dass der Doppelgänger durch das geistige und nicht durch das physische Auge erscheint, zeugt davon, dass Goethe viel wacher war als andere, die solche Erlebnisse hatten. Seine Beobachtungskräfte waren tiefer, was vermutlich seiner Arbeit nicht nur als Dichter, sondern als wissenschaftlicher Forscher zu verdanken war. Wer keine solchen Fähigkeiten besitzt, dem kommen Bild und Wahrnehmungswirklichkeit leicht durcheinander. Dieses Detail ist aus dem Grund wichtig, weil es nahelegt, dass völlige Wachheit erforderlich ist, will man feststellen, wann wir vom Doppelgänger beeinflusst werden.
Um das Phänomen des Doppelgängers erforschen zu können, müssen wir uns vom Vorurteil psychologischer Erklärungen befreien. Rank, zum Beispiel, verstand den Doppelgänger als eine Manifestation des Narzissmus. Wann immer das Ego von der Auflösung bedroht ist, ob durch den nahenden Tod oder durch den Verlust der Liebe, sucht es sich dadurch zu retten, dass es ein externes Bild von sich schafft. Das ist die typische psychologische Erklärung des Doppelgängers.
Ich betrachte die Künstler, die den Doppelgänger zum ersten Mal darstellten, lieber als
Propheten denn als psychisch krank. Ganz bestimmt haben Dostojewski, Goethe, Hoffmann, Poe, Stevenson, Shelley, Wilde, Stoker und Baudelaire Tieferes und Bedeutenderes zum Ausdruck gebracht, als ihre eigenen Probleme mit Mutti. Das, was diese Künstler in prophetischer Weise fantasierten, war eine intuitive Wahrnehmung in Form von Bildern – Bilder nicht von deren eigener, mutmaßlich geistesgestörter Psyche, sondern Bilder der Zukunft, welche die Richtung darstellen, in der die Menschheit unterwegs ist. Wenn der Ich-Erzähler in der Erzählung von de Maupassant berichtet, dass etwas kommt, um die Menschheit einzuholen, so bietet er auch ein Bild davon. Ganz am Ende seiner Erzählung sagt er, dass er intuitiv fühlt, dass die Ankunft des Doppelgängers etwas mit einem brasilianischen Schiff zu tun habe, das er im Hafen ankommen sah, als er einmal von seinem Haus hinausspähte (das Haus blickt auf die Seine hinaus). Er spekuliert darüber, dass das auf dem Schiff ankommende gespenstische Wesen einen Bezug hat zu einem Fluch, der eine Gegend von Brasil verwüstet hat, und zitiert einen Bericht, den er in der Zeitung gelesen hat:
Eine Art Wahnsinns-Epidemie scheint seit einiger Zeit im Staate Sao Paulo gewütet zu haben. Die Bewohner mehrerer Dörfer sind geflüchtet, haben ihre Äcker und Häuser aufgegeben, da, wie sie behaupten, sie von unsichtbaren Vampiren verfolgt und gefressen worden seien, die von ihrem Atem zehrten, während sie schliefen, und die weiter nichts tranken, als Wasser und Milch.
Der Erzähler suggeriert, dass das Gespenst zu dem Schiff hingefunden hätte, aber es bleibt dem Leser überlassen, das mit der erbarmungslosen Zerstörung der brasilianischen Landschaft in Verbindung bringen. Das Schiff sei mit einer Fracht geladen gewesen, die den in der Gegend der brasilianischen Dörfer befindlichen Bodenschätzen entnommen worden sei, und de Maupassant malt ein Bild eines ausbeuterischen Kommerzialismus, von Ländern, die verwüstet worden seien, um die materiellen Bedürfnisse der Welt zu befriedigen. Es ist, wie wenn das Fällen der Bäume, das Ausgraben der Mineralien kein Versteck mehr für diese eigenartige Wesenheit übriggelassen hätte.
Der Erzähler suggeriert, dass das Gespenst zu dem Schiff hingefunden habe, überlässt es aber dem Leser, dies mit der erbarmungslosen Zerstörung der brasilianischen Landschaft in Verbindung bringen. Das Schiff sei mit einer Fracht geladen gewesen, die den in der Gegend der brasilianischen Dörfer befindlichen Bodenschätzen entnommen worden sei, und de Maupassant malt das Bild eines ausbeuterischen Kommerzialismus, ein Bild von Ländern, die verwüstet worden seien, um die materiellen Bedürfnisse der Welt zu befriedigen. Es ist, wie wenn das Fällen der Bäume, das Ausgraben der Mineralien kein Versteck mehr für diese eigenartige Wesenheit übriggelassen hätte.
Das Bild, das von dieser leidenden Wesenheit dargeboten wird – eine Welt, die den materialistischen Begierden und der Technik vollkommen ausgeliefert ist – ist nun in unserem Hafen angekommen. In dieser Welt sehen wir unsere Umgebung nicht mehr als Ganzes, sondern wir sehen nur uns selbst, und zwar nur ein ungeheuer reduziertes Bild von uns selbst. Wir sehen unseren materialistischen Geiz und fühlen uns vom Jenseits abgetrennt. Nur: Diese Trennung ist von uns selbst vollzogen worden. Indem wir uns nun die Welt vorstellen, ist sie nicht mehr die Fülle der Seelenwelt zusammen mit der irdischen Welt, nicht mehr die große Vereinigung des Sichtbaren mit dem Unsichtbaren, sondern sie ist eine Doppelwelt.
Diese Teilung in zwei Welten erhält sich durch die Anwesenheit der Angst aufrecht. Wir würden den Schmerz ob des Verlustes der Daseinsfülle noch viel deutlicher und klarer empfinden, gäbe es nicht die Angst und deren Beauftragten, den Doppelgänger, durch welchen sie uns das vergessen lässt, was wir verloren haben. Psychologische Deutungen der oben geschilderten Art reduzieren allerdings den Doppelgänger auf ein Problem des Narzissmus. Die literarischen Autoren waren aber nicht in Egoismus verstrickt. Vielmehr nahmen sie den Doppelgänger – eine eifrige, lüsterne, hochmütige, neidische, egoistische Macht – in der Welt wahr; als eine autonome Kraft, die in ihrem Streben nach Weltbeherrschung oftmals unsere menschliche Form annimmt.
Anstatt zu versuchen, die Gewalt zu bestimmen, die hinter dem Doppelgänger steckt (das würde uns auf das Feld der Theologie bringen), ist es vielleicht nützlicher, wenn wir uns dranmachen, ihre Funktionsweise und ihre diversen Erscheinungsformen zu beschreiben. Die vom Doppelgänger angewandten Methoden, um uns unsere Menschlichkeit vergessen zu lassen, wurden in vorangehenden Kapiteln behandelt: die Manifestationen der Angst in der Welt vervielfachen sich, lassen den Leib zusammenzucken, treten mit Macht in unser Bewusstsein ein, und wir funktionieren dann als etwas, was nicht wir selbst ist. Die oben erwähnten Schriftsteller haben sich den Doppelgänger als äußere Figur vorgestellt; aber inzwischen ist er in unser eigenstes Wesen eingetreten. Dort besteht seine Funktionsweise darin, uns mittels der überwältigenden Gegenwart der Angst in einem Dauerzustand der Betäubung zu erhalten. So kommt es, dass die Ängste in der Welt weitgehend ungehemmt zunehmen dürfen.
Der individuelle Doppelgänger
Wir können vor die entsetzlichsten Gräueltaten der Welt hingestellt werden, und dennoch dringt die Tiefe der Tragödie nicht bis zum Kern unserer Seele. Wir können sogar darüber staunen, dass wir so fühllos, so unempfänglich sind. Sind wir da wirklich wir selbst, oder sind wir zum Doppelgänger von uns selbst geworden? Ein Doppelgänger hat keine Seele; er sieht aus und handelt so, wie ein Mensch; er wirkt auf andere so, als wäre er menschlich, aber er ist weiter nichts als eine Art Automat. Wenn wir feststellen, dass wir unempfänglich geworden sind angesichts des Leidens in der Welt und dass wir stattdessen mit unserem eigenen Komfort beschäftigt sind, so kann das mit dem Einfluss der Verdoppelung zu tun haben. Wir können im Fernseher die Ergebnisse eines vernichtenden Erdbebens sehen, das tausende von Menschen getötet hat, und kaum gerührt mit unserem Leben weitermachen. Wir können jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit an den schlimmsten Slums der Stadt vorbeifahren, und das Leiden hinterlässt nur in geringem Maße einen dauerhaften Eindruck. Man muss den Schluss ziehen, dass wir in unseren Seelen den Kontakt zu uns selbst verloren haben.
Auch in heutiger Zeit erscheint der Doppelgänger manchmal als ein äußeres Bild. Wer Hätte nicht einmal das Gefühl erlebt, dass jemand direkt hinter einem steht, oder dass jemand, den wir kennen, in der Nähe ist? Oder es kann vorkommen, dass wir das Gefühl haben, als befänden wir uns wieder einmal an einem uns bekannten Ort, von dem wir aber wissen, dass wir noch nie da gewesen sind – ein so genanntes Deja-vu-Erlebnis. Oder wir hören, wie unser Name gerufen wird, und drehen uns um, ohne irgendwen zu sehen, den wir kennen. Im Jahre 1917 sagte Rudolf Steiner, dass in Zukunft die Kinder sich immer mehr von einem unsichtbaren Gefährten begleitet finden würden, der sie dazu drängt, zerstörerische Dinge zu tun, und es war ihm dabei nicht um phantasierte Spielkameraden zu tun. Der individuelle Doppelgänger kann auftreten, während man unter dem Einfluss von Drogen steht, oder sich in einem Zustand übermäßiger Einsamkeit, Isolierung oder der Unfähigkeit zu lieben befindet. Auch kann er in Träumen als ein Bild von einem selbst erscheinen, das typischerweise widerliche Eigenschaften besitzt – was etwas gründlich anderes ist als das, was Jung den Schatten nannte, und auch Anderes ist, als wenn man sich bloß als eine der Figuren im Traum sieht.
Der Erzähler in de Maupassants Geschichte sagt den Ärzten, dass die Hypnose-Experimente eine Vorbereitung für das In-Erscheinung-Treten des Doppelgängers gewesen seien. In der Tat: in der Hypnose, den Rückführungen und in schamanistischen Reisen wird mit dem individuellen Doppelgänger als zentrale Gestalt gerechnet. Alle diese Erlebnisse sind darauf angewiesen, dass ein Trance-Zustand herbeigeführt wird. Wann immer wir nicht vollbewusst sind, ist das eine Gelegenheit für den Doppelgänger, dazwischenzufahren und sich unser zu bemächtigen. Zum Beispiel: Wenn man eine schamanistische Reise unternimmt, beginnt die Reise in der Regel mit rhythmischem Trommeln. Dann wird man dazu angewiesen, sich zu einer inneren Landschaft hinzubegeben und dort einer bestimmten magischen Figur zu begegnen – einem Tier, einer Fee, einem Elfen, einem Gnomen, einem Heiler. Der- oder diejenige allerdings, der/die sich auf diese Reise begibt, sind nicht wir selbst. Man selbst ist mit herabgedämpftem Bewusstsein im Trancezustand im Zimmer zurückgeblieben. Der Doppelgänger ist es, der für uns die Reise macht.
Ich habe zahlreiche mit schamanischer Arbeit beschäftigte Menschen gefragt, wer auf die Reise geht, und keiner von ihnen gibt eine klare Antwort. Die meisten sagen, es sei ein Teil der Seele. Aber es muss vielmehr etwas sein, was mit dem Ego zu tun hat, denn das Wesen, das die Reise macht, ist eine Widerspiegelung von uns selbst. Der Doppelgänger hat anscheinend die Fähigkeit, zwischen den Welten zu reisen, und vielleicht sogar die Fähigkeit, andere Zeiten zu bereisen. Die gegenwärtige Popularisierung der Hypnose, die Praxis der Rückführung, auch schamanische Praktiken betrachten einen jeden veränderten Bewusstseinszustand als etwas Hilfreiches. Dabei ist bei jeder Bewusstseinsveränderung große Vorsicht geboten, denn wir uns dem ausliefern, was eine Bewusstseinserweiterung zu sein scheint, könnte es eigentlich eine Verdoppelung von uns selbst sein.
Wer jegliche Art von hypnotischer Technik anwendet, riskiert den Geist des hypnotisierten Menschen an sich zu binden. Dieses Ansichbinden ist offensichtlich. Es zeigt sich darin, dass der hypnotisierte Mensch den eigenen Körper und das eigene Bewusstsein an den Hypnotiseur sowie an die jeweiligen Dinge abtritt, die der Hypnotisierte unter der suggestiven Macht des Hypnotiseurs ausführen mag. Wir brauchen nur zu fragen, wer denn diese Dinge ausführt. Der Hypnotiseur suggeriert sie, und es sieht so aus, als würde der Hypnotisierte sie ausführen, aber der Letztere ist nicht eigentlich da. Der individuelle Geist kann an den Doppelgänger gebunden werden. Auch wenn die Menschen einer solchen Herabstimmung ihres Bewusstseins zustimmen, heißt das nicht, dass sie dabei eine freie Handlung vollzogen hätten. Sie haben lediglich eingewilligt, auf ihre Freiheit zu verzichten. Jeder Vorteil, der dabei herausspringen mag, ist dem, was verlorengeht, zweitrangig. Der gebundene Geist wird eine Portion der schöpferischen Fähigkeit verlieren, die er braucht, um die Umstände des alltäglichen Lebens zu bewältigen. Nicht einmal vorübergehende Vorteile überwiegen die Schwere eines verminderten Geistes.
Der Wunsch nach Kräften über der Spannweite des gewöhnlichen Bewusstseins hinaus kann weiter nichts sein, als eine Ablenkung von der Aufgabe, sich der Angst zu stellen. Ein In-Sich-Gehen mittels dieser inzwischen populär gewordenen Trance-Techniken kann zu einer Form von Flucht werden. Es muss gesagt werden, dass die Popularisierung der Trance-Zustände von der Tiefe der Tradition erheblich abweicht, welche die wahren schamanistischen Praktiken auszeichnet. Wochenend-Schamanismus hat wenig zu tun mit über Jahrhunderte hin als Kultur entwickelter Erkenntnis und Weisheit. In solchen Kulturen ist der Schamanismus eine Berufung, die über viele Jahre hin ausgebildet werden muss, und die stets innerhalb einer bestimmten Gemeinschaft, Kultur, und religiösen Weltsicht existiert.
Es muss auch keine direkte Hypnose sein, was uns dem individuellen Doppelgänger unterwirft. Wenn ich extrem wütend werde, könnte in der Wut ein Augenblick eintreten, wo ich deutlich bemerke, dass ein anderes Bewusstsein die Macht ergriffen hat. Während eines Wutanfalls ist es sogar möglich, zum passiven Zeugen der wütenden Person zu werden, die mir genau ähnelt; diese Person anzusehen und zur Kenntnis zu nehmen, dass ich das nicht bin. Oder ich gehe einkaufen, schaue ins Fenster und sehe etwas sehr Teures, das ich besitzen möchte. Wiederum kann ich dastehen und der Zeuge sein von dem, der nun von dem begehrten Gegenstand vollkommen eingenommen ist, der in den Laden hineingeht, die Kreditkarte herausholt und das kauft, was ich mir nicht leisten kann. Die ganze Werbekampagne für diese Ware, die ich vielleicht im Fernsehen gesehen habe und an die ich mich jetzt nicht erinnere, hat mich in eine Art Trancezustand eingelullt und dadurch dem Doppelgänger die Möglichkeit eröffnet, dazwischenzufahren.
Der Charakter des individuellen Doppelgängers ist mit der Art und Weise unerbittlich verbunden, wie die Angst in die Welt hereingeholt wird. In seiner Studie über die Nazi-Ärzte, welche die grausamen Versuche an Menschen durchführten, kam Robert J. Lifton zur Schlussfolgerung, dass es wegen der Verdoppelung war, dass diese teuflischen Forscher dazu in die Lage versetzt wurden, solche Gräuel zu begehen.[3] Laut Liftons Forschungsergebnissen besitzt die Verdoppelung erkennbare Eigenschaften. Die Ärzte sahen sich als Humanmediziner, als Ehemänner und als Väter. Zu gleicher Zeit sahen sie sich als freie Ausführende dieser Gräueltaten, die keinerlei Zwang unterstanden. Diese Dualität zeugt uns, dass der Doppelgänger ohne jeden erkennbaren Konflikt neben dem her funktionieren kann, was wir für unser normales Selbst halten.
Lifton führt fünf Merkmale des Verdoppelungsprozesses auf: 1) Ein zweites Selbst bildet sich neben dem gewöhnlichen Selbst. 2) Dieses zweite Selbst entsteht als ein direktes Ergebnis davon, in einem fortdauernden Zustand der Angst leben zu müssen. 3) Das zweite Selbst verleiht einem solchen Zustand die Kohärenz. Es lässt eine solche Situation wie normal erscheinen. 4) Das zweite Selbst führt inakzeptable und greuliche Taten aus. 5) Das normale Selbst tritt diesem zweiten Selbst sein eigenes Gewissen ab.
Die Dualität des Verdoppelungsvorgangs ist anders als die kognitive Dissoziation, die ich als Betäubung bezeichnet habe. Damit die Nazis den von ihnen begangenen Terror verüben konnten, war keine Betäubung des gesunden, normal funktionierenden Selbst erforderlich. Der Doppelgänger erreichte es, für das ganze Selbst sprechen zu können, ohne dass dieses Selbst den Austausch überhaupt durchschaute. Das, was die Verdoppelung herbeiführte, war die Angst, innerhalb welcher die Ärzte selbst lebten. Sie lebten tagtäglich unter der Bedrohung, dass sie selbst ausgelöscht würden, falls sie die ihnen erteilten Befehle nicht ausführten. Die Schäden, die sie anderen Menschen zufügten, galten ihnen als Pflicht, als Treue der eigenen Gruppe gegenüber. So empfanden die Ärzte also wegen ihrer ungeheuerlichen Handlungen keinerlei Verantwortung oder Schuld. Ohne es zu durchschauen, hatte sich ihr moralisches Bewusstsein radikal verändert.
Indem Lifton den Vorgang der Verdoppelung beschreibt, entschuldigt er keineswegs die Handlungen der Ärzte, auch behauptet er nicht, dass sie dieselben nicht zu verantworten hätten. Wenn wir uns einmal des Doppelgängers bewusst geworden sind, tut sich für uns geradezu eine neue Dimension der Verantwortlichkeit auf. Wir verantworten nunmehr nicht nur das, was wir tun, sondern auch die Befindlichkeit, den Zustand unseres moralischen Bewusstseins. Die Verdoppelung einer außerordentlichen Instanz des Bösen oder irgendeiner Besessenheit zuzuschreiben, anstatt sie als Teil des alltäglichen Daseins anzuerkennen, lenkt uns von der Arbeit ab, die wir verrichten müssen, um unser Seelenleben aufrechtzuerhalten.
Die von den Ärzten durchmachte Verdoppelung fand im Rahmen einer institutionellen Struktur statt, welche sie förderte und auch forderte. Es gibt Hinweise, denen zufolge Adolf Hitler an okkulten Ritualen teilnahm, die mit tranceartigen Bewusstseinszustanden einhergingen. Hitler war ein untersetzter Mann, aber wenn er vor Menschenmassen trat und diese beschwor, wurde er von etwas ergriffen bzw. fuhr in ihn etwas hinein, wodurch er in die Lage versetzt wurde, eine Veränderung im moralischen Bewusstsein seiner Zuhörer herbeizuführen. Im Lauf der Zeit nahm er immer größere Dosierungen von Drogen ein, um den eigenen Zustand der Verdoppelung aufrechtzuerhalten. Da heraus vermochte er es, die institutionalisierte Struktur der Angst zu schaffen, als die sich der Nationalsozialismus darstellte. Von dieser Institution sagte Hitler: „Diejenigen, die im Nationalsozialismus weiter nichts als eine politische Bewegung sehen, wissen kaum etwas darüber. Er ist sogar mehr noch, als eine Religion. Er ist der Wille, eine Neuerschaffung der Menschheit herbeizuführen.“
Der einzige Jugendfreund, den Hitler hatte, August Kubizek, war in dem Moment zugegen, als Hitlers Doppelgänger zum ersten Mal in Erscheinung trat. Hitler war zu dieser Zeit siebzehn Jahre alt, und hatte soeben eine Aufführung der Wagneroper Rienzi gesehen. Kubizek sagte:
Es war, als würde ein anderes Wesen aus seinem Körper sprechen und ihn so sehr bewegen als auch mich. Es handelte sich gar nicht um einen Sprechenden, der von den eigenen Worten mitgerissen wurde. Ich hatte vielmehr den Eindruck, dass er selbst dem, was mit elementarer Wucht aus ihm hervorbrach, mit Staunen und Rührung lauschte… es war ein Zustand vollkommener Ekstase und Seligkeit… Er sprach von einer besonderen Mission, mit welcher er eines Tages betraut werden würde.
Wenn wir heute auf den Holocaust zurückblicken, so könnten wir uns in Sicherheit darüber wiegen, dass solange wir diese Tragödie in unserem Kollektivgedächtnis präsent halten, sie nicht wiederholt werden könne. Eine solche Haltung ist völlig naiv. Je mehr sich in der Welt die Angst verdichtet, umso größer wird die Möglichkeit, dass sich genauso eine Verdoppelung in großem Ausmaß ereignet, ohne dass wir es merken.
Institutionelle Doppelgänger
Der Prozess der Verdoppelung hat nichts zu tun mit der Dissoziation, mit multiplen Persönlichkeitsstörungen oder mit dem, was heute in der Psychologie als Borderline-Erkrankung bezeichnet wird. Der potentielle Verlust des Sinnes für das, was wir sind, existiert für jeden, der mit einem überwältigenden Maß an Angst zu leben hat. Das öffnet Tür und Tor für dein Eintritt des Doppelgängers:
- Ein Leben mit nur denjenigen Fähigkeiten des Bewusstseins, die die materielle Wirklichkeit zu erfassen imstande sind;
- Das Unvermögen, ein bewusstes Seelen- oder Geistesleben zu führen beziehungsweise
- Das Aufsuchen bewusst erlebter seelischer oder geistiger Erlebnisse in ungesunder Weise.
Eine Kultur wie unsere also, die in so großem Stil auf materialistische Werte fixiert ist, ist dazu reif, in ihren grundlegenden institutionellen Strukturen vom Doppelgänger befallen zu werden.
Als Beispiel dafür, wie eine Institution vom Doppelgänger durchsetzt wird, können wir die Wissenschaft in Betracht ziehen. Wissenschaftliche Entdeckungen, die in das allgemeine Kulturleben rasch übernommen werden, werden oft als mit einem plötzlichen Durchbruch von Seiten der Forscher in Verbindung gebracht. Ein jüngeres Beispiel ist die Person, die den Gencode entdeckt hat. Diese Person arbeitete viele Jahre an dem Problem. Als er eines Tages über eine kalifornische Autobahn gerade zur Arbeit fuhr und über seine Arbeit nachdachte, wurde er durch die wiederholte Tätigkeit des Autobahnfahrens in ein eine Art Trance-Zustand eingelullt. In diesem Zustand kam ihm plötzlich die Lösung des Problems des Gencodes. Seine Lösung stellte sich als richtig heraus, und innerhalb kurzer Zeit wurden die technischen Mittel entwickelt, um „genetische Fingerabdrucke“ zu erzeugen. Diese Technologie wird inzwischen weitläufig eingesetzt, um festzustellen, ob jemand schuldig ist, der eines Verbrechens wie Vergewaltigung oder Mord bezichtigt wird. Wenn eine Blut- oder Samenprobe entnommen werden kann, so kann deren genetischen Code mit der des beschuldigen Menschen in Übereinstimmung gebracht werden. Inzwischen bedauert dieser Forscher interessanterweise, dass seine Entdeckung von der Scientific Community so bereitwillig aufgegriffen wurde – wegen der Möglichkeiten des Missbrauchs, zu dem seine Forschungsergebnisse führen könnten.
Die Geschichte der Wissenschaft ist mit solchen Vorkommnissen reichlich bestückt. Wir haben die Tendenz, auch dann solche Ereignisse dem Paradigma der wissenschaftlichen Kreativität und Entdeckung zuzuzählen, wenn sie ohne jedes bewusste Verständnis der Auswirkung auf das Seelenleben eintreten. Manche wissenschaftlichen Entdeckungen verdanken wir einem Menschen, der es zu einer imaginativen Fähigkeit des Bewusstseins gebracht hatte. Jemand wie David Bohm, zum Beispiel, der wichtige Entdeckungen in der Physik gemacht hat, besaß eine gut ausgebildete Weltanschauung. Bohms ganzes Leben war der Ausbildung der Fähigkeit gewidmet, das einzelne Ereignis im Kontext der Ganzheit wahrzunehmen, da heraus entsprangen seine wissenschaftlichen Entdeckungen. Schnelle Entdeckungen haben aber oftmals keinen so gediegenen Hintergrund; deshalb ist die Gefahr erheblich, dass diese Entdeckungen nicht einer voll ausgebildeten Phantasie, sondern einer Art dunklen Begabung des Doppelgängers entstammen.
Es muss eine phantasievolle Wissenschaft von einer technologisch brillanten Wissenschaft unterschieden werden. Jene geht im Licht einer bildhaften Erkenntnis vor sich, diese verlässt sich gläubig auf die wissenschaftliche Methodik als der Entdeckungsweg. Dieser bringt häufig Ergebnisse hervor, die zu Beginn wohltuend aussehen, sich aber mit der Zeit als zerstörerisch herausstellen. DDT schien eine Lösung des Problems der durch Insekte verbreiteten Krankheiten zu sein; Jahre später stellte es sich als Karzinom heraus. Wie viele für hilfreich erachtete Drogen bewirken langfristige Schäden? Technologische Neuerungen verhalten sich gemäß einem ähnlichen Muster. Das Internet zum Beispiel wirkt wie eine revolutionäre technische Errungenschaft. Bislang hat aber noch niemand die Phantasiekraft aufgebracht, um es im Hinblick auf seine Auswirkung auf das Seelenleben zu betrachten. Zwar wird das Internet als größtes Werkzeug der Kommunikation seit der Erfindung des Buchdrucks hochgehalten; es könnte aber wohl sein, dass es eine Art Doppelgänger der Kommunikation darstellt. Man bedenke, wie viel dadurch ausgelöscht wird, dass man im Cyberspace Beziehungen pflegt. Der Leib wird ausgeschlossen, die Nuancen des Sprechens ausgeschaltet, die Wichtigkeit dessen, was unausgesprochen bleibt ist weg. Email etwa lässt sich mit dem Schreiben von Briefen gar nicht vergleichen. Das Mailen wird normalerweise mit Hast getan. Wir erwarten eine sofortige Antwort. Die Kommunikation ist mehr oder weniger auf reine Informationsübertragung reduziert.
Das Problematische einer technologischen Wissenschaft, deren Innovationen nicht von einem mit der Seele durchdrungenen Bewusstsein gelenkt werden, ist, dass das Handeln der Erkenntnis vorauseilt. Es ist hauptsächlich durch die Lücken in unserer Erkenntnis, dass der Doppelgänger in das Leben von Institutionen einverleibt wird, ob es sich um das institutionelle Leben der Wissenschaft, der Wirtschaft, der Bildung oder sonst einem Feld handelt.
Der Doppelgänger findet den Eingang in das Kulturleben und das Leben der Institutionen insbesondere durch Disziplinen, in denen die Menschlichkeit eine zentrale Rolle spielen soll. Viele dieser Disziplinen haben die wissenschaftliche Methode adoptiert, ohne jede Vorstellung davon zu haben, mit was für einer Wirklichkeit sie es zu tun haben. Im 19. Jahrhundert ergriffen die Psychologie, die Soziologie, die Wirtschaftslehre und die Politikwissenschaft die wissenschaftliche Methode und wandten sie direkt auf Menschen an, als ginge es, die für diese Wirklichkeitsebene wesentlichen Elemente – wie etwa die Seele, der Geist, die Freiheit, der Wille – zu objektifizieren und zu quantifizieren. Die Verhaltenspsychologie begreift die Menschen im Hinblick auf elementarere Aspekte des Verhaltens, und dann verwendet die Werbung dieses Verständnis, um uns zu manipulieren. Die moderne Wirtschaftstheorie steckt hinter der Manipulation der Zinsraten und setzt voraus, dass der Mensch rein von dem Eigeninteresse gesteuert ist. Um die Politik zu bestimmen, verlässt sich die Politik auf Umfragen und nicht auf den Begriff des Gemeinwohls. Alle diese Auffassungen machen die Schleusen weit für den Doppelgänger.
Angenommen ein Kulturwelt-Doppelgänger hat sich einmal etabliert: Auch dann, wenn die entsprechenden Probleme offenkundig werden, werden Versuche, die Situation zu berichtigen, scheitern. Denn sie werden von der gleichen Bewusstseinsart gelenkt, wie die Bewusstseinsart, welche die Probleme erst verursachten. Da uns die Tatsache verborgen bleibt, dass wir in einer verdoppelten Welt leben, kann es gar nicht anders sein. Die einzig mögliche Lösung wird dann der völlige Zusammenbruch der Institution sein, in der der Doppelgänger seinen Wohnort gefunden hat. Es ist so, wie wenn unsere Kollektivseele in einer chinesischen Puzzelbox eingeschlossen worden wäre, und die einzige Chance, die wir haben, darin besteht, die Puzzlebox zu zerschmettern. In dieser Weise schafft es der Doppelgänger, die Menschen in einem andauernden Zustand der Angst zu behalten. Es scheint, als hätten wir keine andere Wahl, als einen Vollkollaps abzuwarten – was wiederum mehr Angst erzeugt, zusammen mit dem Bedürfnis, uns noch fester an der Illusion zu klammern. Man unterschätze die Schläue des Doppelgängers ja nicht. Er wird stets die Angst gebrauchen, um immer cleverere Ausführungen von ihr zu erschaffen.
Wie man sich des Doppelgängers bewusst wird
Die Arbeit, sich der Zeiten bewusst zu werden, in denen wir nicht ganz wir selbst sind, kann eine beängstigende Aufgabe sein. Wenn es Zeiten gibt, in denen wir uns nicht so benehmen, wie wir selbst sind, so meinen wir, es müsse mit uns psychologisch etwas nicht in Ordnung sein. Wir glauben ferner, dass solche Probleme durch Therapie oder einen Drogeneingriff wieder zu heilen wären. Das Problem der Verdoppelung ist aber kein bloßes Problem der individuellen Psychologie, sondern ein Problem, das daher stammt, dass man in einer Kultur der Angst lebt.
Der erste Schritt zum Wachwerden für die Möglichkeit der Verdoppelung besteht darin, vor alledem auf der Hut zu sein, was unser Bewusstsein vermindert. Leider werden häufig Dinge, die das Bewusstsein vermindern, als etwas angepriesen, was genau das Gegenteil tun soll. Neben der Hypnose und den schon erwähnten schamanischen Praktiken gibt es viele Bewegungen, die eine Erweiterung des Bewusstseins anbieten, es aber recht eigentlich verringern. Das neurolinguistische Programmieren, Motivationstechniken, die das Gehen über glühenden Kohlen ermöglichen, EST, transzendentale Meditation, Meditations-CDs und viele New Age-Praktiken sind alle mit großer Vorsicht zu genießen. Sogar manche Psychotherapien können einen Menschen den Mächten der Suggestion unterwerfen – darauf scheinen Vorkommnisse von False-Memory-Syndrom hinzuweisen. Der Umstand, dass diese Praktiken hilfreich zu sein beabsichtigen, ändert nichts daran, dass sie dazu aufrufen, den zartesten und kostbarsten Teil von uns selbst an andere Menschen auszuliefern, oftmals an Menschen, die von dem keine Ahnung haben, womit sie es zu tun haben.
Im alltäglichen Leben ist es möglich, die Handlungsweise des Doppelgängers aus dem Augenwinkel zu erblicken. Augenblicke, in denen uns bewusst wird, dass unser Bewusstsein der Raub des Fernsehens, der Computer, der Werbung, des Journalismus oder des politischen Jargons geworden sind – solche lichten Augenblicke können dem Doppelgänger vor der Haustür Einhalt gebieten. In dieser Domäne wird die Erkenntnis allwichtig. Aber es kann sich hier um keine gewöhnliche Erkenntnis handeln. Das Herz lässt sich vom Doppelgänger nicht befallen. So wird also die Ausbildung der seelischen Kapazitäten des Herzens zum zentralen Schutzmittel. Das intuitive Wahrnehmen lässt sich nicht betrügen. Durch andere Menschen kann uns diese Fähigkeit nicht geschenkt werden; es gilt, sie rein aus der inneren Freiheit und aus dem fortwährenden Erforschen des eigenen Bewusstseins heraus zu entwickeln. Ein Bewusstseinsaspekt bietet einen besonders wertvollen Schutz vor dem unwissentlichen Verlieren unseres Selbstsinns: das Gewissen. Das Gewissen ist der größte Beschützer vor Doppelgängern aller Art.
Das Gewissen wird herkömmlich als innere Stimme aufgefasst, die uns warnt, wenn wir im Begriff sind, uns auf einen falschen Pfad lenken zu lassen. Der Begriff des Gewissens muss aber neu überdacht werden – zumal im Lichte der Macht, die die Angst in der Welt an sich gerissen hat, und auch im Lichte des Ausmaßes, in dem das Phänomen der Verdoppelung in das Wachleben eingedrungen ist. Wir können das Gewissen überhaupt erst dann erleben, wenn wir das Bewusstsein als ein Ereignis des ganzen Leibes erkennen. Und zwar so: Wann immer wir – mit der Angst zusammen – von der Gelegenheit konfrontiert werden, der Angst auszuweichen, indem wir uns etwas unterwerfen, was „wir selbst“ zu sein nur scheint aber nicht ist, so müsste sich unser Leib ob dieser Möglichkeit geradezu winden, dass wir etwas sein könnten, was nicht ganz Mensch ist. In dieser Weise müssten wir diese Gefahr bis ins Leibliche hinein empfinden.
Ein erster Schritt zum Erwachen des Gewissens kann darin bestehen, dass wir am Ende des Tages auf den Verlauf unserer Handlungen an diesem Tag zurückblicken. Wichtig dabei ist nicht nur, dass wir darüber nachdenken, was wir getan haben, sondern dass wir auch das Sichentfalten der Ereignisse und unserer Begegnungen mit anderen Menschen an diesem Tag als Bild in uns hervorrufen. Wir können noch weitergehen und uns die Auswirkungen unserer Handlungen auf das Leben anderer Menschen vorstellen, indem wir uns davon ein inneres Bild zu machen versuchen, was anderen Menschen als Ergebnis unserer Handlungen konkret zustößt. Uns selbst richten sollen wir nicht, sondern wir sollen nur unvoreingenommen unsere eigenen Handlungen beobachten. Ein solches Üben kann uns dazu verhelfen, die innere Stimme des Gewissens wiederherzustellen. Aber das genügt nicht. Je abgestumpfter unser Körper ist, umso schwerer wird es, auch dann unsere Handlungen zu verändern, wenn wir uns deren Auswirkungen in der Welt bewusster werden. Wir müssen uns auch vornehmen, auf eine innere, leibliche Wachheit hin zu arbeiten.
Unser Körper wird dann zu erwachen beginnen, wenn wir das, was wir sehen – die Pflanzen, die Berge, die Tiere, die Häuser, andere Menschen –, nicht bloß in seiner physischen Form betrachten, sondern indem wir beobachten, wie alles das, was uns umgibt, zusammengewoben ist. Wir können unsere Aufmerksamkeit auf das dynamische Zusammenspiel der Dinge der Welt lenken, anstatt direkt auf die Dinge selbst zu blicken. Siehe dir das Sichüberlagern der Wolken an, oder die aufsteigenden Nebel, oder die Art, wie das Licht durchbricht, oder wie in kaltem Wetter die Landschaft sich zusammenzieht und in warmem Wetter sich weitet, wie Konturen sich bilden und wieder verschwinden – siehe dir das alles an. Wenn du das zu einer übenden Fertigkeit ausbildest, wirst du wahrnehmen, wie in dir ganz bestimmte Gefühle erstehen: eine Traurigkeit, die in paradoxer Weise mit Freude zusammengesetzt ist. Wer kennt diese Gefühlseigenschaft beim Betrachten der roten Glut eines Sonnenuntergangs nicht – die von Augenblick zu Augenblick sich ändernde Färbung der Wolken, die jetzt golden leuchten, dann in Orange-Töne, darauf in Schattierungen von Lila übergehen, und allmählich zu Grau verblassen? Nicht nur EhrAngst empfinden wir vor einer solchen Schönheit, sondern auch ein Bisschen Traurigkeit.
Indem wir für die Rhythmen der Welt erwachen, werden wir für das empfindlich, was hinter diesen Offenbarungen als etwas Planvolles steckt, als etwas, was alles das verbindet, was entsteht und vergeht. Die Illusion, dass wir an uns selbst gebunden wären, dass wir in unserem Körper, vielleicht sogar in unserem Kopf gefangen seien, beginnt sich aufzulösen. Auch wir sind Teil des größeren Weltprozesses, indem wir geboren werden und versterben, und zwar nicht nur am Anfang und am Ende unseres Lebens sondern als ein beständiger Vorgang, der von Moment zu Moment fortschreitet. Uns selbst als Teil dieses fortlaufenden Weltenrhythmus zu empfinden kann dazu beitragen, dass wir unsere Eitelkeit abstreifen.
Da heraus, dass wir uns in die subtilen Gewebe der Weltprozesse hineintauchen, von denen wir ein Teil sind, entsteht ein neuer Sinn für das Gewissen. Kein Mensch, der in solcher Weise mit der Naturwelt Zeit verbracht hat, geht aus dieser Erfahrung ohne tief über die Bedeutung des eignen Lebens zu staunen, ohne das zu prüfen, was er gerade tut und etwa sich darüber Gedanken zu machen, wie weit er sich von dem entfernt hat, worauf es wirklich ankommt. Der starke Impuls, den wir oftmals empfinden, dem Alltag zu entfliehen, zu verreisen, in der Wildnis Zeit zu verbringen, überkommt uns nicht lediglich als eine von uns vorgestellte Befreiung vom Stress des alltäglichen Lebens, sondern auch als ein gesundes Warnsignal, dass wir auf bestem Wege sind, uns selbst zu verlieren. Die Seele hält uns dazu an, das wieder zurückzugewinnen, was wir dabei sind, zu verlieren.
Der Dichter Novalis nähert sich in seinem Romanfragment Heinrich von Ofterdingen der Frage des Gewissens in neuartiger Weise.[4] In dem diesbezüglichen Romanpassus findet ein Gespräch statt zwischen dem Protagonisten Heinrich und dem Pilger Sylvester:
»Wann wird es doch«, sagte Heinrich, »gar keiner Schrecken, keiner Schmerzen, keiner Not und keines Übels mehr im Weltall bedürfen?«
»Wenn es nur Eine Kraft gibt – die Kraft des Gewissens – Wenn die Natur züchtig und sittlich geworden ist. Es gibt nur Eine Ursache des Übels – die allgemeine Schwäche, und diese Schwäche ist nichts, als geringe sittliche Empfänglichkeit, und Mangel an Reiz der Freiheit.«
»Macht mir doch die Natur des Gewissens begreiflich.«
»Wenn ich das könnte, so wär ich Gott, denn indem man das Gewissen begreift, entsteht es.“
Indem Sylvester sagt, dass aus dem Kosmos alle Angst dann gebannt werden würde, wenn die Natur keusch und moralisch wird, schließt er die Menschen in die Rhythmen der Natur mit ein. Zwar sehen wir es vielleicht nicht, aber unsere Handlungen, wenn sie unter dem Einfluss des Doppelgängers stehen, schaden nicht nur uns selbst und anderen, sondern sie vermindern auch das Leben der Natur. Kommt uns die Welt nicht ein klein wenig erstarrter vor, wenn wir aus Wut, Hass, Neid oder Angst gehandelt haben? Das Gefühl, als wären wir von der Traurigkeit berührt worden, wann immer wir die Rhythmen der Natur erleben, ist ein Weg zum Erkennen, wie sehr wir uns von dem Ganzen entfernt haben. Unsere moralische Empfänglichkeit schwächelt umso mehr, je mehr wir uns von den Rhythmen der Welt abtrennen. Sylvester äußert ein interessantes Aperçu – dass sich nämlich auch die Schwäche aus einem Mangel an Interesse für die Freiheit ergibt. Die Freiheit heißt in der Regel, von externen Zwängen frei zu sein, frei zu sein, etwas zu tun. Diese gewohnte Auffassung des Wortes hat aber mit dem Wesen der menschlichen Freiheit nichts zu tun, welches darin besteht, dass wir alle genau der Mensch sind, der wir sind, und zwar nicht nur in äußerlicher Weise, sondern sowohl in unserer Seele wie auch in unserem Geist.
Nicht nur durch unseren Leib in seiner Teilhabe an den Weltenrhythmen erwacht das Gewissen, sondern auch aus einem inneren Gespür für die Konsequenzen unserer Taten. Dieses Reich des Fühlens ist anders, als landläufige Schuldgefühle. Schuldgefühle entstammen moralischen Grundsätzen, die uns durch andere Menschen eingeimpft wurden – durch unsere Eltern, unsere Schulbildung, unsere Religion. Verhalten wir uns dem Sittenkodex nicht konform, der uns eingepflanzt worden ist, so erleben wir Schuldgefühle. Die ethischen Situationen aber, mit denen wir aktuell zu tun bekommen, sind weit komplizierter geworden, als unsere veraltete Moral bewältigen kann, und an Schuldgefühlen können wir uns nicht mehr wirksam orientieren. Ferner sind wir uns viel bewusster geworden, wie die Moral zu Zwecken eingesetzt wird, die nicht im eigentlichen Sinne moralisch gemeint sind. Millionenfach wurden Menschen genötigt, weil so genannte moralische Autoritäten ihre Macht dazu missbraucht haben, in von ihnen abhängigen Menschen Schuldgefühle hervorzurufen. Ein neues, ein inneres Feld des moralischen Fühlens muss erstehen: ein im Herzen zentriertes Gefühl dafür, ob man selbst zu der dynamischen Ordnung der Kräfte dazugehört, die die Welt zusammenweben, oder ob man von dieser Ordnung abweicht.
Werde ich für die Rhythmen der Naturwelt leiblich empfindlich, so bin ich dazu in der Lage, es ganz deutlich zu spüren, wenn ich nicht mit den seelischen und geistigen Qualitäten im Leben Konform gehe. In einem solchen Moment weiß ich zwar vielleicht nicht, worauf dieses Gefühl der Disharmonie zurückzuführen ist; dennoch veranlasst es mich zum Nachdenken. Es kann passieren, dass ich mich in solchem Augenblick an spezifische Handlungen erinnere, die die Anwesenheit des Doppelgängers zu verkündigen schienen. Ich erinnere mich etwa daran, dass ich meine Partnerin angeschrien habe, und verstehe das jetzt nicht bloß als einen Moment des Ungehaltenseins, sondern ich stelle fest, dass es nicht ganz ich selbst war, der ungehalten wurde. Das befreit mich allerdings nicht von der Verantwortung für meine Tat – meinem Doppelgänger kann ich sie nicht andrehen. Im Gegenteil: Meine Verantwortung nimmt zu, denn ich empfinde noch akuter, wie wichtig es ist, vor dem, was ich gerade tue, anwesend und wach zu sein und nicht bloß impulsiv zu handeln. Mit dieser Steigerung des Bewusstseins schmiede ich eine neue Auffassung davon, einen neuen Sinn dafür, was das Gewissen ist.
Man mag meinen, der Versuch, eine neue Auffassung des Gewissens dadurch zu erwecken, dass man eine körperliche Präsenz vor den Weltenrhythmen entwickelt, würde uns direkt in den Kessel der Angst hineinstürzen. Ist doch auch – wie oben beschrieben – die Naturwelt von der Angst durchsetzt. Und in der Tat: Wir nähern uns einer Zeit, in der die natürlichen Rhythmen der Welt dermaßen gestört sein werden, dass dieser Weg zum Erwecken des Bewusstseins nicht mehr gangbar sein wird. Es gibt noch Sonnenauf- und -untergang, noch bilden sich und lösen sich Wolken auf, die Pflanzen wachsen noch, und Tiere laufen noch frei herum. Aber es besteht kein Zweifel daran, dass die Angst auch noch anwesend ist. Das bedeutet, dass, um das Gewissen in der beschriebenen Weise zu erwecken, es nicht mehr genügt, lediglich die Eigenschaften der Naturwelt zu genießen. Es gilt, ein mehr gegenseitiges Verhältnis mit den Rhythmen der natürlichen Welt zur Entwicklung zu bringen. Es geht nicht mehr an, dass wir uns des eigenen Genusses, der eigenen Erfrischung, der eigenen Erholung wegen der Natur zuwenden. Unsere Teilhabe an der Natur muss zu einer Praktik werden, welche sich daran orientiert, uns in ein rechtes Verhältnis zu unserem Leib hineinzuversetzen. Unter diesen Umständen können wir durch das von unserer Zeit so benötigte moralische Bewusstsein uns zu erden suchen. Dann wird die Angst nicht die Oberhand gewinnen können.
[1] Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Leipzig 1925; Nachdruck: Turia & Kant, Wien 1993, ISBN 3-85132-062-X.
[2] Text bei http://gutenberg.spiegel.de/buch/der-horla-2518/1
[3] Robert Jay Lifton, Ärzte im Dritten Reich, Stuttgart: Klett-Cotta, 1988
[4] Rudolf Steiner, GA 110: Geistige Hierarchien und ihre Widerspiegelung in der physischen Welt: Tierkreis, Planeten, Kosmos.