Kapitel V. Die Ökologie der Angst
Bis vor kurzer Zeit gab es eine Schwelle zwischen der Welt, wie wir sie alltäglich erleben und den Welten der Angst. Ich selbst gebe den 6. August 1945 um 08.15 Uhr als das Datum der Wende an: den Augenblick der Detonation der Atombombe über Hiroshima. Seit diesem Moment existiert keine Schwelle mehr, es ist, wie wenn der Wolkenpilz sich über die ganze Erde hin ausgebreitet und sich für immer dort eingelebt hätte.[1] Die Bombe hat eine radikale Trennung zwischen uns und der Welt bewiesen: Sie hat unsere Absage an die Welt als heiligen Ort verkündet. Die Angst hatte allerdings schon vor dieser Zeit existiert. Aber aufgrund der Gesetzgebung und der religiösen Sensibilität von damals, auch der damaligen Möglichkeiten der psychiatrischen Therapie sowie des politischen Verhandelns, nicht zuletzt wegen der schieren Verdrängung schienen diese Ängste kontrollierbar zu sein. Zwar hatte das Auftreten eines Hitlers diese Lage maßgeblich mit vorbereitet, aber nie zuvor war die Angst derart gefördert worden, so deutlich ins volle Licht zu treten, wie beim Abwurf der ersten Atombombe. Es geht nicht darum, ob in der heutigen Welt mehr Schrecken besteht als früher; wahrscheinlich ist das nicht der Fall. Aber noch nie zuvor hat sie so abgetrennt von einem Verständnis des Kosmos als Heiligtum existiert.
Die Gegenwart der Angst ist viel größer und umfangreicher als bisher angenommen. Schon die therapeutisch ausgerichtete Psychologie des neunzehnten Jahrhunderts suchte Symptome zu identifizieren, die diesem Phänomen verwandt sind. Einige der Arten der Angst, die da erkannt wurden, sind
Die Wirklichkeit der Angst ist aber viel breiter gefächert. Eine therapeutische Behandlung von Trauma-Opfern tut nur wenig, um die größere Anwesenheit der Angst in der Welt aufzuhalten. Das Ziel dieses Buches ist, das Bewusstsein zu erhöhen hinsichtlich dessen, womit wir es zu tun haben, und zu erkennen, dass verschiedene Arten der Angst verschiedene Seelenfähigkeiten erfordern, um jene zu überwinden. Was Not tut ist nicht, die Angst aus der Welt zu schaffen, sondern in uns die psychische Fähigkeit zu entwickeln, ihrer zerstörerischen Gewalt zu begegnen. In diesem Reich kommt alles auf Bewusstsein in Verbindung mit Liebe an. Eine Bewusstseinserweiterung, die ein Gewahrwerden der Seele mit umfasst, ermöglicht ein heilvolles Ringen mit der Angst; und die Liebe ermöglicht eine Umwandlung, die sich nicht nur in uns selbst, sondern auch draußen in der Welt vollzieht.
Man kann zwischen den persönlichen Dimensionen der Angst und der Erscheinung der Angst als urbildliche Realität unterscheiden. Hat man etwa wegen des Wütens von Verbrecherbanden in der Nachbarschaft Angst, abends auf die Straße zu gehen, so ist diese Emotion eine persönliche Reaktion. Sowohl der therapeutische Ansatz der Psychologie nach C. G. Jung, als auch der archetypal psychology des James Hillman streben einen tieferen Einblick in dieses Doppel-Phänomen an, indem sie das Urbild suchen, das hinter dieser persönlichen Reaktion liegt. In der griechischen Mythologie zum Beispiel ist Phobos der Gott der Angst und Pan der Gott der Panik. Jung und seine Nachfolger würden darin einer Meinung sein, dass das Zurückschrecken vor einer finsteren Gestalt, die bei Nacht auf einen zu rennt, auf die Gegenwart des Phobos oder des Pan oder eines anderen Gottes zurückzuführen sei – wobei diese Götter nicht in der eigentlichen Welt, sondern in der Seele beziehungsweise in der Psyche zu finden sind.[2] Die Psychologie Jungs hat zur Erkenntnis des objektiven Charakters der Psyche unschätzbar Wertvolles beigetragen. Ihrer Auffassung nach entstammen unsere subjektiven inneren Zustände einer vermittelnden Tätigkeit der Seele, welche ununterbrochen Urbilder zum Ausdruck bringt.
Heute aber umfasst die psychische Realität sowohl innere Zustände als auch die äußere Welt, und die Fähigkeit, in Urbildern zu denken, ist inzwischen zu einem Teil der Welt geworden. Was diese Urbilder in unsere Alltagserlebnisse hineingebracht hat, das ist die Aufhebung der Schranke zwischen der Welt und dem Vorhandensein der Angst in ihr. In der Vergangenheit hat sich diese Aufhebung nur in unseren finstersten Träumen sowie auch in pathologischen Zuständen ereignet. Heutzutage ist es so, als würden wir unser Wachleben in einer Art Traumwelt verbringen. Denn Urbilder flößen uns zwar nicht immer Angst ein, aber Angstbare Bilder scheinen durchaus die Kraft zu besitzen, über innere psychische Erlebnisse hinaus in der Außenwelt aufzutreten.
Einzelne Vorkommnisse dieses Ineinanderfließens unserer alltäglichen Wirklichkeit mit einer mehr Angstgeladenen imaginalen Welt sind so allgegenwärtig, dass wir das Eintreten dieser Vereinigung kaum bemerkt haben. Und doch weist der surreale Charakter, der mit solchen Angstbaren Ereignissen auftritt, auf diese sonderbare Paarung hin. Man denke etwa an die unheimliche Stimmung beim Absturz eines Passagierflugzeugs; oder an die kaum zu fassende Qualität, wenn man in den Nachrichten den Bericht über einen Bombenanschlag schaut; oder wie es einem kalt über den Rücken läuft, wenn man erfährt, dass ein Familienvater, der ein paar Häuser weiter lebt, seine Frau und Kinder niedergeschossen hat. Diese Eigenschaft kennzeichnet auch individuellere Erlebnisarten der Angst. Man bedenke nur die sonderbare Art, wie sich für die Betroffenen eines persönlichen Notfalls die Welt ändert – ein Kind, das beinahe ertrunken ist; ein geliebter Mensch muss mit dem Rettungswagen ins Krankenhaus gebracht werden; man ist in einem Autounfall mit verwickelt.
Die Wahrnehmung spielt sich über die Sinne ab, die Erkenntnis über den Geist, und Urbilder über die Seele. Da die Kanäle für die Wahrnehmung der Welt sowie für die Erkenntnis andere sind als der Kanal für die seelische Bewusstheit, sind das Wahrnehmen und das Erkennen einigermaßen dazu geeignet, sich der Invasion durch diese Angstbaren Bilder anzupassen. Wir nehmen weiterhin alles Sonstige um uns herum als sicher und beständig und schreiben die zunehmenden Unbeständigkeiten menschlichen Faktoren zu. Wenn zum Beispiel die Straßen einer Stadt Angst bergen, so muss das auf den Drogenhandel, auf die Flucht in die Vororte, auf wirtschaftliche Faktoren oder Gemeinschaftsverlust zurückzuführen sein. Wenn wir von der Angst vor dem Krieg ergriffen werden, so muss das an nationalistischen Impulsen und politischen Konflikten liegen. Sind wir von dem durch Downsizing verursachten, jährlichen Verlust tausender von Arbeitsplätzen stark beunruhigt, so schreiben wir unsere Angst den sich ändernden ökonomischen Umständen zu. Hier gilt die Angst nicht als die urbildliche Macht, welche diese Zerstörungen bewirkt.
Es wäre in der Tat wunderbar befreiend, wenn wir zugeben könnten, dass wir alle eine ungeheure Angst haben. Das wäre der erste Schritt zur Erkenntnis, dass ein gesunder Schrecken der Anfang von Weisheit sein kann. Wenn wir durchschauen, dass wir uns in einer von Angst regierten Welt befinden; wenn wir durchschauen, dass wir ebenso wenig wissen, was da draußen auf uns lauert, wie die frühen Forschungsreisenden wussten, was sie auf der anderen Seite der Weltmeere erwartete – wenn wir das wissen, so können wir beginnen, die Geographie dieser neuen Welt zu erkunden. Lasst uns jetzt einen Blick darauf werfen, was wir bewirken können, wenn wir uns mit dieser entdeckerischen Haltung der Angst nähern.
Angst in der physisch/materiellen Welt
In Träumen vermischen sich Dinge, die in der gewöhnlichen Welt separat bleiben. Die einzelnen Fragmente eines Traums mögen schon einzuordnen sein, aber wenn sie als Gesamtheit auftreten, so erleben wir sie nicht der Logik der natürlichen Welt, sondern einer Bilderlogik gemäß. Vom Traum heißt es, er habe dann eine urbildliche Qualität, wenn ein vorherrschender Wert der Faden ist, der die miteinander sonst unverwandten Bilder durchzieht. Wenn zum Beispiel jemand davon träumt, dass er von der Straße aus in einem Schaufenster eine Aufstellung von Frauen-Badeanzügen sieht und dass gleichzeitig eine schöne Frau vorbeiläuft und Parfümduft verströmt, so ist der Traum Ausdruck der urbildlichen Qualität der Aphrodite. Die Göttin tritt nicht direkt im Traum auf, aber ihre Schönheit und Sinnlichkeit sind im Traumbild als Ganzes Anwesend.
Wenn wir in der physischen Welt Dinge betrachten, die alles andere als schön und sinnlich, sondern eher beängstigend wirken, so mögen diese Dinge disparat und unverwandt scheinen. Dennoch haben Angstbare Ereignisse und Gegenstände eine gemeinsame Ausstrahlung, und wenn wir uns auf diese konzentrieren, so setzen sich die separaten Elemente zu einer gemeinsamen Bilderlandschaft zusammen. So mögen bedeutende Weltenereignisse, die zunächst miteinander unverwandt erscheinen – Atomtests in Frankreich, Indien und Pakistan; eine Ölpest in Alaska; der Smog über Mexico Stadt, Los Angeles oder irgend einer anderen Großstadt auf der Welt; globale Erwärmung; Flutkatastrophen und Erdbeben; Waldbrände –, sich zu einer einheitlichen Imagination zusammenfügen, dass nämlich die Erde von der Angst durchsetzt ist.
Was bewirkt, dass dieses Bild so erschreckend ist? Ich bin zu der Überzeugung gekommen, dass es nicht so sehr ein Angstbarer Präsenz ist, was uns dieses Bild so entsetzlich macht. Das Erschreckende ist vielmehr darauf zurückzuführen, dass dem Bilde etwas fehlt: nämlich die Liebe. Es ist, als wären wir in eine Welt hineinversetzt worden, aus der der fürsorgliche Präsenz der Liebe entfernt wurde und in der das Chaos herrscht. Die Liebe wohnt der Substanz selbst der Materie inne, die Liebe ist es, was die Welt als Ganzes zusammenbindet, zumal als eine Art Anziehungskraft zwischen den Dingen. Zwar sehen wir sie vielleicht nicht, aber sie ist wohl da. Die Liebe ist eine objektive Qualität der Welt. Die Form, welche die Liebe in der Stofflichkeit annimmt, hat mit unseren Gefühlen beziehungsweise unseren Empfindungen nichts zu tun; dennoch ist es durchaus möglich, dass durch das, was wir in Verbindung mit der Welt tun oder lassen, die Liebe verlorengehen kann. Auch in anderer Weise kann man von der Abwesenheit der Liebe sprechen, nämlich als das Fernbleiben gewisser spiritueller Wesen – in den verschiedenen Traditionen als Engel, Elementargeister, Feen oder spirits of place bekannt –, die sich zurückgezogen haben.
Indem die Angst in der Welt die Vorherrschaft gewinnt, verwelkt und stirbt zugleich auch die der Einzelseele innewohnende natürliche Liebe. Der Seele graut vor dem Verlust der eigenen Existenz. Nicht schlimme, abstoßende Bilder sind für die Seele schrecklich. Das Erschreckende ist vielmehr die Aussicht, ohne die Eigenschaft der Liebe existieren zu müssen, denn Liebe ist der Modus der Seele, das eigene Wesen zu erkennen. Im Mythos von Eros und Psyche ist die Gegenwart des Eros das, was Psyche zur Selbsterkenntnis gelangen lässt – das, was Seele sich selbst erkennen lässt. Solche Mythen bergen profunde Wahrheiten. Für die Seele ist das Gefühl der Liebe die Bestätigung der eigenen Existenz. Der so heftige Eintritt der Angst in die physische Welt kommt dem Verlust der Seele gleich. Die Liebe vagabundiert dann verwirrt und ohne jede Ruhestätte herum.
Ist die Aussage denn wirklich gerechtfertigt, dass die Liebe innerhalb der physischen Welt existiert – als Teil der Ozeane und Flüsse, der Luft mit den Nebeln und Wolken, der Erdkruste mit ihren Ebenen, Bergen, Tälern, Felsen, Metallen, Kristallen, Wüsten, Hügeln, Schluchten? Habe ich nicht vielmehr die bloße Sentimentalität eingebracht, um die Gefühle der Leser gefangen zu nehmen? Die physische Welt scheint sich uns mit ihrer Schönheit, Behaglichkeit, Stärke, Festigkeit, Genuss, und Größe immer und ohne Anspruch auf Gegenleistung darzubieten. Sie ist unser Fundament und dient uns in jeglicher Art und Weise. Zwar können wir der Auffassung sein, man müsse eben diese Eigenschaften in rein wissenschaftlicher Art und Weise beschreiben, ohne auf die Sprache der Emotionen zurückzugreifen. Das zu tun verlangt aber, dass man die eigene Seele aus jeglichem handelnden Wahrnehmen der Welt heraushält, dass man die Welt durch die Augen der Naturwissenschaften – und insofern kalt und analytisch – sieht. Die Liebe in der Welt wahrzunehmen heißt aber, die Welt als eine Offenbarung vielfältiger geistiger Gegenwart, als geistige Wesenheiten zu sehen. Das uralte mythische Bewusstsein empfand die Welt als eben eine solche Offenbarung; es gab spirituelle Wesenheiten, die das fließende Wasser der Quellen unterhielten, auch gab es Nymphen der Kavernen und Höhlen und Schutzgeister der Hügel und Berge sowie Geister der Luft.
Eine Rückkehr zu den uralten Bewusstseinsmodi, wo solche Wesen unmittelbar wahrgenommen werden konnten, ist ausgeschlossen; das versteht sich von selbst. Bei dem Begreifen der Gegenwart geistiger Wesen geht es nicht mehr um Wahrnehmungsinhalte, sondern um die Art, wie wir wahrnehmen, sowie darum, die sensorischen und psychischen Handlungen zu durchschauen, welche unsere Verbindung mit der Welt schmieden. Nähern wir uns der Welt in ihrer Eigenschaft als heilig, als sakral, als geweiht, anstatt bloß als eine Ansammlung materieller Gegenstände, so offenbaren sich hintergründigere Eigenschaften. Das Wahrnehmen ist eine moralische Handlung, eine Handlung des sich Hingebens an die Welt, und kein bloß physiologischer, automatisch sich vollziehender Vorgang.[3]
Nehmt an, ich suche einen Mammutbaum-Wald in Nordkalifornien auf. Ich lasse am Rand des Waldes mein Auto stehen und gehe in den Wald hinein. Auf einmal breitet sich eine ungeheure Stille über die Umgebung aus. Sogar die Vögel schweigen. Die Farben – Grün-, Blau-, Rot- und Grautöne – sind weicher und zugleich lebhafter als die Farben außerhalb dieser Landschaft. Meine Partnerin und ich sprechen miteinander und stellen fest, dass wir uns unbeabsichtigt in Flüstertönen unterhalten. Der Ort ist von Heiligkeit durchsetzt; wir spazieren in einem lebendigen Tempel. Es gibt viele Menschen, die eben diese Erfahrung hatten, und sie entspringt einer moralischen Wahrnehmung: Indem wir uns so verhalten, handeln wir in Harmonie mit dem, was uns umgibt. Eine andere Verhaltensweise ist ja auch durchaus möglich. Würden wir aber diese annehmen, so würden die subtilen Wahrnehmungsqualitäten der Umgegend nach und nach verschwinden. Die Existenz der Angst an einem physischen Ort zerstört dessen Sakralität. Es scheint, als wären solche Stätten, die noch immer einen magischen Präsenz verströmen, immer weniger in der Lage, ihre Besonderheit aufrechtzuerhalten. Die Menschen vermögen häufig nicht auf die Heiligkeit eines Ortes wie der Redwood Nationalpark zu antworten. Er wird mit Müll überstreut, oder zertrampelt, oder zum Kahlschlag freigegeben.
Wenn wir voll bei Bewusstsein sein wollen, so müssen wir die moralische Dimension der Wahrnehmung ausbilden. In der gewöhnlichen Sinneserfahrung kommt diese Dimension höchstens als Potential vor; ob wir sie verwirklichen, hängt davon ab, ob wir die Aufgabe der Beseelung der Sinne ergreifen. Von Rudolf Steiner gibt es detaillierte Übungen zur Entwicklung der sittlichen und seelischen Eigenschaften des Wahrnehmens.[4] Diese Übungen offenbaren – vorausgesetzt, sie werden über längere Zeit ausgeführt –, wie die physische Welt von schöpferischen Wesenheiten durchdrungen ist. Steiner regt zum Beispiel an, dass man seine ganze Aufmerksamkeit auf die blaue Weite des Himmels bündelt und dabei alles andere aus dem Bewusstsein ausschließt (alle äußeren Eindrücke, alle Erinnerungen, alle Gedanken), damit sich nach kurzer Zeit eine Seelenstimmung der Andacht einstellt. Diese Stimmung ist kein subjektiver Zustand, sondern eine tatsächliche Wahrnehmung, eine sittliche Wahrnehmung dessen, was in der blauen Weite des Himmels lebt. Steiner schlägt weitere Übungen vor, um vergleichbare Qualitäten wahrzunehmen, die in den Bächen, im Meer, in Wolken und Nebeldunst leben. Wer sich aktiv auf solche Praktiken einlässt, macht die Seele gegenüber den tieferliegenden Eigenschaften der physischen Welt empfindsam und lindert dabei die Angst, denn durch diese Praktiken können wir wieder einmal erleben, wie das Universum mit Liebe erfüllt ist.
Das alltägliche Leben selbst kann der Ort werden, an dem wir die Entwicklung eines moralischen Wahrnehmens erüben können. Wir müssen nur empfänglicher werden und zulassen, dass die Dinge der Welt unser Bewusstsein ganz ausfüllen, und dabei das mutwillige Sicheinmischen unseres Denkens in die Umgebung unterbinden. Dadurch kommt allmählich – in Begleitung mit dem, was wir wahrnehmen – eine Seelenstimmung der Heiligkeit immer stärker zum Vorschein. Mit den so entwickelten Fähigkeiten der Seele die Welt zu sehen, offenbart nicht nur das in ihr Vorhandene; es bittet auch die spirituellen Wesenheiten wieder herein, die sich vor unserer wortwörtlichen Blickweise auf die Welt zurückgezogen hatten.
Wir brauchen zur Begleitung der physischen Umweltschutz eine Ökologie der Seele. Unsere Sorge muss nicht nur den Bäumen, den Seen und den Pflanzen gelten, sondern auch deren Elementargeistern. Das Wahrnehmungsorgan für diese unsichtbaren Wesen ist die Seele. Die Fähigkeiten der Seele müssen wir erst aktivieren, indem jeder Mensch die ihm innewohnende schöpferische Macht der Liebe ortet. Für jetzt gilt es, diese Macht aus reiner Willensanstrengung von innen her in uns zu erschaffen. Der Wille zum Lieben wohnt den tiefsten Tiefen der Seele inne, und diese Seelenmacht kann nur jeder einzelne Mensch in der eigenen Seele auftun. Sie tritt häufig nur in unseren finstersten Augenblicken hervor, dann nämlich, wenn alles andere abgestreift wurde. Bei diesem Verlangen handelt es sich nicht um eine Liebe für dieses oder jenes; es ist bar jedes Inhalts, bar jedes Gegenstands, es ist ein reiner Glanz inmitten der Finsternis.
Angst in den Lebensprozessen
Es ist nicht zu übersehen, dass die Lebensformen der Naturwelt bedroht sind. Die Beispiele davon können überwältigend sein – sind sie doch so groß und alles durchdringend, dass wir ihnen gegenüber das lähmende Gefühl bekommen, als könnten wir nichts gegen sie ausrichten. Die Radioaktivität stellt weiterhin eine Gefahr für alle Lebensformen dar; chemische Pestizide und Dünger werden in der Landwirtschaft fast universell verwendet; künstliche Hormone führen bei Kühen zur Überproduktion von Milch. Wenn ich diese Gefahren nenne, so geht es mir nicht darum, eine Betäubung zu verursachen, sondern auf das Ausmaß der Häufung von Ängsten um die verschiedenen Lebensformen herum aufmerksam zu machen. Eine solche Diagnose muss sein, sonst können wir nicht in rechter Weise auf die Gefahren eingehen.
Im Leben der Seele passiert nichts was nicht auf die Lebensprozesse des Leibes übertragen würde und diese als sympathisches Mitschwingen durchzieht.
Ein primärer Lebensvorgang ist die Atmung, welche das Leben im Innern des Leibs von außen her unterstützt. Hier geht es nicht nur um die Atmung beim Menschen; es geht um jegliche Wechselwirkung zwischen einem Lebewesen und der dieses Wesen umgebenden Luft. Ein zweiter Lebensvorgang ist die der Wärmung, welche im lebendigen Leib eine so konstante wie lebensnotwendige Temperatur aufrechterhält. Ein weiterer Lebensvorgang ist die Ernährung. Die Ernährung ermöglicht das Ersetzen der vom Leib verbrauchten Substanzen ersetzt. Ein anderer Lebensprozess ist die Absonderung, ohne die das Essen und Verdauen nicht funktionieren würden. Ein fünfter Vorgang ist die Erhaltung der Nährstoffe so, dass sie zum Aufbau des physischen Leibes dienen können. Ein sechster Lebensprozess ist der des Wachstums, und der letzte ist die Reproduktion (Hervorbringung).[5] Diese Lebensvorgänge sind zwar sehr unterschiedlich je nachdem, ob es sich um Einzeller, Pflanzen, Tiere oder Menschen handelt; aber wo immer sich das Leben äußert, treten sie auf. Alle diese biologischen Handlungen, sowohl individuell als auch als Gesamtheit, schwimmen nunmehr in einem Meer der Angst.
Man könnte meinen, die Angst im Bereich der Lebensprozesse wäre leichter verständlich als die Angst in der physischen Welt; aber das Gegenteil ist der Fall. Hier wird die Angst plötzlich zu einem Teil von uns, ohne jede Trennung, die sie als „dort drüben“ im Gegensatz zu uns „hier“ kennzeichnet. Es tritt da eine Angst ein, die so intensiv ist, dass sie nur kurze Zeit auszuhalten ist. Ein unheimliches Gefühl überkommt uns, wenn wir den Grad bedenken, bis zu welcher unsere Leiber in einer vergifteten Umwelt existieren. Es ergreift uns ein intensives Bedürfnis, in Kontrolle zu sein, und genau dort ist es, wo uns die Angst in dieser Domäne zuvorzukommen scheint. Wir sind nämlich bemüht, alle diese Dinge in den Blick zu bekommen, um ein Mindestmaß an Kontrolle zu gewinnen; dabei schließen wir eigentlich die Augen vor ihnen. Eine allerdings illusorische Kontrolle gewinnen wir dadurch, dass wir so tun, als hätten solche Dinge keine Wirkung auf uns, da wir keine physische Empfindung von ihnen haben. Oder aber wir werden skeptisch: Wo ist der Beweis, dass diese Faktoren auch wirklich schädlich sind? Oder wir werden zynisch und wütend im Gefühl, dass nichts getan werden kann.
Wenn wir innehalten und kurz nachdenken, kann uns die Frage kommen: Wie ist es überhaupt möglich, dass die alle Lebensformen durchsetzende Radioaktivität, die vielfältigen, in unseren Lebensmitteln enthaltenen chemischen Giftstoffe, die Wissenschaftler, die daran arbeiten, uns auf Reihen von Biochemikalien zu reduzieren – dass das alles kein unablässiges Entsetzen in uns auslösen sollte? Diese Art der Angst bietet die Illusion, dass wir jegliche durch technische Errungenschaften ausgelösten schlimmen Auswirkungen in den Griff bekommen könnten. Wir geraten in den Bann einer Scheinmacht: Uns ist, als würde die Angst uns zuraunen, sie werde uns Macht über die Welt erteilen, wenn wir nur zulassen, dass sie über uns die Kontrolle hat. Auch will sie uns glauben lassen, dass diese Kontrolle förderlich sei.
Wenn zum Beispiel der Erbfaktor gefunden werden könnte, der eine bestimmte geistige Behinderung regelt, so wäre die Kontrolle über dieses Übel gewonnen. Die Möglichkeit aber, dass diese Behinderung auf die allmähliche, wegen der Verwendung von Kunstdünger verursachte Qualitätsveränderung eines bestimmten Lebensmittels zurückzuführen ist, wird vollkommen übersehen. So wird der Angst nicht nur die Grundlage in der Welt nicht entzogen; sondern je mehr unsere Kontrollfähigkeit uns zum Faszinosum wird und je mehr wir vergessen, weshalb wir diese Macht überhaupt erst angestrebt hatten, umso freier ist sie, sich in der Welt auszubreiten.
Ein anderes Beispiel: Die Verbreitung elektronischer Technik bietet uns die Kontrolle über die Information. Das scheint eine gute Sache zu sein. Kaum beachtet wird allerdings die Möglichkeit, dass die Augen durch die vom Computerschirm ausgehenden Strahlen arg beschädigten werden. Eine solche Folge wird vermutlich erst nach Generationen an den Tag treten, und bis dahin wird man das Gen entdeckt haben, das zur Bekämpfung der negativen Auswirkungen dieser Schäden entsprechend manipuliert werden kann. Da diese Auswirkungen so subtil sind, dass sie sich erst nach Generationen zeigen, haben diejenigen, die vor heutigen technischen Errungenschaften warnen, keine Möglichkeit, ihre Behauptungen zu beweisen. Solchen Menschen wird vorgehalten, dass sie den Fortschritt aufhalten wollen.
Indem in dieser Weise auf die Lebensvorgänge der Welt störend eingewirkt wird und die Lebenskräfte des menschlichen Leibes abgebaut werden, findet eine Zerrüttung der lebendigen Beziehung zwischen der vitalen Naturwelt und dem Kosmos statt. Das Pflanzenleben etwa fängt an, sich vom Himmel, von den Wolken, der Sonne, dem Mond, dem Regen, sogar den Planeten und den Sternen zu verselbständigen. Das organische Leben entkoppelt sich von den Bedingungen des Kosmos. Die Natur wird zur Unternatur, zum fragmentierten Vorgang, der nur noch den Anschein eines Ganzen, Integralen hat. Das Pflanzenwachstum scheint ausschließlich von den Bedingungen des Erdbodens – also von chemischen Düngemitteln abzuhängen; dabei besteht das gesunde Pflanzenleben in dem ineinandergreifenden Verhältnis des Bodens, der Luft, des Wassers, des Lichtes, der Erdatmosphäre, ja sogar der Position der Sonne, des Mondes und der Planeten zueinander. Da auch der menschliche Leib an den Lebensprozessen der Welt teilhat, wird mit dem Stören dieser Prozesse sogar dieser vom Leben des Kosmos abgetrennt. Diese Abtrennung erleben wir als Angst.
Elektromagnetische Energie fördert die Devitalisierung der organischen Welt sowie der Lebensprozesse des Leibes. Es gibt viele Hinweise darauf, dass Krankheiten wie der Krebs und Leukämie dem Ausgesetztsein elektrischer Felder entstammen. Bauern in Wisconsin/USA und an anderen Orten berichten, wie die Milcherzeugung in Kühen durch Stromleitungen schwer beeinträchtigt wird, die über landwirtschaftliche Flächen geleitet werden; diese Beobachtung wird durch die Stromkonzernen vehement abgestritten. Elektrische Energie wird inzwischen in das Weltall hinausgeschleudert, mit wer weiß was für Langzeit-Auswirkungen.
Man kommt nicht darum herum, an dieser tödlichen Falle teilzunehmen. Auch wenn ich mich ausschließlich mit Bio-Produkten ernähre, das Fernsehen, das Internet, die Handys meide, bin ich von dem Druck und den Auswirkungen des modernen Lebens keineswegs ausgeschlossen. Das einzige, was hilft, ist die Bewusstheit. Die Pflege eines Bewusstseins unserer Lage ist der erste Schritt aus der Angst heraus. Und erst wenn wir aufhören, die Gefahren der Welt zu verdrängen, wird ein weiterer Schritt möglich: die Erkenntnis, die einem dann zuteil wird, wenn man sich über die Seele mit den Reichen der Angst auseinandersetzt. Um einen echten – also nicht im obigen Sinne illusorischen – Modus finden zu können, in dem man von der Angst frei sein kann, muss man sich mit den Faktoren des Seelenlebens konkret auseinandersetzen, welche die Angst ausgleichen können.
Um das Neueinschalten des Seelenlebens zu üben, nehme man eine kleine Topfpflanze. Man sehe sich diese gründlich an, indem man alle ihre Details, aber auch ihre Form als Ganzes betrachtet. Dann schließe man die Augen und mache ein exaktes inneres Bild der Pflanze. Man baue dieses Bild Teil für Teil auf. Schließt man die Augen und versucht man, von der ganzen Pflanze auf einmal ein inneres Bild zu machen, so wird daraus kein genaues Bild, sondern entweder eine abstrakte Idee oder eine undeutliche Erinnerung dessen, was du gesehen hast. Stattdessen schließe deine Augen und baue den Stiel und ein Blatt auf. Dann öffne deine Augen und schaue noch einmal hin. Wenn du die Augen wieder zumachst, füge das nächste Blatt der Pflanze hinzu. Fahre so fort, bis das vollständige Bild zusammengesetzt wurde. Selbstverständlich muss man jegliche anderen Bilder bzw. Gedanken loslassen, die eindringen wollen. Ist das Bild einmal aufgebaut, halte es eine kurze Zeit fest, um es zu stabilisieren. Lasse es nicht verblassen oder andere Eigenschaften annehmen oder sich in etwas anderes verwandeln. Vor deinem inneren Auge beginne als Nächstes, das Pflanzenbild auseinanderzubauen, indem du eins nach dem anderen jedes Blatt entfernst, mit dem zuletzt hinzugefügten angefangen und in umgekehrter Reihenfolge weitermachend. Wenn alle Blätter entfernt worden sind, entferne den Stiel. An dieser Stelle entsteht eine Leere. Halte diese Leere für ein paar Augenblicke fest und lausche in sie hinein.
Die Leere bleibt nicht inhaltslos. Es entsteht eine Art Empfindung des Kraftfeldes der Pflanze, die manchmal die Gestalt sich bewegender Lichtstrahlen annimmt. Es ist, wie wenn man im ganzen Umfeld die unsichtbaren Kräfte fühlen könnte, die die Gestalt dieser besonderen Pflanze erschaffen. Von dieser Gefühls-Eigenschaft ist die Lebenskraft der Pflanze gekennzeichnet.[6]
Eine kleine Handlung wie diese, welche täglich ein paar Minuten ausgeführt wird, bildet die imaginative Fähigkeit der Seele so aus, dass sie vor der Fülle der Lebensgestalten bewusst anwesend sein kann. Wer so übt, wird bemerken, wie die unmittelbare Wahrnehmung der äußeren Welt sich zu verändern beginnt. Man wird die Details, deren Nuancen, deren Subtilitäten gewahr, als würde man sie zum ersten Mal sehen. Die Farben erscheinen weniger grell, was auf eine erhöhte Sensibilität gegenüber dem Spiel von Licht und Schatten zurückzuführen ist. Die Gestalten verschiedener Pflanzen werden in neuer Weise gesehen. Die Geste der Blätter der einen Pflanze sind dem Himmel geöffnet, ähnlich einer hingehaltenen Handfläche. Die Blätter einer anderen Pflanze ähneln Hände, die zu einer Geste des Gebets zusammengefaltet sind, während eine andere Pflanze mit ihren Blättern nach unten greift, wie wenn sie die Erde loben würde. Die Bäume werden als majestätische Säulen der Kraft gesehen, die zugleich himmelwärts und auch tief in die Erde hinein reichen und dabei die Luft oben und das Erdreich unten vereint. Das Leben wird weniger abstrakt und mehr zu einer lebendigen Wirklichkeit, die direkt wahrzunehmen ist. Es ist, wie wenn etwas der Welt wieder zurückgegeben, hinzugefügt worden wäre. Hier wird nicht projiziert; es wird vielmehr das gesehen, was wirklich da ist, da wir uns diesem wirklich da Seienden mit den angemessenen Fähigkeiten nähern. Wenn die Seele von der Wahrnehmung ausgeschlossen wird, sehen wir die Dinge nur teilweise.
Die Imagination ist kein bloß subjektiver Zustand, sondern eine reelle Kraft. Wesentlicher noch: sie ist eine moralische Kraft. Indem wir beginnen, aus der Verbindung unserer Imagination zur äußeren Welt heraus zu handeln, vermindert sich die Angst, weil wir den Lebensformen das zurückgeben, was ihnen weggenommen worden war. Wir erkennen, dass dies aus dem Grund stattfindet, weil der Grad unserer eigenen Angst und Angst allmählich abnimmt. Unsere Kapazität zur bewussten Imagination ist, sofern sie mit der Welt vereint ist, ein Primärwerkzeug zur Überwindung der Angst.
Angst in der Gefühlswelt
Eine dritte Sphäre, die von der Angst befallen ist, ist die Welt des Fühlens. Das Hauptindiz dafür, dass unsere Gefühlswelt zerspalten ist, ist die Art, wir das Fühlen betrachten. Gegenwärtig sehen wir das Fühlen als unser Eigentum an: Ich habe meine Gefühle mit Bezug auf dies oder das, und diese Gefühle gehören alle mir. Indem wir unsere Gefühle personalisiert haben, haben wir einen Bereich personalisiert, der rechtmäßig mit der umgebenden Welt zusammengehört. In dem Maße, in dem das Element des Gefühls aus seiner fortdauernden, sinnlichen, verkörperten Beziehung mit der Welt herausgezerrt wird, wird das Bedürfnis zu fühlen entweder zu einer Sucht, oder das Fühlen entschwindet ganz. Dann wird sich normalerweise das Fühlen in irgend einem Symptom entladen, wie etwa schwere Depressionen oder Ausbrüche unkontrollierbarer Wut.
Die Subjektivierung des Fühlens weist auf eine Weltflucht hin, die durch den umfassenden Eintritt der Angst in die Gefühlswelt ausgelöst wurde. Ist unsere gefühlsmäßige Teilnahme an der Welt zerrüttet, so kommt uns das Fühlen wie ein quantifizierbares Gut vor. Es werden uns „Designer“-Gefühle zugeteilt, das sind vorprogrammierte Empfindungen, die eine Verbindung unsererseits zur sinnlichen Welt simulieren sollen, die aber in der Regel weit intensiver sind, als bei einer echten Verbindung mit der Welt. Wir gehen ins Kino und sind zu Tränen gerührt, lachen, empfinden Freude, Traurigkeit, Ekel, Wut, erotische Regungen. Wir hören Musik, die in chaotischer Weise die Emotionen aufwühlt. Wir werden durch Werbung in solcher Weise attackiert, dass wir uns einbilden, wir könnten mit dem Beworbenen Produkt bestimmte Gefühlslagen kaufen. „Fühl-Pakete“ können in Form von Drogen käuflich erworben werden. Die Pornographie ist zur Erregung jeglicher sexuellen Gefühle erhältlich. Psychotherapien sind erhältlich, damit wir nicht die Welt, sondern unsere Gefühle fühlen.
Die Angst, die diesen Arten von Weltflucht innewohnt, ist auf die Verwechslung des Fühlens mit der Empfindung zurückzuführen. Gefühle sind keine Empfindungen. Dadurch, dass das Fühlen Quantifiziert wird, wird die Alltagswelt sensationalisiert und werden spirituelle Eigenschaften in materialistische gewandelt. Wir suchen zwar das Fühlen, bekommen aber stattdessen Effekte, einen Quick-Fix – ob im Heavy-Metal-Konzert oder im Kino, ob in einem Joint oder durch Calvin Klein entwickelt, ob im Videoladen oder in einer Selbsthilfegruppe oder mit Fast Food. An der Oberfläche wirkt das alles wie Vergnügungen, aber das Element der Angst dabei ist unschwer zu entdecken.
Die Angst lebt inmitten solcher Empfindungen wie ein beständiges Gefühl der Nicht-Sesshaftigkeit und der Nicht-Erfüllung, dann später als eine abtötende Leere, da man sich von der Erfahrung zurückgezogen hat. Das Erlebnis dieser Leere reicht von einem vagen, nicht zu ortenden, nagenden Präsenz bis hin zu einer rauhen, kalten schaudernden Angst. Zwar mag es den Anschein haben, als würde diese erschreckende Leere von der Abwesenheit der gewünschten Empfindung herstammen, aber eigentlich ist sie ein der Empfindung selbst innewohnender Anteil; nur dass sie gewöhnlich durch die physiologische Erregung getarnt wird, welche als ein Fühlen durchgeht. Mit anderen Worten ist unsere Gefühlsbeziehung zur Welt durch eine gesteigerte Erfahrung der eigenen biologischen Tätigkeit ersetzt worden.
Indem das Gefühlsleben zu einer Ansammlung von Empfindungen zerfällt, wird das Leben der Sinne überwältigt und aus dem Gleichgewicht geworfen. Eine weitere Dimension der Angst tritt durch diese Reizüberflutung auf, da bestimmte Sinne ständig gereizt werden, während andere völligt vernachlässigt. Diejenigen Sinne, die uns die unmittelbarste Erfahrung der Welt vermitteln – der Tastsinn, der Bewegungssinn, der Gleichgewichtssinn – haben die Tendenz, überreizt zu sein. Die Überwältigung dieser Sinne führt zu einer Lähmung des Willens; wir vermögen nicht, uns in harmonischer Weise zu bewegen; wir fühlen uns, als würden wir bedrängt und herumgeschubst. Sind die Sinne, die uns mit der Umwelt verbinden – der Sehsinn, der Geruchssinn, der Wärmesinn, der Geschmackssinn, der Hörsinn – überreitz, so kommt uns die Fähigkeit abhanden, die Seelenqualitäten der Dinge der Welt zu erfahren. Über diesen Sinnen hinaus liegen sogar noch subtilere Sinne: der eine, der mit dem Empfinden der Sprachqualitäten zu tun hat, und ein weiterer, der mit dem direkten Wahrnehmen der Seelenqualitäten anderer Menschen zu tun hat. Oftmals sind diese Sinne erst recht vollkommen überwältigt, bis dahin, dass die meisten Menschen nicht einmal merken, dass sie solche Sinne überhaupt haben.
Der Schrecken, soviel unseres Lebens in Empfindungen zu investieren, manifestiert als Zwangserkrankung, da wir ohne das Fühlen nicht leben können. Wenn es nicht greifbar ist als fortdauernde Beziehung zu den Seelenqualitäten der Welt, dann werden deren Surrogate mit einer solchen Macht gesucht, dass diese durch nichts aufzuhalten sind. Die Entsetzlichkeit der Zwangserkrankung ist, dass sie sich zwar für kurze Zeit stillen, aber nie für immer auflösen lässt.[7] Die Befriedigung eines Drangs ergibt nicht Bewusstheit, sondern das genaue Gegenteil, nämlich die Herabdämpfung des Bewusstseins zu einer Art wachenden Traumzustandes. Werde ich durch jemanden besessen und kann ohne diesen Menschen nicht leben, so geht aus der Gegenwart dieser Person nicht etwa eine bewusste Beziehung hervor, sondern nur ein vorübergehendes Eingelulltsein und ein Vergessen meines Verlangens. Wenn es so ist, dass diese Person anwesend sein muss, damit ich mich wohl fühlen kann, so kann es durchaus sein, dass deren Gegenwart mich für eine Weile beruhigt. Aber diese Empfindung wird abnehmen, und egal was die Person tut, werde ich mich beklagen, dass sie auch dann nicht wirklich anwesend ist, wenn sie ganz in der Nähe ist, denn mein seelisches Fühlen ist betäubt. Werde ich von dem Shoppen besessen, so macht es mich weniger bewusst, wenn ich dem Drang nachgebe. Noch einmal: Die Empfindung des Einkaufens und des Habens mag zwar kurzfristig beruhigen, aber bei dieser Empfindung handelt es sich nicht um ein reelles Fühlen, sondern sie hängt von der Gegenwart eines physischen Gegenstands ab.
Gefälschtes Fühlen ergibt sich aus dem Glauben, dass die Ereignisse, Substanzen oder Waren wundersame Zustande in uns erzeugen könnten. Es ermöglicht auch dann eine Zufriedenheit, ein Behagen, wenn ich seelisch doch nicht zufrieden bin; auch dann ein Empfinden der Wärme, wenn ich nicht daran gearbeitet habe, in meine Beziehungen Wärme hineinzubringen; auch dann eine Empfindung der Transzendenz, wenn ich weiter nichts tue, als meine Sinne zu überreizen. Wenn zum Beispiel die Musik durch elektronische Mittel erheblich verstärkt wird, so wirken die Schwingungen bis ins Fleisch und bis in die Knochen hinein, sodass die Musik handgreiflich wird und ich sie als Tastempfindung erlebe. Wenn Licht und Farbe sehr gesteigert werden, wie dies in manchen Filmen vorkommt, so ist es, wie wenn man in Farbe eingetaucht ist und man sie sowohl spüren als auch sehen kann. Diese Art Synästhesie ist eine vorrationale Erfahrung und ähnelt dem Erleben eines Neugeborenen noch bevor die Trennung der Sinne vollzogen wird. Diese vorrationale Erfahrung wird mit spiritueller Erfahrung verwechselt, ist aber keine.[8] Weil uns leicht zu erreichende, Synästhesie-artige Erfahrungen für Augenblicke aus dem trockenen, rationalistischen Denken unserer abstrakten Kultur hinausführen, wirken sie wie transzendente Erlebnisse auf uns. Sie sind aber das genaue Gegenteil.
Wie können wir die Allgegenwart der Angst ausgleichen, welche in die Welt des Fühlens eingedrungen ist? Es mag überraschen, dass der Kern dieses Problems, das ein gefühlsbezogener ist, in der Art und Weise liegt, wie wir die Welt erkennen. Wir sind nicht in der Lage, in gesunder Weise zu fühlen, da unser Erkennen zerrüttet ist. Das Fühlen hat stets einen Erkenntnis-Aspekt; die Gefühle sind Modi des Erkennens, sind ein erkennen durch die Seele.[9] Den Empfindungen aber geht die innere Reflektiertheit des Fühlens ab. Wenn nicht schon in der Erkenntnis ein Element des Fühlens enthalten ist, wird jegliche Bewegung in Richtung des Fühlens durch ein nichtreflexives Empfinden verfinstert. Die Erkenntnis sollte mit einer theosophischen Vorstellung der Welt beginnen – mit einer Vorstellung der Welt als Offenbarung der geistigen Welten. Solange wir die Welt nur als materialle Hülsen ansehen, zentriert unser Erkenntnismodus in etwas Totem: in abstrakten Denken. Wenn aber die Welt das Wirken geistiger Wesen offenbart – wenn jeder Fels, jeder Baum, jedes Tier eine lebendige Zusammsetzung von Geist und Stoff, Leben und Tod, von kalt und warm, von süß und bitter ist – so befindet sich das Fühlen im Herzen selbst der Welt. Die fundamentale Eigenschaft innerhalb der Welt, von der alle anderen Gefühle wie Äste eines großen Baums ausgehen, ist: EhrAngst. Anstatt also, dass wir die Welt als toten Stoff, als Atome, elektrische Teilchen konzipieren, wollen wir sie uns vielmehr als einverleibte Seele vorstellen.
In der Kampfarena unserer Begierden und Triebe fehlt in der Tendenz sehr oft die Empfänglichkeit. Das Greifen, das Habenwollen, das Nötighaben sind so stark, dass die Geduld, das Abwarten und das Geschehen-Lassen kaum zu fühlen sind – es sei denn, man pflegt sie bewusst. Ein solches Gleichgewicht kann man durchaus allmählich erlangen, indem man, während man die äußere Welt beobachtet, in sich eine innere Ruhe sich entfalten lässt. Diese Art der Beobachtung ist keine wissenschaftlich distanzierte, sondern ein mit Wärme erfülltes Interesse. In der wissenschaftlichen Beobachtung pflegt man einen asketischen Umgang mit der Welt, bei dem man jegliche Emotion beiseite lässt, die die eigene Objektivität stören könnte. In einem Erkennen, das zu gleicher Zeit auch ein Fühlen ist, setzt man das Verlangen und den Instinkt in Beziehung zu dem, was man gerade beobachtet – allerdings nicht in der verstörenden Art und Weise, wie sie für Gewöhnlich durch uns hindurch poltern. Solches Poltern des Verlangens und der Instinkte bringt man durch meditative Konzentration zur Ruhe; dadurch, dass man lernt, in sich selbst still zu sein. Die Begierde und der Instinkt wandeln sich nach und nach in Interesse um. In der Sprache der Psychologie könnten wir sagen: Das Libido strömt frei in die Welt hinein, anstatt dass es nach innen gewendet wird, wo es ein von der Welt entkoppeltes Selbstgefühl und aber auch das Bedürfnis erzeugt, die von ihm selbst erzeugten Störungen aufzulösen.
Wenn wir uns die Welt mit Distanz ansehen, wird das Emotionsleben zurückgestaut. Während es die Illusion erzeugt, dass das Fühlen unser Eigentum ist, produziert es auch Grausamkeit. Auch die scheinbar zärtlichsten Gefühlsäußerungen – wie etwa ein Impuls, jemanden zu trösten oder ihn liebevoll zu behandeln – können von einer Sekunde auf die andere in Gewalt umschlagen, wenn sie nicht einer fortdauernden Beziehung zur Welt entspringen, sondern aus aufgewühlten Instinkten und Leidenschaften hervorgehen.
Wie ist es möglich, eine Beziehung herzustellen zwischen dem Warten, der Geduld, der Empfänglichkeit einerseits und dem Drängen der Instinkte und der Leidenschaften andererseits, wenn wir scheinbar gar keine Kontrolle haben über diese letzteren, unterbewussten Aspekte unseres Seins? Direkt lässt sich soetwas nicht machen. Ich kann nicht willentlich meine Begierden in ein bewusstes Verhältnis zur Welt setzen. Wohl haben wir etwas Kontrolle über unsere Gedanken. Wir können uns geistig mit reinen Ideen beschäftigen. Wir können lesen und über Dinge meditieren, die einen spirituellen Nährwert haben und uns inspirieren. Wir können die Werke der großen Meister und Heiligen, die vor uns den Pfad gegangen sind, lesen und kontemplieren, um zu einem Verständnis der Art zu gelangen, wie sie sich die schwierigen Angelegenheiten stellten, welche wir hier betrachtet haben. In einer solchen kontemplativen Arbeit gewinnen wir nicht nur Erkenntnis und Verständnis, sondern wir empfinden auch direkt und greifbar, wie uns von denjenigen Hilfe zuteil wird, die vor uns gerungen und überwunden haben. Uns inspiriert eine innere Stärke über das hinaus, was wir rein aus eigenen Kräften hätten aufbringen können. Solche Gedanken wirken dann indirekt im Reich unserer Instinkte und Leidenschaften, diese läuternd. Auch können wir, wenn auch nur in kleiner Weise, auf das Wohl anderer hin arbeiten, anstatt immer bemüht zu sein, uns selbst zu zufriedenzustellen. In dieser Weise werden indirekt die Leidenschaft und der Instinkt umgewandelt. Vernichtet werden sie nicht, auch unterdrückt werden sie nicht, sondern sie werden das Vehikel und das Medium zum Fühlen, wie man sich handelnd mit der Welt verbindet.
[1] Siehe Walter Enloe und Randy Morris, Encounters with Hiroshima, (St. Paul, MN: Hamline University Press, 1998), and Michael Perlman, Hiroshima forever: The Ecology of Mourning (Barrytown, NY, Station Hill Arts, 1995).
[2] James Hillman, Pan and the Nightmare (Dallas: Spring Publications, 1965).
[3] Theodore Rosyak, Mary E. Gomes, Allen D. Kanner (Red.), Ecopsychology: Restoring the Earth, Healing the Mind (San Francisco: Sierra Club Books, 1995).
[4] Rudolf Steiner, Geistige Hierarchien und ihre Widerspiegelung in der physischen Welt (GA 110), Rudolf Steiner Nachlassverwaltung.
[5] Siehe Rudolf Steiner, Anthroposophie (Ein Fragment), Verlag der Rudolf Steiner- Nachlassverwaltung Dornach/Schweiz (GA 45).
[6] Diese Übung ist von einer Übung aus Dennis Klocek, Seeking Spirit Vision (Fair Oaks, CA: Rudolf Steiner college Press, 1998) abgewandelt.
[7] Diese Sichtweise der Zwangserkrankung stammt von Arthur Guirdham, Obsession: psychic forces and evil in the causation of disease (Essex, England: C.W. Daniel, 1971).
[8] Kevin T. Dann, Bright Colors Falsely Seen: Synaesthesia and the Search for Transcendental Knowledge (New Haven: Yale University Press, 1998).
[9] James Hillman und Marie-Louise Von Franz, Lectures on Jung’s Typology: The Inferior Function and the Feeling Function (Dallas: Spring Publications, 1971).
Bis vor kurzer Zeit gab es eine Schwelle zwischen der Welt, wie wir sie alltäglich erleben und den Welten der Angst. Ich selbst gebe den 6. August 1945 um 08.15 Uhr als das Datum der Wende an: den Augenblick der Detonation der Atombombe über Hiroshima. Seit diesem Moment existiert keine Schwelle mehr, es ist, wie wenn der Wolkenpilz sich über die ganze Erde hin ausgebreitet und sich für immer dort eingelebt hätte.[1] Die Bombe hat eine radikale Trennung zwischen uns und der Welt bewiesen: Sie hat unsere Absage an die Welt als heiligen Ort verkündet. Die Angst hatte allerdings schon vor dieser Zeit existiert. Aber aufgrund der Gesetzgebung und der religiösen Sensibilität von damals, auch der damaligen Möglichkeiten der psychiatrischen Therapie sowie des politischen Verhandelns, nicht zuletzt wegen der schieren Verdrängung schienen diese Ängste kontrollierbar zu sein. Zwar hatte das Auftreten eines Hitlers diese Lage maßgeblich mit vorbereitet, aber nie zuvor war die Angst derart gefördert worden, so deutlich ins volle Licht zu treten, wie beim Abwurf der ersten Atombombe. Es geht nicht darum, ob in der heutigen Welt mehr Schrecken besteht als früher; wahrscheinlich ist das nicht der Fall. Aber noch nie zuvor hat sie so abgetrennt von einem Verständnis des Kosmos als Heiligtum existiert.
Die Gegenwart der Angst ist viel größer und umfangreicher als bisher angenommen. Schon die therapeutisch ausgerichtete Psychologie des neunzehnten Jahrhunderts suchte Symptome zu identifizieren, die diesem Phänomen verwandt sind. Einige der Arten der Angst, die da erkannt wurden, sind
- die Hysterie, hinter der immer irgendein (ob echtes oder nur eingebildetes) Trauma steckt;
- die Kriegsneurose, welche heute als posttraumatische Stressbelastung bekannt ist und erstmalig nach dem ersten Weltkrieg erforscht wurde;
- Missbrauch und häusliche Gewalt;
- die Angst vor Naturkatastrophen wie etwa Erdbeben, Hurrikanen, Tornados oder Bränden;
- individuelle Phobien wie etwa Panikattacken, Ängste und Zwangsstörungen.
Die Wirklichkeit der Angst ist aber viel breiter gefächert. Eine therapeutische Behandlung von Trauma-Opfern tut nur wenig, um die größere Anwesenheit der Angst in der Welt aufzuhalten. Das Ziel dieses Buches ist, das Bewusstsein zu erhöhen hinsichtlich dessen, womit wir es zu tun haben, und zu erkennen, dass verschiedene Arten der Angst verschiedene Seelenfähigkeiten erfordern, um jene zu überwinden. Was Not tut ist nicht, die Angst aus der Welt zu schaffen, sondern in uns die psychische Fähigkeit zu entwickeln, ihrer zerstörerischen Gewalt zu begegnen. In diesem Reich kommt alles auf Bewusstsein in Verbindung mit Liebe an. Eine Bewusstseinserweiterung, die ein Gewahrwerden der Seele mit umfasst, ermöglicht ein heilvolles Ringen mit der Angst; und die Liebe ermöglicht eine Umwandlung, die sich nicht nur in uns selbst, sondern auch draußen in der Welt vollzieht.
Man kann zwischen den persönlichen Dimensionen der Angst und der Erscheinung der Angst als urbildliche Realität unterscheiden. Hat man etwa wegen des Wütens von Verbrecherbanden in der Nachbarschaft Angst, abends auf die Straße zu gehen, so ist diese Emotion eine persönliche Reaktion. Sowohl der therapeutische Ansatz der Psychologie nach C. G. Jung, als auch der archetypal psychology des James Hillman streben einen tieferen Einblick in dieses Doppel-Phänomen an, indem sie das Urbild suchen, das hinter dieser persönlichen Reaktion liegt. In der griechischen Mythologie zum Beispiel ist Phobos der Gott der Angst und Pan der Gott der Panik. Jung und seine Nachfolger würden darin einer Meinung sein, dass das Zurückschrecken vor einer finsteren Gestalt, die bei Nacht auf einen zu rennt, auf die Gegenwart des Phobos oder des Pan oder eines anderen Gottes zurückzuführen sei – wobei diese Götter nicht in der eigentlichen Welt, sondern in der Seele beziehungsweise in der Psyche zu finden sind.[2] Die Psychologie Jungs hat zur Erkenntnis des objektiven Charakters der Psyche unschätzbar Wertvolles beigetragen. Ihrer Auffassung nach entstammen unsere subjektiven inneren Zustände einer vermittelnden Tätigkeit der Seele, welche ununterbrochen Urbilder zum Ausdruck bringt.
Heute aber umfasst die psychische Realität sowohl innere Zustände als auch die äußere Welt, und die Fähigkeit, in Urbildern zu denken, ist inzwischen zu einem Teil der Welt geworden. Was diese Urbilder in unsere Alltagserlebnisse hineingebracht hat, das ist die Aufhebung der Schranke zwischen der Welt und dem Vorhandensein der Angst in ihr. In der Vergangenheit hat sich diese Aufhebung nur in unseren finstersten Träumen sowie auch in pathologischen Zuständen ereignet. Heutzutage ist es so, als würden wir unser Wachleben in einer Art Traumwelt verbringen. Denn Urbilder flößen uns zwar nicht immer Angst ein, aber Angstbare Bilder scheinen durchaus die Kraft zu besitzen, über innere psychische Erlebnisse hinaus in der Außenwelt aufzutreten.
Einzelne Vorkommnisse dieses Ineinanderfließens unserer alltäglichen Wirklichkeit mit einer mehr Angstgeladenen imaginalen Welt sind so allgegenwärtig, dass wir das Eintreten dieser Vereinigung kaum bemerkt haben. Und doch weist der surreale Charakter, der mit solchen Angstbaren Ereignissen auftritt, auf diese sonderbare Paarung hin. Man denke etwa an die unheimliche Stimmung beim Absturz eines Passagierflugzeugs; oder an die kaum zu fassende Qualität, wenn man in den Nachrichten den Bericht über einen Bombenanschlag schaut; oder wie es einem kalt über den Rücken läuft, wenn man erfährt, dass ein Familienvater, der ein paar Häuser weiter lebt, seine Frau und Kinder niedergeschossen hat. Diese Eigenschaft kennzeichnet auch individuellere Erlebnisarten der Angst. Man bedenke nur die sonderbare Art, wie sich für die Betroffenen eines persönlichen Notfalls die Welt ändert – ein Kind, das beinahe ertrunken ist; ein geliebter Mensch muss mit dem Rettungswagen ins Krankenhaus gebracht werden; man ist in einem Autounfall mit verwickelt.
Die Wahrnehmung spielt sich über die Sinne ab, die Erkenntnis über den Geist, und Urbilder über die Seele. Da die Kanäle für die Wahrnehmung der Welt sowie für die Erkenntnis andere sind als der Kanal für die seelische Bewusstheit, sind das Wahrnehmen und das Erkennen einigermaßen dazu geeignet, sich der Invasion durch diese Angstbaren Bilder anzupassen. Wir nehmen weiterhin alles Sonstige um uns herum als sicher und beständig und schreiben die zunehmenden Unbeständigkeiten menschlichen Faktoren zu. Wenn zum Beispiel die Straßen einer Stadt Angst bergen, so muss das auf den Drogenhandel, auf die Flucht in die Vororte, auf wirtschaftliche Faktoren oder Gemeinschaftsverlust zurückzuführen sein. Wenn wir von der Angst vor dem Krieg ergriffen werden, so muss das an nationalistischen Impulsen und politischen Konflikten liegen. Sind wir von dem durch Downsizing verursachten, jährlichen Verlust tausender von Arbeitsplätzen stark beunruhigt, so schreiben wir unsere Angst den sich ändernden ökonomischen Umständen zu. Hier gilt die Angst nicht als die urbildliche Macht, welche diese Zerstörungen bewirkt.
Es wäre in der Tat wunderbar befreiend, wenn wir zugeben könnten, dass wir alle eine ungeheure Angst haben. Das wäre der erste Schritt zur Erkenntnis, dass ein gesunder Schrecken der Anfang von Weisheit sein kann. Wenn wir durchschauen, dass wir uns in einer von Angst regierten Welt befinden; wenn wir durchschauen, dass wir ebenso wenig wissen, was da draußen auf uns lauert, wie die frühen Forschungsreisenden wussten, was sie auf der anderen Seite der Weltmeere erwartete – wenn wir das wissen, so können wir beginnen, die Geographie dieser neuen Welt zu erkunden. Lasst uns jetzt einen Blick darauf werfen, was wir bewirken können, wenn wir uns mit dieser entdeckerischen Haltung der Angst nähern.
Angst in der physisch/materiellen Welt
In Träumen vermischen sich Dinge, die in der gewöhnlichen Welt separat bleiben. Die einzelnen Fragmente eines Traums mögen schon einzuordnen sein, aber wenn sie als Gesamtheit auftreten, so erleben wir sie nicht der Logik der natürlichen Welt, sondern einer Bilderlogik gemäß. Vom Traum heißt es, er habe dann eine urbildliche Qualität, wenn ein vorherrschender Wert der Faden ist, der die miteinander sonst unverwandten Bilder durchzieht. Wenn zum Beispiel jemand davon träumt, dass er von der Straße aus in einem Schaufenster eine Aufstellung von Frauen-Badeanzügen sieht und dass gleichzeitig eine schöne Frau vorbeiläuft und Parfümduft verströmt, so ist der Traum Ausdruck der urbildlichen Qualität der Aphrodite. Die Göttin tritt nicht direkt im Traum auf, aber ihre Schönheit und Sinnlichkeit sind im Traumbild als Ganzes Anwesend.
Wenn wir in der physischen Welt Dinge betrachten, die alles andere als schön und sinnlich, sondern eher beängstigend wirken, so mögen diese Dinge disparat und unverwandt scheinen. Dennoch haben Angstbare Ereignisse und Gegenstände eine gemeinsame Ausstrahlung, und wenn wir uns auf diese konzentrieren, so setzen sich die separaten Elemente zu einer gemeinsamen Bilderlandschaft zusammen. So mögen bedeutende Weltenereignisse, die zunächst miteinander unverwandt erscheinen – Atomtests in Frankreich, Indien und Pakistan; eine Ölpest in Alaska; der Smog über Mexico Stadt, Los Angeles oder irgend einer anderen Großstadt auf der Welt; globale Erwärmung; Flutkatastrophen und Erdbeben; Waldbrände –, sich zu einer einheitlichen Imagination zusammenfügen, dass nämlich die Erde von der Angst durchsetzt ist.
Was bewirkt, dass dieses Bild so erschreckend ist? Ich bin zu der Überzeugung gekommen, dass es nicht so sehr ein Angstbarer Präsenz ist, was uns dieses Bild so entsetzlich macht. Das Erschreckende ist vielmehr darauf zurückzuführen, dass dem Bilde etwas fehlt: nämlich die Liebe. Es ist, als wären wir in eine Welt hineinversetzt worden, aus der der fürsorgliche Präsenz der Liebe entfernt wurde und in der das Chaos herrscht. Die Liebe wohnt der Substanz selbst der Materie inne, die Liebe ist es, was die Welt als Ganzes zusammenbindet, zumal als eine Art Anziehungskraft zwischen den Dingen. Zwar sehen wir sie vielleicht nicht, aber sie ist wohl da. Die Liebe ist eine objektive Qualität der Welt. Die Form, welche die Liebe in der Stofflichkeit annimmt, hat mit unseren Gefühlen beziehungsweise unseren Empfindungen nichts zu tun; dennoch ist es durchaus möglich, dass durch das, was wir in Verbindung mit der Welt tun oder lassen, die Liebe verlorengehen kann. Auch in anderer Weise kann man von der Abwesenheit der Liebe sprechen, nämlich als das Fernbleiben gewisser spiritueller Wesen – in den verschiedenen Traditionen als Engel, Elementargeister, Feen oder spirits of place bekannt –, die sich zurückgezogen haben.
Indem die Angst in der Welt die Vorherrschaft gewinnt, verwelkt und stirbt zugleich auch die der Einzelseele innewohnende natürliche Liebe. Der Seele graut vor dem Verlust der eigenen Existenz. Nicht schlimme, abstoßende Bilder sind für die Seele schrecklich. Das Erschreckende ist vielmehr die Aussicht, ohne die Eigenschaft der Liebe existieren zu müssen, denn Liebe ist der Modus der Seele, das eigene Wesen zu erkennen. Im Mythos von Eros und Psyche ist die Gegenwart des Eros das, was Psyche zur Selbsterkenntnis gelangen lässt – das, was Seele sich selbst erkennen lässt. Solche Mythen bergen profunde Wahrheiten. Für die Seele ist das Gefühl der Liebe die Bestätigung der eigenen Existenz. Der so heftige Eintritt der Angst in die physische Welt kommt dem Verlust der Seele gleich. Die Liebe vagabundiert dann verwirrt und ohne jede Ruhestätte herum.
Ist die Aussage denn wirklich gerechtfertigt, dass die Liebe innerhalb der physischen Welt existiert – als Teil der Ozeane und Flüsse, der Luft mit den Nebeln und Wolken, der Erdkruste mit ihren Ebenen, Bergen, Tälern, Felsen, Metallen, Kristallen, Wüsten, Hügeln, Schluchten? Habe ich nicht vielmehr die bloße Sentimentalität eingebracht, um die Gefühle der Leser gefangen zu nehmen? Die physische Welt scheint sich uns mit ihrer Schönheit, Behaglichkeit, Stärke, Festigkeit, Genuss, und Größe immer und ohne Anspruch auf Gegenleistung darzubieten. Sie ist unser Fundament und dient uns in jeglicher Art und Weise. Zwar können wir der Auffassung sein, man müsse eben diese Eigenschaften in rein wissenschaftlicher Art und Weise beschreiben, ohne auf die Sprache der Emotionen zurückzugreifen. Das zu tun verlangt aber, dass man die eigene Seele aus jeglichem handelnden Wahrnehmen der Welt heraushält, dass man die Welt durch die Augen der Naturwissenschaften – und insofern kalt und analytisch – sieht. Die Liebe in der Welt wahrzunehmen heißt aber, die Welt als eine Offenbarung vielfältiger geistiger Gegenwart, als geistige Wesenheiten zu sehen. Das uralte mythische Bewusstsein empfand die Welt als eben eine solche Offenbarung; es gab spirituelle Wesenheiten, die das fließende Wasser der Quellen unterhielten, auch gab es Nymphen der Kavernen und Höhlen und Schutzgeister der Hügel und Berge sowie Geister der Luft.
Eine Rückkehr zu den uralten Bewusstseinsmodi, wo solche Wesen unmittelbar wahrgenommen werden konnten, ist ausgeschlossen; das versteht sich von selbst. Bei dem Begreifen der Gegenwart geistiger Wesen geht es nicht mehr um Wahrnehmungsinhalte, sondern um die Art, wie wir wahrnehmen, sowie darum, die sensorischen und psychischen Handlungen zu durchschauen, welche unsere Verbindung mit der Welt schmieden. Nähern wir uns der Welt in ihrer Eigenschaft als heilig, als sakral, als geweiht, anstatt bloß als eine Ansammlung materieller Gegenstände, so offenbaren sich hintergründigere Eigenschaften. Das Wahrnehmen ist eine moralische Handlung, eine Handlung des sich Hingebens an die Welt, und kein bloß physiologischer, automatisch sich vollziehender Vorgang.[3]
Nehmt an, ich suche einen Mammutbaum-Wald in Nordkalifornien auf. Ich lasse am Rand des Waldes mein Auto stehen und gehe in den Wald hinein. Auf einmal breitet sich eine ungeheure Stille über die Umgebung aus. Sogar die Vögel schweigen. Die Farben – Grün-, Blau-, Rot- und Grautöne – sind weicher und zugleich lebhafter als die Farben außerhalb dieser Landschaft. Meine Partnerin und ich sprechen miteinander und stellen fest, dass wir uns unbeabsichtigt in Flüstertönen unterhalten. Der Ort ist von Heiligkeit durchsetzt; wir spazieren in einem lebendigen Tempel. Es gibt viele Menschen, die eben diese Erfahrung hatten, und sie entspringt einer moralischen Wahrnehmung: Indem wir uns so verhalten, handeln wir in Harmonie mit dem, was uns umgibt. Eine andere Verhaltensweise ist ja auch durchaus möglich. Würden wir aber diese annehmen, so würden die subtilen Wahrnehmungsqualitäten der Umgegend nach und nach verschwinden. Die Existenz der Angst an einem physischen Ort zerstört dessen Sakralität. Es scheint, als wären solche Stätten, die noch immer einen magischen Präsenz verströmen, immer weniger in der Lage, ihre Besonderheit aufrechtzuerhalten. Die Menschen vermögen häufig nicht auf die Heiligkeit eines Ortes wie der Redwood Nationalpark zu antworten. Er wird mit Müll überstreut, oder zertrampelt, oder zum Kahlschlag freigegeben.
Wenn wir voll bei Bewusstsein sein wollen, so müssen wir die moralische Dimension der Wahrnehmung ausbilden. In der gewöhnlichen Sinneserfahrung kommt diese Dimension höchstens als Potential vor; ob wir sie verwirklichen, hängt davon ab, ob wir die Aufgabe der Beseelung der Sinne ergreifen. Von Rudolf Steiner gibt es detaillierte Übungen zur Entwicklung der sittlichen und seelischen Eigenschaften des Wahrnehmens.[4] Diese Übungen offenbaren – vorausgesetzt, sie werden über längere Zeit ausgeführt –, wie die physische Welt von schöpferischen Wesenheiten durchdrungen ist. Steiner regt zum Beispiel an, dass man seine ganze Aufmerksamkeit auf die blaue Weite des Himmels bündelt und dabei alles andere aus dem Bewusstsein ausschließt (alle äußeren Eindrücke, alle Erinnerungen, alle Gedanken), damit sich nach kurzer Zeit eine Seelenstimmung der Andacht einstellt. Diese Stimmung ist kein subjektiver Zustand, sondern eine tatsächliche Wahrnehmung, eine sittliche Wahrnehmung dessen, was in der blauen Weite des Himmels lebt. Steiner schlägt weitere Übungen vor, um vergleichbare Qualitäten wahrzunehmen, die in den Bächen, im Meer, in Wolken und Nebeldunst leben. Wer sich aktiv auf solche Praktiken einlässt, macht die Seele gegenüber den tieferliegenden Eigenschaften der physischen Welt empfindsam und lindert dabei die Angst, denn durch diese Praktiken können wir wieder einmal erleben, wie das Universum mit Liebe erfüllt ist.
Das alltägliche Leben selbst kann der Ort werden, an dem wir die Entwicklung eines moralischen Wahrnehmens erüben können. Wir müssen nur empfänglicher werden und zulassen, dass die Dinge der Welt unser Bewusstsein ganz ausfüllen, und dabei das mutwillige Sicheinmischen unseres Denkens in die Umgebung unterbinden. Dadurch kommt allmählich – in Begleitung mit dem, was wir wahrnehmen – eine Seelenstimmung der Heiligkeit immer stärker zum Vorschein. Mit den so entwickelten Fähigkeiten der Seele die Welt zu sehen, offenbart nicht nur das in ihr Vorhandene; es bittet auch die spirituellen Wesenheiten wieder herein, die sich vor unserer wortwörtlichen Blickweise auf die Welt zurückgezogen hatten.
Wir brauchen zur Begleitung der physischen Umweltschutz eine Ökologie der Seele. Unsere Sorge muss nicht nur den Bäumen, den Seen und den Pflanzen gelten, sondern auch deren Elementargeistern. Das Wahrnehmungsorgan für diese unsichtbaren Wesen ist die Seele. Die Fähigkeiten der Seele müssen wir erst aktivieren, indem jeder Mensch die ihm innewohnende schöpferische Macht der Liebe ortet. Für jetzt gilt es, diese Macht aus reiner Willensanstrengung von innen her in uns zu erschaffen. Der Wille zum Lieben wohnt den tiefsten Tiefen der Seele inne, und diese Seelenmacht kann nur jeder einzelne Mensch in der eigenen Seele auftun. Sie tritt häufig nur in unseren finstersten Augenblicken hervor, dann nämlich, wenn alles andere abgestreift wurde. Bei diesem Verlangen handelt es sich nicht um eine Liebe für dieses oder jenes; es ist bar jedes Inhalts, bar jedes Gegenstands, es ist ein reiner Glanz inmitten der Finsternis.
Angst in den Lebensprozessen
Es ist nicht zu übersehen, dass die Lebensformen der Naturwelt bedroht sind. Die Beispiele davon können überwältigend sein – sind sie doch so groß und alles durchdringend, dass wir ihnen gegenüber das lähmende Gefühl bekommen, als könnten wir nichts gegen sie ausrichten. Die Radioaktivität stellt weiterhin eine Gefahr für alle Lebensformen dar; chemische Pestizide und Dünger werden in der Landwirtschaft fast universell verwendet; künstliche Hormone führen bei Kühen zur Überproduktion von Milch. Wenn ich diese Gefahren nenne, so geht es mir nicht darum, eine Betäubung zu verursachen, sondern auf das Ausmaß der Häufung von Ängsten um die verschiedenen Lebensformen herum aufmerksam zu machen. Eine solche Diagnose muss sein, sonst können wir nicht in rechter Weise auf die Gefahren eingehen.
Im Leben der Seele passiert nichts was nicht auf die Lebensprozesse des Leibes übertragen würde und diese als sympathisches Mitschwingen durchzieht.
Ein primärer Lebensvorgang ist die Atmung, welche das Leben im Innern des Leibs von außen her unterstützt. Hier geht es nicht nur um die Atmung beim Menschen; es geht um jegliche Wechselwirkung zwischen einem Lebewesen und der dieses Wesen umgebenden Luft. Ein zweiter Lebensvorgang ist die der Wärmung, welche im lebendigen Leib eine so konstante wie lebensnotwendige Temperatur aufrechterhält. Ein weiterer Lebensvorgang ist die Ernährung. Die Ernährung ermöglicht das Ersetzen der vom Leib verbrauchten Substanzen ersetzt. Ein anderer Lebensprozess ist die Absonderung, ohne die das Essen und Verdauen nicht funktionieren würden. Ein fünfter Vorgang ist die Erhaltung der Nährstoffe so, dass sie zum Aufbau des physischen Leibes dienen können. Ein sechster Lebensprozess ist der des Wachstums, und der letzte ist die Reproduktion (Hervorbringung).[5] Diese Lebensvorgänge sind zwar sehr unterschiedlich je nachdem, ob es sich um Einzeller, Pflanzen, Tiere oder Menschen handelt; aber wo immer sich das Leben äußert, treten sie auf. Alle diese biologischen Handlungen, sowohl individuell als auch als Gesamtheit, schwimmen nunmehr in einem Meer der Angst.
Man könnte meinen, die Angst im Bereich der Lebensprozesse wäre leichter verständlich als die Angst in der physischen Welt; aber das Gegenteil ist der Fall. Hier wird die Angst plötzlich zu einem Teil von uns, ohne jede Trennung, die sie als „dort drüben“ im Gegensatz zu uns „hier“ kennzeichnet. Es tritt da eine Angst ein, die so intensiv ist, dass sie nur kurze Zeit auszuhalten ist. Ein unheimliches Gefühl überkommt uns, wenn wir den Grad bedenken, bis zu welcher unsere Leiber in einer vergifteten Umwelt existieren. Es ergreift uns ein intensives Bedürfnis, in Kontrolle zu sein, und genau dort ist es, wo uns die Angst in dieser Domäne zuvorzukommen scheint. Wir sind nämlich bemüht, alle diese Dinge in den Blick zu bekommen, um ein Mindestmaß an Kontrolle zu gewinnen; dabei schließen wir eigentlich die Augen vor ihnen. Eine allerdings illusorische Kontrolle gewinnen wir dadurch, dass wir so tun, als hätten solche Dinge keine Wirkung auf uns, da wir keine physische Empfindung von ihnen haben. Oder aber wir werden skeptisch: Wo ist der Beweis, dass diese Faktoren auch wirklich schädlich sind? Oder wir werden zynisch und wütend im Gefühl, dass nichts getan werden kann.
Wenn wir innehalten und kurz nachdenken, kann uns die Frage kommen: Wie ist es überhaupt möglich, dass die alle Lebensformen durchsetzende Radioaktivität, die vielfältigen, in unseren Lebensmitteln enthaltenen chemischen Giftstoffe, die Wissenschaftler, die daran arbeiten, uns auf Reihen von Biochemikalien zu reduzieren – dass das alles kein unablässiges Entsetzen in uns auslösen sollte? Diese Art der Angst bietet die Illusion, dass wir jegliche durch technische Errungenschaften ausgelösten schlimmen Auswirkungen in den Griff bekommen könnten. Wir geraten in den Bann einer Scheinmacht: Uns ist, als würde die Angst uns zuraunen, sie werde uns Macht über die Welt erteilen, wenn wir nur zulassen, dass sie über uns die Kontrolle hat. Auch will sie uns glauben lassen, dass diese Kontrolle förderlich sei.
Wenn zum Beispiel der Erbfaktor gefunden werden könnte, der eine bestimmte geistige Behinderung regelt, so wäre die Kontrolle über dieses Übel gewonnen. Die Möglichkeit aber, dass diese Behinderung auf die allmähliche, wegen der Verwendung von Kunstdünger verursachte Qualitätsveränderung eines bestimmten Lebensmittels zurückzuführen ist, wird vollkommen übersehen. So wird der Angst nicht nur die Grundlage in der Welt nicht entzogen; sondern je mehr unsere Kontrollfähigkeit uns zum Faszinosum wird und je mehr wir vergessen, weshalb wir diese Macht überhaupt erst angestrebt hatten, umso freier ist sie, sich in der Welt auszubreiten.
Ein anderes Beispiel: Die Verbreitung elektronischer Technik bietet uns die Kontrolle über die Information. Das scheint eine gute Sache zu sein. Kaum beachtet wird allerdings die Möglichkeit, dass die Augen durch die vom Computerschirm ausgehenden Strahlen arg beschädigten werden. Eine solche Folge wird vermutlich erst nach Generationen an den Tag treten, und bis dahin wird man das Gen entdeckt haben, das zur Bekämpfung der negativen Auswirkungen dieser Schäden entsprechend manipuliert werden kann. Da diese Auswirkungen so subtil sind, dass sie sich erst nach Generationen zeigen, haben diejenigen, die vor heutigen technischen Errungenschaften warnen, keine Möglichkeit, ihre Behauptungen zu beweisen. Solchen Menschen wird vorgehalten, dass sie den Fortschritt aufhalten wollen.
Indem in dieser Weise auf die Lebensvorgänge der Welt störend eingewirkt wird und die Lebenskräfte des menschlichen Leibes abgebaut werden, findet eine Zerrüttung der lebendigen Beziehung zwischen der vitalen Naturwelt und dem Kosmos statt. Das Pflanzenleben etwa fängt an, sich vom Himmel, von den Wolken, der Sonne, dem Mond, dem Regen, sogar den Planeten und den Sternen zu verselbständigen. Das organische Leben entkoppelt sich von den Bedingungen des Kosmos. Die Natur wird zur Unternatur, zum fragmentierten Vorgang, der nur noch den Anschein eines Ganzen, Integralen hat. Das Pflanzenwachstum scheint ausschließlich von den Bedingungen des Erdbodens – also von chemischen Düngemitteln abzuhängen; dabei besteht das gesunde Pflanzenleben in dem ineinandergreifenden Verhältnis des Bodens, der Luft, des Wassers, des Lichtes, der Erdatmosphäre, ja sogar der Position der Sonne, des Mondes und der Planeten zueinander. Da auch der menschliche Leib an den Lebensprozessen der Welt teilhat, wird mit dem Stören dieser Prozesse sogar dieser vom Leben des Kosmos abgetrennt. Diese Abtrennung erleben wir als Angst.
Elektromagnetische Energie fördert die Devitalisierung der organischen Welt sowie der Lebensprozesse des Leibes. Es gibt viele Hinweise darauf, dass Krankheiten wie der Krebs und Leukämie dem Ausgesetztsein elektrischer Felder entstammen. Bauern in Wisconsin/USA und an anderen Orten berichten, wie die Milcherzeugung in Kühen durch Stromleitungen schwer beeinträchtigt wird, die über landwirtschaftliche Flächen geleitet werden; diese Beobachtung wird durch die Stromkonzernen vehement abgestritten. Elektrische Energie wird inzwischen in das Weltall hinausgeschleudert, mit wer weiß was für Langzeit-Auswirkungen.
Man kommt nicht darum herum, an dieser tödlichen Falle teilzunehmen. Auch wenn ich mich ausschließlich mit Bio-Produkten ernähre, das Fernsehen, das Internet, die Handys meide, bin ich von dem Druck und den Auswirkungen des modernen Lebens keineswegs ausgeschlossen. Das einzige, was hilft, ist die Bewusstheit. Die Pflege eines Bewusstseins unserer Lage ist der erste Schritt aus der Angst heraus. Und erst wenn wir aufhören, die Gefahren der Welt zu verdrängen, wird ein weiterer Schritt möglich: die Erkenntnis, die einem dann zuteil wird, wenn man sich über die Seele mit den Reichen der Angst auseinandersetzt. Um einen echten – also nicht im obigen Sinne illusorischen – Modus finden zu können, in dem man von der Angst frei sein kann, muss man sich mit den Faktoren des Seelenlebens konkret auseinandersetzen, welche die Angst ausgleichen können.
Um das Neueinschalten des Seelenlebens zu üben, nehme man eine kleine Topfpflanze. Man sehe sich diese gründlich an, indem man alle ihre Details, aber auch ihre Form als Ganzes betrachtet. Dann schließe man die Augen und mache ein exaktes inneres Bild der Pflanze. Man baue dieses Bild Teil für Teil auf. Schließt man die Augen und versucht man, von der ganzen Pflanze auf einmal ein inneres Bild zu machen, so wird daraus kein genaues Bild, sondern entweder eine abstrakte Idee oder eine undeutliche Erinnerung dessen, was du gesehen hast. Stattdessen schließe deine Augen und baue den Stiel und ein Blatt auf. Dann öffne deine Augen und schaue noch einmal hin. Wenn du die Augen wieder zumachst, füge das nächste Blatt der Pflanze hinzu. Fahre so fort, bis das vollständige Bild zusammengesetzt wurde. Selbstverständlich muss man jegliche anderen Bilder bzw. Gedanken loslassen, die eindringen wollen. Ist das Bild einmal aufgebaut, halte es eine kurze Zeit fest, um es zu stabilisieren. Lasse es nicht verblassen oder andere Eigenschaften annehmen oder sich in etwas anderes verwandeln. Vor deinem inneren Auge beginne als Nächstes, das Pflanzenbild auseinanderzubauen, indem du eins nach dem anderen jedes Blatt entfernst, mit dem zuletzt hinzugefügten angefangen und in umgekehrter Reihenfolge weitermachend. Wenn alle Blätter entfernt worden sind, entferne den Stiel. An dieser Stelle entsteht eine Leere. Halte diese Leere für ein paar Augenblicke fest und lausche in sie hinein.
Die Leere bleibt nicht inhaltslos. Es entsteht eine Art Empfindung des Kraftfeldes der Pflanze, die manchmal die Gestalt sich bewegender Lichtstrahlen annimmt. Es ist, wie wenn man im ganzen Umfeld die unsichtbaren Kräfte fühlen könnte, die die Gestalt dieser besonderen Pflanze erschaffen. Von dieser Gefühls-Eigenschaft ist die Lebenskraft der Pflanze gekennzeichnet.[6]
Eine kleine Handlung wie diese, welche täglich ein paar Minuten ausgeführt wird, bildet die imaginative Fähigkeit der Seele so aus, dass sie vor der Fülle der Lebensgestalten bewusst anwesend sein kann. Wer so übt, wird bemerken, wie die unmittelbare Wahrnehmung der äußeren Welt sich zu verändern beginnt. Man wird die Details, deren Nuancen, deren Subtilitäten gewahr, als würde man sie zum ersten Mal sehen. Die Farben erscheinen weniger grell, was auf eine erhöhte Sensibilität gegenüber dem Spiel von Licht und Schatten zurückzuführen ist. Die Gestalten verschiedener Pflanzen werden in neuer Weise gesehen. Die Geste der Blätter der einen Pflanze sind dem Himmel geöffnet, ähnlich einer hingehaltenen Handfläche. Die Blätter einer anderen Pflanze ähneln Hände, die zu einer Geste des Gebets zusammengefaltet sind, während eine andere Pflanze mit ihren Blättern nach unten greift, wie wenn sie die Erde loben würde. Die Bäume werden als majestätische Säulen der Kraft gesehen, die zugleich himmelwärts und auch tief in die Erde hinein reichen und dabei die Luft oben und das Erdreich unten vereint. Das Leben wird weniger abstrakt und mehr zu einer lebendigen Wirklichkeit, die direkt wahrzunehmen ist. Es ist, wie wenn etwas der Welt wieder zurückgegeben, hinzugefügt worden wäre. Hier wird nicht projiziert; es wird vielmehr das gesehen, was wirklich da ist, da wir uns diesem wirklich da Seienden mit den angemessenen Fähigkeiten nähern. Wenn die Seele von der Wahrnehmung ausgeschlossen wird, sehen wir die Dinge nur teilweise.
Die Imagination ist kein bloß subjektiver Zustand, sondern eine reelle Kraft. Wesentlicher noch: sie ist eine moralische Kraft. Indem wir beginnen, aus der Verbindung unserer Imagination zur äußeren Welt heraus zu handeln, vermindert sich die Angst, weil wir den Lebensformen das zurückgeben, was ihnen weggenommen worden war. Wir erkennen, dass dies aus dem Grund stattfindet, weil der Grad unserer eigenen Angst und Angst allmählich abnimmt. Unsere Kapazität zur bewussten Imagination ist, sofern sie mit der Welt vereint ist, ein Primärwerkzeug zur Überwindung der Angst.
Angst in der Gefühlswelt
Eine dritte Sphäre, die von der Angst befallen ist, ist die Welt des Fühlens. Das Hauptindiz dafür, dass unsere Gefühlswelt zerspalten ist, ist die Art, wir das Fühlen betrachten. Gegenwärtig sehen wir das Fühlen als unser Eigentum an: Ich habe meine Gefühle mit Bezug auf dies oder das, und diese Gefühle gehören alle mir. Indem wir unsere Gefühle personalisiert haben, haben wir einen Bereich personalisiert, der rechtmäßig mit der umgebenden Welt zusammengehört. In dem Maße, in dem das Element des Gefühls aus seiner fortdauernden, sinnlichen, verkörperten Beziehung mit der Welt herausgezerrt wird, wird das Bedürfnis zu fühlen entweder zu einer Sucht, oder das Fühlen entschwindet ganz. Dann wird sich normalerweise das Fühlen in irgend einem Symptom entladen, wie etwa schwere Depressionen oder Ausbrüche unkontrollierbarer Wut.
Die Subjektivierung des Fühlens weist auf eine Weltflucht hin, die durch den umfassenden Eintritt der Angst in die Gefühlswelt ausgelöst wurde. Ist unsere gefühlsmäßige Teilnahme an der Welt zerrüttet, so kommt uns das Fühlen wie ein quantifizierbares Gut vor. Es werden uns „Designer“-Gefühle zugeteilt, das sind vorprogrammierte Empfindungen, die eine Verbindung unsererseits zur sinnlichen Welt simulieren sollen, die aber in der Regel weit intensiver sind, als bei einer echten Verbindung mit der Welt. Wir gehen ins Kino und sind zu Tränen gerührt, lachen, empfinden Freude, Traurigkeit, Ekel, Wut, erotische Regungen. Wir hören Musik, die in chaotischer Weise die Emotionen aufwühlt. Wir werden durch Werbung in solcher Weise attackiert, dass wir uns einbilden, wir könnten mit dem Beworbenen Produkt bestimmte Gefühlslagen kaufen. „Fühl-Pakete“ können in Form von Drogen käuflich erworben werden. Die Pornographie ist zur Erregung jeglicher sexuellen Gefühle erhältlich. Psychotherapien sind erhältlich, damit wir nicht die Welt, sondern unsere Gefühle fühlen.
Die Angst, die diesen Arten von Weltflucht innewohnt, ist auf die Verwechslung des Fühlens mit der Empfindung zurückzuführen. Gefühle sind keine Empfindungen. Dadurch, dass das Fühlen Quantifiziert wird, wird die Alltagswelt sensationalisiert und werden spirituelle Eigenschaften in materialistische gewandelt. Wir suchen zwar das Fühlen, bekommen aber stattdessen Effekte, einen Quick-Fix – ob im Heavy-Metal-Konzert oder im Kino, ob in einem Joint oder durch Calvin Klein entwickelt, ob im Videoladen oder in einer Selbsthilfegruppe oder mit Fast Food. An der Oberfläche wirkt das alles wie Vergnügungen, aber das Element der Angst dabei ist unschwer zu entdecken.
Die Angst lebt inmitten solcher Empfindungen wie ein beständiges Gefühl der Nicht-Sesshaftigkeit und der Nicht-Erfüllung, dann später als eine abtötende Leere, da man sich von der Erfahrung zurückgezogen hat. Das Erlebnis dieser Leere reicht von einem vagen, nicht zu ortenden, nagenden Präsenz bis hin zu einer rauhen, kalten schaudernden Angst. Zwar mag es den Anschein haben, als würde diese erschreckende Leere von der Abwesenheit der gewünschten Empfindung herstammen, aber eigentlich ist sie ein der Empfindung selbst innewohnender Anteil; nur dass sie gewöhnlich durch die physiologische Erregung getarnt wird, welche als ein Fühlen durchgeht. Mit anderen Worten ist unsere Gefühlsbeziehung zur Welt durch eine gesteigerte Erfahrung der eigenen biologischen Tätigkeit ersetzt worden.
Indem das Gefühlsleben zu einer Ansammlung von Empfindungen zerfällt, wird das Leben der Sinne überwältigt und aus dem Gleichgewicht geworfen. Eine weitere Dimension der Angst tritt durch diese Reizüberflutung auf, da bestimmte Sinne ständig gereizt werden, während andere völligt vernachlässigt. Diejenigen Sinne, die uns die unmittelbarste Erfahrung der Welt vermitteln – der Tastsinn, der Bewegungssinn, der Gleichgewichtssinn – haben die Tendenz, überreizt zu sein. Die Überwältigung dieser Sinne führt zu einer Lähmung des Willens; wir vermögen nicht, uns in harmonischer Weise zu bewegen; wir fühlen uns, als würden wir bedrängt und herumgeschubst. Sind die Sinne, die uns mit der Umwelt verbinden – der Sehsinn, der Geruchssinn, der Wärmesinn, der Geschmackssinn, der Hörsinn – überreitz, so kommt uns die Fähigkeit abhanden, die Seelenqualitäten der Dinge der Welt zu erfahren. Über diesen Sinnen hinaus liegen sogar noch subtilere Sinne: der eine, der mit dem Empfinden der Sprachqualitäten zu tun hat, und ein weiterer, der mit dem direkten Wahrnehmen der Seelenqualitäten anderer Menschen zu tun hat. Oftmals sind diese Sinne erst recht vollkommen überwältigt, bis dahin, dass die meisten Menschen nicht einmal merken, dass sie solche Sinne überhaupt haben.
Der Schrecken, soviel unseres Lebens in Empfindungen zu investieren, manifestiert als Zwangserkrankung, da wir ohne das Fühlen nicht leben können. Wenn es nicht greifbar ist als fortdauernde Beziehung zu den Seelenqualitäten der Welt, dann werden deren Surrogate mit einer solchen Macht gesucht, dass diese durch nichts aufzuhalten sind. Die Entsetzlichkeit der Zwangserkrankung ist, dass sie sich zwar für kurze Zeit stillen, aber nie für immer auflösen lässt.[7] Die Befriedigung eines Drangs ergibt nicht Bewusstheit, sondern das genaue Gegenteil, nämlich die Herabdämpfung des Bewusstseins zu einer Art wachenden Traumzustandes. Werde ich durch jemanden besessen und kann ohne diesen Menschen nicht leben, so geht aus der Gegenwart dieser Person nicht etwa eine bewusste Beziehung hervor, sondern nur ein vorübergehendes Eingelulltsein und ein Vergessen meines Verlangens. Wenn es so ist, dass diese Person anwesend sein muss, damit ich mich wohl fühlen kann, so kann es durchaus sein, dass deren Gegenwart mich für eine Weile beruhigt. Aber diese Empfindung wird abnehmen, und egal was die Person tut, werde ich mich beklagen, dass sie auch dann nicht wirklich anwesend ist, wenn sie ganz in der Nähe ist, denn mein seelisches Fühlen ist betäubt. Werde ich von dem Shoppen besessen, so macht es mich weniger bewusst, wenn ich dem Drang nachgebe. Noch einmal: Die Empfindung des Einkaufens und des Habens mag zwar kurzfristig beruhigen, aber bei dieser Empfindung handelt es sich nicht um ein reelles Fühlen, sondern sie hängt von der Gegenwart eines physischen Gegenstands ab.
Gefälschtes Fühlen ergibt sich aus dem Glauben, dass die Ereignisse, Substanzen oder Waren wundersame Zustande in uns erzeugen könnten. Es ermöglicht auch dann eine Zufriedenheit, ein Behagen, wenn ich seelisch doch nicht zufrieden bin; auch dann ein Empfinden der Wärme, wenn ich nicht daran gearbeitet habe, in meine Beziehungen Wärme hineinzubringen; auch dann eine Empfindung der Transzendenz, wenn ich weiter nichts tue, als meine Sinne zu überreizen. Wenn zum Beispiel die Musik durch elektronische Mittel erheblich verstärkt wird, so wirken die Schwingungen bis ins Fleisch und bis in die Knochen hinein, sodass die Musik handgreiflich wird und ich sie als Tastempfindung erlebe. Wenn Licht und Farbe sehr gesteigert werden, wie dies in manchen Filmen vorkommt, so ist es, wie wenn man in Farbe eingetaucht ist und man sie sowohl spüren als auch sehen kann. Diese Art Synästhesie ist eine vorrationale Erfahrung und ähnelt dem Erleben eines Neugeborenen noch bevor die Trennung der Sinne vollzogen wird. Diese vorrationale Erfahrung wird mit spiritueller Erfahrung verwechselt, ist aber keine.[8] Weil uns leicht zu erreichende, Synästhesie-artige Erfahrungen für Augenblicke aus dem trockenen, rationalistischen Denken unserer abstrakten Kultur hinausführen, wirken sie wie transzendente Erlebnisse auf uns. Sie sind aber das genaue Gegenteil.
Wie können wir die Allgegenwart der Angst ausgleichen, welche in die Welt des Fühlens eingedrungen ist? Es mag überraschen, dass der Kern dieses Problems, das ein gefühlsbezogener ist, in der Art und Weise liegt, wie wir die Welt erkennen. Wir sind nicht in der Lage, in gesunder Weise zu fühlen, da unser Erkennen zerrüttet ist. Das Fühlen hat stets einen Erkenntnis-Aspekt; die Gefühle sind Modi des Erkennens, sind ein erkennen durch die Seele.[9] Den Empfindungen aber geht die innere Reflektiertheit des Fühlens ab. Wenn nicht schon in der Erkenntnis ein Element des Fühlens enthalten ist, wird jegliche Bewegung in Richtung des Fühlens durch ein nichtreflexives Empfinden verfinstert. Die Erkenntnis sollte mit einer theosophischen Vorstellung der Welt beginnen – mit einer Vorstellung der Welt als Offenbarung der geistigen Welten. Solange wir die Welt nur als materialle Hülsen ansehen, zentriert unser Erkenntnismodus in etwas Totem: in abstrakten Denken. Wenn aber die Welt das Wirken geistiger Wesen offenbart – wenn jeder Fels, jeder Baum, jedes Tier eine lebendige Zusammsetzung von Geist und Stoff, Leben und Tod, von kalt und warm, von süß und bitter ist – so befindet sich das Fühlen im Herzen selbst der Welt. Die fundamentale Eigenschaft innerhalb der Welt, von der alle anderen Gefühle wie Äste eines großen Baums ausgehen, ist: EhrAngst. Anstatt also, dass wir die Welt als toten Stoff, als Atome, elektrische Teilchen konzipieren, wollen wir sie uns vielmehr als einverleibte Seele vorstellen.
In der Kampfarena unserer Begierden und Triebe fehlt in der Tendenz sehr oft die Empfänglichkeit. Das Greifen, das Habenwollen, das Nötighaben sind so stark, dass die Geduld, das Abwarten und das Geschehen-Lassen kaum zu fühlen sind – es sei denn, man pflegt sie bewusst. Ein solches Gleichgewicht kann man durchaus allmählich erlangen, indem man, während man die äußere Welt beobachtet, in sich eine innere Ruhe sich entfalten lässt. Diese Art der Beobachtung ist keine wissenschaftlich distanzierte, sondern ein mit Wärme erfülltes Interesse. In der wissenschaftlichen Beobachtung pflegt man einen asketischen Umgang mit der Welt, bei dem man jegliche Emotion beiseite lässt, die die eigene Objektivität stören könnte. In einem Erkennen, das zu gleicher Zeit auch ein Fühlen ist, setzt man das Verlangen und den Instinkt in Beziehung zu dem, was man gerade beobachtet – allerdings nicht in der verstörenden Art und Weise, wie sie für Gewöhnlich durch uns hindurch poltern. Solches Poltern des Verlangens und der Instinkte bringt man durch meditative Konzentration zur Ruhe; dadurch, dass man lernt, in sich selbst still zu sein. Die Begierde und der Instinkt wandeln sich nach und nach in Interesse um. In der Sprache der Psychologie könnten wir sagen: Das Libido strömt frei in die Welt hinein, anstatt dass es nach innen gewendet wird, wo es ein von der Welt entkoppeltes Selbstgefühl und aber auch das Bedürfnis erzeugt, die von ihm selbst erzeugten Störungen aufzulösen.
Wenn wir uns die Welt mit Distanz ansehen, wird das Emotionsleben zurückgestaut. Während es die Illusion erzeugt, dass das Fühlen unser Eigentum ist, produziert es auch Grausamkeit. Auch die scheinbar zärtlichsten Gefühlsäußerungen – wie etwa ein Impuls, jemanden zu trösten oder ihn liebevoll zu behandeln – können von einer Sekunde auf die andere in Gewalt umschlagen, wenn sie nicht einer fortdauernden Beziehung zur Welt entspringen, sondern aus aufgewühlten Instinkten und Leidenschaften hervorgehen.
Wie ist es möglich, eine Beziehung herzustellen zwischen dem Warten, der Geduld, der Empfänglichkeit einerseits und dem Drängen der Instinkte und der Leidenschaften andererseits, wenn wir scheinbar gar keine Kontrolle haben über diese letzteren, unterbewussten Aspekte unseres Seins? Direkt lässt sich soetwas nicht machen. Ich kann nicht willentlich meine Begierden in ein bewusstes Verhältnis zur Welt setzen. Wohl haben wir etwas Kontrolle über unsere Gedanken. Wir können uns geistig mit reinen Ideen beschäftigen. Wir können lesen und über Dinge meditieren, die einen spirituellen Nährwert haben und uns inspirieren. Wir können die Werke der großen Meister und Heiligen, die vor uns den Pfad gegangen sind, lesen und kontemplieren, um zu einem Verständnis der Art zu gelangen, wie sie sich die schwierigen Angelegenheiten stellten, welche wir hier betrachtet haben. In einer solchen kontemplativen Arbeit gewinnen wir nicht nur Erkenntnis und Verständnis, sondern wir empfinden auch direkt und greifbar, wie uns von denjenigen Hilfe zuteil wird, die vor uns gerungen und überwunden haben. Uns inspiriert eine innere Stärke über das hinaus, was wir rein aus eigenen Kräften hätten aufbringen können. Solche Gedanken wirken dann indirekt im Reich unserer Instinkte und Leidenschaften, diese läuternd. Auch können wir, wenn auch nur in kleiner Weise, auf das Wohl anderer hin arbeiten, anstatt immer bemüht zu sein, uns selbst zu zufriedenzustellen. In dieser Weise werden indirekt die Leidenschaft und der Instinkt umgewandelt. Vernichtet werden sie nicht, auch unterdrückt werden sie nicht, sondern sie werden das Vehikel und das Medium zum Fühlen, wie man sich handelnd mit der Welt verbindet.
[1] Siehe Walter Enloe und Randy Morris, Encounters with Hiroshima, (St. Paul, MN: Hamline University Press, 1998), and Michael Perlman, Hiroshima forever: The Ecology of Mourning (Barrytown, NY, Station Hill Arts, 1995).
[2] James Hillman, Pan and the Nightmare (Dallas: Spring Publications, 1965).
[3] Theodore Rosyak, Mary E. Gomes, Allen D. Kanner (Red.), Ecopsychology: Restoring the Earth, Healing the Mind (San Francisco: Sierra Club Books, 1995).
[4] Rudolf Steiner, Geistige Hierarchien und ihre Widerspiegelung in der physischen Welt (GA 110), Rudolf Steiner Nachlassverwaltung.
[5] Siehe Rudolf Steiner, Anthroposophie (Ein Fragment), Verlag der Rudolf Steiner- Nachlassverwaltung Dornach/Schweiz (GA 45).
[6] Diese Übung ist von einer Übung aus Dennis Klocek, Seeking Spirit Vision (Fair Oaks, CA: Rudolf Steiner college Press, 1998) abgewandelt.
[7] Diese Sichtweise der Zwangserkrankung stammt von Arthur Guirdham, Obsession: psychic forces and evil in the causation of disease (Essex, England: C.W. Daniel, 1971).
[8] Kevin T. Dann, Bright Colors Falsely Seen: Synaesthesia and the Search for Transcendental Knowledge (New Haven: Yale University Press, 1998).
[9] James Hillman und Marie-Louise Von Franz, Lectures on Jung’s Typology: The Inferior Function and the Feeling Function (Dallas: Spring Publications, 1971).