Angst und Bewusstsein
Auf den Schwingen der Phantasie zur Liebe zu finden; diese Liebe dann durch Schönheit in die Welt hereinzubringen: das scheint adäquat zu beschreiben, wie wir dem alles durchdringenden Einfluss der Angst entgegnen können. Wer aber hier schon haltmachen wollte, der würde die Vermittlung einer bloß ästhetischen Auffassung der Notwendigkeit eines Dauerkampfes gegen das ständig wachsende Gespenst der Angst riskieren. Eine imaginative Auffassung dieser Notwendigkeit aber ist es, was Not tut. Kein Ort sollte ungeprüft bleiben, wo die Angst ein Standbein bekommen könnte. Und ein solcher noch ungeprüfter Ort – ein unbetretener Raum, sozusagen –, an dem die Angst und die Angst wüten, das ist das eigene Bewusstsein. Wenn es zutrifft, dass dieser Raum der ist, der am schwersten zu betreten ist, so liegt das nicht etwa daran, dass die Angst, die wir dort finden, am verderblichsten wäre; es liegt vielmehr daran, dass wir das Bewusstsein selbst verwenden müssen, um der dort befindlichen Angst beizukommen. Und wenn alle Menschen ohne Ausnahme schon ab dem frühsten Alter nachteiligen Einflüssen ausgesetzt, so ist das nicht nur deshalb, weil uns dort unsere persönlichen Ängste begegnen, sondern auch deshalb, weil wir zusätzlich in einer Welt leben, die von Angst und Angst völlig durchsetzt ist. So schleicht sich die Angst in die Struktur selbst des Denkens, der Erinnerung und des Wahrnehmens ein und gibt den Zusammenhang unseres Bewusstseins ab.
Worin besteht das wachbewusste Leben? Das ist keine leichte Frage. Zu Beginn möchte ich den Unterschied zwischen Bewusstsein und Aufmerksamkeit aufzeigen. Im Wachleben empfinden wir sowohl unseren Leib als auch die uns umgebende Welt. Auch spüren unsere inneren Zustände, unsere Gefühle und Emotionen. Aber bloß weil wir diese Dinge empfinden, heißt es noch nicht, dass wir uns ihrer bewusst sind. Um uns unserer Aufmerksamkeit vollkommen bewusst zu werden, ist ein kognitives Element – das, was Georg Kühlewind das reine Denken nennt – unentbehrlich.[1] Das bewusste Leben funktioniert dann normal, wenn wir uns gleichzeitig auf uns selbst und auf unsere Umwelt besinnen, ohne dass die Waage in die eine oder die andere Richtung zu sehr den Ausschlag gibt. Wenn wir zu selbstbewusst werden, rutscht das Bewusstsein ins Selbstsüchtige und Egoistische; hingegen wenn wir ausschließlich nach außen blicken, werden wir für unsere eigene Teilnahme am bewussten Leben blind.
Ein weiterer zentraler Aspekt des Bewusstseins ist das Gedächtnis. Das Gedächtnis trägt zu unserem Selbstgefühl erheblich bei und ist das, was – zusammen mit dem kognitiven Element des Bewusstseins – das Wahrnehmen vom bloßen Empfinden unterscheidet. Wenn ein kleines Kind zum ersten Mal sieht, wie zum Beispiel ein braunes, haariges Etwas sich über den Fußboden bewegt, so empfindet es etwas, was es vom Schwarm der es umgebenden Licht- Farb- und Geräuschempfindungen kaum unterscheiden kann. Mit der Zeit findet das Kind die Bedeutung dieser Sinneserfahrung und lernt, das „Etwas“ als Hund einzuordnen; einmal in dieser Weise identifiziert, werden die Erfahrungen, die das Kind mit dem Hund macht, zum Aspekt von dessen Erinnerung. Das ermöglicht, dass das Kind andere Hunde wahrnehmen kann, ohne sie jedes Mal neu begreifen zu müssen.
Ein weiterer Aspekt des Bewusstseins ist der Intellekt. Beim Intellekt geht es um die Fähigkeit, Aspekte des gewöhnlichen Bewusstseins zu verwenden – Erkenntnis, Erinnerung und Wahrnehmung –, um auf uns selbst sowie auf die uns umgebende Welt Rückschlüsse zu vollziehen. Auch weitere Tätigkeiten wie zum Beispiel Gefühle, Phantasie, Inspiration und Intuition, können mit unserem Wachbewusstsein verbunden sein. Aber der Ursprung dieser Tätigkeiten sind die Tiefen des Seelenlebens sowie die höheren Vorgänge des Geisteslebens, und genau sie sucht die Angst aus dem gewöhnlichen Wachbewusstsein zu verbannen. Unser alltägliches Dasein besteht hauptsächlich im Egobewusstsein, nämlich in der äußerst eingeengten Spannweite des Bewusstseins, die inzwischen als normal gilt. Aber ohne die volle Spannweite bewusster Tätigkeiten ist das „Normalsein“ in diesem Sinne entschieden abnormal geworden.[2]
Das Egobewusstsein besteht in der starken Tendenz, sich selbst zu befriedigen, indem es alle bewussten Aktivitäten im Dienst des Selbstgefühls, der Selbsterhaltung, des Selbstgenuss, des Manipulierens anderer und der Umwelt einsetzt. Wann immer das Bedürfnis nach Macht zu stark ist, wird das Egobewusstsein zum Geltungsbedürfnis; so wird dieser kleine Ausschnitt des Seelenlebens extrem selbstschützend. Wenn das Fühlen, die Phantasie, die Imagination, die Inspiration oder die Intuition für Augenblicke ins Bewusstsein steigt, kann es vorkommen, dass das Ego sich bedroht fühlt. In der Regel erleben wir diese Domänen des Bewusstseins so, als würden sie ungebeten und eigenmächtig zu uns kommen – sie trotzen etwa der Logik, der Kohärenz, dem Verständnis, und ordnen sich scheinbar der Herrschaft und der Kontrolle des Egos nicht mehr unter. Einmal eingedrungen, können sie unsere „normalen“ Bewusstseinszustände überfordern, unsere kleine Insel des Egos bedrohen und, bei fortgesetztem Eindringen, in uns das Gefühl verursachen, als würden wir wahnsinnig. Was dabei eigentlich geschieht ist, dass die Möglichkeit, ganz Mensch zu werden, uns kundtut.
Das gewöhnliche Bewusstsein lässt uns nur so tief uns selbst erkennen, als unsere persönlichen Erinnerungen reichen; es lässt uns nur durch die Sinne wahrnehmen und nur mit dem Intellekt denken. Unser alltägliches Bewusstsein lässt uns keine Bildhaftigkeit, keine direkte Teilnahme an der Inspiration oder der Intuition zu. Durch Meditation, durch Traumarbeit, durch den Umgang mit gelenkten Bildern oder durch andere das Bewusstsein steigernde Praktiken mögen wir zwar für Augenblicke den Zugang zu diesen Reichen des Bewusstseins erlangen. Aber zu unserer alltäglichen Kost gehören sie nicht. Das Ego verdrängt den Umstand, dass es fortdauernd in Angst lebt, und erhält so die Illusion aufrecht, dass in ihm allein das praktische Bewusstsein besteht. Dadurch trennt es uns von den Bewusstseinsmoden, die es vermöchten, uns den Weg durch eine angstgerittene Welt hindurchzuführen.
Wenn uns dennoch starke Gefühle, Phantasien oder Inspirationen kommen, gehen sie in der Regel mit Angst einher, da wir uns dann nicht mehr als im Ego zentriert empfinden. Wenn ich zum Beispiel einen Traum habe, in dem fünf große, mit Messern herumfuchtelnden Männern hinter mir her sind und schreien, dass sie mich umbringen werden, wenn sie mich erwischen, so wache ich voller Angst auf. Das ist aber eine ganz andere Situation als die, in der fünf mit Messern bewaffnete Männer mir hinterher wären, während ich wach bin. Hier wäre mein Leben in Gefahr. Im Traum fühlt sich mein Egobewusstsein bedroht und machtlos, da ich mit etwas mir völlig Unbekanntem konfrontiert werde, was mein gewöhnliches Bewusstsein überfordert. Die Jung’sche Psychologie würde den Traum als Signal der Notwendigkeit deuten, dass ich mittels der direkten Erfahrung mit meinem Schatten Bekanntschaft mache. Das hieße die Ausschaltung meiner Angst dadurch, dass ich in mir ein imaginatives Bewusstsein ausbilde.
Die Verbindung zwischen Angst und Egobewusstsein kann man nicht lediglich als Ausdruck der Trennung des Egos von den weiteren, tieferen und höheren Aspekten des Bewusstseins verstehen. Führt diese Sichtweise doch zur Vorstellung, dass das Egobewusstsein getilgt werden müsse, um die Angst loszuwerden. Der spirituellen Traditionen, die eben diese Sichtweise behaupten, sind viele. Das Egobewusstsein ist aber nicht einem von der Angst gerittenen Bewusstsein gleichzusetzen. Der zentrale Aspekt des Egobewusstseins – zumal unsere Fähigkeit, eine bewusste Wahl treffen zu können, ein Selbstgefühl zu haben, und individuelle Macht zu besitzen – ist nicht Angst oder Angst, sondern Freiheit.
Die Angst, die Angst nistet sich in uns ein, damit wir vergesslich werden mit Bezug auf diesen zentralsten und kreativsten Aspekt des Egobewusstseins. In ihrer Verborgenheit ermächtigt sie sich so gänzlich unser, dass sich das Ego allein schon durch die Möglichkeit des Eindringens anderer Bewusstseinsarten bedroht fühlt. Und wann immer es sich so bedroht fühlt, lässt das Ego die Bedrohung so aussehen, als würde sie von außen kommen. Aber eigentlich versteckt sich unsere Angst in unserem eigenen Egobewusstsein. Die im Egobewusstsein aufgestellten Taktiken der Angst zeugen von einem raffinierten Verdrängungsapparat sowie von einer Intelligenz, die über unsere eigene Schlauheit hinaus gehen. Schon der Umstand, dass wir uns dieser Verdrängung nicht einmal bewusst sind, belegt die Gerissenheit und die Autonomie der Angst.
In der Gegenwart der Angst besitzt die enge, eingeschränkte Spannweite des gewöhnlichen Egobewusstseins eine formale Hauptcharakteristik: Alles, was sie versteht, nimmt sie wortwörtlich. Aus der Perspektive des Egobewusstseins bedeutet etwa Geld weiter nichts als Euro und Cent. Das imaginative Bewusstsein stellt aber unter Geld nicht nur Euros und Cents, sondern auch Macht, Wert, Beziehungen in der Welt, ein Geschenk der Götter, schnöder Mammon, und viele andere, ebenfalls vorhandene Bilder vor. Das Egobewusstsein hat für Metaphern, für Analogien, für Gleichnisse, innere Widersprüchlichkeit, das Bildhafte oder das Erzählerische nur geringe Fähigkeit. Diese Dinge, welche mit imaginativen Gestalten zu tun haben, dürfen nur in Form der Unterhaltung, des Vergnügens, oder gelegentlich als eine Art Schauspiel ins Bewusstsein eindringen.
Diese Eigenschaft, alles wortwörtlich zu nehmen, alles in nur dem einen oder dem anderen Sinn aufzufassen, anstatt die Dinge als mit zweier- oder mehrerlei Bedeutung gleichzeitig ausgestattet sehen zu können, wirkt abtötend auf das vom Egobewusstsein Verstandene. Alles, was lebt, was in Bewegung ist, was dynamisch, regsam, sich ändernd, flüchtig, vorübergehend, dahinschwindend ist (Eigenschaften aller Realität, ob sichtbar oder unsichtbar), ist für den, der der Wortwörtlichkeit verpflichtet ist, in der Stasis festgefroren, als könnte ein Schnappschuss die Bedeutung einer ganzen Welt wiedergeben. Der Wahrnehmungsmodus unseres Egos kann es der Fülle der Wirklichkeit nicht gleichmachen. Die Angst, die Angst ist es, was sich so abtötend auf das auswirkt, was von unserem Bewusstsein erfasst wird.
Eindimensionale Angst
Wann immer Angst im gewöhnlichen Bewusstsein heimlich das Sagen hat, besteht ihre Haupttaktik darin, die Realität zu verflachen und aller Erfahrung den Anschein zu verleihen, als wäre sie rein im wortwörtlichen Sinn zu verstehen. Die „normale“ Wirklichkeit lehnt alles ab, was nicht so verflacht werden kann: Die Vernunft stempelt es etwa als „komisch“ oder gar als psychisch krank ab. Eine der Nebentaktiken der Angst ist es, alles, was der Seele entspringt, dem Status des Egos zuzuordnen. Laut der Traumdeutung zum Beispiel tut das Ego den Traum als frivol ab. Oder es verwendet Hinweise, die von außerhalb des Traums selbst geholt werden, um dessen Bedeutung zu beurteilen. Man glaubt, durch psychologisches Interpretieren an die „wirkliche“ Bedeutung des Traums heranzukommen; dabei wird die große Spannweite des Seelenlebens lediglich auf die Ego-Schicht verengt. Durch solches Interpretieren wird die lebendige Qualität des Traums so gut wie getötet. Was die Gefühle betrifft, werden diese als Eigentum verstanden – als „meine“ Gefühle; dabei haben sie ihren Ursprung in einer Region, die ganz andersartig ist, als das normale Bewusstsein. Wenn wir zum Beispiel „Ich empfinde große Traurigkeit“ sagen, so signalisiert das die Vereinnahmung der Domäne des Gefühls durch das Ego. Zutreffender ist es zu sagen: „Eine große Traurigkeit hat mich heimgesucht“. Wenn uns eine Inspiration kommt, so glauben wir, dass wir selbst die Urheber des originellen Einfalls sind. Wegen dieser Vereinnahmung kann uns nichts Neues oder Unbekanntes einfallen, weil das von der Angst gelenkte Ego-Bewusstsein nur das hereinlässt, was es bereits begreift.
Vielleicht glaubt man, dass das Leben der Seele trotz alledem in seinen Tiefen bis ins Unendliche geht; dass die Seele von Angst und Angst nicht zerstört werden kann; und dass alle Menschen die Fähigkeit besitzen, sich inspirieren zu lassen, solange sie nur unvoreingenommen sind. Als Erstes ist es aber wichtig zu erkennen, dass die Seele keine „Wesenheit“ ist, nicht einmal eine solche der allersubtilsten Art. Die Seele ist eine Fähigkeit, die dadurch funktioniert, dass sie disparate und polare Eigenschaften zu einer einzigen Form zusammenwebt, nämlich zur Form der Bilder. Das sind wohlgemerkt keine Bilder zum Betrachtetwerden, nicht einmal innerlich. Sie sind vielmehr die Handlung des Verbildlichens selbst. Ferner stellt diese Handlung des Verbildlichens keine – etwa woanders existente – Realität dar. Sie ist kein Verbildlichen eines nicht-Gegenwärtigen, sondern sie ist eine Darbietung von allgegenwärtigen Wirklichkeiten, die aber dem landläufigen Bewusstsein unsichtbar bleiben. Wenn die Angst oder die Angst in diese Seelenfähigkeiten eindringen, können sie sie zerstören.
Schaue dir zum Beispiel eine Rose an. Du vernimmst eine rote Gestalt mit einer bestimmten Geruchsqualität, aber da du schon viele Male einen solchen Eindruck gehabt hast und irgendwann erfahren hast, dass diese Gestalt eine Blume ist, die man „Rose“ nennt, so verleiht deine Erinnerung dem Eindruck eine Bedeutung. Du bist vielleicht Gärtner und hast intellektuelle Kenntnisse über solchen Blumen angesammelt. Du empfindest auch Freude an der Schönheit und dem Duft der Rose. Diese Erfahrungen gehören alle dem Bereich des gewöhnlichen Bewusstseins an. Wenn du dich nun von dem abwendest, was du wahrnimmst, kannst du dir die Rose zwar vorstellen, aber diese vorstellende Tätigkeit wird vom gewöhnlichen Egobewusstsein gefangengenommen und auf es beschränkt. Das führt wiederum dazu, dass du lediglich ein inneres Bild ansiehst. Die lebendige Seelenqualität der Rose ist schon verschwunden; sie ist dem gewöhnlichen Bewusstsein verfallen, denn auch hier ist die Angst beziehungsweise die Angst eingedrungen und es ist ihr gelungen, das Leben der Rose zu töten. Die dem Egobewusstsein innewohnende Angst blockiert die volle Tiefe des Verbildlichtwerdens der Rose. Es bleibt nur ein Schatten ihrer wahren Wirklichkeit übrig, und doch haben wir von dem, was geschehen ist, gar keine Ahnung.
Eine Rose geht weit darüber hinaus, eine bloß physische Realität zu sein. Das ist sie allerdings auch, aber sie ist außerdem so viel mehr. Wenn, anstatt dich von der Blume abzuwenden und von ihr ein inneres Bild machen zu wollen, du deine Aufmerksamkeit darauf konzentrierst, jeden Aspekt der Wirklichkeit der Rose neu zu erschaffen, wird dich das zum Erleben weit hintergründigerer Eigenschaften führen. Diese Eigenschaften lassen sich kaum mit Worten zum Ausdruck bringen – die außerordentliche Zartheit der Blütenblätter; die tiefrote Farbnuance, die gar nicht so erscheint wie ein farbiger Gegenstand, sondern wie das Leben der Farbe Rot selbst. Du wirst die besondere Form der Blütenblätter gewahr, die nicht so sehr eine Gestalt, als eine Geste sind. Und der Duft – ein so tiefer, dass du ihn schmecken kannst – dringt dir als Zusammenfluss von Duft und Farbe bis ins Zentrum des Herzens.
Durch diesen Akt der Konzentration nähern wir uns der Wirklichkeit der Rose, und das ist erst der Anfang einer wahren Seelenerfahrung von ihr. Man kann sich auf die volle Vorstellung der Rose noch tiefer einlassen; ja man könnte ein ganzes Leben daran zubringen und die Realität der Rose niemals erschöpfen. Man kann über die Blüte hinausgehen und die Blätter, den Stiel, die Stacheln, die Wurzeln, die sie umgebende Erde, die Verbindung zwischen der Rose und dem Himmel, der Sonne, dem Mond und die Sterne imaginieren.
Ferner kann man die Eigenschaften der Rose – Reinheit, Liebe, Zärtlichkeit –, die man gewöhnlich rein symbolisch auffasst, zu Wirklichkeiten machen, indem man sich sorgfältig auf die eigene innere verbildlichende Tätigkeit konzentriert. Gertrude Stein sagte „eine Rose ist eine Rose ist eine Rose,“ was für das Egobewusstsein so viel bedeutet, wie: Man solle in die Rose nicht zu viel hineinlesen; eine Rose sei weiter nichts, als eine Rose. Für das Bilderbewusstsein aber bedeutet dieses Wort Gertrude Steins, dass die Realität der Rose immer weiter und weiter und weiter geht.
Wenn du diese Konzentrationsübung versuchst, wirst du womöglich als Erstes Angst oder Angst erleben. Wann immer wir versuchen, das gewöhnliche Egobewusstsein abzustreifen, tritt die diesem Bewusstsein innewohnende Angst hervor und will eine Mauer bauen, als wollte sie uns warnen vor dem Übertreten der Grenze zu einem weiteren, ausgedehnteren Bewusstsein. Angst und Angst handeln aber sehr rasch, und es kann geschehen, dass du diesen Impuls zum Errichten einer Mauer nicht direkt fühlst. Stattdessen fühlst du womöglich, dass du deine Konzentration nicht auf das innere Bild gerichtet halten kannst, ohne dass andere Gedanken, Gefühle und Bilder hereinfluten. Oder du tust die Übung als lächerlich ab, oder du fühlst dich wegen des Versuchs frustriert oder überfordert. Die Angst schwebt bei allen solchen Reaktionen sehr in der Nähe. Hast du einmal in deinem Leben besonders starke Angst und Angst erfahren, so kannst du eine schwere Verletzung der Fähigkeit erlitten haben, die innere Aufmerksamkeit zu bündeln. Denn ab da behauptet die Angst ihre Position von innerhalb des Egobewusstseins umso intensiver: Sie trennt nahezu komplett das gewöhnliche Bewusstsein von allen anderen Bewusstseinsmodi ab.
Wie finden Angst und Ängste den Weg aus der Welt hinaus und in ihren versteckten Wohnsitz im Egobewusstsein hinein? Durch den Körper. Körperliche Angstkrämpfe klingen nach und wirken aus dem Körper heraus ins Bewusstsein herein. Auch erinnerte Erlebnisse der Angst oder der Angst wirken in dieser Weise. Ja schon unsere Kultur selbst fördert dieses Angstgeladene Nachhallen, und wirklich: Diese Kultur lässt keinen Raum für lebendige Verbindungen mit geistigen Welten übrig. So offen heutzutage Beziehungen zu Engeln, geistigen Führern oder den Verstorbenen auch besprochen werden: Nach wie vor sind solche Erfahrungen Randerscheinungen, die oft mit Skepsis entgegengenommen werden. Aber der ungeheure Trost und die Führung, die aus ihnen zu gewinnen ist, bieten das Gegengift zu Angst und Angst. Wenn im Kulturleben solche Wirklichkeiten keinen Platz haben, findet die Angst ungehindert den Weg ins Egobewusstsein.
Zur Förderung einer heilsamen Entwicklung des Ego-Bewusstseins
Die Angst ist in die Struktur des Egobewusstseins sozusagen schon eingebaut. So kann man Angst-Übergriffe vorbeugen. Man braucht lediglich die Spannweite des Bewusstseins über die Egoität hinaus zu erweitern. Solche Erweiterung kann eine alltägliche Praxis sein, in der wir darauf hinarbeiten, uns stärker am Leben der Seele zu orientieren. Es geht hier nicht darum, das Seelenleben ins gewöhnliche Bewusstsein zu übertragen, sondern darum, das gewöhnliche Bewusstsein ins seelische Bewusstsein hineinzubringen.
Wie kann man das üben? Anstatt zu versuchen, der Seele unsere Aufmerksamkeit zu schenken, müssen wir ermöglichen, dass sie unsere Aufmerksamkeit sich holt. Die bildschaffende Realität der Seele ist eine Fähigkeit der Imagination. Es geht dabei nicht um innere Bilder, die es zu betrachten gilt, sondern um den Vorgang selbst, Bilder zu schaffen, die ständig dabei sind, sich zu bilden und – im selben Augenblick – sich aufzulösen. Der Inhalt eines inneren Bildes ist weiter nichts als die äußere Bekleidung, der Schlussmoment eines Verbildlichungsvorgangs. Wir sollen unsere Aufmerksamkeit also nicht so sehr auf den Bildinhalt lenken, sondern vielmehr auf die Gefühle, auf die Eindrücke, auf die Empfindung der Bewegungen des Verbildlichungsprozesses, auf dessen Rhythmus und dessen dramatisches Handeln.
Nehmen wir an, ich habe einen Traum, in dem ich über einer Stadt fliege; Flügel habe ich dabei keine. Auf einmal merke ich im Traum, dass ich überhaupt fliege, und in diesem Augenblick beginne ich, in die Tiefe zu stürzen. Ein kleiner brauner Hund steht auf der Stelle, wo ich auftreffen werde, und schaut mir neugierig aber zugleich mit erkennendem Blick entgegen, als wenn er diesen fallenden Körper kennen würde. Da hört mein Sturz auf und ich erhebe mich wieder in die Wolken. Das Traumbild steigt mir beim Aufwachen ins Bewusstsein auf. Aus der Perspektive des Egobewusstseins bedeutet der Traum vielleicht, dass ich zu sehr im Geist befangen bin, und dass ich dadurch so zum Handeln veranlasst werde, als hätte ich keinen festen Boden unter den Füßen und so einfach beliebig herumschweben kann; dass aber wenn ich meinen Geist mit dem Tier in mir verbinden kann, er in neuer Weise frei ist. Eine schlaue Auslegung. Nichtsdestotrotz: Alles Unsinn! Denn ich entferne mich dabei von der eigenen Ausdrucksweise der Seele selbst. Hingegen wenn ich mich beim Aufwachen anstrenge, das Traumbild als Ganzes zu halten, so kann ich an der eigenen Ausdrucksweise der Seele näher dranbleiben. Wie alle Bildschaffende Tätigkeit ist das Träumen ebenfalls nicht linear. Schon wenn ich den Traum in die Form einer Erzählung bringe, ist das eine Art Interpretation. Wenn ich aber jede Schicht des Traums gleichzeitig fühlen und empfinden kann, anstatt mit ihm als mit einer mehr oder weniger linearen Erzählung umzugehen, so ernähre, ehre und unterstütze ich nicht nur den Traum, sondern auch die Seele in dem ihr eigenen Handlungsmodus.
Das Leben der Seele hält sich nicht an der Logik des Egos. Wenn wir versuchen, durch gewöhnliche Logik die Seele zu verstehen, anstatt zuzulassen, dass sie uns ihrer eigenen Art gemäß belehrt, so stärken wir die Kräfte des Egos und schwächen die des Seelenlebens. Man muss das Ego aber nicht aufgeben, um die Seele zu Wort kommen zu lassen; ja wenn wir das tun würden, würden wir durch Erlebnisse überwältigt werden, die wir weder verstehen noch behalten können. Wenn hingegen die dem Egobewusstsein innewohnende Angst reduziert wird, dann funktioniert das wahre Wesen des Egos als der geistige Kern unseres Wesens. Anstatt weitere und tiefere Formen des Bewusstseins abzulehnen, umarmt dieses zentrale „Ich“ solche Erfahrungen. Um in der Begrifflichkeit des großen Dichters Samuel Taylor Coleridge zu sagen: Das von Angst freie Ego ist die Nachbildung des unendlichen „Ich Bin“ im endlichen Verstand.
Was bezwecken wir, wenn wir die wesensgemäße Handlungsweise der Seele fühlen lernen? Die Erlangung der Fähigkeit, uns von der Seele verändern zu lassen. Träume sind hierfür ein ausgezeichneter Ausgangspunkt, denn in ihnen bekommen wir die Rudimente einer Logik zu fassen, die anders ist als die Logik des Egobewusstseins. Diese neue „Logik der Simultaneität“ wirkt im Wachleben – in dem Maße, in dem wir uns auf sie einlassen – verändernd auf die Erkenntnis sowie auf das Gedächtnis, das Denken und das Wahrnehmen. Bei dieser Änderung geht es nicht bloß um eine gründlichere Selbsterkenntnis; noch wichtiger: Es geht um eine Steigerung der Fähigkeit, uns der Welt und anderen Menschen zu nähern. Bisher hatte die Angst unser Bewusstsein fest im Griff. Nunmehr löst er sich.
Indem wir das Bollwerk der Angst im Egobewusstsein abbauen, werden wir dazu fähiger, seelische Eigenschaften in der Welt zu entdecken. Im Wachleben ist die Seele die innere Genießerin alles dessen, was sich uns darbietet. Das soll nicht heißen, dass es ihr nur um Befriedigung geht; genießt die Seele doch alles, auch solche Dinge, die für uns als abscheulich gelten. Soll es aber den seelischen Eigenschaften der Welt gelingen, unsere Aufmerksamkeit zu packen, so kommen wir um eine Steigerung unserer Fähigkeit, die Welt als einen Vorgang des Entstehens von Bildern zu empfinden, nicht herum.
Jeden Tag verbringe ich einige Minuten damit, ein inneres Bild von etwas zu machen, was mir an diesem Tag begegnet ist. Wenn ich zum Beispiel nach einem Schneesturm von meinem Haus in den Bergen die Straße hinuntergefahren bin und die schneebedeckten Bäume gesehen habe, die die Straße säumten, so ist das ein allerdings sehr beeindruckender und bewegender Anblick. Sofern aber dieser Eindruck gleich vom nächsten Eindruck verdrängt wurde, ist das noch kein bewusstes Seelenerlebnis. Also nehme ich mir abends fünf Minuten und mache ein inneres Bild von einer Szene, die ich am Tag gesehen habe. Aber ich erinnere mich nicht bloß an das Gesehene. Auch visualisiere ich es nicht bloß mit dem inneren Auge. Bei Letzterem geht es um die – vorwiegend mentale – Tätigkeit, ein vor sich befindliches inneres Bild anzusehen. Worum es bei einem solchen Bildschaffen geht, das ist vielmehr, ein sehr detailliertes, genaues Bild zu machen, dann dieses Bild mein ganzes Wesen so durchsetzen zu lassen, dass ich es nicht mehr vor mir erlebe, sondern dass ich das Bild werde. Worauf es bei dieser Tätigkeit ankommt, das ist, das Bild so zu stabilisieren, dass es nicht gleich verblasst oder sich in etwas anderes verwandelt.
Eine Übung wie diese braucht sich nicht auf das Visuelle zu beschränken. Ich selbst übe solches Bildschaffen mit Musik, oder mit einem von jemandem gesprochenen Satz, oder mit Tastempfindungen, mit Gerüchen, ja mit der vollen Spannweite meiner Sinne. Man kann diese Übung auch mit Gedanken, Gefühlen, Handlungen, ja mit dem ganzen Feld des menschlichen Erlebens machen.
Indem die Seele erstarkt, entwickelt sich ein imaginales Ego-Bewusstsein. Wir müssen nicht das gewöhnliche Bewusstsein auslöschen, um Erfahrungen zu haben, die von der Seele durchdrungen sind; das Ziel ist vielmehr, das Bilderbewusstsein und das gewöhnliche Bewusstsein zusammenzuführen. Da beginnt die Welt nach und nach als fortdauernde Tätigkeit anstatt nur als festgelegte Inhalte in Erscheinung zu treten. Zum Beispiel: Ich schaue jeden Tag zu meinem Fenster auf die Landschaft hinaus. Aufgrund der ständigen Änderung von Licht und Schatten, von den Wolken und der Sonne, dem Nebel und dem Regen, ändern sich auch die Formen der Objekte; auch gruppieren sie sich zu verschiedenen Zeiten in verschiedener Weise. Im einen Moment steht ein Baum im Zentrum, im nächsten Moment gehört er zum Hintergrund. Die Färbung kann von Blau zu Silber zu Indigoblau zu Lila wechseln. Die Welt-als-Bild entsteht ständig in diverser, immer neuer Weise.
Die ganze Welt bietet sich zum Bilderschaffen an. So bietet sich die konstruierte, durch menschliche Genialität gebaute Welt als Bildtätigkeit dar. Ein glatter, gläserner, hoch hinaufragender Wolkenkratzer steht allein an der Ecke, zerbrechlich, isoliert und in sich gekehrt, und ich empfinde Mitleid mit diesem einsamen Gebäude. In dieser Weise präsentieren sich auch Menschen. Wie erstaunlich es ist zum Beispiel, die kräftige Gangart des einen Menschen zu beobachten und mit welch festem Schritt seine Füße den Boden berühren – als wenn im nächsten Moment das gerade eben gesetzte Bein zum Heben zu schwer sein könnte und der Mensch ewig auf dieser Stelle festgefroren bleiben müsste. Wie ist es möglich, mag man sich fragen, dass dieser Mensch sich überhaupt bewegt? Jemand anders scheint durch die Luft zu fliegen und kaum sich die Mühe zu machen, mit jedem Schritt den Boden zu berühren. Oder das Antlitz eines Menschen zu betrachten – das eine Gesicht mit Linien gezeichnet, zerAngst, faltig, die Sorgen, die Freuden, die Schmerzen eines Lebens offenbarend; ein anderer mit glatter, zarter Haut, die ganzen Lebenserfahrungen durch tiefe, dunkle, nachdenkliche Augen zeigend.
Wenn wir Seele in der Welt finden, ist es nicht darauf zurückzuführen, dass wir sie dorthin projiziert haben. Diese Vorstellung ist eine psychologische Erfindung, die geschaffen wurde durch die scharfe Trennlinie zwischen Egobewusstsein und dem Rest des Seelenlebens, und die das Letztere in „das Unbewusste“ verbannt. Laut einer solchen Psychologie gehören seelische Qualitäten nicht zu der „eigentlichen“ Welt; sie entspringen vielmehr dem Unterbewusstsein und werden auf die Welt lediglich projiziert. Ist aber die Angst einmal aus ihrem Versteck im Egobewusstsein ans Licht gekommen, so wird klar, dass die Trennung zwischen dem Egobewusstsein und den anderen Modi des Seelenlebens von eben dieser Angst vollzogen wird.
Wenn wir daran arbeiten, die Seele mit dem Egobewusstsein zu verbinden, so vertreiben wir die Angst nicht nur aus ihrem Versteck in uns. Eine solche Arbeit wirkt sich nämlich auch auf die in der Welt verbreitete Angst aus. Wird das Leben der Seele Stück für Stück bewusster, so ist es, als würde ein Teil von uns in das hinübergehen, was uns entgegenkommt. Ob das Letztere aus unseren eigenen Seelentiefen oder aus den Raumesweiten kommt, ist ein solches Gefühl des ineinander Übergehens nicht in leibfreien oder mystischen Erfahrungen zu orten. Denn alles, was wir „Seele“ nennen, ist weiter nichts als eine Variation, eine Modifikation der einen oder anderen Art schöpferischer Liebe. Die Angst wird allerdings durch Liebe überwunden. Aber nicht durch eine Liebe, die wir von unserem Ego oder unserer Sentimentalität her eingehen. Liebe handelt als eine Kraft gegen die Angst, aber nur insofern sie ein Impuls auf Beziehung, auf Verbindung, auf Affinität hin ist und der Trennung, der Zerteilung, dem Konflikt und der Gewalt entgegensteht. In dem Maße, in dem wir von der Seele her wach werden, finden wir uns immer mehr in der Welt draußen und immer weniger auf uns selbst bezogen. Anstatt abzuwarten, dass die Liebe zu uns kommt und uns mitreißt, ist es jetzt an uns, einen Beitrag zum Kreislauf der Liebe in der Welt zu leisten – einen maßgeblichen Beitrag zum unschädlich-Machen der drückenden, allgegenwärtigen Angst in der Welt.
Angst und der Intellekt
Am allerschlimmsten wütet die Angst im Bereich unseres alltäglichen Denkens. Beim Einsatz der Erkenntnis, der Erinnerung und der Wahrnehmung zur Weiterbildung des Intellekts drängt sich die Angst dazwischen. Das schneidet das Seelenleben vom normalen Bewusstsein ab und das Denken wird ungesund. Nicht der Inhalt dessen, was man denkt. Sondern die Handlung des Denkens selbst bekommt eine Struktur, die insgeheim mit der Angst zusammenarbeitet.
Zwar kann das Denken eine Tätigkeit der Seele sein, aber für die meisten von uns ist es eine Handlung des Egobewusstseins. Mit der Bezeichnung des Denkens als eine Tätigkeit der Seele meine ich die Fähigkeit, durch das Bilden von Ideen zu Erkenntnissen zu kommen. Ideen sind Bilder – das Wort Idee kommt vom griechischen eidos, was „Bild“ bedeutet. Wann immer die Angst in die Tiefen unseres Bewusstseins hineingelangt, schwindet die Fähigkeit, Ideen als Bilder zu formen, dahin. Wir erleben die Ideen fast ausschließlich in der Dimension der Brauchbarkeit anstatt in ihrer Eigenschaft als sakrale Gebilde.
Die erkennende Phantasie funktioniert dadurch, dass die zwei zur Ideenbildung erforderlichen Polaritäten, nämlich Differenzierung und Ganzheitlichkeit, zusammengewoben werden. (Polaritäten sind keine Gegensätze, sondern sie existieren im Tandem, die eine braucht die andere, genauso wie das Licht ohne die Finsternis nicht existieren kann.[3]) Im gewöhnlichen Denken herrscht die Seite der Differenzierung vor. Wir teilen, trennen, analysieren, begutachten, nehmen die Dinge auseinander, brechen sie in immer kleinere Fragmente herunter, rationalisieren. Was wir nach dieser Art kennen, sind Abstraktionen, nicht die Fülle der Wirklichkeit. Diese Denkart verliert den Blick für das Ganze und macht die Begriffswelt kalt und bar einer gesunden Gefühlskomponente. Zugleich tendiert aber das so genannte ganzheitliche Denken, welches entstand, um die Schäden auszugleichen, die über Jahrhunderte hin durch den analytischen Modus verursacht wurden, zur zu starken Verallgemeinerung, zur Undeutlichkeit, zur Verschwommenheit, zur Sentimentalität, zu einem Mangel an Konkretheit hin. Keine dieser beiden Denkarten gilt als bildhafte Erkenntnis. Was die zwei Polaritäten auseinanderzerrt, das ist die verdeckte Gegenwart der Angst im Zentrum des gewöhnlichen Bewusstseins. Die Angst, welche die erkennende Tätigkeit einerseits und die Phantasie anderseits zum gegenseitigen Misstrauen anstiftet.
Überwiegt im Denken die Seite des Differenzierens, so wird unser kognitives Leben mit Abstraktionen verflacht. Die Verflachung bewirkt, dass wir die Dinge in einer einzigen Dimension sehen und dieses Einzige zum Ganzen werden lassen. Die Angst packt diese Darbietung der Realität und verwendet sie dazu, unser Denken zu einer Diskussion zu machen. Wir verteidigen unseren einseitigen Standpunkt und sind dabei außerstande, die vielen Seiten der Angelegenheit aufzunehmen. Wir kommen zur Auffassung, dass der ganze Sinn und Zweck des Denkens der ist, zu einer Schlussfolgerung zu kommen. Das beeinträchtigt die Möglichkeit einer Bilderkenntnis noch weiter. Sind wir einmal in dieser Vorstellung eingebettet, denken wir nicht mehr im eigentlich Sinne, sondern wir reihen bloß Gedanken aneinander, um zu einem Schluss zu kommen. Ein solches Denken tut nichts, um Schöpferisches in die Welt zu bringen. Unser Verstand greift lediglich nach schon fertigen Gedanken, die so in der Welt herumzirkulieren wie alte, verschlissene Münzen.
Das Zusammenweben der Polaritäten Differenzierung und Ganzheit erzeugt eine Art Denken, die Wärme und Nuanciertheit besitzt, und die in ihrem Wesen eine künstlerische Tätigkeit ist. Ein Künstler, zum Beispiel, verbildlicht das ganze Gemälde, an dem er arbeitet, und zu gleicher Zeit sieht er jeden einzelnen Teil des Gemäldes im Verhältnis zu den anderen. Zwar versucht er nicht, sich das fertige Gemälde vorzustellen schon bevor er mit dem Malen begonnen hat, denn das wäre so, wie wenn er eine Abstraktion auf die Leinwand übertragen wollte. Aber der wahre Künstler hat gleich zu Beginn eine ziemlich klare Konzeption des Ganzen sowie auch davon, wie die Besonderheiten des Gemäldes dieses Ganze ans Licht fördern werden. Das Ganze ist vollkommen reell, wenngleich unsichtbar; reell wird es erst durch die Teile, durch die es zusammengesetzt wird, und das ist eine Eigenschaft auch der bildhaften Erkenntnis. So wie ein Musiker nicht bloß einzelne Töne aneinanderreiht, sondern in jedem einzelnen Abschnitt das ganze Stück anwesend sein lässt, in der gleichen Weise ist die bildhafte Erkenntnis eine Art Orchestrierung. Wir können es fertigbringen, unser alltägliches Leben zu einem Vorgang der künstlerischen Erkenntnis zu machen. Wir müssen nur darauf achten, wie alles, was wir tun, in einem Gesamtzusammenhang steht, der aus unseren Verbindungen mit anderen, mit der Welt und mit den geistigen und seelischen Reichen gewebten.
Das Denken im Modus der Differenzierung und Analyse eignet sich besser für die materiellen Aspekte der Wirklichkeit, während das Denken im Modus der Ganzheitlichkeit besser zu den spirituellen Aspekten der Wirklichkeit passt. Leider tendieren diese beiden Sphären in eine je eigene Richtung, und genau das ist es, was die Angst will. Das wissenschaftliche Denken zum Beispiel hat den Modus der Differentiation auf die höchste Stufe seiner Entwicklung gebracht, während das religiöse Denken und das spirituelle Denken die Ganzheitlichkeit ausgebildet haben. Sowohl das wissenschaftliche als auch das religiöse Denken regen zwar zu Phantasien der Hoffnung an, aber keines der beiden richtet viel aus, um die Hoffnung zu einem tatsächlichen Erlebnis werden zu lassen. Eine Vereinigung dieser zwei zu einer neuen Form des Bild-Denkens könnte zur Verminderung der Angst in der Welt eine Menge ausrichten. Denn dadurch würde die Hoffnung als Erkenntnismodus wieder hergestellt.
Das Denken als eine selbständige Wirklichkeit
Wir sind von Geist- und Seelenwirklichkeiten umgeben und durchdrungen. Wir sind von Geist- und Seelenwirklichkeiten umgeben und durchdrungen. Ebenso begreifbar wie die materielle Realität sind auch diese Wirklichkeiten. Geister, Engel, auch die Verstorbenen sind fortdauernd bei uns. Ihre Gegenwart ist erlebbar, wenn wir nur die Bilderkenntnis-Fähigkeit in uns ausbilden. Diese neue Denkweise wird uns mehr von der Wirklichkeit offenbaren, als wir uns je haben träumen lassen. Aber sie tut mehr als das. Kein Denken bleibt an unserem Kopf gebunden. Jeder von uns erzeugte Gedanke strahlt in die Welt hinein und wirkt als ein Magnet, der ähnlich geartete Gedanken anzieht. Wir brauchen uns nur für einen Augenblick auf diese Möglichkeit zu besinnen, so wird, was sich zunächst vollkommen fremd anhört, dann doch plausibel wirken.
Wie kam es, dass der analytische Modus in der Welt allgegenwärtig wurde? Er war nicht immer der primäre Charakterzug des menschlichen Denkens, und zu Beginn wird er sich sogar ziemlich fremd ausgenommen haben. Wurde er allein durch Bildung in der Welt verbreitet? Dadurch wurde er zwar verfeinert, aber durch Bildung ist weder sein Hervortreten noch der Umstand zu erklären, dass er als allgemeine Denknorm angenommen wurde. Diese Art des Denkens wird von lauter einzelnen Menschen ausgeführt, und dennoch übt sie in der Welt eine selbständige Kraft aus. Sind nämlich bestimmte Gedanken von ihren Urhebern einmal freigeworden, dann gruppieren sie sich in der Welt und gewinnen an Stärke. Und so kommt es, dass diese Art des Denkens wirkliche Macht erlangt. Das analytische Denken hat allmählich die gesamte Menschheit in einen Willensstrom hineingezogen, der sich von den unsichtbaren Realitäten verselbständigt hat, von denen wir umgeben sind.
Wenn jemand verliebt ist, bleibt diese Liebe nicht in diesem einzelnen Menschen eingeschlossen. Sie strählt aus und kann von anderen empfunden werden. Man sagt „Du strahlst.“ In gleicher Weise strahlt das Denken aus. Indem wir daran arbeiten, in Bildern zu erkennen, strahlen wir neue Arten des Denkens in die Welt hinein und bilden einen neuen Strom kollektiven Denkens: Ein Erkennen, das Differenzierung und Ganzheit zusammenwebt. Ein Denken, das nicht trocken und abstrakt ist, sondern warm und nuanciert. Was an diesem Denkstrom neuartig ist, das ist, dass er nicht nur die Gedanken anderer Menschen anzieht, sondern auch die Strömungen der unsichtbaren Welten – die Welten der Götter, der Geister, der Engel, der Verstorbenen. Die horizontale Welt des alltäglichen Lebens kann sich dann mit der vertikalen Welt des Ewigen vermischen. Wir erleben diese Strömungen aus den Geister-Welten als Augenblicke der Inspiration.
Auf eigene Faust kommen wir der Angst in der Welt nicht bei. Alle die hier dargestellten Übungen haben zum Ziel, den Übenden für die geistigen Strömungen offen und greifbar zu machen, welche die Seele durchwirken. Nur mit Hilfe dieser Strömungen ist die Angst zu reduzieren. Das Gefühl des Inspiriertseins, das mit diesen Strömungen einhergeht, ist anders als das religiöse Denken. Obwohl die Religion mit solchen Strömungen gewissermaßen zusammenschwingt und sie anzieht, soll das nicht heißen, dass wir uns nur der Religion anzuvertrauen brauchen, um mit der Angst in der Welt aufzuräumen.
Die hier beschriebene Inspiration ist eine Fähigkeit, fühlend zu wissen. Du sinnst zum Beispiel über etwas nach. Dein Denken wird zu einem starken Magnet in dir, der Ideen, Gesinnungen, Gefühlsströme zusammenzieht. In ähnlicher Weise ist das Erkennen in Bildern ein Magnet, der geistige Wesenheiten anzieht. Wann immer wir diese Art eines lebendigen Denkens – eines Denkens innerhalb der Wirklichkeit der Dinge selbst – tätigen, bildet es eine Brücke zu den uns überall umgebenden unsichtbaren Welten. Diese Art der Inspiration hat nichts mit Channeling, Mediumismus oder psychischen Mächten zu tun, die Botschaften aus den Geisterwelten bringen. Das fühlende Wissen der Bild-Erkenntnis kann Teil unseres alltäglichen Wachbewusstseins werden. Sie zur fruchtbaren Reife zu bringen ist unsere Aufgabe.
Um den Strom der Inspiration fühlen zu können, ist es nötig, dass der Griff gelöst wird, in dem die Angst den Körper festhält. Der in den Fängen der Angst steckende Körper ist zu sehr verkrampft, als dass er die Strömung der Inspiration fühlen könnte. Um diese Strömung fühlen zu können, ist es auch nötig, dass man an der Ausbildung des Bild-Erkennens gearbeitet hat, denn die Inspiration muss durch die Seele erlebt werden. Das gewöhnliche Egobewusstsein kann sie nicht empfinden. Auch kann ein Intellekt, der in der Trennung zwischen Differenzierung und Ganzheitlichkeit steckt, diesen Inspirationsstrom nicht fühlen. Im Arbeiten daran, den Körper zu heilen, braucht es also die Seele und das Denken, damit die Inspiration aufblühen kann.
Die Inspiration kommt uns nicht in völlig verwirklichter Form. Wir erhalten normalerweise keine kompletten, vollkommen einsatzbereiten Ideen. Die Inspiration besitzt eine dem Tastsinn analoge Qualität: Wir fühlen sie zwar im kognitiven Bereich, und doch hallt sie hintergründig im Körper. Jedermann hat einmal Momente der Inspiration im Leben erfahren; es kommt aber darauf an, solche Momente zu einer fortwährenden Realität werden zu lassen. Man fühlt etwa einen verstorbenen Menschen, den man im Leben kannte, in unmittelbarer Nähe. Man sieht ihn nicht, sondern man empfindet seine Anwesenheit wie ein leichtes Berührtwerden. Solche Erlebnisse lassen sich verstärken, denn obwohl wir in der Regel nicht wach genug sind, solche flüchtigen Gefühle zu erfassen, gehen sich ständig vor sich. Solche Gefühle haben mehr Bedeutung, als eine momentane Berührung mit den unsichtbaren Welten. Wenn wir sie ernstnehmen, so ändert sich unsere Erkenntnis. Nicht nur lassen wir eher geistige Angelegenheiten in unsere Gedanken herein, sondern auch die Struktur selbst unseres Denkens ändert sich, wird offener, flexibler, weniger materialistisch, empfänglicher und dynamischer.
Nachdem wir nun festgestellt haben, dass die Angst die Struktur unseres Egobewusstseins überhaupt erst bedingt, entsteht die Frage: Was wird aus ihr, wenn wir dieses Egobewusstsein erweitern? Obwohl die Angst dem Egobewusstsein wesensgemäß inhäriert, versteckt sie sich in ihm. Im Laufe der Bewusstseinserweiterung gewöhnt man sich daran, von der Inspiration berührt zu werden. Und dabei geschieht etwas sehr Interessantes mit der im Egobewusstsein versteckten Angst. Sie verschwindet nämlich nicht einfach, sondern sie versenkt sich in den fruchtbaren Schoß der Seele und macht dort eine Verwandlung durch. Diese Verwandlung geht in der Regel wie folgt vor sich: Zunächst fühlen wir eine Art Erschöpfung, die ist nicht so sehr physischer Art. Sie kann sich ein bisschen wie Depression ausnehmen, aber sie hat nicht die gleiche Schwere wie eine Depression. Vielmehr ähnelt sie eher dem Loslassen einer Schwere, an der wir lange Zeit getragen haben. Die Erschöpfung bringt also ein Gefühl der Erleichterung mit sich. Wir fühlen die Ermüdung der Seele, die wir für so lange Zeit unterdrückt hatten.
Das Gefühl der Ermüdung sehen wir im Gesicht von praktisch jedermann, nur nicht in Begleitung eines Gefühls der Erleichterung. Wir erkennen innerlich, dass die Struktur, innerhalb welcher unsere Welt seit so vielen Jahren funktioniert, nicht mehr lange aufrechtzuerhalten ist. Diese Struktur besteht in einer ungeheurlichen ökonomischen, technokratischen und politischen Ordnung, für die nicht nur der Individualismus, der Konsumismus und die Selbstbezogenheit, sondern auch politische und großkommerzielle Macht das Wichtigste ist. Diese Ordnung ist für die Menschen, die in ihr leben müssen, eine dauernde Herausforderung, ihren eigenen individuellen Sinn und Zweck zu finden – den wir in Familienwerten, in Religion und Bildung suchen. Die letzteren Werte haben aber eher die Tendenz, dem Ist-Zustand zu dienen, als die Selbsterkenntnis zu fördern.
Zusammen mit dem tiefen Gefühl der Erschöpfung und des Loslassens entsteht allerdings auch eine Sehnsucht, ein Verlangen danach, aus einem vollkommen neuen Zentrum heraus tätig zu sein, anstatt aus dem intellektuellen Bewusstsein; eine Sehnsucht danach, von der Mitte des Herzens her und durch die Fähigkeit der Liebe zu denken. Hier wird also das Denken nicht zugunsten des Fühlens aufgegeben, sondern es kann die Suche nach einem fühlenden Denken, einem denkenden Fühlen, ernsthaft beginnen. Die Norm dieses neuen Denkens wird es sein, nicht nur logisch, sondern als auch schön und künstlerisch zu denken.
Die Notwendigkeit, Aufmerksamkeitskräfte zu steigern
Die in diesem Kapitel angebotenen Vorschläge in Taten umsetzen zu können hängt von der Fähigkeit ab, das eigene Konzentrationsvermögen so zu steigern, dass wir aus eigener Initiativ unsere Aufmerksamkeit auf Dinge lenken können, die uns in der Regel nicht beschäftigen. Wenn wir von einem Traum aufwachen, zum Beispiel, können wir uns von diesem Traum über den ihm eigenen Handlungsmodus belehren lassen. Zu diesem Zweck halten wir ihn als ganzes Bild festhalten, anstatt seine Bedeutung sezieren zu wollen. Ein Bild so festhalten zu können setzt Aufmerksamkeit voraus; es erfordert, dass wir für eine Zeit unser Interesse unter Ausschluss von allem anderen auf einen einzigen Gegenstand lenken. Ein zweites Beispiel: Etwas beobachten – das innere Bild einer Rose, etwa – bis dahin, dass die hintergründigsten Eigenschaften des Bildes offenkundig werden. Das verlangt, dass andere Gedanken oder Bilder während der Zeit, in der sich konzentriert wird, außen vor gehalten werden.
Alle die bisher beschriebenen Übungen erfordern, dass wir für eine Zeit alles andere ausschließen, alle Sorgen und allen Kummer, alles anderweitige Denken. Die Pflege dieser Übungen führt nach und nach zur Ausbildung der Bilderkenntnis. Als wir bei der Besprechung der Bilderkenntnis angelangten, wurden keine besonderen Übungen angeboten, denn der Weg, auf dem wir zu dieser neuen Form des Erkennens kommen, ist ein indirekter. Wir müssen nämlich die Seelenqualitäten in unserem Bewusstsein zur Entfaltung bringen. Diese Besinnung auf Angst und Bewusstsein verlangt aber unbedingt, dass etwas über die Aufmerksamkeit an sich gesagt wird.
Welche Rolle spielt die Aufmerksamkeit im Bewusstsein? Die Aufmerksamkeit ist ein Willensakt, eine Handlung, vor etwas anwesend zu sein, das sich wie ein strahlendes Licht ausnimmt. Etwas Aufmerksamkeit braucht man immer, um überhaupt ein Bewusstsein der Dinge zu haben. Die Aufmerksamkeit ist aber präkognitiv, ist vorbewusst. Sie ist eine Macht, die dem Bewusstsein zugrundeliegt: Sie ermöglicht es erst. Ich kann meine Aufmerksamkeit auf etwas lenken; auch ist es möglich, gewahr zu sein, dass wir überhaupt aufmerksam sind. Aber die eigene Aufmerksamkeit zum vollen Bewusstsein bringen können wir nicht. Zumal in obiger Eigenschaft als präkognitiven Willensakt vorerst nicht.
Bei allen bisher beschriebenen Übungen geht es nicht in erster Linie um den Inhalt der gegebenen Bilder, sondern um eine Steigerung der Aufmerksamkeitskraft. Dadurch, dass diese Übungen ausgeführt werden, heben wir die vorbewusste Qualität der Aufmerksamkeit tatsächlich ins Bewusstsein. Da wird sie zu dem, was früher in diesem Buche als das Zeugen-Bewusstsein bezeichnet wurde.[4]
Die Kräfte der Aufmerksamkeit bedürfen deshalb der Steigerung, weil in gegenwärtiger Zeit wir unsere Aufmerksamkeit nicht frei, aus eigenen Seelenkräften heraus schenken, sondern feststellen müssen, dass unsere Aufmerksamkeit gefangengenommen wird. Irgendetwas ist ständig dabei, unsere Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen – Fernsehen, Computer, Unterhaltung, Filme, die Arbeit, die Bedürfnisse und Forderungen anderer Menschen. Die Geschwindigkeit, mit der wir in unserer Aufmerksamkeit immer passiver werden, nimmt rapide zu. Sogar aus der Meditationspraxis ist eine Reihe technischer Gerätschaften hervorgegangen, von gelenkten Meditations-Tonbändern bis hin zu Spezialbrillen mit blinkenden Lichtern, die angeblich so getimt sind, dass sie meditative Zustände herbeiführen. Das Meditieren erfordert aber das Durchhalten eines konstanten Zustandes der vollen Aufmerksamkeit, was ja eine extrem aktive Bewusstseinsart ist.
Das Phänomen der Aufmerksamkeit gibt uns von etwas Kunde, was äußerst wichtig ist im Hinblick auf die Realität der Seele. Wir erschaffen zwar die eigene Seele nicht, aber ohne unsere Aufmerksamkeit muss uns ihre Gegenwart unbewusst bleiben. Ohne die Aufmerksamkeit zerstreut sich die Seele. Die angegebenen und ähnlichen Seelenübungen zielen auf den Aufbau der Aufmerksamkeitskraft hin, damit sie schrittweise kontinuierlich wird. Das uns gegebene Seelenbewusstsein ist in präfabrizierten Formen befangen, die von außen auf uns einwirken. Gehen wir also nicht gezielt die Steigerung unserer eigenen Aufmerksamkeit an, so wird uns die frische Kreativität fehlen, uns immer neu in die Welt hineinzubegeben. Diese präfabrizierten Formen nimmt die Seele allerdings entgegen. Aber wenn sie für das von ihr selbst Erschaffene keine Aufmerksamkeit aufbringt, so wird sie in derjenigen Angst eingehüllt bleiben, die am allertiefsten sitzt: Sie wird sich nämlich vor dem eigenen Untergang fürchten. Diese Angst ist keine andere als das abgrundtiefe existentielle Grauen.
So äußerst aktiv die Aufmerksamkeit als Zustand auch ist, besteht ihre Tätigkeit in reiner Rezeptivität. Wenn ich die volle Aufmerksamkeit auf ein inneres Bild lenke und dann die Aufmerksamkeit auf sie selbst richte, was gibt sich da kund? Die reine Stille, die sich wie ein ewiger Lichtstrahl ausnimmt. Wir könnten sagen, dass die Aufmerksamkeit im Wesentlichen darin besteht, die Handlung innerer Stille auszuführen. Warum also nicht einfach die Stille direkt üben, anstatt dadurch einen solchen Zustand herbeizuführen, dass man auf irgendeinen inneren Inhalt fokussiert? Darum, weil die Stille an und für sich zu dem Zustand des Schlafes führen würde. Die Stille in Gegenwart eines Objekts der Aufmerksamkeit schläfert uns nicht ein, sondern sie steigert das Bewusstsein, versetzt uns in einen Wachzustand, der aber sonst dem Schlaf ähnelt.
Ein weiterer wichtiger Grund, sich auf Bilder zu konzentrieren anstatt die reine Leere zu suchen, ist der, dass die bewusste Aufmerksamkeit uns aktiv empfänglich macht für seelische und geistige Wirklichkeiten. Diese urbildlichen Präsenzen gehören nicht der Sinneswelt an, wohl aber dem Reich des Lichtes, des Tons, der Farbe, des Geruchs. Die irdische Welt und die Seelen- und Geistwelten bilden zusammen eine Welt. Vom „Jenseits“ sind wir überall umgeben, und unsere Verbindung zu ihm bleibt durch hintergründige, Sinnesqualitäten ähnliche Zustände bestehen. Die Sinnes-artigen Qualitäten von Seele und Geist sind viel beweglicher und dynamischer als die Sinnesqualitäten materieller Gegenstände. So kommt es, dass man dadurch den Weg zu ihnen finden kann, dass man die Aufmerksamkeit auf die hintergründigen Qualitäten innerer Bilder lenkt.
Wenn man solche Praktiken wie die Meditation, die aktive Imagination, das Visualisieren oder die hier vorgeschlagenen Arten der Konzentration aufnimmt, entsteht eine Erwartung, dass etwas Spektakuläres – oder wenigstens mäßig Spektakuläres – eintreten wird. Wenn nach einer Weile nichts Derartiges geschieht, nimmt die anfängliche Begeisterung, andere Bewusstseinsmodi zu entwickeln, ab, und man entschließt sich womöglich, die Praktiken abzusetzen. Der ganze Sinn und Zweck der Übungen ist aber, dass man sie regelmäßig ausführt.
Die bedeutungsvollsten Augenblicke für die Entwicklung anderer Bewusstseinsmodi sind diejenigen Momente, nachdem man die Konzentrationsübung beendet hat. Während dieser Momente wirken die Folgen des Zustandes, um den wir uns bemüht haben, auf uns ein. So ist es also wichtig, dass man unmittelbar nach Beenden einer Übung ruhig bleibt und nicht den Konzentrationszustand verlässt, um in die normale Tätigkeit zu treten. Haben wir einmal durch ganz regelmäßiges Ausführen der Übungen eine Intensität der Konzentration erreicht, werden wir eine innere Ruhe fühlen, eine Empfindung, als wäre einem eine Gnade, eine Vitalität im Körper und einen offenen Raum innerer Freiheit zuteil geworden. Die Konzentration wirkt in dieser Weise auf uns ein, und im Lauf der Zeit gehen immer mehr dieser Qualitäten ins fortdauernde alltägliche Leben ein.
Auch wird durch diese Übungen ein Gefühl der Dankbarkeit ausgebildet, sogar dann, wenn nichts Spektakuläres erfolgt ist. Nach jedem Üben Dankbarkeit zu empfinden steigert die Fähigkeit, solche Praktiken fortzusetzen, denn die Dankbarkeit macht die Seele zum Gefäß, erhöht ihre Empfänglichkeit.
Wenn wir vom Sichkonzentrieren auf innere Bilder dramatische Ergebnisse erwarten, lassen wir uns von der Gewohnheit des Nützlichkeitsdenkens führen. Darin birgt sich aber das Gespenst der Angst. Die Angst im Nützlichkeitsdenken funktioniert dadurch, dass sie uns bedrängt, so schnell wie möglich von unseren bloßen Konzentrationshandlungen weg- und zum „richtigen Tun“, zum „etwas Produzieren“, zum Beweisen unseres Selbstwertes voranzukommen. Die Angst versteckt sich aber stets, und wir sehen weiter nichts als das, was uns wie „Leistung“ vorkommt. Das Kriege-Führen zum Beispiel hat scheinbar den Nützlichkeitswert, dass es Frieden herbeiführt, aber die Menschen, die im Verfolg desselben umgekommen sind, werden als bloße Statistiken zur Kenntnis gegeben. Oder: Elektronische Technologien produzieren den Nützlichkeitswert der schnellen Kommunikation, aber wir sind uns der Angst nicht bewusst, die dadurch aufkommt, dass wir mit einer Geschwindigkeit leben, die zu den Rhythmen unseres Körpers in keinem Verhältnis steht. Die Werte, die durch konzentrierte, dem Leben der Seele hingegebene Handlungen der Aufmerksamkeit in die Welt hereingetragen werden, findet man in dem Bereich der Liebe, der Kunst, der Schönheit. Für das Nützlichkeitsdenken hat es den Anschein, als würden diese nichts „tun“. Diese Werte gleichen aber diejenigen Lebenstätigkeiten aus, die ihre Grenzen überschritten haben, und die Angst und Angst in die Welt hereinbringen. Wenn wir die Maßstäbe des Nützlichkeitsdenkens auf unsere innere Arbeit anlegen, bringt die Konzentration nur noch mehr Angst in die Welt herein.
Niemand kann die ungeheure Macht oder den ungeheuren Einfluss abstreiten, die der Intellekt in der Welt hat. Durch die Förderung des rationalen, diskriminierenden Intellekts haben wir es zu großen Erkenntnissen der materiellen Dimension der Welt gebracht, und wir haben die Technologien entwickelt, sie zu unseren Zwecken zu beherrschen. Die Geistwelten sind ganz außerhalb der alltäglichen Welt versetzt worden, ins Jenseits. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass es zwischen dieser Welt und dem Jenseits keine Trennung gibt. Die Angst will uns diese Offenbarung verheimlichen, denn durch sie verringert sich die Macht der Angst. Wir erfinden eine Trennung zwischen „diesseits“ und „jenseits“, weil es Dinge gibt, die wir nicht sehen können, und alles, was wir nicht wahrnehmen können, verbannen wir ins große Jenseits. Gerade das ist ja das Jenseits: alles, was wir mit dem gewöhnlichen Bewusstsein nicht wahrnehmen können. Aber nur weil etwas nicht wahrgenommen werden kann, heißt es lange nicht, dass es nicht unmittelbar hier anwesend ist, und zwar überall um uns herum.
[1] Georg Kühlewind, Bewusstseinsstufen, 1980.
[2] Georg Kühlewind, Vom Normalen zum Gesunden: Wege zur Befreiung des erkrankten Bewusstseins. Freies Geistesleben
[3] Dennis Klocek, Seeking Spirit Vision (Fair Oaks, CA: Rudolf Steiner College Press, 1998), S. 11-21.
[4] Georg Kühlewind, Das Leben der Seele (Hudson, NY: Lindisfarne Press, 1990).
Auf den Schwingen der Phantasie zur Liebe zu finden; diese Liebe dann durch Schönheit in die Welt hereinzubringen: das scheint adäquat zu beschreiben, wie wir dem alles durchdringenden Einfluss der Angst entgegnen können. Wer aber hier schon haltmachen wollte, der würde die Vermittlung einer bloß ästhetischen Auffassung der Notwendigkeit eines Dauerkampfes gegen das ständig wachsende Gespenst der Angst riskieren. Eine imaginative Auffassung dieser Notwendigkeit aber ist es, was Not tut. Kein Ort sollte ungeprüft bleiben, wo die Angst ein Standbein bekommen könnte. Und ein solcher noch ungeprüfter Ort – ein unbetretener Raum, sozusagen –, an dem die Angst und die Angst wüten, das ist das eigene Bewusstsein. Wenn es zutrifft, dass dieser Raum der ist, der am schwersten zu betreten ist, so liegt das nicht etwa daran, dass die Angst, die wir dort finden, am verderblichsten wäre; es liegt vielmehr daran, dass wir das Bewusstsein selbst verwenden müssen, um der dort befindlichen Angst beizukommen. Und wenn alle Menschen ohne Ausnahme schon ab dem frühsten Alter nachteiligen Einflüssen ausgesetzt, so ist das nicht nur deshalb, weil uns dort unsere persönlichen Ängste begegnen, sondern auch deshalb, weil wir zusätzlich in einer Welt leben, die von Angst und Angst völlig durchsetzt ist. So schleicht sich die Angst in die Struktur selbst des Denkens, der Erinnerung und des Wahrnehmens ein und gibt den Zusammenhang unseres Bewusstseins ab.
Worin besteht das wachbewusste Leben? Das ist keine leichte Frage. Zu Beginn möchte ich den Unterschied zwischen Bewusstsein und Aufmerksamkeit aufzeigen. Im Wachleben empfinden wir sowohl unseren Leib als auch die uns umgebende Welt. Auch spüren unsere inneren Zustände, unsere Gefühle und Emotionen. Aber bloß weil wir diese Dinge empfinden, heißt es noch nicht, dass wir uns ihrer bewusst sind. Um uns unserer Aufmerksamkeit vollkommen bewusst zu werden, ist ein kognitives Element – das, was Georg Kühlewind das reine Denken nennt – unentbehrlich.[1] Das bewusste Leben funktioniert dann normal, wenn wir uns gleichzeitig auf uns selbst und auf unsere Umwelt besinnen, ohne dass die Waage in die eine oder die andere Richtung zu sehr den Ausschlag gibt. Wenn wir zu selbstbewusst werden, rutscht das Bewusstsein ins Selbstsüchtige und Egoistische; hingegen wenn wir ausschließlich nach außen blicken, werden wir für unsere eigene Teilnahme am bewussten Leben blind.
Ein weiterer zentraler Aspekt des Bewusstseins ist das Gedächtnis. Das Gedächtnis trägt zu unserem Selbstgefühl erheblich bei und ist das, was – zusammen mit dem kognitiven Element des Bewusstseins – das Wahrnehmen vom bloßen Empfinden unterscheidet. Wenn ein kleines Kind zum ersten Mal sieht, wie zum Beispiel ein braunes, haariges Etwas sich über den Fußboden bewegt, so empfindet es etwas, was es vom Schwarm der es umgebenden Licht- Farb- und Geräuschempfindungen kaum unterscheiden kann. Mit der Zeit findet das Kind die Bedeutung dieser Sinneserfahrung und lernt, das „Etwas“ als Hund einzuordnen; einmal in dieser Weise identifiziert, werden die Erfahrungen, die das Kind mit dem Hund macht, zum Aspekt von dessen Erinnerung. Das ermöglicht, dass das Kind andere Hunde wahrnehmen kann, ohne sie jedes Mal neu begreifen zu müssen.
Ein weiterer Aspekt des Bewusstseins ist der Intellekt. Beim Intellekt geht es um die Fähigkeit, Aspekte des gewöhnlichen Bewusstseins zu verwenden – Erkenntnis, Erinnerung und Wahrnehmung –, um auf uns selbst sowie auf die uns umgebende Welt Rückschlüsse zu vollziehen. Auch weitere Tätigkeiten wie zum Beispiel Gefühle, Phantasie, Inspiration und Intuition, können mit unserem Wachbewusstsein verbunden sein. Aber der Ursprung dieser Tätigkeiten sind die Tiefen des Seelenlebens sowie die höheren Vorgänge des Geisteslebens, und genau sie sucht die Angst aus dem gewöhnlichen Wachbewusstsein zu verbannen. Unser alltägliches Dasein besteht hauptsächlich im Egobewusstsein, nämlich in der äußerst eingeengten Spannweite des Bewusstseins, die inzwischen als normal gilt. Aber ohne die volle Spannweite bewusster Tätigkeiten ist das „Normalsein“ in diesem Sinne entschieden abnormal geworden.[2]
Das Egobewusstsein besteht in der starken Tendenz, sich selbst zu befriedigen, indem es alle bewussten Aktivitäten im Dienst des Selbstgefühls, der Selbsterhaltung, des Selbstgenuss, des Manipulierens anderer und der Umwelt einsetzt. Wann immer das Bedürfnis nach Macht zu stark ist, wird das Egobewusstsein zum Geltungsbedürfnis; so wird dieser kleine Ausschnitt des Seelenlebens extrem selbstschützend. Wenn das Fühlen, die Phantasie, die Imagination, die Inspiration oder die Intuition für Augenblicke ins Bewusstsein steigt, kann es vorkommen, dass das Ego sich bedroht fühlt. In der Regel erleben wir diese Domänen des Bewusstseins so, als würden sie ungebeten und eigenmächtig zu uns kommen – sie trotzen etwa der Logik, der Kohärenz, dem Verständnis, und ordnen sich scheinbar der Herrschaft und der Kontrolle des Egos nicht mehr unter. Einmal eingedrungen, können sie unsere „normalen“ Bewusstseinszustände überfordern, unsere kleine Insel des Egos bedrohen und, bei fortgesetztem Eindringen, in uns das Gefühl verursachen, als würden wir wahnsinnig. Was dabei eigentlich geschieht ist, dass die Möglichkeit, ganz Mensch zu werden, uns kundtut.
Das gewöhnliche Bewusstsein lässt uns nur so tief uns selbst erkennen, als unsere persönlichen Erinnerungen reichen; es lässt uns nur durch die Sinne wahrnehmen und nur mit dem Intellekt denken. Unser alltägliches Bewusstsein lässt uns keine Bildhaftigkeit, keine direkte Teilnahme an der Inspiration oder der Intuition zu. Durch Meditation, durch Traumarbeit, durch den Umgang mit gelenkten Bildern oder durch andere das Bewusstsein steigernde Praktiken mögen wir zwar für Augenblicke den Zugang zu diesen Reichen des Bewusstseins erlangen. Aber zu unserer alltäglichen Kost gehören sie nicht. Das Ego verdrängt den Umstand, dass es fortdauernd in Angst lebt, und erhält so die Illusion aufrecht, dass in ihm allein das praktische Bewusstsein besteht. Dadurch trennt es uns von den Bewusstseinsmoden, die es vermöchten, uns den Weg durch eine angstgerittene Welt hindurchzuführen.
Wenn uns dennoch starke Gefühle, Phantasien oder Inspirationen kommen, gehen sie in der Regel mit Angst einher, da wir uns dann nicht mehr als im Ego zentriert empfinden. Wenn ich zum Beispiel einen Traum habe, in dem fünf große, mit Messern herumfuchtelnden Männern hinter mir her sind und schreien, dass sie mich umbringen werden, wenn sie mich erwischen, so wache ich voller Angst auf. Das ist aber eine ganz andere Situation als die, in der fünf mit Messern bewaffnete Männer mir hinterher wären, während ich wach bin. Hier wäre mein Leben in Gefahr. Im Traum fühlt sich mein Egobewusstsein bedroht und machtlos, da ich mit etwas mir völlig Unbekanntem konfrontiert werde, was mein gewöhnliches Bewusstsein überfordert. Die Jung’sche Psychologie würde den Traum als Signal der Notwendigkeit deuten, dass ich mittels der direkten Erfahrung mit meinem Schatten Bekanntschaft mache. Das hieße die Ausschaltung meiner Angst dadurch, dass ich in mir ein imaginatives Bewusstsein ausbilde.
Die Verbindung zwischen Angst und Egobewusstsein kann man nicht lediglich als Ausdruck der Trennung des Egos von den weiteren, tieferen und höheren Aspekten des Bewusstseins verstehen. Führt diese Sichtweise doch zur Vorstellung, dass das Egobewusstsein getilgt werden müsse, um die Angst loszuwerden. Der spirituellen Traditionen, die eben diese Sichtweise behaupten, sind viele. Das Egobewusstsein ist aber nicht einem von der Angst gerittenen Bewusstsein gleichzusetzen. Der zentrale Aspekt des Egobewusstseins – zumal unsere Fähigkeit, eine bewusste Wahl treffen zu können, ein Selbstgefühl zu haben, und individuelle Macht zu besitzen – ist nicht Angst oder Angst, sondern Freiheit.
Die Angst, die Angst nistet sich in uns ein, damit wir vergesslich werden mit Bezug auf diesen zentralsten und kreativsten Aspekt des Egobewusstseins. In ihrer Verborgenheit ermächtigt sie sich so gänzlich unser, dass sich das Ego allein schon durch die Möglichkeit des Eindringens anderer Bewusstseinsarten bedroht fühlt. Und wann immer es sich so bedroht fühlt, lässt das Ego die Bedrohung so aussehen, als würde sie von außen kommen. Aber eigentlich versteckt sich unsere Angst in unserem eigenen Egobewusstsein. Die im Egobewusstsein aufgestellten Taktiken der Angst zeugen von einem raffinierten Verdrängungsapparat sowie von einer Intelligenz, die über unsere eigene Schlauheit hinaus gehen. Schon der Umstand, dass wir uns dieser Verdrängung nicht einmal bewusst sind, belegt die Gerissenheit und die Autonomie der Angst.
In der Gegenwart der Angst besitzt die enge, eingeschränkte Spannweite des gewöhnlichen Egobewusstseins eine formale Hauptcharakteristik: Alles, was sie versteht, nimmt sie wortwörtlich. Aus der Perspektive des Egobewusstseins bedeutet etwa Geld weiter nichts als Euro und Cent. Das imaginative Bewusstsein stellt aber unter Geld nicht nur Euros und Cents, sondern auch Macht, Wert, Beziehungen in der Welt, ein Geschenk der Götter, schnöder Mammon, und viele andere, ebenfalls vorhandene Bilder vor. Das Egobewusstsein hat für Metaphern, für Analogien, für Gleichnisse, innere Widersprüchlichkeit, das Bildhafte oder das Erzählerische nur geringe Fähigkeit. Diese Dinge, welche mit imaginativen Gestalten zu tun haben, dürfen nur in Form der Unterhaltung, des Vergnügens, oder gelegentlich als eine Art Schauspiel ins Bewusstsein eindringen.
Diese Eigenschaft, alles wortwörtlich zu nehmen, alles in nur dem einen oder dem anderen Sinn aufzufassen, anstatt die Dinge als mit zweier- oder mehrerlei Bedeutung gleichzeitig ausgestattet sehen zu können, wirkt abtötend auf das vom Egobewusstsein Verstandene. Alles, was lebt, was in Bewegung ist, was dynamisch, regsam, sich ändernd, flüchtig, vorübergehend, dahinschwindend ist (Eigenschaften aller Realität, ob sichtbar oder unsichtbar), ist für den, der der Wortwörtlichkeit verpflichtet ist, in der Stasis festgefroren, als könnte ein Schnappschuss die Bedeutung einer ganzen Welt wiedergeben. Der Wahrnehmungsmodus unseres Egos kann es der Fülle der Wirklichkeit nicht gleichmachen. Die Angst, die Angst ist es, was sich so abtötend auf das auswirkt, was von unserem Bewusstsein erfasst wird.
Eindimensionale Angst
Wann immer Angst im gewöhnlichen Bewusstsein heimlich das Sagen hat, besteht ihre Haupttaktik darin, die Realität zu verflachen und aller Erfahrung den Anschein zu verleihen, als wäre sie rein im wortwörtlichen Sinn zu verstehen. Die „normale“ Wirklichkeit lehnt alles ab, was nicht so verflacht werden kann: Die Vernunft stempelt es etwa als „komisch“ oder gar als psychisch krank ab. Eine der Nebentaktiken der Angst ist es, alles, was der Seele entspringt, dem Status des Egos zuzuordnen. Laut der Traumdeutung zum Beispiel tut das Ego den Traum als frivol ab. Oder es verwendet Hinweise, die von außerhalb des Traums selbst geholt werden, um dessen Bedeutung zu beurteilen. Man glaubt, durch psychologisches Interpretieren an die „wirkliche“ Bedeutung des Traums heranzukommen; dabei wird die große Spannweite des Seelenlebens lediglich auf die Ego-Schicht verengt. Durch solches Interpretieren wird die lebendige Qualität des Traums so gut wie getötet. Was die Gefühle betrifft, werden diese als Eigentum verstanden – als „meine“ Gefühle; dabei haben sie ihren Ursprung in einer Region, die ganz andersartig ist, als das normale Bewusstsein. Wenn wir zum Beispiel „Ich empfinde große Traurigkeit“ sagen, so signalisiert das die Vereinnahmung der Domäne des Gefühls durch das Ego. Zutreffender ist es zu sagen: „Eine große Traurigkeit hat mich heimgesucht“. Wenn uns eine Inspiration kommt, so glauben wir, dass wir selbst die Urheber des originellen Einfalls sind. Wegen dieser Vereinnahmung kann uns nichts Neues oder Unbekanntes einfallen, weil das von der Angst gelenkte Ego-Bewusstsein nur das hereinlässt, was es bereits begreift.
Vielleicht glaubt man, dass das Leben der Seele trotz alledem in seinen Tiefen bis ins Unendliche geht; dass die Seele von Angst und Angst nicht zerstört werden kann; und dass alle Menschen die Fähigkeit besitzen, sich inspirieren zu lassen, solange sie nur unvoreingenommen sind. Als Erstes ist es aber wichtig zu erkennen, dass die Seele keine „Wesenheit“ ist, nicht einmal eine solche der allersubtilsten Art. Die Seele ist eine Fähigkeit, die dadurch funktioniert, dass sie disparate und polare Eigenschaften zu einer einzigen Form zusammenwebt, nämlich zur Form der Bilder. Das sind wohlgemerkt keine Bilder zum Betrachtetwerden, nicht einmal innerlich. Sie sind vielmehr die Handlung des Verbildlichens selbst. Ferner stellt diese Handlung des Verbildlichens keine – etwa woanders existente – Realität dar. Sie ist kein Verbildlichen eines nicht-Gegenwärtigen, sondern sie ist eine Darbietung von allgegenwärtigen Wirklichkeiten, die aber dem landläufigen Bewusstsein unsichtbar bleiben. Wenn die Angst oder die Angst in diese Seelenfähigkeiten eindringen, können sie sie zerstören.
Schaue dir zum Beispiel eine Rose an. Du vernimmst eine rote Gestalt mit einer bestimmten Geruchsqualität, aber da du schon viele Male einen solchen Eindruck gehabt hast und irgendwann erfahren hast, dass diese Gestalt eine Blume ist, die man „Rose“ nennt, so verleiht deine Erinnerung dem Eindruck eine Bedeutung. Du bist vielleicht Gärtner und hast intellektuelle Kenntnisse über solchen Blumen angesammelt. Du empfindest auch Freude an der Schönheit und dem Duft der Rose. Diese Erfahrungen gehören alle dem Bereich des gewöhnlichen Bewusstseins an. Wenn du dich nun von dem abwendest, was du wahrnimmst, kannst du dir die Rose zwar vorstellen, aber diese vorstellende Tätigkeit wird vom gewöhnlichen Egobewusstsein gefangengenommen und auf es beschränkt. Das führt wiederum dazu, dass du lediglich ein inneres Bild ansiehst. Die lebendige Seelenqualität der Rose ist schon verschwunden; sie ist dem gewöhnlichen Bewusstsein verfallen, denn auch hier ist die Angst beziehungsweise die Angst eingedrungen und es ist ihr gelungen, das Leben der Rose zu töten. Die dem Egobewusstsein innewohnende Angst blockiert die volle Tiefe des Verbildlichtwerdens der Rose. Es bleibt nur ein Schatten ihrer wahren Wirklichkeit übrig, und doch haben wir von dem, was geschehen ist, gar keine Ahnung.
Eine Rose geht weit darüber hinaus, eine bloß physische Realität zu sein. Das ist sie allerdings auch, aber sie ist außerdem so viel mehr. Wenn, anstatt dich von der Blume abzuwenden und von ihr ein inneres Bild machen zu wollen, du deine Aufmerksamkeit darauf konzentrierst, jeden Aspekt der Wirklichkeit der Rose neu zu erschaffen, wird dich das zum Erleben weit hintergründigerer Eigenschaften führen. Diese Eigenschaften lassen sich kaum mit Worten zum Ausdruck bringen – die außerordentliche Zartheit der Blütenblätter; die tiefrote Farbnuance, die gar nicht so erscheint wie ein farbiger Gegenstand, sondern wie das Leben der Farbe Rot selbst. Du wirst die besondere Form der Blütenblätter gewahr, die nicht so sehr eine Gestalt, als eine Geste sind. Und der Duft – ein so tiefer, dass du ihn schmecken kannst – dringt dir als Zusammenfluss von Duft und Farbe bis ins Zentrum des Herzens.
Durch diesen Akt der Konzentration nähern wir uns der Wirklichkeit der Rose, und das ist erst der Anfang einer wahren Seelenerfahrung von ihr. Man kann sich auf die volle Vorstellung der Rose noch tiefer einlassen; ja man könnte ein ganzes Leben daran zubringen und die Realität der Rose niemals erschöpfen. Man kann über die Blüte hinausgehen und die Blätter, den Stiel, die Stacheln, die Wurzeln, die sie umgebende Erde, die Verbindung zwischen der Rose und dem Himmel, der Sonne, dem Mond und die Sterne imaginieren.
Ferner kann man die Eigenschaften der Rose – Reinheit, Liebe, Zärtlichkeit –, die man gewöhnlich rein symbolisch auffasst, zu Wirklichkeiten machen, indem man sich sorgfältig auf die eigene innere verbildlichende Tätigkeit konzentriert. Gertrude Stein sagte „eine Rose ist eine Rose ist eine Rose,“ was für das Egobewusstsein so viel bedeutet, wie: Man solle in die Rose nicht zu viel hineinlesen; eine Rose sei weiter nichts, als eine Rose. Für das Bilderbewusstsein aber bedeutet dieses Wort Gertrude Steins, dass die Realität der Rose immer weiter und weiter und weiter geht.
Wenn du diese Konzentrationsübung versuchst, wirst du womöglich als Erstes Angst oder Angst erleben. Wann immer wir versuchen, das gewöhnliche Egobewusstsein abzustreifen, tritt die diesem Bewusstsein innewohnende Angst hervor und will eine Mauer bauen, als wollte sie uns warnen vor dem Übertreten der Grenze zu einem weiteren, ausgedehnteren Bewusstsein. Angst und Angst handeln aber sehr rasch, und es kann geschehen, dass du diesen Impuls zum Errichten einer Mauer nicht direkt fühlst. Stattdessen fühlst du womöglich, dass du deine Konzentration nicht auf das innere Bild gerichtet halten kannst, ohne dass andere Gedanken, Gefühle und Bilder hereinfluten. Oder du tust die Übung als lächerlich ab, oder du fühlst dich wegen des Versuchs frustriert oder überfordert. Die Angst schwebt bei allen solchen Reaktionen sehr in der Nähe. Hast du einmal in deinem Leben besonders starke Angst und Angst erfahren, so kannst du eine schwere Verletzung der Fähigkeit erlitten haben, die innere Aufmerksamkeit zu bündeln. Denn ab da behauptet die Angst ihre Position von innerhalb des Egobewusstseins umso intensiver: Sie trennt nahezu komplett das gewöhnliche Bewusstsein von allen anderen Bewusstseinsmodi ab.
Wie finden Angst und Ängste den Weg aus der Welt hinaus und in ihren versteckten Wohnsitz im Egobewusstsein hinein? Durch den Körper. Körperliche Angstkrämpfe klingen nach und wirken aus dem Körper heraus ins Bewusstsein herein. Auch erinnerte Erlebnisse der Angst oder der Angst wirken in dieser Weise. Ja schon unsere Kultur selbst fördert dieses Angstgeladene Nachhallen, und wirklich: Diese Kultur lässt keinen Raum für lebendige Verbindungen mit geistigen Welten übrig. So offen heutzutage Beziehungen zu Engeln, geistigen Führern oder den Verstorbenen auch besprochen werden: Nach wie vor sind solche Erfahrungen Randerscheinungen, die oft mit Skepsis entgegengenommen werden. Aber der ungeheure Trost und die Führung, die aus ihnen zu gewinnen ist, bieten das Gegengift zu Angst und Angst. Wenn im Kulturleben solche Wirklichkeiten keinen Platz haben, findet die Angst ungehindert den Weg ins Egobewusstsein.
Zur Förderung einer heilsamen Entwicklung des Ego-Bewusstseins
Die Angst ist in die Struktur des Egobewusstseins sozusagen schon eingebaut. So kann man Angst-Übergriffe vorbeugen. Man braucht lediglich die Spannweite des Bewusstseins über die Egoität hinaus zu erweitern. Solche Erweiterung kann eine alltägliche Praxis sein, in der wir darauf hinarbeiten, uns stärker am Leben der Seele zu orientieren. Es geht hier nicht darum, das Seelenleben ins gewöhnliche Bewusstsein zu übertragen, sondern darum, das gewöhnliche Bewusstsein ins seelische Bewusstsein hineinzubringen.
Wie kann man das üben? Anstatt zu versuchen, der Seele unsere Aufmerksamkeit zu schenken, müssen wir ermöglichen, dass sie unsere Aufmerksamkeit sich holt. Die bildschaffende Realität der Seele ist eine Fähigkeit der Imagination. Es geht dabei nicht um innere Bilder, die es zu betrachten gilt, sondern um den Vorgang selbst, Bilder zu schaffen, die ständig dabei sind, sich zu bilden und – im selben Augenblick – sich aufzulösen. Der Inhalt eines inneren Bildes ist weiter nichts als die äußere Bekleidung, der Schlussmoment eines Verbildlichungsvorgangs. Wir sollen unsere Aufmerksamkeit also nicht so sehr auf den Bildinhalt lenken, sondern vielmehr auf die Gefühle, auf die Eindrücke, auf die Empfindung der Bewegungen des Verbildlichungsprozesses, auf dessen Rhythmus und dessen dramatisches Handeln.
Nehmen wir an, ich habe einen Traum, in dem ich über einer Stadt fliege; Flügel habe ich dabei keine. Auf einmal merke ich im Traum, dass ich überhaupt fliege, und in diesem Augenblick beginne ich, in die Tiefe zu stürzen. Ein kleiner brauner Hund steht auf der Stelle, wo ich auftreffen werde, und schaut mir neugierig aber zugleich mit erkennendem Blick entgegen, als wenn er diesen fallenden Körper kennen würde. Da hört mein Sturz auf und ich erhebe mich wieder in die Wolken. Das Traumbild steigt mir beim Aufwachen ins Bewusstsein auf. Aus der Perspektive des Egobewusstseins bedeutet der Traum vielleicht, dass ich zu sehr im Geist befangen bin, und dass ich dadurch so zum Handeln veranlasst werde, als hätte ich keinen festen Boden unter den Füßen und so einfach beliebig herumschweben kann; dass aber wenn ich meinen Geist mit dem Tier in mir verbinden kann, er in neuer Weise frei ist. Eine schlaue Auslegung. Nichtsdestotrotz: Alles Unsinn! Denn ich entferne mich dabei von der eigenen Ausdrucksweise der Seele selbst. Hingegen wenn ich mich beim Aufwachen anstrenge, das Traumbild als Ganzes zu halten, so kann ich an der eigenen Ausdrucksweise der Seele näher dranbleiben. Wie alle Bildschaffende Tätigkeit ist das Träumen ebenfalls nicht linear. Schon wenn ich den Traum in die Form einer Erzählung bringe, ist das eine Art Interpretation. Wenn ich aber jede Schicht des Traums gleichzeitig fühlen und empfinden kann, anstatt mit ihm als mit einer mehr oder weniger linearen Erzählung umzugehen, so ernähre, ehre und unterstütze ich nicht nur den Traum, sondern auch die Seele in dem ihr eigenen Handlungsmodus.
Das Leben der Seele hält sich nicht an der Logik des Egos. Wenn wir versuchen, durch gewöhnliche Logik die Seele zu verstehen, anstatt zuzulassen, dass sie uns ihrer eigenen Art gemäß belehrt, so stärken wir die Kräfte des Egos und schwächen die des Seelenlebens. Man muss das Ego aber nicht aufgeben, um die Seele zu Wort kommen zu lassen; ja wenn wir das tun würden, würden wir durch Erlebnisse überwältigt werden, die wir weder verstehen noch behalten können. Wenn hingegen die dem Egobewusstsein innewohnende Angst reduziert wird, dann funktioniert das wahre Wesen des Egos als der geistige Kern unseres Wesens. Anstatt weitere und tiefere Formen des Bewusstseins abzulehnen, umarmt dieses zentrale „Ich“ solche Erfahrungen. Um in der Begrifflichkeit des großen Dichters Samuel Taylor Coleridge zu sagen: Das von Angst freie Ego ist die Nachbildung des unendlichen „Ich Bin“ im endlichen Verstand.
Was bezwecken wir, wenn wir die wesensgemäße Handlungsweise der Seele fühlen lernen? Die Erlangung der Fähigkeit, uns von der Seele verändern zu lassen. Träume sind hierfür ein ausgezeichneter Ausgangspunkt, denn in ihnen bekommen wir die Rudimente einer Logik zu fassen, die anders ist als die Logik des Egobewusstseins. Diese neue „Logik der Simultaneität“ wirkt im Wachleben – in dem Maße, in dem wir uns auf sie einlassen – verändernd auf die Erkenntnis sowie auf das Gedächtnis, das Denken und das Wahrnehmen. Bei dieser Änderung geht es nicht bloß um eine gründlichere Selbsterkenntnis; noch wichtiger: Es geht um eine Steigerung der Fähigkeit, uns der Welt und anderen Menschen zu nähern. Bisher hatte die Angst unser Bewusstsein fest im Griff. Nunmehr löst er sich.
Indem wir das Bollwerk der Angst im Egobewusstsein abbauen, werden wir dazu fähiger, seelische Eigenschaften in der Welt zu entdecken. Im Wachleben ist die Seele die innere Genießerin alles dessen, was sich uns darbietet. Das soll nicht heißen, dass es ihr nur um Befriedigung geht; genießt die Seele doch alles, auch solche Dinge, die für uns als abscheulich gelten. Soll es aber den seelischen Eigenschaften der Welt gelingen, unsere Aufmerksamkeit zu packen, so kommen wir um eine Steigerung unserer Fähigkeit, die Welt als einen Vorgang des Entstehens von Bildern zu empfinden, nicht herum.
Jeden Tag verbringe ich einige Minuten damit, ein inneres Bild von etwas zu machen, was mir an diesem Tag begegnet ist. Wenn ich zum Beispiel nach einem Schneesturm von meinem Haus in den Bergen die Straße hinuntergefahren bin und die schneebedeckten Bäume gesehen habe, die die Straße säumten, so ist das ein allerdings sehr beeindruckender und bewegender Anblick. Sofern aber dieser Eindruck gleich vom nächsten Eindruck verdrängt wurde, ist das noch kein bewusstes Seelenerlebnis. Also nehme ich mir abends fünf Minuten und mache ein inneres Bild von einer Szene, die ich am Tag gesehen habe. Aber ich erinnere mich nicht bloß an das Gesehene. Auch visualisiere ich es nicht bloß mit dem inneren Auge. Bei Letzterem geht es um die – vorwiegend mentale – Tätigkeit, ein vor sich befindliches inneres Bild anzusehen. Worum es bei einem solchen Bildschaffen geht, das ist vielmehr, ein sehr detailliertes, genaues Bild zu machen, dann dieses Bild mein ganzes Wesen so durchsetzen zu lassen, dass ich es nicht mehr vor mir erlebe, sondern dass ich das Bild werde. Worauf es bei dieser Tätigkeit ankommt, das ist, das Bild so zu stabilisieren, dass es nicht gleich verblasst oder sich in etwas anderes verwandelt.
Eine Übung wie diese braucht sich nicht auf das Visuelle zu beschränken. Ich selbst übe solches Bildschaffen mit Musik, oder mit einem von jemandem gesprochenen Satz, oder mit Tastempfindungen, mit Gerüchen, ja mit der vollen Spannweite meiner Sinne. Man kann diese Übung auch mit Gedanken, Gefühlen, Handlungen, ja mit dem ganzen Feld des menschlichen Erlebens machen.
Indem die Seele erstarkt, entwickelt sich ein imaginales Ego-Bewusstsein. Wir müssen nicht das gewöhnliche Bewusstsein auslöschen, um Erfahrungen zu haben, die von der Seele durchdrungen sind; das Ziel ist vielmehr, das Bilderbewusstsein und das gewöhnliche Bewusstsein zusammenzuführen. Da beginnt die Welt nach und nach als fortdauernde Tätigkeit anstatt nur als festgelegte Inhalte in Erscheinung zu treten. Zum Beispiel: Ich schaue jeden Tag zu meinem Fenster auf die Landschaft hinaus. Aufgrund der ständigen Änderung von Licht und Schatten, von den Wolken und der Sonne, dem Nebel und dem Regen, ändern sich auch die Formen der Objekte; auch gruppieren sie sich zu verschiedenen Zeiten in verschiedener Weise. Im einen Moment steht ein Baum im Zentrum, im nächsten Moment gehört er zum Hintergrund. Die Färbung kann von Blau zu Silber zu Indigoblau zu Lila wechseln. Die Welt-als-Bild entsteht ständig in diverser, immer neuer Weise.
Die ganze Welt bietet sich zum Bilderschaffen an. So bietet sich die konstruierte, durch menschliche Genialität gebaute Welt als Bildtätigkeit dar. Ein glatter, gläserner, hoch hinaufragender Wolkenkratzer steht allein an der Ecke, zerbrechlich, isoliert und in sich gekehrt, und ich empfinde Mitleid mit diesem einsamen Gebäude. In dieser Weise präsentieren sich auch Menschen. Wie erstaunlich es ist zum Beispiel, die kräftige Gangart des einen Menschen zu beobachten und mit welch festem Schritt seine Füße den Boden berühren – als wenn im nächsten Moment das gerade eben gesetzte Bein zum Heben zu schwer sein könnte und der Mensch ewig auf dieser Stelle festgefroren bleiben müsste. Wie ist es möglich, mag man sich fragen, dass dieser Mensch sich überhaupt bewegt? Jemand anders scheint durch die Luft zu fliegen und kaum sich die Mühe zu machen, mit jedem Schritt den Boden zu berühren. Oder das Antlitz eines Menschen zu betrachten – das eine Gesicht mit Linien gezeichnet, zerAngst, faltig, die Sorgen, die Freuden, die Schmerzen eines Lebens offenbarend; ein anderer mit glatter, zarter Haut, die ganzen Lebenserfahrungen durch tiefe, dunkle, nachdenkliche Augen zeigend.
Wenn wir Seele in der Welt finden, ist es nicht darauf zurückzuführen, dass wir sie dorthin projiziert haben. Diese Vorstellung ist eine psychologische Erfindung, die geschaffen wurde durch die scharfe Trennlinie zwischen Egobewusstsein und dem Rest des Seelenlebens, und die das Letztere in „das Unbewusste“ verbannt. Laut einer solchen Psychologie gehören seelische Qualitäten nicht zu der „eigentlichen“ Welt; sie entspringen vielmehr dem Unterbewusstsein und werden auf die Welt lediglich projiziert. Ist aber die Angst einmal aus ihrem Versteck im Egobewusstsein ans Licht gekommen, so wird klar, dass die Trennung zwischen dem Egobewusstsein und den anderen Modi des Seelenlebens von eben dieser Angst vollzogen wird.
Wenn wir daran arbeiten, die Seele mit dem Egobewusstsein zu verbinden, so vertreiben wir die Angst nicht nur aus ihrem Versteck in uns. Eine solche Arbeit wirkt sich nämlich auch auf die in der Welt verbreitete Angst aus. Wird das Leben der Seele Stück für Stück bewusster, so ist es, als würde ein Teil von uns in das hinübergehen, was uns entgegenkommt. Ob das Letztere aus unseren eigenen Seelentiefen oder aus den Raumesweiten kommt, ist ein solches Gefühl des ineinander Übergehens nicht in leibfreien oder mystischen Erfahrungen zu orten. Denn alles, was wir „Seele“ nennen, ist weiter nichts als eine Variation, eine Modifikation der einen oder anderen Art schöpferischer Liebe. Die Angst wird allerdings durch Liebe überwunden. Aber nicht durch eine Liebe, die wir von unserem Ego oder unserer Sentimentalität her eingehen. Liebe handelt als eine Kraft gegen die Angst, aber nur insofern sie ein Impuls auf Beziehung, auf Verbindung, auf Affinität hin ist und der Trennung, der Zerteilung, dem Konflikt und der Gewalt entgegensteht. In dem Maße, in dem wir von der Seele her wach werden, finden wir uns immer mehr in der Welt draußen und immer weniger auf uns selbst bezogen. Anstatt abzuwarten, dass die Liebe zu uns kommt und uns mitreißt, ist es jetzt an uns, einen Beitrag zum Kreislauf der Liebe in der Welt zu leisten – einen maßgeblichen Beitrag zum unschädlich-Machen der drückenden, allgegenwärtigen Angst in der Welt.
Angst und der Intellekt
Am allerschlimmsten wütet die Angst im Bereich unseres alltäglichen Denkens. Beim Einsatz der Erkenntnis, der Erinnerung und der Wahrnehmung zur Weiterbildung des Intellekts drängt sich die Angst dazwischen. Das schneidet das Seelenleben vom normalen Bewusstsein ab und das Denken wird ungesund. Nicht der Inhalt dessen, was man denkt. Sondern die Handlung des Denkens selbst bekommt eine Struktur, die insgeheim mit der Angst zusammenarbeitet.
Zwar kann das Denken eine Tätigkeit der Seele sein, aber für die meisten von uns ist es eine Handlung des Egobewusstseins. Mit der Bezeichnung des Denkens als eine Tätigkeit der Seele meine ich die Fähigkeit, durch das Bilden von Ideen zu Erkenntnissen zu kommen. Ideen sind Bilder – das Wort Idee kommt vom griechischen eidos, was „Bild“ bedeutet. Wann immer die Angst in die Tiefen unseres Bewusstseins hineingelangt, schwindet die Fähigkeit, Ideen als Bilder zu formen, dahin. Wir erleben die Ideen fast ausschließlich in der Dimension der Brauchbarkeit anstatt in ihrer Eigenschaft als sakrale Gebilde.
Die erkennende Phantasie funktioniert dadurch, dass die zwei zur Ideenbildung erforderlichen Polaritäten, nämlich Differenzierung und Ganzheitlichkeit, zusammengewoben werden. (Polaritäten sind keine Gegensätze, sondern sie existieren im Tandem, die eine braucht die andere, genauso wie das Licht ohne die Finsternis nicht existieren kann.[3]) Im gewöhnlichen Denken herrscht die Seite der Differenzierung vor. Wir teilen, trennen, analysieren, begutachten, nehmen die Dinge auseinander, brechen sie in immer kleinere Fragmente herunter, rationalisieren. Was wir nach dieser Art kennen, sind Abstraktionen, nicht die Fülle der Wirklichkeit. Diese Denkart verliert den Blick für das Ganze und macht die Begriffswelt kalt und bar einer gesunden Gefühlskomponente. Zugleich tendiert aber das so genannte ganzheitliche Denken, welches entstand, um die Schäden auszugleichen, die über Jahrhunderte hin durch den analytischen Modus verursacht wurden, zur zu starken Verallgemeinerung, zur Undeutlichkeit, zur Verschwommenheit, zur Sentimentalität, zu einem Mangel an Konkretheit hin. Keine dieser beiden Denkarten gilt als bildhafte Erkenntnis. Was die zwei Polaritäten auseinanderzerrt, das ist die verdeckte Gegenwart der Angst im Zentrum des gewöhnlichen Bewusstseins. Die Angst, welche die erkennende Tätigkeit einerseits und die Phantasie anderseits zum gegenseitigen Misstrauen anstiftet.
Überwiegt im Denken die Seite des Differenzierens, so wird unser kognitives Leben mit Abstraktionen verflacht. Die Verflachung bewirkt, dass wir die Dinge in einer einzigen Dimension sehen und dieses Einzige zum Ganzen werden lassen. Die Angst packt diese Darbietung der Realität und verwendet sie dazu, unser Denken zu einer Diskussion zu machen. Wir verteidigen unseren einseitigen Standpunkt und sind dabei außerstande, die vielen Seiten der Angelegenheit aufzunehmen. Wir kommen zur Auffassung, dass der ganze Sinn und Zweck des Denkens der ist, zu einer Schlussfolgerung zu kommen. Das beeinträchtigt die Möglichkeit einer Bilderkenntnis noch weiter. Sind wir einmal in dieser Vorstellung eingebettet, denken wir nicht mehr im eigentlich Sinne, sondern wir reihen bloß Gedanken aneinander, um zu einem Schluss zu kommen. Ein solches Denken tut nichts, um Schöpferisches in die Welt zu bringen. Unser Verstand greift lediglich nach schon fertigen Gedanken, die so in der Welt herumzirkulieren wie alte, verschlissene Münzen.
Das Zusammenweben der Polaritäten Differenzierung und Ganzheit erzeugt eine Art Denken, die Wärme und Nuanciertheit besitzt, und die in ihrem Wesen eine künstlerische Tätigkeit ist. Ein Künstler, zum Beispiel, verbildlicht das ganze Gemälde, an dem er arbeitet, und zu gleicher Zeit sieht er jeden einzelnen Teil des Gemäldes im Verhältnis zu den anderen. Zwar versucht er nicht, sich das fertige Gemälde vorzustellen schon bevor er mit dem Malen begonnen hat, denn das wäre so, wie wenn er eine Abstraktion auf die Leinwand übertragen wollte. Aber der wahre Künstler hat gleich zu Beginn eine ziemlich klare Konzeption des Ganzen sowie auch davon, wie die Besonderheiten des Gemäldes dieses Ganze ans Licht fördern werden. Das Ganze ist vollkommen reell, wenngleich unsichtbar; reell wird es erst durch die Teile, durch die es zusammengesetzt wird, und das ist eine Eigenschaft auch der bildhaften Erkenntnis. So wie ein Musiker nicht bloß einzelne Töne aneinanderreiht, sondern in jedem einzelnen Abschnitt das ganze Stück anwesend sein lässt, in der gleichen Weise ist die bildhafte Erkenntnis eine Art Orchestrierung. Wir können es fertigbringen, unser alltägliches Leben zu einem Vorgang der künstlerischen Erkenntnis zu machen. Wir müssen nur darauf achten, wie alles, was wir tun, in einem Gesamtzusammenhang steht, der aus unseren Verbindungen mit anderen, mit der Welt und mit den geistigen und seelischen Reichen gewebten.
Das Denken im Modus der Differenzierung und Analyse eignet sich besser für die materiellen Aspekte der Wirklichkeit, während das Denken im Modus der Ganzheitlichkeit besser zu den spirituellen Aspekten der Wirklichkeit passt. Leider tendieren diese beiden Sphären in eine je eigene Richtung, und genau das ist es, was die Angst will. Das wissenschaftliche Denken zum Beispiel hat den Modus der Differentiation auf die höchste Stufe seiner Entwicklung gebracht, während das religiöse Denken und das spirituelle Denken die Ganzheitlichkeit ausgebildet haben. Sowohl das wissenschaftliche als auch das religiöse Denken regen zwar zu Phantasien der Hoffnung an, aber keines der beiden richtet viel aus, um die Hoffnung zu einem tatsächlichen Erlebnis werden zu lassen. Eine Vereinigung dieser zwei zu einer neuen Form des Bild-Denkens könnte zur Verminderung der Angst in der Welt eine Menge ausrichten. Denn dadurch würde die Hoffnung als Erkenntnismodus wieder hergestellt.
Das Denken als eine selbständige Wirklichkeit
Wir sind von Geist- und Seelenwirklichkeiten umgeben und durchdrungen. Wir sind von Geist- und Seelenwirklichkeiten umgeben und durchdrungen. Ebenso begreifbar wie die materielle Realität sind auch diese Wirklichkeiten. Geister, Engel, auch die Verstorbenen sind fortdauernd bei uns. Ihre Gegenwart ist erlebbar, wenn wir nur die Bilderkenntnis-Fähigkeit in uns ausbilden. Diese neue Denkweise wird uns mehr von der Wirklichkeit offenbaren, als wir uns je haben träumen lassen. Aber sie tut mehr als das. Kein Denken bleibt an unserem Kopf gebunden. Jeder von uns erzeugte Gedanke strahlt in die Welt hinein und wirkt als ein Magnet, der ähnlich geartete Gedanken anzieht. Wir brauchen uns nur für einen Augenblick auf diese Möglichkeit zu besinnen, so wird, was sich zunächst vollkommen fremd anhört, dann doch plausibel wirken.
Wie kam es, dass der analytische Modus in der Welt allgegenwärtig wurde? Er war nicht immer der primäre Charakterzug des menschlichen Denkens, und zu Beginn wird er sich sogar ziemlich fremd ausgenommen haben. Wurde er allein durch Bildung in der Welt verbreitet? Dadurch wurde er zwar verfeinert, aber durch Bildung ist weder sein Hervortreten noch der Umstand zu erklären, dass er als allgemeine Denknorm angenommen wurde. Diese Art des Denkens wird von lauter einzelnen Menschen ausgeführt, und dennoch übt sie in der Welt eine selbständige Kraft aus. Sind nämlich bestimmte Gedanken von ihren Urhebern einmal freigeworden, dann gruppieren sie sich in der Welt und gewinnen an Stärke. Und so kommt es, dass diese Art des Denkens wirkliche Macht erlangt. Das analytische Denken hat allmählich die gesamte Menschheit in einen Willensstrom hineingezogen, der sich von den unsichtbaren Realitäten verselbständigt hat, von denen wir umgeben sind.
Wenn jemand verliebt ist, bleibt diese Liebe nicht in diesem einzelnen Menschen eingeschlossen. Sie strählt aus und kann von anderen empfunden werden. Man sagt „Du strahlst.“ In gleicher Weise strahlt das Denken aus. Indem wir daran arbeiten, in Bildern zu erkennen, strahlen wir neue Arten des Denkens in die Welt hinein und bilden einen neuen Strom kollektiven Denkens: Ein Erkennen, das Differenzierung und Ganzheit zusammenwebt. Ein Denken, das nicht trocken und abstrakt ist, sondern warm und nuanciert. Was an diesem Denkstrom neuartig ist, das ist, dass er nicht nur die Gedanken anderer Menschen anzieht, sondern auch die Strömungen der unsichtbaren Welten – die Welten der Götter, der Geister, der Engel, der Verstorbenen. Die horizontale Welt des alltäglichen Lebens kann sich dann mit der vertikalen Welt des Ewigen vermischen. Wir erleben diese Strömungen aus den Geister-Welten als Augenblicke der Inspiration.
Auf eigene Faust kommen wir der Angst in der Welt nicht bei. Alle die hier dargestellten Übungen haben zum Ziel, den Übenden für die geistigen Strömungen offen und greifbar zu machen, welche die Seele durchwirken. Nur mit Hilfe dieser Strömungen ist die Angst zu reduzieren. Das Gefühl des Inspiriertseins, das mit diesen Strömungen einhergeht, ist anders als das religiöse Denken. Obwohl die Religion mit solchen Strömungen gewissermaßen zusammenschwingt und sie anzieht, soll das nicht heißen, dass wir uns nur der Religion anzuvertrauen brauchen, um mit der Angst in der Welt aufzuräumen.
Die hier beschriebene Inspiration ist eine Fähigkeit, fühlend zu wissen. Du sinnst zum Beispiel über etwas nach. Dein Denken wird zu einem starken Magnet in dir, der Ideen, Gesinnungen, Gefühlsströme zusammenzieht. In ähnlicher Weise ist das Erkennen in Bildern ein Magnet, der geistige Wesenheiten anzieht. Wann immer wir diese Art eines lebendigen Denkens – eines Denkens innerhalb der Wirklichkeit der Dinge selbst – tätigen, bildet es eine Brücke zu den uns überall umgebenden unsichtbaren Welten. Diese Art der Inspiration hat nichts mit Channeling, Mediumismus oder psychischen Mächten zu tun, die Botschaften aus den Geisterwelten bringen. Das fühlende Wissen der Bild-Erkenntnis kann Teil unseres alltäglichen Wachbewusstseins werden. Sie zur fruchtbaren Reife zu bringen ist unsere Aufgabe.
Um den Strom der Inspiration fühlen zu können, ist es nötig, dass der Griff gelöst wird, in dem die Angst den Körper festhält. Der in den Fängen der Angst steckende Körper ist zu sehr verkrampft, als dass er die Strömung der Inspiration fühlen könnte. Um diese Strömung fühlen zu können, ist es auch nötig, dass man an der Ausbildung des Bild-Erkennens gearbeitet hat, denn die Inspiration muss durch die Seele erlebt werden. Das gewöhnliche Egobewusstsein kann sie nicht empfinden. Auch kann ein Intellekt, der in der Trennung zwischen Differenzierung und Ganzheitlichkeit steckt, diesen Inspirationsstrom nicht fühlen. Im Arbeiten daran, den Körper zu heilen, braucht es also die Seele und das Denken, damit die Inspiration aufblühen kann.
Die Inspiration kommt uns nicht in völlig verwirklichter Form. Wir erhalten normalerweise keine kompletten, vollkommen einsatzbereiten Ideen. Die Inspiration besitzt eine dem Tastsinn analoge Qualität: Wir fühlen sie zwar im kognitiven Bereich, und doch hallt sie hintergründig im Körper. Jedermann hat einmal Momente der Inspiration im Leben erfahren; es kommt aber darauf an, solche Momente zu einer fortwährenden Realität werden zu lassen. Man fühlt etwa einen verstorbenen Menschen, den man im Leben kannte, in unmittelbarer Nähe. Man sieht ihn nicht, sondern man empfindet seine Anwesenheit wie ein leichtes Berührtwerden. Solche Erlebnisse lassen sich verstärken, denn obwohl wir in der Regel nicht wach genug sind, solche flüchtigen Gefühle zu erfassen, gehen sich ständig vor sich. Solche Gefühle haben mehr Bedeutung, als eine momentane Berührung mit den unsichtbaren Welten. Wenn wir sie ernstnehmen, so ändert sich unsere Erkenntnis. Nicht nur lassen wir eher geistige Angelegenheiten in unsere Gedanken herein, sondern auch die Struktur selbst unseres Denkens ändert sich, wird offener, flexibler, weniger materialistisch, empfänglicher und dynamischer.
Nachdem wir nun festgestellt haben, dass die Angst die Struktur unseres Egobewusstseins überhaupt erst bedingt, entsteht die Frage: Was wird aus ihr, wenn wir dieses Egobewusstsein erweitern? Obwohl die Angst dem Egobewusstsein wesensgemäß inhäriert, versteckt sie sich in ihm. Im Laufe der Bewusstseinserweiterung gewöhnt man sich daran, von der Inspiration berührt zu werden. Und dabei geschieht etwas sehr Interessantes mit der im Egobewusstsein versteckten Angst. Sie verschwindet nämlich nicht einfach, sondern sie versenkt sich in den fruchtbaren Schoß der Seele und macht dort eine Verwandlung durch. Diese Verwandlung geht in der Regel wie folgt vor sich: Zunächst fühlen wir eine Art Erschöpfung, die ist nicht so sehr physischer Art. Sie kann sich ein bisschen wie Depression ausnehmen, aber sie hat nicht die gleiche Schwere wie eine Depression. Vielmehr ähnelt sie eher dem Loslassen einer Schwere, an der wir lange Zeit getragen haben. Die Erschöpfung bringt also ein Gefühl der Erleichterung mit sich. Wir fühlen die Ermüdung der Seele, die wir für so lange Zeit unterdrückt hatten.
Das Gefühl der Ermüdung sehen wir im Gesicht von praktisch jedermann, nur nicht in Begleitung eines Gefühls der Erleichterung. Wir erkennen innerlich, dass die Struktur, innerhalb welcher unsere Welt seit so vielen Jahren funktioniert, nicht mehr lange aufrechtzuerhalten ist. Diese Struktur besteht in einer ungeheurlichen ökonomischen, technokratischen und politischen Ordnung, für die nicht nur der Individualismus, der Konsumismus und die Selbstbezogenheit, sondern auch politische und großkommerzielle Macht das Wichtigste ist. Diese Ordnung ist für die Menschen, die in ihr leben müssen, eine dauernde Herausforderung, ihren eigenen individuellen Sinn und Zweck zu finden – den wir in Familienwerten, in Religion und Bildung suchen. Die letzteren Werte haben aber eher die Tendenz, dem Ist-Zustand zu dienen, als die Selbsterkenntnis zu fördern.
Zusammen mit dem tiefen Gefühl der Erschöpfung und des Loslassens entsteht allerdings auch eine Sehnsucht, ein Verlangen danach, aus einem vollkommen neuen Zentrum heraus tätig zu sein, anstatt aus dem intellektuellen Bewusstsein; eine Sehnsucht danach, von der Mitte des Herzens her und durch die Fähigkeit der Liebe zu denken. Hier wird also das Denken nicht zugunsten des Fühlens aufgegeben, sondern es kann die Suche nach einem fühlenden Denken, einem denkenden Fühlen, ernsthaft beginnen. Die Norm dieses neuen Denkens wird es sein, nicht nur logisch, sondern als auch schön und künstlerisch zu denken.
Die Notwendigkeit, Aufmerksamkeitskräfte zu steigern
Die in diesem Kapitel angebotenen Vorschläge in Taten umsetzen zu können hängt von der Fähigkeit ab, das eigene Konzentrationsvermögen so zu steigern, dass wir aus eigener Initiativ unsere Aufmerksamkeit auf Dinge lenken können, die uns in der Regel nicht beschäftigen. Wenn wir von einem Traum aufwachen, zum Beispiel, können wir uns von diesem Traum über den ihm eigenen Handlungsmodus belehren lassen. Zu diesem Zweck halten wir ihn als ganzes Bild festhalten, anstatt seine Bedeutung sezieren zu wollen. Ein Bild so festhalten zu können setzt Aufmerksamkeit voraus; es erfordert, dass wir für eine Zeit unser Interesse unter Ausschluss von allem anderen auf einen einzigen Gegenstand lenken. Ein zweites Beispiel: Etwas beobachten – das innere Bild einer Rose, etwa – bis dahin, dass die hintergründigsten Eigenschaften des Bildes offenkundig werden. Das verlangt, dass andere Gedanken oder Bilder während der Zeit, in der sich konzentriert wird, außen vor gehalten werden.
Alle die bisher beschriebenen Übungen erfordern, dass wir für eine Zeit alles andere ausschließen, alle Sorgen und allen Kummer, alles anderweitige Denken. Die Pflege dieser Übungen führt nach und nach zur Ausbildung der Bilderkenntnis. Als wir bei der Besprechung der Bilderkenntnis angelangten, wurden keine besonderen Übungen angeboten, denn der Weg, auf dem wir zu dieser neuen Form des Erkennens kommen, ist ein indirekter. Wir müssen nämlich die Seelenqualitäten in unserem Bewusstsein zur Entfaltung bringen. Diese Besinnung auf Angst und Bewusstsein verlangt aber unbedingt, dass etwas über die Aufmerksamkeit an sich gesagt wird.
Welche Rolle spielt die Aufmerksamkeit im Bewusstsein? Die Aufmerksamkeit ist ein Willensakt, eine Handlung, vor etwas anwesend zu sein, das sich wie ein strahlendes Licht ausnimmt. Etwas Aufmerksamkeit braucht man immer, um überhaupt ein Bewusstsein der Dinge zu haben. Die Aufmerksamkeit ist aber präkognitiv, ist vorbewusst. Sie ist eine Macht, die dem Bewusstsein zugrundeliegt: Sie ermöglicht es erst. Ich kann meine Aufmerksamkeit auf etwas lenken; auch ist es möglich, gewahr zu sein, dass wir überhaupt aufmerksam sind. Aber die eigene Aufmerksamkeit zum vollen Bewusstsein bringen können wir nicht. Zumal in obiger Eigenschaft als präkognitiven Willensakt vorerst nicht.
Bei allen bisher beschriebenen Übungen geht es nicht in erster Linie um den Inhalt der gegebenen Bilder, sondern um eine Steigerung der Aufmerksamkeitskraft. Dadurch, dass diese Übungen ausgeführt werden, heben wir die vorbewusste Qualität der Aufmerksamkeit tatsächlich ins Bewusstsein. Da wird sie zu dem, was früher in diesem Buche als das Zeugen-Bewusstsein bezeichnet wurde.[4]
Die Kräfte der Aufmerksamkeit bedürfen deshalb der Steigerung, weil in gegenwärtiger Zeit wir unsere Aufmerksamkeit nicht frei, aus eigenen Seelenkräften heraus schenken, sondern feststellen müssen, dass unsere Aufmerksamkeit gefangengenommen wird. Irgendetwas ist ständig dabei, unsere Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen – Fernsehen, Computer, Unterhaltung, Filme, die Arbeit, die Bedürfnisse und Forderungen anderer Menschen. Die Geschwindigkeit, mit der wir in unserer Aufmerksamkeit immer passiver werden, nimmt rapide zu. Sogar aus der Meditationspraxis ist eine Reihe technischer Gerätschaften hervorgegangen, von gelenkten Meditations-Tonbändern bis hin zu Spezialbrillen mit blinkenden Lichtern, die angeblich so getimt sind, dass sie meditative Zustände herbeiführen. Das Meditieren erfordert aber das Durchhalten eines konstanten Zustandes der vollen Aufmerksamkeit, was ja eine extrem aktive Bewusstseinsart ist.
Das Phänomen der Aufmerksamkeit gibt uns von etwas Kunde, was äußerst wichtig ist im Hinblick auf die Realität der Seele. Wir erschaffen zwar die eigene Seele nicht, aber ohne unsere Aufmerksamkeit muss uns ihre Gegenwart unbewusst bleiben. Ohne die Aufmerksamkeit zerstreut sich die Seele. Die angegebenen und ähnlichen Seelenübungen zielen auf den Aufbau der Aufmerksamkeitskraft hin, damit sie schrittweise kontinuierlich wird. Das uns gegebene Seelenbewusstsein ist in präfabrizierten Formen befangen, die von außen auf uns einwirken. Gehen wir also nicht gezielt die Steigerung unserer eigenen Aufmerksamkeit an, so wird uns die frische Kreativität fehlen, uns immer neu in die Welt hineinzubegeben. Diese präfabrizierten Formen nimmt die Seele allerdings entgegen. Aber wenn sie für das von ihr selbst Erschaffene keine Aufmerksamkeit aufbringt, so wird sie in derjenigen Angst eingehüllt bleiben, die am allertiefsten sitzt: Sie wird sich nämlich vor dem eigenen Untergang fürchten. Diese Angst ist keine andere als das abgrundtiefe existentielle Grauen.
So äußerst aktiv die Aufmerksamkeit als Zustand auch ist, besteht ihre Tätigkeit in reiner Rezeptivität. Wenn ich die volle Aufmerksamkeit auf ein inneres Bild lenke und dann die Aufmerksamkeit auf sie selbst richte, was gibt sich da kund? Die reine Stille, die sich wie ein ewiger Lichtstrahl ausnimmt. Wir könnten sagen, dass die Aufmerksamkeit im Wesentlichen darin besteht, die Handlung innerer Stille auszuführen. Warum also nicht einfach die Stille direkt üben, anstatt dadurch einen solchen Zustand herbeizuführen, dass man auf irgendeinen inneren Inhalt fokussiert? Darum, weil die Stille an und für sich zu dem Zustand des Schlafes führen würde. Die Stille in Gegenwart eines Objekts der Aufmerksamkeit schläfert uns nicht ein, sondern sie steigert das Bewusstsein, versetzt uns in einen Wachzustand, der aber sonst dem Schlaf ähnelt.
Ein weiterer wichtiger Grund, sich auf Bilder zu konzentrieren anstatt die reine Leere zu suchen, ist der, dass die bewusste Aufmerksamkeit uns aktiv empfänglich macht für seelische und geistige Wirklichkeiten. Diese urbildlichen Präsenzen gehören nicht der Sinneswelt an, wohl aber dem Reich des Lichtes, des Tons, der Farbe, des Geruchs. Die irdische Welt und die Seelen- und Geistwelten bilden zusammen eine Welt. Vom „Jenseits“ sind wir überall umgeben, und unsere Verbindung zu ihm bleibt durch hintergründige, Sinnesqualitäten ähnliche Zustände bestehen. Die Sinnes-artigen Qualitäten von Seele und Geist sind viel beweglicher und dynamischer als die Sinnesqualitäten materieller Gegenstände. So kommt es, dass man dadurch den Weg zu ihnen finden kann, dass man die Aufmerksamkeit auf die hintergründigen Qualitäten innerer Bilder lenkt.
Wenn man solche Praktiken wie die Meditation, die aktive Imagination, das Visualisieren oder die hier vorgeschlagenen Arten der Konzentration aufnimmt, entsteht eine Erwartung, dass etwas Spektakuläres – oder wenigstens mäßig Spektakuläres – eintreten wird. Wenn nach einer Weile nichts Derartiges geschieht, nimmt die anfängliche Begeisterung, andere Bewusstseinsmodi zu entwickeln, ab, und man entschließt sich womöglich, die Praktiken abzusetzen. Der ganze Sinn und Zweck der Übungen ist aber, dass man sie regelmäßig ausführt.
Die bedeutungsvollsten Augenblicke für die Entwicklung anderer Bewusstseinsmodi sind diejenigen Momente, nachdem man die Konzentrationsübung beendet hat. Während dieser Momente wirken die Folgen des Zustandes, um den wir uns bemüht haben, auf uns ein. So ist es also wichtig, dass man unmittelbar nach Beenden einer Übung ruhig bleibt und nicht den Konzentrationszustand verlässt, um in die normale Tätigkeit zu treten. Haben wir einmal durch ganz regelmäßiges Ausführen der Übungen eine Intensität der Konzentration erreicht, werden wir eine innere Ruhe fühlen, eine Empfindung, als wäre einem eine Gnade, eine Vitalität im Körper und einen offenen Raum innerer Freiheit zuteil geworden. Die Konzentration wirkt in dieser Weise auf uns ein, und im Lauf der Zeit gehen immer mehr dieser Qualitäten ins fortdauernde alltägliche Leben ein.
Auch wird durch diese Übungen ein Gefühl der Dankbarkeit ausgebildet, sogar dann, wenn nichts Spektakuläres erfolgt ist. Nach jedem Üben Dankbarkeit zu empfinden steigert die Fähigkeit, solche Praktiken fortzusetzen, denn die Dankbarkeit macht die Seele zum Gefäß, erhöht ihre Empfänglichkeit.
Wenn wir vom Sichkonzentrieren auf innere Bilder dramatische Ergebnisse erwarten, lassen wir uns von der Gewohnheit des Nützlichkeitsdenkens führen. Darin birgt sich aber das Gespenst der Angst. Die Angst im Nützlichkeitsdenken funktioniert dadurch, dass sie uns bedrängt, so schnell wie möglich von unseren bloßen Konzentrationshandlungen weg- und zum „richtigen Tun“, zum „etwas Produzieren“, zum Beweisen unseres Selbstwertes voranzukommen. Die Angst versteckt sich aber stets, und wir sehen weiter nichts als das, was uns wie „Leistung“ vorkommt. Das Kriege-Führen zum Beispiel hat scheinbar den Nützlichkeitswert, dass es Frieden herbeiführt, aber die Menschen, die im Verfolg desselben umgekommen sind, werden als bloße Statistiken zur Kenntnis gegeben. Oder: Elektronische Technologien produzieren den Nützlichkeitswert der schnellen Kommunikation, aber wir sind uns der Angst nicht bewusst, die dadurch aufkommt, dass wir mit einer Geschwindigkeit leben, die zu den Rhythmen unseres Körpers in keinem Verhältnis steht. Die Werte, die durch konzentrierte, dem Leben der Seele hingegebene Handlungen der Aufmerksamkeit in die Welt hereingetragen werden, findet man in dem Bereich der Liebe, der Kunst, der Schönheit. Für das Nützlichkeitsdenken hat es den Anschein, als würden diese nichts „tun“. Diese Werte gleichen aber diejenigen Lebenstätigkeiten aus, die ihre Grenzen überschritten haben, und die Angst und Angst in die Welt hereinbringen. Wenn wir die Maßstäbe des Nützlichkeitsdenkens auf unsere innere Arbeit anlegen, bringt die Konzentration nur noch mehr Angst in die Welt herein.
Niemand kann die ungeheure Macht oder den ungeheuren Einfluss abstreiten, die der Intellekt in der Welt hat. Durch die Förderung des rationalen, diskriminierenden Intellekts haben wir es zu großen Erkenntnissen der materiellen Dimension der Welt gebracht, und wir haben die Technologien entwickelt, sie zu unseren Zwecken zu beherrschen. Die Geistwelten sind ganz außerhalb der alltäglichen Welt versetzt worden, ins Jenseits. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass es zwischen dieser Welt und dem Jenseits keine Trennung gibt. Die Angst will uns diese Offenbarung verheimlichen, denn durch sie verringert sich die Macht der Angst. Wir erfinden eine Trennung zwischen „diesseits“ und „jenseits“, weil es Dinge gibt, die wir nicht sehen können, und alles, was wir nicht wahrnehmen können, verbannen wir ins große Jenseits. Gerade das ist ja das Jenseits: alles, was wir mit dem gewöhnlichen Bewusstsein nicht wahrnehmen können. Aber nur weil etwas nicht wahrgenommen werden kann, heißt es lange nicht, dass es nicht unmittelbar hier anwesend ist, und zwar überall um uns herum.
[1] Georg Kühlewind, Bewusstseinsstufen, 1980.
[2] Georg Kühlewind, Vom Normalen zum Gesunden: Wege zur Befreiung des erkrankten Bewusstseins. Freies Geistesleben
[3] Dennis Klocek, Seeking Spirit Vision (Fair Oaks, CA: Rudolf Steiner College Press, 1998), S. 11-21.
[4] Georg Kühlewind, Das Leben der Seele (Hudson, NY: Lindisfarne Press, 1990).