Kapitel II: Der Leib im Zustand der Angst
Die Angst versetzt den Körper in ein schreckliches Unwohlsein. Ja unter der ständigen Anwesenheit der Angst könnten wir vermutlich rein physisch nicht weiterleben. Jeder Mensch, der längere Zeit in einer von Angst geprägten Situation lebt, beginnt abzustumpfen, aber auch in abgestumpftem Zustand ist der Körper dem Einfluss der Angst ausgesetzt. Um die Seele gegen solche Auswirkungen zu stärken müssen nicht nur die unmittelbaren physiologischen Begleiterscheinungen der Angst untersucht werden, sondern auch die Veränderungen, die sie in denjenigen Sinnen bewirkt, die am stärksten die Empfindung des körperlichen Seins vermitteln. Um so die Seele zu stärken, müssen ferner Wege gefunden werden, auch dann die Fülle des körperlichen Lebens zu erhalten, wenn uns die Angst zusetzt. Der Erhalt dieser Fülle sichert die Fortdauer des strahlenden Lebens der Seele.
Die verschiedenen Sinne können als Pforten zum Reich der Seele angesehen werden. Alles, was wir erleben, insbesondere Angst Einflößendes, klingt lange nach dem Vergessen des Erlebnisses im Körper nach. Die Seele von der Angst zu befreien bedeutet zu allererst die lebhafte Fähigkeit des Körpers zu erhalten, auf die Welt auf die Welt zu reagieren. Es bedeutet, den Körper von dem Abgestumpftsein frei zu halten, und zwar auch unter Umständen, die dessen Verhältnis zur Welt sonst verengen und abwürgen würden.
Die Grenzen des Seelenlebens enden nicht mit der Haut. So, wie wir gewöhnlich leben, ist unser Wesen viel biegsamer, als der wahrnehmbare physische Organismus, den wir unseren Körper nennen. Wir leben ständig jenseits unseres physischen Seins, und zwar dadurch, dass wir die subtilen und biegsamen Grenzen unseres Körpers in dessen Umgebung hinein erweitern. Indem zum Beispiel ein Blinder mit dem Stab vor sich hin tastet, spürt er die Spitze seines Stockes dort, wo sie den Bürgersteig berührt; sein Tastsinn erstreckt sich bis in diesen Raum hinein.
Wenn wir die Hand ausstrecken um ein vor uns stehendes Wasserglas aufzuheben, ist diese Handlung keine bloß mechanische. Ein hintergründiger Aspekt unseres Bewusstseins ist bereits da und fasst das Glas schon an, noch bevor wir es mit unserer physischen Hand erreichen. Indem wir uns in der Welt herumbewegen, nehmen wir diese nicht als die Welt „dort drüben“ wahr, sondern wir befinden uns in der Welt, gehören zu ihr, sind ein Teil von ihr, und sie ist ein Teil von uns.[1] Die Gesamtheit des physischen Leibes und der kontinuierlichen Erweiterung von dessen subtileren Aspekten in die weitere Welt hinein lässt sich als unser „Seelenleib“ bezeichnen.
Die Grenzen des Seelenleibes entsprechen nicht denen des physischen Leibes. Wäre das doch der Fall, so würden wir die Welt als ausgesprochen fremd wahrnehmen; unser Wahrnehmen der Welt wäre in etwa der Erfahrung verwandt, die wir haben, wenn unsere Umgebung auf einen vor uns stehenden Schirm projiziert wird. Wenn wir Angst erleben, zieht sich die uns umgebende Welt vor unserer intimen Anteilnahme an ihr allmählich zurück, und wir werden zu bloßen Zuschauern. In extremeren Vorkommnissen der Angst erscheint die Welt wie eine vor uns ausgebreitete platte Oberfläche.
Obwohl es schwierig ist, die Art zu beschreiben, wie wir unsere Umwelt erleben, haben wir gar keine Schwierigkeit, in ihr zu leben. Während wir leiblich in der Welt sind, verlieren wir uns nicht „da draußen“; wir spüren noch immer den Ort unseres Leibes als „bei uns“. Wir befinden uns „hier“ und „dort“ zur selben Zeit. Der Aspekt unseres Leibes als „hier“ hat wohl eher eine Qualität der Festigkeit, während unser Sein zusammen mit den Gegenständen unserer Umgebung ein viel feinerer, subtilerer Zusammenzuschluss ist.
Um das einheitliche Feld des Körpers und der Welt zu erleben, muss man ein wenig experimentieren; man versuche, für einen Moment sich der flexiblen Polarität des Leibeslebens bewusst zu werden. Indem ich hier sitze und eine Lampe anschaue, scheint sie vor mir zu stehen, was meinen Leib als hier und die Lampe als da drüben bestimmt. Aber bis zu dem Augenblick, indem ich es mir anders überlegte, erlebte ich die Lampe nicht als „da drüben“; ich erlebte nur ein vereinigtes Feld der Wahrnehmung, das meinen Leib innerhalb meines Gewahrseins der Lampe und mein Gewahrsein der Lampe innerhalb meines Bewusstseins des eigenen Leibes mit einschloss. Das Feld ist das, was zwischen unserem Leib und dem von uns wahrgenommenen Gegenständen auftritt, und es umfasst beides. Die Physik, die sich mit den Feldern befasst, hat festgestellt, dass die dynamische Beziehung zwischen Gegenständen ursprünglicher ist als die Gegenstände selbst. Auch das Wahrnehmen spielt sich als Feld ab, und erst unser begriffliches Denken vollzieht eine saubere Trennung zwischen dem Wahrnehmenden und dem Wahrgenommenen.
Es bestehen selbstverständlich Barrieren zwischen uns und der uns umgebenden Welt, diese ändern sich aber ständig, je nachdem, was wir gerade tun und worauf wir unsere Aufmerksamkeit gerade richten – dabei ist es die Gegenwart der Angst, was diese flexible Grenze stört. Wenn wir uns fürchten, zieht sich der Seelen-Leib zusammen, und das schafft eine starke Polarität an einer Stelle, an der einst Einheit herrschte. Wir fühlen uns von der Welt abgetrennt und bedroht. Was eine Leib-Welt-Einheit war, wirkt zunehmend wie zwei polarisierte und sich opponierende Objekte. In extremen Fällen kann diese Kontraktion wie ein Schlag, eine Erschütterung empfunden werden; da entsteht urplötzlich eine scharfe Grenze zwischen uns auf der einen Seite und der feindseligen Gegenwart von Angst auf der anderen. Das Entstehen dieser Grenze bildet einen Angriffspunkt, an dem die Angst dann tief in uns eindringen kann. In solchen Augenblicken beginnen wir alles, was uns umgibt, als Bedrohung wahrzunehmen. Wenn zum Beispiel ich nachts auf einer dunklen Straße laufe und sehe, wie aus einer Seitengasse eine schattenhafte Gestalt heraustritt, gehöre ich nicht mehr in gewohnt wohliger Weise zu meiner Umgebung. Nicht nur fürchte ich mich vor der schattenhaften Gestalt, sondern es wird vielmehr alles zum Ausdruck dieses Schattens. Ein leises Knacken wird zum Zeichen, dass der Schatten gerade auf einen Zweig getreten ist; eine Bewegung von Blättern auf einen Baum wird ein weiteres Indiz dieser Art. Die Nacht selbst wird zur Verkünderin des Schreckens.
Solange die Schwelle zwischen unserem Leib und der uns umgebenden Welt flexibel bleibt, können wir die Angst widerstehen, weil eine weitere Kraft anwesend ist, die unsere Intimität mit der Welt durchsetzt. Diese Kraft ist die Liebe. Solange uns die Welt dadurch als vertraut erscheint, dass sie uns einzuladen scheint, dass sie gleichsam uns zu sich heranwinkt, uns als engen, vertrauten Partner umarmt – so lange befinden wir uns in der Gegenwart einer in der Welt vorhandenen Eigenschaft, die sich zu Recht Liebe nennt. An dieser Stelle definiere ich Liebe lediglich als die Kraft des Verbundenseins im Gegensatz zur Angst als Kraft der Antipathie. Auch die Liebe gehört zu einer breiteren Realität als nur unserer eigenen kleinen Existenz. Es ist spürbar, wenn man einen Raum betritt, in dem die Liebe zugegen ist. Man kann empfinden, wie sie zwischen Menschen hin und her webt. In späteren Kapiteln dieses Buches wird die Ängste aufzulösende Fähigkeit der Liebe ausführlicher behandelt. Aber erst brauchen wir einen Begriff der Liebe, die mehr umfasst als einen Zustand, der zwischen uns und anderen Menschen beziehungsweise zwischen uns und Gott besteht.
Insofern als wir uns der Eigenschaft der Liebe in der Welt bewusst werden, erleben wir die Welt als heilig. Wenn wir aufs Äußerste ausgedehnt sind, empfinden wir diese Heiligkeit an den Stellen unseres Seelen-Leibes am deutlichsten, die am weitesten entfernt sind. Am weitesten ausgedehnt sind wir dann, wenn wir etwas Neuem und Schönem begegnen. Man denke etwa daran, wie man sich zum ersten Mal dem Grand Canyon nähert, oder wie man am Himmel einen Kometen erspäht, oder wie man eine kleine violettfarbene Blume entdeckt, die oberhalb der Baumgrenze aus einer Felsenspalt wächst, oder die Kathedrale zu Chartres besucht, oder ein Gemälde von Cézanne betrachtet. Solche Schönheit zieht uns mächtig über unseren unmittelbaren Leib hinaus und in das hinein, was wir wahrnehmen. An solchen Grenzorten kann sich Verwandlung ereignen; wir werden anders, werden zu mehr, als wir uns zu sein vorstellten.
In dem Moment andererseits, in dem die Angst zuschlägt, ist es so, wie wenn unser Leib sich zusammenzieht. Wir empfinden stark die physischen Prozesse unseres Körpers. Wir werden unsere Atmung, das Rasen unseres Blutes, das Hämmern unseres Herzens, das Schwitzen oder der Harndrang akut gewahr. In eben diesem Augenblick ist es, als würde die Angst die unsichtbare Grenze zwischen uns selbst und der Welt überqueren und in unseren Leib eindringen. Wir fürchten uns dann, und die Angst scheint unsere eigene zu sein, ist sie aber nicht; sondern die Angst ist in uns eingefallen. Die Angst hat uns die Seele geraubt und beginnt, uns auf unsere physische Natur zu reduzieren.
Manche Menschen können sich von solchen Erfahrungen der Angst ohne Weiteres erholen, andere aber nicht. Diejenigen, die sich nicht erholen, erleiden ein Trauma. Worauf es hier ankommt, ist Seelenstärke. Indem dem Leib die Seele gestohlen wird, verblasst die Fähigkeit, sich in imaginativer Weise mit der Welt zu verbinden. Wenn wir die Auswirkungen der Angst erleiden, beginnen wir, uns alle möglichen Dinge einzubilden – das Traumleben läuft Amok und bietet uns nächtliche Bilder des Schreckens, aus denen das einzige Entkommen schweißgebadet aufzuwachen ist. Diese Art der Phantasie ist aber gründlich anderer Art als die in Verbindung mit der Welt gelebte Imagination. Die bislang bevorzugte tiefenpsychologische Vorstellung eines so lebhaften Phantasielebens wie dasjenige, das bei uns einer traumatischen Situation auftritt, ist die, dass es aus dem Unterbewusstsein stammt und in Urbildern besteht. Die Bilder selbst scheinen mit den im Wachleben auftretenden Ereignissen und Erfahrungen keine Verbindung zu haben. Wenn wir aber tiefer ausloten, wie die verschiedenen Arten der Angst in den Leib einfallen, zeigt sich uns etwas ganz anderes.
Angst wirkt auf die Organe des Leibes selbst und übt dabei einen verheerenden Einfluss auf sie. Sogar nachdem die unmittelbaren physiologischen Wirkungen der Angst abklingen, bleibt deren Einfluss auf die Organe bestehen. Es ist eben eine Wunde geschlagen worden.[2] Erfährt die Handinnenfläche eine Prellung, so klingt nach kurzer Zeit der Schmerz ab. Wenn man dann etwas anfasst und dabei die wunde Stelle beansprucht, tut es weh. In ähnlicher Weise bleiben die von der Angst verwundeten Leibesorgane, besonders in ihrem seelischen Element, auch dann wund und empfindlich, wenn sie keine eigentlichen physischen Schäden aufweisen. Unsere Erfahrungen der Welt werden zu einer schmerzhaften Angelegenheit. Die Angst wirkt jetzt von innen her und hemmt dabei den Fluss seelischer Energie in die Welt hinaus. Es können lebhafte Vorstellungen des gefangen, des gefesselt Seins, des gefoltert, gejagt Werdens entstehen, entweder als Wachphantasien oder als Träume. Die Tiefenpsychologie, da sie sich nur auf die Psyche und nicht auf den ganzen Menschen konzentriert, legt solche Vorstellungen als urbildhaft aus. Zwar mag es sein, dass nachdem jemandem Angst eingejagt wurde ein lebhafterer Bildinhalt urbildhafter Art vorhanden ist; dennoch ist solche Bildhaftigkeit an bestimmten Körperzuständen gebunden.
Wenn Ängste sich in den Leib einnisten, so ist der erste und wichtigste Bereich, in dem eine Veränderung des Empfindens stattfindet, die Empfindung unseres Körpers. Es gibt zwölf Sinne.[3] Die ersten vier Sinne vermitteln uns eine je andere Erfahrung des eigenen Leibes. Durch diese Sinne erleben wir, wie wir uns fühlen, wie wir uns in unserem Leibessein befinden, wie wir stehen und gehen, liegen und sitzen. Nicht die äußere Welt ist es, was wir durch diese vier Sinne erleben, sondern unser Körper im Verhältnis zu dem, was um uns herum vor sich geht.
Indem verschiedene Formen der Angst unseren Leib befallen, wird allmählich die Art umgebildet, wie wir in der Welt wahrnehmen, denken und handeln. Es entwickelt sich eine Hyperempfindlichkeit gegenüber der Welt. Wir beginnen das Gefühl zu haben, dass wir uns nicht ohne Gefährdung in der Welt bewegen können. Dabei werden die Sinne betroffen, die mit dem unmittelbaren Körperempfinden verbunden sind – das Tasten, der Lebenssinn, der Eigenbewegungssinn, der Gleichgewichtssinn. Rudolf Steiner war der erste, der das Funktionieren dieser Sinne verstand, zumal in deren direkter Verbindung zum Erleben des Körpers und nicht zum Wahrnehmen der Umwelt.[4]
Die Berührung der Angst
Die Invasion unseres körperlichen Daseins durch die Angst wirkt sich insbesondere auf die Fähigkeiten der Sinne aus. Die Verengung der Sinnestätigkeit bewirkt ein sich-Zusammenziehen der Seele. Deshalb geht die Arbeit des Befreiens der Sinnestätigkeit von der Angst mit einem Befreien des Seelenlebens von derselben synchron einher.
Unsere Kultur hat es zu einem medizinisch-wissenschaftlichen Verständnis des Körpers gebracht. Der medizinische Begriff des Leibes fußt auf der Anatomie des Leichnams und auf der Physiognomie eines sezierten menschlichen Körpers. Aus dieser Perspektive sind die Sinne physiologische Organe und Prozesse die, zum Erzeugen der Sinneserfahrung, mit dem Gehirn zusammengekoppelt sind. Das ist aber nicht die Art und Weise, wie wir in unserem Körper leben. Der lebendige Leib ist ein offenes Feld, ein Ort, wo unsere Beziehungen konvergieren – ob mit der Welt, mit anderen Menschen, mit dem Reich der Seele oder dem des Geistes. In diesem offenen Feld spielt sich die Sinnestätigkeit ab, nämlich zwischen unserem Leib und diesem erweiterten Umfeld. Folglich müssen wir Seele und Geist einladen, in unsere eigene lebendige Wesenheit wieder zurückzukehren, damit wir die Fülle des Verkörpertseins wieder einmal erfahren können, und zwar von der Seele her. Seele und Geist sind keine unsichtbaren Wesen, die als Gespenster in irgendeiner Maschine herumlungern; der Leib ist durch und durch beseelt und durchgeistet.
Wenn wir etwas ertasten, meinen wir normalerweise, wir nähmen die Eigenschaften des berührten Gegenstandes wahr. Wenn ich ein metallenes Gelände berühre, spüre ich etwas Unnachgiebiges, und es fühlt sich ganz anders an, als wenn man ein Geländer aus Holz berührt. Das Tasten scheint uns die Gegenwart des vorliegenden Gegenstandes zu vermitteln. Näheres Betrachten zeigt aber, dass eine solche Auffassung nicht ganz zutrifft. Wenn wir nämlich etwas Metallenes oder Hölzernes berühren, drückt sich das Objekt in uns hinein; dieses Hineindrücken bewirkt eine wenn noch so geringe Veränderung der Körperlage, und diese Veränderung wird durch den Gleichgewichtssinn festgestellt. Auch kann ich das Objekt sehen und unterscheiden, dass es aus Metall und nicht aus Holz besteht. Metall fühlt sich kalt an, während Holz sich von der Temperatur her neutraler anfühlt. Ferner greife ich nach dem Geländer und fasse es an, was den Bewegungssinn mit einbindet. Wenn wir für einen Moment versuchen, ausschließlich auf den Tastsinn zu achten und das durch die anderen Sinne Vermittelte auszublenden, so empfinden wir weiter nichts als eine Begegnung des Körpers mit einem Widerstand. Der Gegenstand drückt meine Haut nach innen, und ich entdecke die Grenze zwischen meinem Leib und der Welt.
Die Tastempfindung beschränkt sich aber nicht auf die Haut. Wenn zum Beispiel die Blase voll ist, empfindet man eine Art Drücken oder Ziehen. Wenn ein inneres Organ anschwillt, tritt ein ähnliches Gefühl des Ziehens auf. Das Pulsieren des Blutes in den Fingerspitzen gehört auch in den Bereich des Tastens. In all diesen Fällen vermittelt das Tasten ein Erlebnis der Grenzen des Körpers. Die Grenze mag zwischen meiner Hand und einem Gegenstand liegen, zwischen meinem Körper und etwas außerhalb meines Körpers Liegendem, zwischen einem Organ meines Körpers und dem Körper als Ganzem, oder sogar zwischen dem Blut und dem übrigen Körper. Erlebt wird dabei der genaue Empfindungsbereich. Wenn wir einen Schritt machen, so begegnet dem Boden an einer bestimmten Stelle der Druck des Schuhs. Wenn ich mit geschlossenen Augen an einem warmen Strand liege und eine Ameise mir den Arm hinaufkrabbelt, so ortet der Tastsinn genau die Stelle, an der sich die Ameise befindet. In allen Fällen vermittelt uns die Tastwahrnehmung eine Empfindung unseres Körpers nicht als Gegenstand, sondern als lebenden Leib.
Wenn Angst den Leib beeinflusst, ändert sich der Tastsinn. Ein Mensch etwa, der körperlichen Missbrauch erlebt hat, erfährt eine krasse Veränderung des Tastsinns. Diese Veränderung führt zu einem Angstbaren Bedürfnis nach Tasterlebnissen, aber gleichzeitig auch zur Angst vor denselben. Eine solche Änderung kann auch nach einem schmerzhaften chirurgischen Eingriff oder einem schlimmen Unfall verursacht werden. Der Körper, der ab jetzt in einem stärker zusammengezogenen Zustand lebt, erleidet fortdauernd Angst. Es fühlt sich an wie ein Ziehen und Reißen am ganzen Körper; es ist, wie wenn man von etwas betastet würde, wobei das, wovon man betastet wird, unsichtbar bleibt. Diese mächtige Empfindung stört die Fähigkeit, zu denken und zu fühlen. Wir bekommen vielleicht Gänsehaut oder unsere Haare stehen uns zu Berge; wir brechen etwa in Schweiß aus, beginnen unkontrollierbar zu zittern, es klappern uns die Zähne, es hämmert uns das Herz, wir bekommen vielleicht sogar Durchfall. Da es aber vorkommen kann, dass das spezifische, diese Zusammenziehung bewirkende Vorkommen der Angst längst vorbei und vergessen ist, ja womöglich gar nicht erst bemerkt wurde, so deutet man den Angstzustand meistens als ein inneres, ein psychisches Problem. Der Mensch, der die Angst erlebt, sucht einen Arzt auf, der ihm ein Beruhigungsmittel verabreicht oder ihn an einen Therapeuten überweist. Die ganze Welt richtet sich letzten Endes nach dem Streben, unsere Angst zu beschwichtigen. Wir meinen vielleicht, dass neue Kleider diesem Zweck dienen, oder ein üppiges Mahl, oder Unterhaltung, oder tausend andere Ablenkungen. In dieser Weise bleibt die Angst frei und kann ungehemmt durch die ganze Welt umherstreifen, denn wir wurden dazu betrogen, Ängste als unsere persönlichen psychologischen Probleme anzusehen, anstatt als ein Berührtwerden durch die objektive Gegenwart der Angst.
Funktioniert der Tastsinn in gesunder Weise, so spüren wir in allem, was uns umgibt, eine numinose Qualität. Da im modernen Alltag unsere Sinne so belagert und bis zur Überforderung gereizt werden, wird uns diese heilige oder göttlich-reine Qualität in der Regel höchstens im Verhältnis zur Naturwelt bewusst. Wenn wir uns aber ein wenig entschleunigen und auf unsere direkte Umgebung intensiv achten, so kann etwas von dieser numinosen Qualität wieder belebt werden. Die schöne Beschaffenheit der Oberfläche einer Ziegelsteinwand, ein stattlicher Baum mitten in einem Betonumfeld, der Blick eines Menschen, an dem wir vorüberlaufen – so gut wie alles erstrahlt Tiefgang, sofern wir für das offen sind, was vorhanden ist. Das Tasten verleiht uns die Erfahrung, ein Leib zu sein, anders zu sein als die uns umgebende Welt; aber es bietet auch die Möglichkeit, mit einer unaussprechbaren heiligen Präsenz in der Welt in intimer Beziehung zu stehen.
Eine starke Gegenwart von Angst zerrüttet unsere Fähigkeit, die den Dingen der Welt innewohnende göttlich-reine Qualität zu erfahren. Was wir ehedem ganz naturgemäß erlebten, muss nunmehr eine bewusste Arbeit werden. Wir sind jetzt dazu aufgerufen, aus dem Reich der eigenen Seele heraus zu arbeiten, um die Numinosität auf innerer Weise zu finden und zu erleben und diese Gegenwart dann der Welt zurückzugeben, anstatt sie ausschließlich für uns selbst zurückzubehalten. Unser Ziel ist es nicht, auf direktem Wege unsere Ängste zu erleichtern, sondern vielmehr die Angst als Hinweis darauf wahrzunehmen, dass wir abgetrennt wurden von den tiefen, numinosen Qualitäten der Welt sowie von den uns umgebenden Menschen. Wenn die aufgehobene Verbindung wieder hergestellt werden kann, dann wird die Angst auch in naturgemäßer Weise aufhören. Beruhigungsmittel überdecken die Angst nur. Sosehr auch eine Psychotherapie helfen kann, zu einer Erfahrung der inneren Qualitäten der Gegenwart Gottes zu kommen und somit Ängste zu lindern: sie bietet gewöhnlich keinen Weg, die Gegenwart der Angst in der Welt aufzuwiegen. In dieser Hinsicht nützlicher wäre es wohl unsere Vorstellung der Welt zu verändern: Man stelle sich die Welt als heiligen Ort, als Tempel vor. Man arbeite daran, diese Vorstellung so zu stärken, dass sie zu einer alltäglichen Realität wird. Im Folgenden werden wir weitere Wege vorschlagen, dieses Gleichgewicht zu erlangen. Zuerst soll aber die Angst im Verhältnis zu den anderen Leibessinnen beschrieben werden.
Wie die Angst im Lebenssinn wirkt
Das Tasten ist nicht der einzige Sinn, durch den wir das Leben des Leibes erfahren. Ein weiterer Sinn, der durch die Angst beeinflusst wird, ist der Lebenssinn, die körperliche Erfahrung der eigenen Vitalität. Weder die Sinnesphysiologie noch die Psychologie erkennt die Existenz dieses Sinnes an, und dennoch handelt es sich bei ihm um etwas Offensichtliches.
Wenn der Lebenssinn ungestört funktioniert, sind wir uns seiner kaum bewusst. Wenn wir morgens aufwachen und uns prächtig fühlen, ist dieses Erlebnis eine eigentliche Sinneserfahrung. Wir nehmen eine Empfindung körperlichen Wohlseins wahr. Wir merken diesen Sinn viel eher, wenn es mit unserem Leib nicht so gut geht. Das Gefühl, müde oder erschöpft oder hungrig oder durstig zu sein – auch das sind Sinneserfahrungen. Die Müdigkeit hören beziehungsweise riechen wir zwar nicht, und doch nehmen wir sie wahr; der Sinn, mit dem sie wahrnehmen, ist der Lebenssinn. Durch ihn erfahren wir die Ganzheit unseres Leibes so, dass wir den Körper als „meinen Leib“ erleben. Nicht als ein Konglomerat von Organen zusammen mit einem Skelett erleben wir ihn, sondern als ein Ganzes.
Indem die Angst uns beeinflusst, werden wir nicht nur mit Ängsten erfüllt, sondern wir fühlen uns im eigentlichen Leib missbehaglich. Er beginnt, sich wie etwas anzufühlen, das wir mit uns herumschleppen müssen. Wir fühlen uns vielleicht ohne Grund müde, mit einer fortdauernden Empfindung der Erschöpfung erfüllt. Eine trübe und zugleich alles durchdringende Empfindung der Depression begleitet uns ständig. Örtlich nicht klar zu bestimmende Schmerzen, Hungergefühle – solche Empfindungen weisen auf ein Unbehagen mit dem Körper hin. Wir ertappen uns beim Essen, beim Einnehmen von Medikamenten, beim zu viel oder zu wenig Schlafen, um die Behaglichkeit des eigenen Körpers wieder herzustellen. Solche Maßnahmen mögen das Missbehagen beseitigen. Aber sie stellen das Wohlbefinden des Körpers nicht wieder her, sondern sie verdecken das Unbehagen nur. Sie ermöglichen uns zwar das weitere Nachgehen unserer Pflichten, aber unser Körper kann sich nicht darüber begeistern, in der Welt zu sein.
Solche Symptome weisen häufig auf die fortwährende Anwesenheit von Ängsten hin, mit denen wir gelernt haben Zusammenzuleben ohne uns dessen bewusst zu sein, dass sie überhaupt da sind. Oftmals bewirkt ein Aufenthalt in der Naturwelt eine Erneuerung der Lebenskraft und des Lebenssinnes. Diese Erneuerung ist aber nicht nur auf eine Pause vom Arbeits- und Lebensstress zurückzuführen. Sie hat mehr damit zu tun, dass sich der Leib in die weitere Welt – in die Naturwelt eben – einschaltet. Darin liegt der Schlüssel zum Überwinden der verschiedenen Manifestationen der Angst: Lernen, das Leben der Seele so zu stärken, dass sich der Leib unter egal was für Umständen in die Welt wieder einschalten kann. Die Natur ist nicht allein deshalb heilend, weil sie eben die Natur ist, sondern deshalb, weil das, was wir in ihrer Mitte empfinden, nichts Hartes, Rigides, Statisches ist. Die Naturwelt hat eine große Vielfalt an rhythmischer Bewegung, wie zum Beispiel die Bewegung der Blätter im Wind, den Fluss des Baches, die Großartigkeit der in den Himmel hinaufragenden Berge, die sanfte Ausbreitung eines Tales. Haben wir einmal erkannt, dass es nicht die Natur an sich ist, was den Lebenssinn wieder herstellt, sondern die Formen und Qualitäten der Sinneserfahrung in der Natur, so können wir tatsächlich einfache Übungen finden, um unseren Körper im Verhältnis zur Umwelt flexibel zu halten.
Die Angst in der Bewegung und im Gleichgewicht
Wenn die vier Sinne zur Wahrnehmung des Körpers durch die Angst zerrüttet werden, so werden nicht nur Gefühle der Angst gesteigert, nicht nur das vitale Interesse unseres Körpers bei dessen Beteiligung an und in der Welt verdunkelt; sondern auch unser Wille selbst wird zerrüttet. Die Kapazitäten, sich in die Welt hinauszubegeben, Ziele, Ideale und sehnsuchtsvolle Anliegen zu haben, mit Begeisterung und Interesse Dinge zu vollbringen – all das sind Aspekte des Willens. Wir stellen uns normalerweise den Willen als geistverbunden vor, aber die Willenskräfte spielen sich auch im Seelenleib ab. Ich kann etwa die Wunschvorstellung haben, in der Bundesliga Fußball zu spielen, aber die Willenshandlung, durch die sich die Wunschvorstellung verwirklicht, geht nur über den Leib: Ich muss tatsächlich antreten. Die Zerrüttung des Willens wird anhand des Bewegungssinns am deutlichsten. Das Organ für die Wahrnehmung der Eigenbewegung ist die Muskulatur des Leibes. Wenn ich meinen Arm bewege, entsteht eine innere Erfahrung dieser Bewegung, ein Wahrnehmen der Bewegung. Dieser Sinn nimmt nicht nur große Körperbewegungen wahr, sondern auch feinere, ja feinste: die ein-und-aus-Bewegung der Brust beim Atmen, die Bewegung des Halses und des Kopfes während diese sich drehen, die Bewegung der Augen.
Mittels des Tastsinns werden wir uns der physischen Grenzen unseres Leibes bewusst. Durch den Lebenssinn erfahren wir in innerlicher Weise die Lebendigkeit der leiblichen Existenz. Der Bewegungssinn lässt uns die verschiedenen Teile des Körpers in Verhältnis zu einander wahrnehmen. Nicht die Bewegung anderer Körper beziehungsweise Gegenstände, sondern die des eigenen Leibes nehmen wir mit dem Bewegungssinn wahr. Die Empfindungen des Stehens, Sitzens, Gehens, Rennens, Schreibens, des Flatterns mit den Augenlidern oder des Verfolgens der Bewegung von etwas durch unsere Augen sind alle Erfahrungen des Bewegungssinnes. Diese Wahrnehmungen, sofern sie sich auf einander beziehen, schenken uns das Erlebnis der Beweglichkeit unseres Leibeslebens sowie das Vermögen, uns unter Beibehaltung einer Kohärenten Selbstempfindung in der Welt herumzubewegen. Somit bieten diese Sinne die körperliche Grundlage für das Erfahren der Freiheit.
Wenn der Körper tendenziell in Angst und Ängstlichkeit lebt, entschwindet das Erleben der Freiheit aus unseren konkreten Empfindungen. Angst befällt den Körper und würgt den Bewegungssinn ab. Und weil dieser abgewürgt ist, wissen wir nicht wohin wir gehen, woran wir uns orientieren und auch nicht wie wir dahin gelangen. Der Bewegungssinn gibt die leibliche Grundlage ab für die Freiheit und auch für das Empfinden, dass unser Leben Sinn und Zweck hat. Eine weitere Qualität, die mit dem Bewegungssinn verbunden ist, ist die Freude. Der Bewegungssinn ist es, was uns davor bewahrt, unseren Körper beziehungsweise die Umwelt als Last zu erleben. Wo Bewegungsfreiheit ist, da fühlen wir auch Freude. Freude ist eine Art Befreiung, ein Loslassen, ein Seinszustand. Sofern wir uns nicht frei fühlen, keinen Sinn und Zweck erleben, die Gegenwart von Freude nicht fühlen, ist unser Körper von Angst befallen und unsere seelischen Bewegungen und körperlichen Empfindungen sind verengt und eingeschränkt worden.
Der vierte Sinn, der uns den eigenen Leib erleben lässt, ist der Gleichgewichtssinn. Durch diesen Sinn können wir den Ort des eigenen Körpers im Verhältnis zum Raum und zu den Gegenständen bestimmen, die uns umgeben. Das Organ für das Wahrnehmen des Gleichgewichts befindet sich im inneren Ohr und besteht in den drei Bogengängen. Dank dieses Sinnes unterscheiden wir zwischen oben und unten, rechts und links, vorne und hinten. Auch wenn viele Menschen meinen, dass das Sehen allein genügt, um uns zu orientieren: Gleichgewicht ist ein Hauptsinn der Orientierung in der Welt. Der Gleichgewichtssinn, die innere Orientierung, die wir stets mit uns führen, ermöglicht uns das Ordnen und orientieren aller anderen Sinnesempfindungen. Der Gleichgewichtssinn bringt uns mit unserer Umwelt in Harmonie.
Wenn uns das Gleichgewicht abhandenkommt, so wirkt sich das auf den Lebenssinn, auf den Bewegungssinn und auf den Tastsinn aus. Uns wird übel, wir nehmen eine Störung des Lebenssinns wahr; es kann vorkommen, dass unsere Bewegung fahrig wird; wir suchen nach etwas, das wir berühren können, um unseren Körper wieder einmal erfahren zu können. Mit dem Verlust des Gleichgewichts geht eine spezifische Empfindung einher, nämlich das Schwindelgefühl. Manchmal fühlen wir Sympathie für diese Empfindung. Kinder lieben es, sich immer schneller und schneller im Kreise umzudrehen, bis sie hinfallen und sich daran ergötzen, wie sich alles um sie her dreht. Jugendliche suchen eine andere Form des Schwindelgefühls, welches oft durch laute, zügellose Musik hervorgebracht wird, die in gewalttätiger Weise ins Gebein selbst eindringt und die Jugendlichen in die Unterwelt hinabzieht – eine andere Art des Schwindelgefühls.
Der Gleichgewichtssinn erhält das rechte Verhältnis zwischen Leichtigkeit und Schwerekraft aufrecht; das ist es, was es heißt, ein Mensch auf der Erde, unter dem Himmel zu sein. Der Verlust des Gleichgewichts kann uns in eine von zwei Richtungen gehen lassen. Wir schweben entweder in den Weltraum hinweg, entbehren der Eigenschaft der Schwere, oder aber wir versinken in die unternatürliche Welt hinunter, in die Unterwelt, unter Verlust der Leichtigkeit des Seins. So kann eine Gleichgewichtsstörung in zwei Richtungen gehen. Das Gefühl der Angst beeinflusst stark unseren Gleichgewichtssinn, stürzt uns auch dann, wenn wir uns nicht ständig schwindlig fühlen, in ein fortdauerndes Vertigo. Das wirkt sich unter Umständen auch auf das Seelenleben aus und erschwert die innere Beständigkeit.
Die eigentlichen Mechanismen des Gleichgewichtsorgans sind ziemlich kompliziert, sind der Physiologie aber wohl bekannt. Nicht nur die oben angegebenen, offensichtlicheren Störungen des Gleichgewichts, sondern auch subtilere Formen derselben können sich allmählich in den Körper einschleichen. Ein anfängliches Symptom eines Gleichgewichtsausfalls ist ein Summen in den Ohren, was darauf hinweist, dass das pulsierende Blut die Ruhe des inneren Ohren-Labyrinths gerade stört. Der Pulsschlag überwältigt den Rhythmus des Atems und tritt in den Vordergrund. Indem das Pulsieren des Blutes die Oberhand gewinnt, schwindet langsam das Gleichgewicht.
In einer noch subtileren Zerrüttung des Gleichgewichts bestehen Störungen des Atemrhythmus. Hier werden die Anknüpfungspunkte zur Angst offensichtlich. Ein erster Hinweis darauf, dass Ängste und Angst den Körper besiedeln, ist eine Änderung im Rhythmus des Atems. Ganz sicher ist, dass starke Anwesenheit von Angst zu solchen Symptomen des Gleichgewichtsschwunds führt wie Übelkeit, Erbrechen oder sogar Bewusstlosigkeit. Sind einmal verschiedene Arten der Angst im Körper ansässig geworden, so treten Veränderungen der Atmung allmählich ein, und das Gleichgewicht schwindet Stückchen für Stückchen, wenngleich in weniger wahrnehmbarer Weise, dahin.
Die Fähigkeit, uns in unserem Körper situiert und in der Welt orientiert zu fühlen, hat eine noch tiefere Dimension. Auch in der Seele gibt es einen Gleichgewichtssinn, der sich als innerer Frieden, innerer Gleichmut beschreiben lässt. Diesem Sinn ist es zuzuschreiben, dass wir uns als kontinuierliches, fortdauerndes Ich empfinden. Ich empfinde mich heute als den gleichen Menschen, der ich gestern war; gewiss kommen Änderungen vor, und zwar mitunter sehr tiefgreifende. Und doch bleibt ein dauerhafter, zentraler Kern bestehen. Dieser Kern ist die Erfahrung von uns selbst als Geist. Wird einmal diese leibliche Empfindung unseres spirituellen Seins gestört, so verlieren wir diesen tiefen, inneren Sinn dafür wer wir sind; es wird unsere geistige Identität gefährdet. Die Fähigkeit, die Gaben wahrer Individualität in die Welt zu bringen, wird getrübt. Wir funktionieren dann mehr aus dem Massenbewusstsein der populären Kultur heraus, das sich als egoistischer Individualismus äußert, als aus unserem geistigen Kern.
Heutzutage unternehmen die Menschen allerhand, um Wege zu finden, wie man den Geist empfinden kann. Sie tun das aber ohne zu erkennen, dass der Geist hier lebt, wo wir uns befinden, nämlich in und bei unserem Körper. Ein Geistsuchen dieser Art kann man als Symptom sehen, als Hinweis darauf, dass der von Angst bewohnte Körper die Orientierung verloren hat.
Wie man körperliche Angst verringern kann
Das Sich-Zusammenziehen der Körpersinne verhindert einen gesunden, fortdauernden Fluss zwischen der inneren Welt unseres seelischen Lebens, dem begehrenden Hinausgreifen zur Welt und dem Eingang der Wunder der äußeren Welt durch die Sinnespforten hindurch in die Seele hinein. Eine einfache, täglich für höchstens fünf Minuten auszuführende Übung kann zum Vital- und Dynamisch-Bleiben des Verhältnisses zwischen der Seele und der Sinnesempfindung beitragen und so die Angst außerstande zu setzen, auf unser Leibessein dauerhafte Auswirkungen zu haben. Diese Meditation erkundet, wie unser inneres Wesen sich mit der äußeren Welt verbindet. Sie wird von einer Übungsreihe abgeleitet, die von Adam McLean, einem Gelehrten der hermetischen Tradition, als Einleitung in das Ausbilden der alchemistischen Tradition geschaffen und erprobt wurde.[5] Sie ist eine hervorragende Übung zum Vereinigen von Seele und Wahrnehmen.
In dieser Übung geht es darum, sich die Seelendimension der eigenen Sinneserfahrung bewusst zu machen. Man stelle sich diese Übung als Möglichkeit vor, die Aufmerksamkeit auf die Grenze zu richten, die das Sinnesreich und das Seelenreich voneinander trennt. Man beginne damit, dass man bewusst einen leisen Klang verfolgt. Dazu könnte man etwa ein Glöckchen oder ein Klangstäbchen anschlagen. Man höre dem Klang nicht nur zu, sondern man fühle, wie einem das Bewusstsein zum Klang hinausstrahlt und dann zu einem selbst nach innen wieder zurückkehrt. Man mag zunächst die Empfindung haben, dass es nur der Klang ist, der auf das Ohr trifft und nicht erleben können, wie sich das Gehör in die Welt hinauserstreckt. Ist das letztere Erlebnis der Fall, so weist das auf einen Grad der leiblichen Betäubung. Es kann sein, dass Sie sich eine Weile auf diese Phase der Übung verweilen müssen, bis Sie es vermögen, räumlich das eigene Bewusstsein bis zum Quell des Klanges hinaus zu verfolgen und zurückkehren zu lassen.
Man versuche die gleiche Übung mit dem Sehen. Man sehe einen Gegenstand an, der sich auf der gegenüberstehenden Seite des Raumes befindet, und verfolge das eigene Bewusstsein zu diesem Gegenstand hinaus und lasse es dann zum eigenen Leib zurückkehren. Man bemühe sich, die subtile Qualität der Sehkraft zu empfinden: wie diese hinausgeht, dem Gegenstand begegnet und zurückkehrt. Dann mache man dieselbe Übung mit dem Tasten. Man fühle das Bewusstsein durch die Hand zum betasteten Objekt hinausgehen und von dem Objekt zum eigenen Körper zurückkehren. Dann wende man die Übung auf die Bewegung an. Man strecke den Arm hinaus um etwas anzufassen, und während man dies tut empfinde man die subtile Weise, auf die das Objekt sich dem Angefasstwerden ergibt. In ähnlicher Weise verfahre man mit dem Gleichgewicht. Man begebe sich an den Rand einer mit einem Geländer gesicherten, erhöhten Stelle. Man achte auf das Schwindelgefühl und darauf, wie eine Verunsicherung im Empfinden des Gleichgewichts die Angst anzieht. Nach kurzer Zeit aber geht das Schwindelgefühl zurück und die Angst wird gebannt. Hier geht mehr vor sich als nur ein Sich-Gewöhnen an den bedrohlichen Ort. Es ist nämlich der eigene Seelenleib angetreten und hat den ganzen Abgrund ausgefüllt, und man wird nunmehr durch die Seelenqualitäten der Welt gestützt.
In jeder der so geübten Sinnesmodalitäten wird man ein anfängliches Bewusstsein des Verhältnisses zwischen dem eigenen Wesen und dem Wahrnehmen empfinden. Auf Verhältnis kommt es an, auf das deutliche Wahrnehmen einer Bewegung, einer Strömung, die vom eigenen Innenleben durch den jeweiligen Sinn hindurch und zum Gegenstand hinaus, dann in den eigenen Leib zurückgeht. Und jetzt richte man die Aufmerksamkeit auf das Bewusstsein selbst des Verhältnisses und beginne, ein inneres Bild dieses Bewusstseins als Glaskolben zu formen. Dieses Bild stellt die feine Grenze zwischen Seele und Sinnesempfindung dar. Hat man das Bild einmal geschaffen, so stabilisiere man es dann, sodass es für ein paar Minuten als bewusstes Bild verbleibt.
Im weiteren Verlauf der Übung wird man erleben, wie Bilder, Gedanken und Gefühle ganz naturgemäß auftauchen. Man versuche nicht, dieselben zu vermeiden, sondern man lasse sie sich entfalten und sehe dann zu, wie sie sich auflösen. Diese Bilder entsteigen dem Unbewusstsein. Man schaue zu, wie sie sich auflösen und am Boden des Gefäßes als eine tiefe innerliche Finsternis zur Ruhe kommen. Man sehe mit innerem Auge den Glaskolben und zu gleicher Zeit die tiefe innerliche Finsternis auf dem Boden des Gefäßes. Nach ein paar Minuten lösche man das Bild aus dem eigenen Bewusstsein und verharre solange wie möglich in der Leere.
Diese Übungen sind durch ein wichtiges kognitives Element gekennzeichnet. Man sollte nicht einfach die Übungen durchnehmen mit der Erwartung, dass sie eine Wirkung zeigen werden; man sollte sich der Art der Aufmerksamkeit bewusst sein, die während des Übens vorhanden ist. Nicht die körperlichen Gefühle sind bei diesen Meditationen die Hauptsache. Wird man sich einmal der oben erwähnten Art der Aufmerksamkeit bewusst, so ist sie unverkennbar: Eine verhaltene innere Freude ersteht und breitet sich im Körper aus. Es ist einem, als könnte man einmal wieder tief atmen und man erkennt, dass man nicht einmal bemerkt hatte, dass diese Fähigkeit – wohl vor langer Zeit – vermindert wurde. Man durchschaut, dass man bislang in einem Zustand der Angst lebte und es nicht einmal wusste. Es ist jetzt eine Qualität der Spontaneität vorhanden, als fühlte man sich nunmehr bereit, den Eingebungen der Seele zu folgen, welche lange Zeit eingefroren waren.
Diese Art der Arbeit mit Sinnesempfindungen verhindert allerdings nicht, dass wir weitere Begegnungen mit der Angst habe müssen, sie schaltet den Einfluss der Angst auf uns nicht aus. Solche Arbeit kann die Angst zwar daran hindern, ihren eigenen Willen zu bekommen beziehungsweise uns die die Kontrolle zu usurpieren, aber sie ist eine Arbeit, die ab jetzt mehr oder weniger regelmäßig und bewusst zu werden hat. Und um die Wahrheit zu sagen: diese Arbeit ist weiter nichts als ein erster, kleiner Schritt, eine von vielen Änderungen, die wir machen müssen, um der Präsens der Angst entgegenzuwirken. Solche Arbeit muss zwar eine bewusste sein, kann aber zu einer Gewohnheit werden, zu etwas, das man regelmäßig und nicht nur im Zuge einer spezifischen und starken Begegnung mit der Angst ausführt
Die Angst versetzt den Körper in ein schreckliches Unwohlsein. Ja unter der ständigen Anwesenheit der Angst könnten wir vermutlich rein physisch nicht weiterleben. Jeder Mensch, der längere Zeit in einer von Angst geprägten Situation lebt, beginnt abzustumpfen, aber auch in abgestumpftem Zustand ist der Körper dem Einfluss der Angst ausgesetzt. Um die Seele gegen solche Auswirkungen zu stärken müssen nicht nur die unmittelbaren physiologischen Begleiterscheinungen der Angst untersucht werden, sondern auch die Veränderungen, die sie in denjenigen Sinnen bewirkt, die am stärksten die Empfindung des körperlichen Seins vermitteln. Um so die Seele zu stärken, müssen ferner Wege gefunden werden, auch dann die Fülle des körperlichen Lebens zu erhalten, wenn uns die Angst zusetzt. Der Erhalt dieser Fülle sichert die Fortdauer des strahlenden Lebens der Seele.
Die verschiedenen Sinne können als Pforten zum Reich der Seele angesehen werden. Alles, was wir erleben, insbesondere Angst Einflößendes, klingt lange nach dem Vergessen des Erlebnisses im Körper nach. Die Seele von der Angst zu befreien bedeutet zu allererst die lebhafte Fähigkeit des Körpers zu erhalten, auf die Welt auf die Welt zu reagieren. Es bedeutet, den Körper von dem Abgestumpftsein frei zu halten, und zwar auch unter Umständen, die dessen Verhältnis zur Welt sonst verengen und abwürgen würden.
Die Grenzen des Seelenlebens enden nicht mit der Haut. So, wie wir gewöhnlich leben, ist unser Wesen viel biegsamer, als der wahrnehmbare physische Organismus, den wir unseren Körper nennen. Wir leben ständig jenseits unseres physischen Seins, und zwar dadurch, dass wir die subtilen und biegsamen Grenzen unseres Körpers in dessen Umgebung hinein erweitern. Indem zum Beispiel ein Blinder mit dem Stab vor sich hin tastet, spürt er die Spitze seines Stockes dort, wo sie den Bürgersteig berührt; sein Tastsinn erstreckt sich bis in diesen Raum hinein.
Wenn wir die Hand ausstrecken um ein vor uns stehendes Wasserglas aufzuheben, ist diese Handlung keine bloß mechanische. Ein hintergründiger Aspekt unseres Bewusstseins ist bereits da und fasst das Glas schon an, noch bevor wir es mit unserer physischen Hand erreichen. Indem wir uns in der Welt herumbewegen, nehmen wir diese nicht als die Welt „dort drüben“ wahr, sondern wir befinden uns in der Welt, gehören zu ihr, sind ein Teil von ihr, und sie ist ein Teil von uns.[1] Die Gesamtheit des physischen Leibes und der kontinuierlichen Erweiterung von dessen subtileren Aspekten in die weitere Welt hinein lässt sich als unser „Seelenleib“ bezeichnen.
Die Grenzen des Seelenleibes entsprechen nicht denen des physischen Leibes. Wäre das doch der Fall, so würden wir die Welt als ausgesprochen fremd wahrnehmen; unser Wahrnehmen der Welt wäre in etwa der Erfahrung verwandt, die wir haben, wenn unsere Umgebung auf einen vor uns stehenden Schirm projiziert wird. Wenn wir Angst erleben, zieht sich die uns umgebende Welt vor unserer intimen Anteilnahme an ihr allmählich zurück, und wir werden zu bloßen Zuschauern. In extremeren Vorkommnissen der Angst erscheint die Welt wie eine vor uns ausgebreitete platte Oberfläche.
Obwohl es schwierig ist, die Art zu beschreiben, wie wir unsere Umwelt erleben, haben wir gar keine Schwierigkeit, in ihr zu leben. Während wir leiblich in der Welt sind, verlieren wir uns nicht „da draußen“; wir spüren noch immer den Ort unseres Leibes als „bei uns“. Wir befinden uns „hier“ und „dort“ zur selben Zeit. Der Aspekt unseres Leibes als „hier“ hat wohl eher eine Qualität der Festigkeit, während unser Sein zusammen mit den Gegenständen unserer Umgebung ein viel feinerer, subtilerer Zusammenzuschluss ist.
Um das einheitliche Feld des Körpers und der Welt zu erleben, muss man ein wenig experimentieren; man versuche, für einen Moment sich der flexiblen Polarität des Leibeslebens bewusst zu werden. Indem ich hier sitze und eine Lampe anschaue, scheint sie vor mir zu stehen, was meinen Leib als hier und die Lampe als da drüben bestimmt. Aber bis zu dem Augenblick, indem ich es mir anders überlegte, erlebte ich die Lampe nicht als „da drüben“; ich erlebte nur ein vereinigtes Feld der Wahrnehmung, das meinen Leib innerhalb meines Gewahrseins der Lampe und mein Gewahrsein der Lampe innerhalb meines Bewusstseins des eigenen Leibes mit einschloss. Das Feld ist das, was zwischen unserem Leib und dem von uns wahrgenommenen Gegenständen auftritt, und es umfasst beides. Die Physik, die sich mit den Feldern befasst, hat festgestellt, dass die dynamische Beziehung zwischen Gegenständen ursprünglicher ist als die Gegenstände selbst. Auch das Wahrnehmen spielt sich als Feld ab, und erst unser begriffliches Denken vollzieht eine saubere Trennung zwischen dem Wahrnehmenden und dem Wahrgenommenen.
Es bestehen selbstverständlich Barrieren zwischen uns und der uns umgebenden Welt, diese ändern sich aber ständig, je nachdem, was wir gerade tun und worauf wir unsere Aufmerksamkeit gerade richten – dabei ist es die Gegenwart der Angst, was diese flexible Grenze stört. Wenn wir uns fürchten, zieht sich der Seelen-Leib zusammen, und das schafft eine starke Polarität an einer Stelle, an der einst Einheit herrschte. Wir fühlen uns von der Welt abgetrennt und bedroht. Was eine Leib-Welt-Einheit war, wirkt zunehmend wie zwei polarisierte und sich opponierende Objekte. In extremen Fällen kann diese Kontraktion wie ein Schlag, eine Erschütterung empfunden werden; da entsteht urplötzlich eine scharfe Grenze zwischen uns auf der einen Seite und der feindseligen Gegenwart von Angst auf der anderen. Das Entstehen dieser Grenze bildet einen Angriffspunkt, an dem die Angst dann tief in uns eindringen kann. In solchen Augenblicken beginnen wir alles, was uns umgibt, als Bedrohung wahrzunehmen. Wenn zum Beispiel ich nachts auf einer dunklen Straße laufe und sehe, wie aus einer Seitengasse eine schattenhafte Gestalt heraustritt, gehöre ich nicht mehr in gewohnt wohliger Weise zu meiner Umgebung. Nicht nur fürchte ich mich vor der schattenhaften Gestalt, sondern es wird vielmehr alles zum Ausdruck dieses Schattens. Ein leises Knacken wird zum Zeichen, dass der Schatten gerade auf einen Zweig getreten ist; eine Bewegung von Blättern auf einen Baum wird ein weiteres Indiz dieser Art. Die Nacht selbst wird zur Verkünderin des Schreckens.
Solange die Schwelle zwischen unserem Leib und der uns umgebenden Welt flexibel bleibt, können wir die Angst widerstehen, weil eine weitere Kraft anwesend ist, die unsere Intimität mit der Welt durchsetzt. Diese Kraft ist die Liebe. Solange uns die Welt dadurch als vertraut erscheint, dass sie uns einzuladen scheint, dass sie gleichsam uns zu sich heranwinkt, uns als engen, vertrauten Partner umarmt – so lange befinden wir uns in der Gegenwart einer in der Welt vorhandenen Eigenschaft, die sich zu Recht Liebe nennt. An dieser Stelle definiere ich Liebe lediglich als die Kraft des Verbundenseins im Gegensatz zur Angst als Kraft der Antipathie. Auch die Liebe gehört zu einer breiteren Realität als nur unserer eigenen kleinen Existenz. Es ist spürbar, wenn man einen Raum betritt, in dem die Liebe zugegen ist. Man kann empfinden, wie sie zwischen Menschen hin und her webt. In späteren Kapiteln dieses Buches wird die Ängste aufzulösende Fähigkeit der Liebe ausführlicher behandelt. Aber erst brauchen wir einen Begriff der Liebe, die mehr umfasst als einen Zustand, der zwischen uns und anderen Menschen beziehungsweise zwischen uns und Gott besteht.
Insofern als wir uns der Eigenschaft der Liebe in der Welt bewusst werden, erleben wir die Welt als heilig. Wenn wir aufs Äußerste ausgedehnt sind, empfinden wir diese Heiligkeit an den Stellen unseres Seelen-Leibes am deutlichsten, die am weitesten entfernt sind. Am weitesten ausgedehnt sind wir dann, wenn wir etwas Neuem und Schönem begegnen. Man denke etwa daran, wie man sich zum ersten Mal dem Grand Canyon nähert, oder wie man am Himmel einen Kometen erspäht, oder wie man eine kleine violettfarbene Blume entdeckt, die oberhalb der Baumgrenze aus einer Felsenspalt wächst, oder die Kathedrale zu Chartres besucht, oder ein Gemälde von Cézanne betrachtet. Solche Schönheit zieht uns mächtig über unseren unmittelbaren Leib hinaus und in das hinein, was wir wahrnehmen. An solchen Grenzorten kann sich Verwandlung ereignen; wir werden anders, werden zu mehr, als wir uns zu sein vorstellten.
In dem Moment andererseits, in dem die Angst zuschlägt, ist es so, wie wenn unser Leib sich zusammenzieht. Wir empfinden stark die physischen Prozesse unseres Körpers. Wir werden unsere Atmung, das Rasen unseres Blutes, das Hämmern unseres Herzens, das Schwitzen oder der Harndrang akut gewahr. In eben diesem Augenblick ist es, als würde die Angst die unsichtbare Grenze zwischen uns selbst und der Welt überqueren und in unseren Leib eindringen. Wir fürchten uns dann, und die Angst scheint unsere eigene zu sein, ist sie aber nicht; sondern die Angst ist in uns eingefallen. Die Angst hat uns die Seele geraubt und beginnt, uns auf unsere physische Natur zu reduzieren.
Manche Menschen können sich von solchen Erfahrungen der Angst ohne Weiteres erholen, andere aber nicht. Diejenigen, die sich nicht erholen, erleiden ein Trauma. Worauf es hier ankommt, ist Seelenstärke. Indem dem Leib die Seele gestohlen wird, verblasst die Fähigkeit, sich in imaginativer Weise mit der Welt zu verbinden. Wenn wir die Auswirkungen der Angst erleiden, beginnen wir, uns alle möglichen Dinge einzubilden – das Traumleben läuft Amok und bietet uns nächtliche Bilder des Schreckens, aus denen das einzige Entkommen schweißgebadet aufzuwachen ist. Diese Art der Phantasie ist aber gründlich anderer Art als die in Verbindung mit der Welt gelebte Imagination. Die bislang bevorzugte tiefenpsychologische Vorstellung eines so lebhaften Phantasielebens wie dasjenige, das bei uns einer traumatischen Situation auftritt, ist die, dass es aus dem Unterbewusstsein stammt und in Urbildern besteht. Die Bilder selbst scheinen mit den im Wachleben auftretenden Ereignissen und Erfahrungen keine Verbindung zu haben. Wenn wir aber tiefer ausloten, wie die verschiedenen Arten der Angst in den Leib einfallen, zeigt sich uns etwas ganz anderes.
Angst wirkt auf die Organe des Leibes selbst und übt dabei einen verheerenden Einfluss auf sie. Sogar nachdem die unmittelbaren physiologischen Wirkungen der Angst abklingen, bleibt deren Einfluss auf die Organe bestehen. Es ist eben eine Wunde geschlagen worden.[2] Erfährt die Handinnenfläche eine Prellung, so klingt nach kurzer Zeit der Schmerz ab. Wenn man dann etwas anfasst und dabei die wunde Stelle beansprucht, tut es weh. In ähnlicher Weise bleiben die von der Angst verwundeten Leibesorgane, besonders in ihrem seelischen Element, auch dann wund und empfindlich, wenn sie keine eigentlichen physischen Schäden aufweisen. Unsere Erfahrungen der Welt werden zu einer schmerzhaften Angelegenheit. Die Angst wirkt jetzt von innen her und hemmt dabei den Fluss seelischer Energie in die Welt hinaus. Es können lebhafte Vorstellungen des gefangen, des gefesselt Seins, des gefoltert, gejagt Werdens entstehen, entweder als Wachphantasien oder als Träume. Die Tiefenpsychologie, da sie sich nur auf die Psyche und nicht auf den ganzen Menschen konzentriert, legt solche Vorstellungen als urbildhaft aus. Zwar mag es sein, dass nachdem jemandem Angst eingejagt wurde ein lebhafterer Bildinhalt urbildhafter Art vorhanden ist; dennoch ist solche Bildhaftigkeit an bestimmten Körperzuständen gebunden.
Wenn Ängste sich in den Leib einnisten, so ist der erste und wichtigste Bereich, in dem eine Veränderung des Empfindens stattfindet, die Empfindung unseres Körpers. Es gibt zwölf Sinne.[3] Die ersten vier Sinne vermitteln uns eine je andere Erfahrung des eigenen Leibes. Durch diese Sinne erleben wir, wie wir uns fühlen, wie wir uns in unserem Leibessein befinden, wie wir stehen und gehen, liegen und sitzen. Nicht die äußere Welt ist es, was wir durch diese vier Sinne erleben, sondern unser Körper im Verhältnis zu dem, was um uns herum vor sich geht.
Indem verschiedene Formen der Angst unseren Leib befallen, wird allmählich die Art umgebildet, wie wir in der Welt wahrnehmen, denken und handeln. Es entwickelt sich eine Hyperempfindlichkeit gegenüber der Welt. Wir beginnen das Gefühl zu haben, dass wir uns nicht ohne Gefährdung in der Welt bewegen können. Dabei werden die Sinne betroffen, die mit dem unmittelbaren Körperempfinden verbunden sind – das Tasten, der Lebenssinn, der Eigenbewegungssinn, der Gleichgewichtssinn. Rudolf Steiner war der erste, der das Funktionieren dieser Sinne verstand, zumal in deren direkter Verbindung zum Erleben des Körpers und nicht zum Wahrnehmen der Umwelt.[4]
Die Berührung der Angst
Die Invasion unseres körperlichen Daseins durch die Angst wirkt sich insbesondere auf die Fähigkeiten der Sinne aus. Die Verengung der Sinnestätigkeit bewirkt ein sich-Zusammenziehen der Seele. Deshalb geht die Arbeit des Befreiens der Sinnestätigkeit von der Angst mit einem Befreien des Seelenlebens von derselben synchron einher.
Unsere Kultur hat es zu einem medizinisch-wissenschaftlichen Verständnis des Körpers gebracht. Der medizinische Begriff des Leibes fußt auf der Anatomie des Leichnams und auf der Physiognomie eines sezierten menschlichen Körpers. Aus dieser Perspektive sind die Sinne physiologische Organe und Prozesse die, zum Erzeugen der Sinneserfahrung, mit dem Gehirn zusammengekoppelt sind. Das ist aber nicht die Art und Weise, wie wir in unserem Körper leben. Der lebendige Leib ist ein offenes Feld, ein Ort, wo unsere Beziehungen konvergieren – ob mit der Welt, mit anderen Menschen, mit dem Reich der Seele oder dem des Geistes. In diesem offenen Feld spielt sich die Sinnestätigkeit ab, nämlich zwischen unserem Leib und diesem erweiterten Umfeld. Folglich müssen wir Seele und Geist einladen, in unsere eigene lebendige Wesenheit wieder zurückzukehren, damit wir die Fülle des Verkörpertseins wieder einmal erfahren können, und zwar von der Seele her. Seele und Geist sind keine unsichtbaren Wesen, die als Gespenster in irgendeiner Maschine herumlungern; der Leib ist durch und durch beseelt und durchgeistet.
Wenn wir etwas ertasten, meinen wir normalerweise, wir nähmen die Eigenschaften des berührten Gegenstandes wahr. Wenn ich ein metallenes Gelände berühre, spüre ich etwas Unnachgiebiges, und es fühlt sich ganz anders an, als wenn man ein Geländer aus Holz berührt. Das Tasten scheint uns die Gegenwart des vorliegenden Gegenstandes zu vermitteln. Näheres Betrachten zeigt aber, dass eine solche Auffassung nicht ganz zutrifft. Wenn wir nämlich etwas Metallenes oder Hölzernes berühren, drückt sich das Objekt in uns hinein; dieses Hineindrücken bewirkt eine wenn noch so geringe Veränderung der Körperlage, und diese Veränderung wird durch den Gleichgewichtssinn festgestellt. Auch kann ich das Objekt sehen und unterscheiden, dass es aus Metall und nicht aus Holz besteht. Metall fühlt sich kalt an, während Holz sich von der Temperatur her neutraler anfühlt. Ferner greife ich nach dem Geländer und fasse es an, was den Bewegungssinn mit einbindet. Wenn wir für einen Moment versuchen, ausschließlich auf den Tastsinn zu achten und das durch die anderen Sinne Vermittelte auszublenden, so empfinden wir weiter nichts als eine Begegnung des Körpers mit einem Widerstand. Der Gegenstand drückt meine Haut nach innen, und ich entdecke die Grenze zwischen meinem Leib und der Welt.
Die Tastempfindung beschränkt sich aber nicht auf die Haut. Wenn zum Beispiel die Blase voll ist, empfindet man eine Art Drücken oder Ziehen. Wenn ein inneres Organ anschwillt, tritt ein ähnliches Gefühl des Ziehens auf. Das Pulsieren des Blutes in den Fingerspitzen gehört auch in den Bereich des Tastens. In all diesen Fällen vermittelt das Tasten ein Erlebnis der Grenzen des Körpers. Die Grenze mag zwischen meiner Hand und einem Gegenstand liegen, zwischen meinem Körper und etwas außerhalb meines Körpers Liegendem, zwischen einem Organ meines Körpers und dem Körper als Ganzem, oder sogar zwischen dem Blut und dem übrigen Körper. Erlebt wird dabei der genaue Empfindungsbereich. Wenn wir einen Schritt machen, so begegnet dem Boden an einer bestimmten Stelle der Druck des Schuhs. Wenn ich mit geschlossenen Augen an einem warmen Strand liege und eine Ameise mir den Arm hinaufkrabbelt, so ortet der Tastsinn genau die Stelle, an der sich die Ameise befindet. In allen Fällen vermittelt uns die Tastwahrnehmung eine Empfindung unseres Körpers nicht als Gegenstand, sondern als lebenden Leib.
Wenn Angst den Leib beeinflusst, ändert sich der Tastsinn. Ein Mensch etwa, der körperlichen Missbrauch erlebt hat, erfährt eine krasse Veränderung des Tastsinns. Diese Veränderung führt zu einem Angstbaren Bedürfnis nach Tasterlebnissen, aber gleichzeitig auch zur Angst vor denselben. Eine solche Änderung kann auch nach einem schmerzhaften chirurgischen Eingriff oder einem schlimmen Unfall verursacht werden. Der Körper, der ab jetzt in einem stärker zusammengezogenen Zustand lebt, erleidet fortdauernd Angst. Es fühlt sich an wie ein Ziehen und Reißen am ganzen Körper; es ist, wie wenn man von etwas betastet würde, wobei das, wovon man betastet wird, unsichtbar bleibt. Diese mächtige Empfindung stört die Fähigkeit, zu denken und zu fühlen. Wir bekommen vielleicht Gänsehaut oder unsere Haare stehen uns zu Berge; wir brechen etwa in Schweiß aus, beginnen unkontrollierbar zu zittern, es klappern uns die Zähne, es hämmert uns das Herz, wir bekommen vielleicht sogar Durchfall. Da es aber vorkommen kann, dass das spezifische, diese Zusammenziehung bewirkende Vorkommen der Angst längst vorbei und vergessen ist, ja womöglich gar nicht erst bemerkt wurde, so deutet man den Angstzustand meistens als ein inneres, ein psychisches Problem. Der Mensch, der die Angst erlebt, sucht einen Arzt auf, der ihm ein Beruhigungsmittel verabreicht oder ihn an einen Therapeuten überweist. Die ganze Welt richtet sich letzten Endes nach dem Streben, unsere Angst zu beschwichtigen. Wir meinen vielleicht, dass neue Kleider diesem Zweck dienen, oder ein üppiges Mahl, oder Unterhaltung, oder tausend andere Ablenkungen. In dieser Weise bleibt die Angst frei und kann ungehemmt durch die ganze Welt umherstreifen, denn wir wurden dazu betrogen, Ängste als unsere persönlichen psychologischen Probleme anzusehen, anstatt als ein Berührtwerden durch die objektive Gegenwart der Angst.
Funktioniert der Tastsinn in gesunder Weise, so spüren wir in allem, was uns umgibt, eine numinose Qualität. Da im modernen Alltag unsere Sinne so belagert und bis zur Überforderung gereizt werden, wird uns diese heilige oder göttlich-reine Qualität in der Regel höchstens im Verhältnis zur Naturwelt bewusst. Wenn wir uns aber ein wenig entschleunigen und auf unsere direkte Umgebung intensiv achten, so kann etwas von dieser numinosen Qualität wieder belebt werden. Die schöne Beschaffenheit der Oberfläche einer Ziegelsteinwand, ein stattlicher Baum mitten in einem Betonumfeld, der Blick eines Menschen, an dem wir vorüberlaufen – so gut wie alles erstrahlt Tiefgang, sofern wir für das offen sind, was vorhanden ist. Das Tasten verleiht uns die Erfahrung, ein Leib zu sein, anders zu sein als die uns umgebende Welt; aber es bietet auch die Möglichkeit, mit einer unaussprechbaren heiligen Präsenz in der Welt in intimer Beziehung zu stehen.
Eine starke Gegenwart von Angst zerrüttet unsere Fähigkeit, die den Dingen der Welt innewohnende göttlich-reine Qualität zu erfahren. Was wir ehedem ganz naturgemäß erlebten, muss nunmehr eine bewusste Arbeit werden. Wir sind jetzt dazu aufgerufen, aus dem Reich der eigenen Seele heraus zu arbeiten, um die Numinosität auf innerer Weise zu finden und zu erleben und diese Gegenwart dann der Welt zurückzugeben, anstatt sie ausschließlich für uns selbst zurückzubehalten. Unser Ziel ist es nicht, auf direktem Wege unsere Ängste zu erleichtern, sondern vielmehr die Angst als Hinweis darauf wahrzunehmen, dass wir abgetrennt wurden von den tiefen, numinosen Qualitäten der Welt sowie von den uns umgebenden Menschen. Wenn die aufgehobene Verbindung wieder hergestellt werden kann, dann wird die Angst auch in naturgemäßer Weise aufhören. Beruhigungsmittel überdecken die Angst nur. Sosehr auch eine Psychotherapie helfen kann, zu einer Erfahrung der inneren Qualitäten der Gegenwart Gottes zu kommen und somit Ängste zu lindern: sie bietet gewöhnlich keinen Weg, die Gegenwart der Angst in der Welt aufzuwiegen. In dieser Hinsicht nützlicher wäre es wohl unsere Vorstellung der Welt zu verändern: Man stelle sich die Welt als heiligen Ort, als Tempel vor. Man arbeite daran, diese Vorstellung so zu stärken, dass sie zu einer alltäglichen Realität wird. Im Folgenden werden wir weitere Wege vorschlagen, dieses Gleichgewicht zu erlangen. Zuerst soll aber die Angst im Verhältnis zu den anderen Leibessinnen beschrieben werden.
Wie die Angst im Lebenssinn wirkt
Das Tasten ist nicht der einzige Sinn, durch den wir das Leben des Leibes erfahren. Ein weiterer Sinn, der durch die Angst beeinflusst wird, ist der Lebenssinn, die körperliche Erfahrung der eigenen Vitalität. Weder die Sinnesphysiologie noch die Psychologie erkennt die Existenz dieses Sinnes an, und dennoch handelt es sich bei ihm um etwas Offensichtliches.
Wenn der Lebenssinn ungestört funktioniert, sind wir uns seiner kaum bewusst. Wenn wir morgens aufwachen und uns prächtig fühlen, ist dieses Erlebnis eine eigentliche Sinneserfahrung. Wir nehmen eine Empfindung körperlichen Wohlseins wahr. Wir merken diesen Sinn viel eher, wenn es mit unserem Leib nicht so gut geht. Das Gefühl, müde oder erschöpft oder hungrig oder durstig zu sein – auch das sind Sinneserfahrungen. Die Müdigkeit hören beziehungsweise riechen wir zwar nicht, und doch nehmen wir sie wahr; der Sinn, mit dem sie wahrnehmen, ist der Lebenssinn. Durch ihn erfahren wir die Ganzheit unseres Leibes so, dass wir den Körper als „meinen Leib“ erleben. Nicht als ein Konglomerat von Organen zusammen mit einem Skelett erleben wir ihn, sondern als ein Ganzes.
Indem die Angst uns beeinflusst, werden wir nicht nur mit Ängsten erfüllt, sondern wir fühlen uns im eigentlichen Leib missbehaglich. Er beginnt, sich wie etwas anzufühlen, das wir mit uns herumschleppen müssen. Wir fühlen uns vielleicht ohne Grund müde, mit einer fortdauernden Empfindung der Erschöpfung erfüllt. Eine trübe und zugleich alles durchdringende Empfindung der Depression begleitet uns ständig. Örtlich nicht klar zu bestimmende Schmerzen, Hungergefühle – solche Empfindungen weisen auf ein Unbehagen mit dem Körper hin. Wir ertappen uns beim Essen, beim Einnehmen von Medikamenten, beim zu viel oder zu wenig Schlafen, um die Behaglichkeit des eigenen Körpers wieder herzustellen. Solche Maßnahmen mögen das Missbehagen beseitigen. Aber sie stellen das Wohlbefinden des Körpers nicht wieder her, sondern sie verdecken das Unbehagen nur. Sie ermöglichen uns zwar das weitere Nachgehen unserer Pflichten, aber unser Körper kann sich nicht darüber begeistern, in der Welt zu sein.
Solche Symptome weisen häufig auf die fortwährende Anwesenheit von Ängsten hin, mit denen wir gelernt haben Zusammenzuleben ohne uns dessen bewusst zu sein, dass sie überhaupt da sind. Oftmals bewirkt ein Aufenthalt in der Naturwelt eine Erneuerung der Lebenskraft und des Lebenssinnes. Diese Erneuerung ist aber nicht nur auf eine Pause vom Arbeits- und Lebensstress zurückzuführen. Sie hat mehr damit zu tun, dass sich der Leib in die weitere Welt – in die Naturwelt eben – einschaltet. Darin liegt der Schlüssel zum Überwinden der verschiedenen Manifestationen der Angst: Lernen, das Leben der Seele so zu stärken, dass sich der Leib unter egal was für Umständen in die Welt wieder einschalten kann. Die Natur ist nicht allein deshalb heilend, weil sie eben die Natur ist, sondern deshalb, weil das, was wir in ihrer Mitte empfinden, nichts Hartes, Rigides, Statisches ist. Die Naturwelt hat eine große Vielfalt an rhythmischer Bewegung, wie zum Beispiel die Bewegung der Blätter im Wind, den Fluss des Baches, die Großartigkeit der in den Himmel hinaufragenden Berge, die sanfte Ausbreitung eines Tales. Haben wir einmal erkannt, dass es nicht die Natur an sich ist, was den Lebenssinn wieder herstellt, sondern die Formen und Qualitäten der Sinneserfahrung in der Natur, so können wir tatsächlich einfache Übungen finden, um unseren Körper im Verhältnis zur Umwelt flexibel zu halten.
Die Angst in der Bewegung und im Gleichgewicht
Wenn die vier Sinne zur Wahrnehmung des Körpers durch die Angst zerrüttet werden, so werden nicht nur Gefühle der Angst gesteigert, nicht nur das vitale Interesse unseres Körpers bei dessen Beteiligung an und in der Welt verdunkelt; sondern auch unser Wille selbst wird zerrüttet. Die Kapazitäten, sich in die Welt hinauszubegeben, Ziele, Ideale und sehnsuchtsvolle Anliegen zu haben, mit Begeisterung und Interesse Dinge zu vollbringen – all das sind Aspekte des Willens. Wir stellen uns normalerweise den Willen als geistverbunden vor, aber die Willenskräfte spielen sich auch im Seelenleib ab. Ich kann etwa die Wunschvorstellung haben, in der Bundesliga Fußball zu spielen, aber die Willenshandlung, durch die sich die Wunschvorstellung verwirklicht, geht nur über den Leib: Ich muss tatsächlich antreten. Die Zerrüttung des Willens wird anhand des Bewegungssinns am deutlichsten. Das Organ für die Wahrnehmung der Eigenbewegung ist die Muskulatur des Leibes. Wenn ich meinen Arm bewege, entsteht eine innere Erfahrung dieser Bewegung, ein Wahrnehmen der Bewegung. Dieser Sinn nimmt nicht nur große Körperbewegungen wahr, sondern auch feinere, ja feinste: die ein-und-aus-Bewegung der Brust beim Atmen, die Bewegung des Halses und des Kopfes während diese sich drehen, die Bewegung der Augen.
Mittels des Tastsinns werden wir uns der physischen Grenzen unseres Leibes bewusst. Durch den Lebenssinn erfahren wir in innerlicher Weise die Lebendigkeit der leiblichen Existenz. Der Bewegungssinn lässt uns die verschiedenen Teile des Körpers in Verhältnis zu einander wahrnehmen. Nicht die Bewegung anderer Körper beziehungsweise Gegenstände, sondern die des eigenen Leibes nehmen wir mit dem Bewegungssinn wahr. Die Empfindungen des Stehens, Sitzens, Gehens, Rennens, Schreibens, des Flatterns mit den Augenlidern oder des Verfolgens der Bewegung von etwas durch unsere Augen sind alle Erfahrungen des Bewegungssinnes. Diese Wahrnehmungen, sofern sie sich auf einander beziehen, schenken uns das Erlebnis der Beweglichkeit unseres Leibeslebens sowie das Vermögen, uns unter Beibehaltung einer Kohärenten Selbstempfindung in der Welt herumzubewegen. Somit bieten diese Sinne die körperliche Grundlage für das Erfahren der Freiheit.
Wenn der Körper tendenziell in Angst und Ängstlichkeit lebt, entschwindet das Erleben der Freiheit aus unseren konkreten Empfindungen. Angst befällt den Körper und würgt den Bewegungssinn ab. Und weil dieser abgewürgt ist, wissen wir nicht wohin wir gehen, woran wir uns orientieren und auch nicht wie wir dahin gelangen. Der Bewegungssinn gibt die leibliche Grundlage ab für die Freiheit und auch für das Empfinden, dass unser Leben Sinn und Zweck hat. Eine weitere Qualität, die mit dem Bewegungssinn verbunden ist, ist die Freude. Der Bewegungssinn ist es, was uns davor bewahrt, unseren Körper beziehungsweise die Umwelt als Last zu erleben. Wo Bewegungsfreiheit ist, da fühlen wir auch Freude. Freude ist eine Art Befreiung, ein Loslassen, ein Seinszustand. Sofern wir uns nicht frei fühlen, keinen Sinn und Zweck erleben, die Gegenwart von Freude nicht fühlen, ist unser Körper von Angst befallen und unsere seelischen Bewegungen und körperlichen Empfindungen sind verengt und eingeschränkt worden.
Der vierte Sinn, der uns den eigenen Leib erleben lässt, ist der Gleichgewichtssinn. Durch diesen Sinn können wir den Ort des eigenen Körpers im Verhältnis zum Raum und zu den Gegenständen bestimmen, die uns umgeben. Das Organ für das Wahrnehmen des Gleichgewichts befindet sich im inneren Ohr und besteht in den drei Bogengängen. Dank dieses Sinnes unterscheiden wir zwischen oben und unten, rechts und links, vorne und hinten. Auch wenn viele Menschen meinen, dass das Sehen allein genügt, um uns zu orientieren: Gleichgewicht ist ein Hauptsinn der Orientierung in der Welt. Der Gleichgewichtssinn, die innere Orientierung, die wir stets mit uns führen, ermöglicht uns das Ordnen und orientieren aller anderen Sinnesempfindungen. Der Gleichgewichtssinn bringt uns mit unserer Umwelt in Harmonie.
Wenn uns das Gleichgewicht abhandenkommt, so wirkt sich das auf den Lebenssinn, auf den Bewegungssinn und auf den Tastsinn aus. Uns wird übel, wir nehmen eine Störung des Lebenssinns wahr; es kann vorkommen, dass unsere Bewegung fahrig wird; wir suchen nach etwas, das wir berühren können, um unseren Körper wieder einmal erfahren zu können. Mit dem Verlust des Gleichgewichts geht eine spezifische Empfindung einher, nämlich das Schwindelgefühl. Manchmal fühlen wir Sympathie für diese Empfindung. Kinder lieben es, sich immer schneller und schneller im Kreise umzudrehen, bis sie hinfallen und sich daran ergötzen, wie sich alles um sie her dreht. Jugendliche suchen eine andere Form des Schwindelgefühls, welches oft durch laute, zügellose Musik hervorgebracht wird, die in gewalttätiger Weise ins Gebein selbst eindringt und die Jugendlichen in die Unterwelt hinabzieht – eine andere Art des Schwindelgefühls.
Der Gleichgewichtssinn erhält das rechte Verhältnis zwischen Leichtigkeit und Schwerekraft aufrecht; das ist es, was es heißt, ein Mensch auf der Erde, unter dem Himmel zu sein. Der Verlust des Gleichgewichts kann uns in eine von zwei Richtungen gehen lassen. Wir schweben entweder in den Weltraum hinweg, entbehren der Eigenschaft der Schwere, oder aber wir versinken in die unternatürliche Welt hinunter, in die Unterwelt, unter Verlust der Leichtigkeit des Seins. So kann eine Gleichgewichtsstörung in zwei Richtungen gehen. Das Gefühl der Angst beeinflusst stark unseren Gleichgewichtssinn, stürzt uns auch dann, wenn wir uns nicht ständig schwindlig fühlen, in ein fortdauerndes Vertigo. Das wirkt sich unter Umständen auch auf das Seelenleben aus und erschwert die innere Beständigkeit.
Die eigentlichen Mechanismen des Gleichgewichtsorgans sind ziemlich kompliziert, sind der Physiologie aber wohl bekannt. Nicht nur die oben angegebenen, offensichtlicheren Störungen des Gleichgewichts, sondern auch subtilere Formen derselben können sich allmählich in den Körper einschleichen. Ein anfängliches Symptom eines Gleichgewichtsausfalls ist ein Summen in den Ohren, was darauf hinweist, dass das pulsierende Blut die Ruhe des inneren Ohren-Labyrinths gerade stört. Der Pulsschlag überwältigt den Rhythmus des Atems und tritt in den Vordergrund. Indem das Pulsieren des Blutes die Oberhand gewinnt, schwindet langsam das Gleichgewicht.
In einer noch subtileren Zerrüttung des Gleichgewichts bestehen Störungen des Atemrhythmus. Hier werden die Anknüpfungspunkte zur Angst offensichtlich. Ein erster Hinweis darauf, dass Ängste und Angst den Körper besiedeln, ist eine Änderung im Rhythmus des Atems. Ganz sicher ist, dass starke Anwesenheit von Angst zu solchen Symptomen des Gleichgewichtsschwunds führt wie Übelkeit, Erbrechen oder sogar Bewusstlosigkeit. Sind einmal verschiedene Arten der Angst im Körper ansässig geworden, so treten Veränderungen der Atmung allmählich ein, und das Gleichgewicht schwindet Stückchen für Stückchen, wenngleich in weniger wahrnehmbarer Weise, dahin.
Die Fähigkeit, uns in unserem Körper situiert und in der Welt orientiert zu fühlen, hat eine noch tiefere Dimension. Auch in der Seele gibt es einen Gleichgewichtssinn, der sich als innerer Frieden, innerer Gleichmut beschreiben lässt. Diesem Sinn ist es zuzuschreiben, dass wir uns als kontinuierliches, fortdauerndes Ich empfinden. Ich empfinde mich heute als den gleichen Menschen, der ich gestern war; gewiss kommen Änderungen vor, und zwar mitunter sehr tiefgreifende. Und doch bleibt ein dauerhafter, zentraler Kern bestehen. Dieser Kern ist die Erfahrung von uns selbst als Geist. Wird einmal diese leibliche Empfindung unseres spirituellen Seins gestört, so verlieren wir diesen tiefen, inneren Sinn dafür wer wir sind; es wird unsere geistige Identität gefährdet. Die Fähigkeit, die Gaben wahrer Individualität in die Welt zu bringen, wird getrübt. Wir funktionieren dann mehr aus dem Massenbewusstsein der populären Kultur heraus, das sich als egoistischer Individualismus äußert, als aus unserem geistigen Kern.
Heutzutage unternehmen die Menschen allerhand, um Wege zu finden, wie man den Geist empfinden kann. Sie tun das aber ohne zu erkennen, dass der Geist hier lebt, wo wir uns befinden, nämlich in und bei unserem Körper. Ein Geistsuchen dieser Art kann man als Symptom sehen, als Hinweis darauf, dass der von Angst bewohnte Körper die Orientierung verloren hat.
Wie man körperliche Angst verringern kann
Das Sich-Zusammenziehen der Körpersinne verhindert einen gesunden, fortdauernden Fluss zwischen der inneren Welt unseres seelischen Lebens, dem begehrenden Hinausgreifen zur Welt und dem Eingang der Wunder der äußeren Welt durch die Sinnespforten hindurch in die Seele hinein. Eine einfache, täglich für höchstens fünf Minuten auszuführende Übung kann zum Vital- und Dynamisch-Bleiben des Verhältnisses zwischen der Seele und der Sinnesempfindung beitragen und so die Angst außerstande zu setzen, auf unser Leibessein dauerhafte Auswirkungen zu haben. Diese Meditation erkundet, wie unser inneres Wesen sich mit der äußeren Welt verbindet. Sie wird von einer Übungsreihe abgeleitet, die von Adam McLean, einem Gelehrten der hermetischen Tradition, als Einleitung in das Ausbilden der alchemistischen Tradition geschaffen und erprobt wurde.[5] Sie ist eine hervorragende Übung zum Vereinigen von Seele und Wahrnehmen.
In dieser Übung geht es darum, sich die Seelendimension der eigenen Sinneserfahrung bewusst zu machen. Man stelle sich diese Übung als Möglichkeit vor, die Aufmerksamkeit auf die Grenze zu richten, die das Sinnesreich und das Seelenreich voneinander trennt. Man beginne damit, dass man bewusst einen leisen Klang verfolgt. Dazu könnte man etwa ein Glöckchen oder ein Klangstäbchen anschlagen. Man höre dem Klang nicht nur zu, sondern man fühle, wie einem das Bewusstsein zum Klang hinausstrahlt und dann zu einem selbst nach innen wieder zurückkehrt. Man mag zunächst die Empfindung haben, dass es nur der Klang ist, der auf das Ohr trifft und nicht erleben können, wie sich das Gehör in die Welt hinauserstreckt. Ist das letztere Erlebnis der Fall, so weist das auf einen Grad der leiblichen Betäubung. Es kann sein, dass Sie sich eine Weile auf diese Phase der Übung verweilen müssen, bis Sie es vermögen, räumlich das eigene Bewusstsein bis zum Quell des Klanges hinaus zu verfolgen und zurückkehren zu lassen.
Man versuche die gleiche Übung mit dem Sehen. Man sehe einen Gegenstand an, der sich auf der gegenüberstehenden Seite des Raumes befindet, und verfolge das eigene Bewusstsein zu diesem Gegenstand hinaus und lasse es dann zum eigenen Leib zurückkehren. Man bemühe sich, die subtile Qualität der Sehkraft zu empfinden: wie diese hinausgeht, dem Gegenstand begegnet und zurückkehrt. Dann mache man dieselbe Übung mit dem Tasten. Man fühle das Bewusstsein durch die Hand zum betasteten Objekt hinausgehen und von dem Objekt zum eigenen Körper zurückkehren. Dann wende man die Übung auf die Bewegung an. Man strecke den Arm hinaus um etwas anzufassen, und während man dies tut empfinde man die subtile Weise, auf die das Objekt sich dem Angefasstwerden ergibt. In ähnlicher Weise verfahre man mit dem Gleichgewicht. Man begebe sich an den Rand einer mit einem Geländer gesicherten, erhöhten Stelle. Man achte auf das Schwindelgefühl und darauf, wie eine Verunsicherung im Empfinden des Gleichgewichts die Angst anzieht. Nach kurzer Zeit aber geht das Schwindelgefühl zurück und die Angst wird gebannt. Hier geht mehr vor sich als nur ein Sich-Gewöhnen an den bedrohlichen Ort. Es ist nämlich der eigene Seelenleib angetreten und hat den ganzen Abgrund ausgefüllt, und man wird nunmehr durch die Seelenqualitäten der Welt gestützt.
In jeder der so geübten Sinnesmodalitäten wird man ein anfängliches Bewusstsein des Verhältnisses zwischen dem eigenen Wesen und dem Wahrnehmen empfinden. Auf Verhältnis kommt es an, auf das deutliche Wahrnehmen einer Bewegung, einer Strömung, die vom eigenen Innenleben durch den jeweiligen Sinn hindurch und zum Gegenstand hinaus, dann in den eigenen Leib zurückgeht. Und jetzt richte man die Aufmerksamkeit auf das Bewusstsein selbst des Verhältnisses und beginne, ein inneres Bild dieses Bewusstseins als Glaskolben zu formen. Dieses Bild stellt die feine Grenze zwischen Seele und Sinnesempfindung dar. Hat man das Bild einmal geschaffen, so stabilisiere man es dann, sodass es für ein paar Minuten als bewusstes Bild verbleibt.
Im weiteren Verlauf der Übung wird man erleben, wie Bilder, Gedanken und Gefühle ganz naturgemäß auftauchen. Man versuche nicht, dieselben zu vermeiden, sondern man lasse sie sich entfalten und sehe dann zu, wie sie sich auflösen. Diese Bilder entsteigen dem Unbewusstsein. Man schaue zu, wie sie sich auflösen und am Boden des Gefäßes als eine tiefe innerliche Finsternis zur Ruhe kommen. Man sehe mit innerem Auge den Glaskolben und zu gleicher Zeit die tiefe innerliche Finsternis auf dem Boden des Gefäßes. Nach ein paar Minuten lösche man das Bild aus dem eigenen Bewusstsein und verharre solange wie möglich in der Leere.
Diese Übungen sind durch ein wichtiges kognitives Element gekennzeichnet. Man sollte nicht einfach die Übungen durchnehmen mit der Erwartung, dass sie eine Wirkung zeigen werden; man sollte sich der Art der Aufmerksamkeit bewusst sein, die während des Übens vorhanden ist. Nicht die körperlichen Gefühle sind bei diesen Meditationen die Hauptsache. Wird man sich einmal der oben erwähnten Art der Aufmerksamkeit bewusst, so ist sie unverkennbar: Eine verhaltene innere Freude ersteht und breitet sich im Körper aus. Es ist einem, als könnte man einmal wieder tief atmen und man erkennt, dass man nicht einmal bemerkt hatte, dass diese Fähigkeit – wohl vor langer Zeit – vermindert wurde. Man durchschaut, dass man bislang in einem Zustand der Angst lebte und es nicht einmal wusste. Es ist jetzt eine Qualität der Spontaneität vorhanden, als fühlte man sich nunmehr bereit, den Eingebungen der Seele zu folgen, welche lange Zeit eingefroren waren.
Diese Art der Arbeit mit Sinnesempfindungen verhindert allerdings nicht, dass wir weitere Begegnungen mit der Angst habe müssen, sie schaltet den Einfluss der Angst auf uns nicht aus. Solche Arbeit kann die Angst zwar daran hindern, ihren eigenen Willen zu bekommen beziehungsweise uns die die Kontrolle zu usurpieren, aber sie ist eine Arbeit, die ab jetzt mehr oder weniger regelmäßig und bewusst zu werden hat. Und um die Wahrheit zu sagen: diese Arbeit ist weiter nichts als ein erster, kleiner Schritt, eine von vielen Änderungen, die wir machen müssen, um der Präsens der Angst entgegenzuwirken. Solche Arbeit muss zwar eine bewusste sein, kann aber zu einer Gewohnheit werden, zu etwas, das man regelmäßig und nicht nur im Zuge einer spezifischen und starken Begegnung mit der Angst ausführt